Zuversicht im drohenden Unheil - Carl Osterwald - E-Book

Zuversicht im drohenden Unheil E-Book

Carl Osterwald

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Beschreibung

"Die Kirche hat nicht den Auftrag, die Welt zu verändern. Wenn sie aber ihren Auftrag erfüllt, ändert sich die Welt", sagt C. F. von Weizsäcker. Darum - so der Verfasser - ist sie gerade heute unverzichtbar, denn spätestens seit dem Erscheinen des wissenschaftlichen Nachweises über die "Grenzen des Wachstums" im Jahre 1971 und unter dem Eindruck der gegenwärtigen Kriege steht eine Umorientierung in fast allen Lebensbereichen an. Der 96-jährige Pastor em. Carl Osterwald analysiert Irrwege der Kirche, hilft zu einem neuen Verständnis biblischer Texte - sowohl durch kritische theologische Überlegungen als auch durch eigene Predigten und Texte. Ein mutmachendes Buch.

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„Wir können‘s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten,

von dem, was wir gesehen und gehört haben“

Petrus, Apostelgeschichte 4. 20

Narrare necesse est

Erzählen ist lebensnotwendig

Odo Marquard

Kirchtürme ragen,

Glocken läuten, Pastor*innen predigen,

Menschen versammeln sich, hören Geschichten.

Jahrein Jahraus, Sonntag für Sonntag

und tragen die großen Erzählungen weiter,

die vor Jahrtausenden aufgeschrieben,

und in der Bibel gesammelt wurden,

damit wir zum Leben finden und zum Heil.

Die Kirche ist wie ein Baum.

Über dem Stamm erhebt sich die Krone.

Der Stamm ist kahl, sieht aus wie tot;

Äste und Zweige formen eine Krone aus Blättern und Blüten,

wachsen vom Winde bewegt, strotzen vor Leben und Schönheit,

getrieben und gespeist vom Saft,

der ihnen durch den Stamm zufließt.

Inhalt

Vorwort

Teil I – Was die Kirche ist, soll und kann

Die Kirche begegnet in Geschichten

Die Kirche hat einen Auftrag

Die Kirche ist eine Glaubensbewegung

Die Kirche weist über sich hinaus

Die Kirche befreit über sich hinaus zu neuer Gemeinschaft

Die Kirche gestaltet Leben in ihren Festen und Feiern

Teil II – Predigten zu besonderen Anlässen

Es ist geschehen

Zum Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft

Predigt zum Republikfest in Südafrika, Pfingsten 1971

Predigt im Township Tokoza bei Johannisburg 1994

Predigt zum Reformationsfest in Südbrookmerland 1985

Predigt zum Männersonntag in Leer 2004

Predigt in Wiegboldsbur und Forlitz-Blaukirchen 1985

Predigt zum Abschluss der ICMA-Weltkonferenz, Berlin 1981

Teil III – erinnern - gedenken - orientieren

Ansprache am Volkstrauertag 2017

Ordnungsruf

Schatten der Vergangenheit – Ansprache im Gulfhof 1994

Totengedenken

Gedenken

Weihnachten und KZ-Gedanken

Wo ist Gott?

Rede zur Einweihung des Mahnmals am Panzergraben

Ansprache in Putten/Niederlande 2010

Kein Raum in der Herberge

oder

Dimitri kommt nicht mehr

Zum Schluss – Ernstes und Heiteres im Rückblick

Warum? Wozu?

Grußwort an ehemalige Konfirmanden 2019

Weihnachtsfriede

Erweckung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Widmung:

Dies ist ein persönliches Buch. Ich schreibe es am Ende eines mit vielen WeggenossInnen geteilten Lebens. Widmen möchte ich es einer Frau, die niemand mehr kennt, Tatje Gerjets. Sie ist vor etwa 60 Jahren gestorben. Gelebt hat sie Zeit ihres Lebens in einem abgelegenen ostfriesischen Dorf. Sie war mit einem sehr achtbaren und angesehenen Mann, Wilm Gerjets, verheiratet gewesen. Ich habe ihn noch gekannt, er war lange Jahre Kirchenvorsteher, geradlinigen und festen Charakters, aber ebenso offen und zugewandt. Die beiden bewohnten am Rande des Moores ein kleines alleinstehendes Haus mit etwas Land. Die Klugheit und Großherzigkeit der beiden Alten überstrahlte ihre äußere Armut. Ich habe die beiden sehr verehrt.

Unvergessen ist mir eine Andacht zum Volkstrauertag am Mahnmal für die im Krieg umgekommenen Soldaten. Es mögen etwa 80 Teilnehmer gewesen sein. Der Tag war trübe und regnerisch, man stand zwischen den Gedenksteinen mit hochgeschlagenem Mantelkragen, der Posaunenchor spielte. Und ganz allein für sich stand diese kleine zierliche Frau. Vier Kinder hatte sie zur Welt gebracht: drei Jungen und ein Mädchen. In welchem Land der Schwiegersohn begraben wurde, weiß ich nicht mehr. Ihre Jungs lagen in Russland, alle drei. Nun lebte sie allein in stiller Güte. Von ihr habe ich gelernt, was keine Universität lehren kann: wie christlicher Glaube trägt.

Christlicher, das heißt: An Jesus orientierter Glaube ist eine Energie, die Kraftquelle zum Tun des Gerechten. Sie bewahrt vor Götzendienst. Darum geht es mir im ersten Teil dieses Buches. Den zweiten Teil beginne ich mit der Konkretisierung der Götzen „Antisemitismus“ und „Rassismus“; im dritten Teil stelle ich den Götzen „Nationalismus“ an den Anfang und zeige das Leid, die Not und Qual, in die er unter verschiedenen Namen verführt hat.

Warum ich schreibe:

Hinter mir liegt ein langes Leben mit einem reichen Schatz an Erfahrungen. Diesen Schatz möchte ich teilen. Zwar muss jeder seine Erfahrungen selbst machen, aber, um fruchtbar zu werden, müssen sie zusammengetragen, besprochen und – dies vor allem – angehört werden.

Ich bin in einer Diktatur unter der Devise aufgewachsen und erzogen worden: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Nach dem Krieg musste ich lernen, dass und wie ich in verwerfliches Handeln verstrickt wurde. Der Weg zu einem eigenen und selbstbestimmten Leben führte unumgänglich zu Schuld und Scham. Um nun ein neues und freies Leben aufzubauen, war einerseits Vergebung nötig – und dann brauchte ich ein Ziel. Auf der Suche nach beidem, begann ich, Philosophie und Theologie zu studieren und wurde schließlich Pastor.

Damit hatte ich einen Beruf gewählt, der mir ein überaus weites und breites Erfahrungsfeld beschert hat. Anfangs lag es in einem ostfriesischen Dorf. Dann – inzwischen verheiratet und vier Kinder – weitete es sich in Kapstadt, einer Weltstadt in dem damaligen rassistischen „Apartheits-Staat“ Südafrika. Danach – mit Wohnung in Hamburg – wurde ich Generalsekretär der „Deutschen evang.-luth. Seemannsmission“, als solcher Mitglied und für einige Jahre Vorsitzender des internationalen Verbandes aller Seemannsmissionen der Welt. Nach einem kurzen Zwischenspiel wieder als Gemeindepastor in Ostfriesland, wurde ich pensioniert und arbeitete dann ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe und im niedersächsischen Rat für Kirchenasyl zunächst in Gruppen, dann als Ausländerbeauftragter des Landkreises. Mein letztes offizielles Feld war dann die Gedenkstätte KZ Engerhafe.

Der menschliche Bereich, in dem ich arbeitete, war nach allen Seiten unbegrenzt; er reichte von der Geburt bis ans Sterbebett und den Nachruf und umfasste alle gesellschaftlichen Stellungen vom Gefängnis bis in die Villen der Reichen. Gefordert waren Zuspruch, Rat und Trost, im Großen bei Kundgebungen und im Kleinen in der Beichte. Am Ende weiß ich: Ich bin ein Mensch und kein Mensch kann je etwas anderes sein als Mensch.

Was mich jetzt umtreibt, ist die Gefährdung unserer Demokratie. Wir geraten im Augenblick von einer Krise in die nächste – ich möchte sie nicht aufzählen – und es scheint, dass Angst, Gier und Neid zu leitenden Motiven werden, die unsere auf den allgemeinen Menschenrechten aufgebaute freiheitliche rechtsstaatliche demokratische Verfassung aushöhlen und untergraben. Die Sucht, Sicherheit in nationaler Enge zu finden, steht sowohl unseren heutigen humanen als auch wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegen. Ich bin davon überzeugt, dass es für uns als Menschheit nur dann eine Zukunft gibt, wenn wir endlich konsequent und neu wieder beim Artikel I der Menschenrechtserklärung von 1948 ansetzen. „Alle Menschen sind frei geboren und gleich an Würde und Rechten.

Früher galt als Lebensregel: „Unsere Kinder sollen es besser haben.“ Heute wissen wir: Unser Lebensstandard ist nicht zu halten. „Unsere Kinder werden weniger haben als wir.“ Die moralische Forderung ist: Wir müssen lernen, uns einzuschränken, ohne dabei ärmer zu werden und das Leben unserer Kinder, Enkel und Urenkel zu beschneiden.

Ich möchte aufdecken, dass das Evangelium nicht nur Lebenshilfe für den Einzelnen ist, sondern heilend, helfend und befreiend der Menschheit einen gangbaren Weg in die Zukunft zeigt.

Ich habe das Buch in drei Teile gegliedert. Der verbindende rote Faden ist die Person von Jesus, den ich in den über ihn erzählten Geschichten sowie in ausgewählten Gleichnissen und Worten als lebendiges Gegenüber sehe. Im ersten Teil widme ich mich der Institution Kirche. Wir erleben die Kirche als haltgebende und schützende Institution, in die man sich eingliedern kann, die aber andererseits mit ihrer jeweiligen Praxis in Konkurrenz mit anderen Institutionen Menschen abstoßen kann. Ich sehe die Kirche kritisch und prüfe das, was sie ist, soll und kann an einzelnen Geschichten aus dem Neuen Testament. Um die Lektüre etwas zu erleichtern, habe ich mitunter einzelne Sätze oder Worte durch Veränderung des Schriftbilds hervorgehoben.

Im zweiten Teil gebe ich einige Predigten wieder, die ich zu besonderen Anlässen gehalten habe. Dabei schildere ich kurz den Anlass und die Situation der Hörer und bringe dann beides mit einem biblischen Text zusammen, den ich als zur Situation passend ausgesucht habe. Bei einigen Predigten ist es umgekehrt: Der Text ist durchs Kirchenjahr vorgegeben, und ich lege ihn so aus, dass er die Gewissen der Hörer schärft und tröstet.

Der dritte Teil, selbst der Schluss, steht mit den vorhergehenden dadurch in Beziehung, dass die wesentlichen Aussagen – auch wenn es nicht ausgesprochen wird – am Evangelium orientiert sind. Ich möchte gern auf diese unterschiedlichen Weisen dem Titel gerecht werden: „Von der Unverzichtbarkeit der Kirche.“ Damit wir mit Mut und Zuversicht die Zukunft gestalten.

Münkeboe, im Januar 2024

Teil I

Was die Kirche ist, soll und kann

Fast in jedem Dorf steht eine Kirche. Die Anzahl der Besucher zu den sonntäglichen Gottesdiensten geht allerdings fast überall zurück und für viele Leute ist das, was in der Kirche passiert, ziemlich belanglos geworden. Da kann man natürlich kritisch fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, in unserer überladenen und immer komplizierteren Welt noch eine Kirche zu unterhalten. Ehe wir diese Fragen beantworten, sollten wir darüber nachdenken, welche Vorstellungen wir von Kirche haben, worin sie begründet und ob sie berechtigt sind. Wenn wir nun nicht oberflächlich, sondern gründlich vorgehen wollen, bleibt es uns nicht erspart, nach ihren Wurzeln zu graben.

Die Kirche begegnet in Geschichten

Die Kirche ist nie eine Massenbewegung gewesen, aber sie war immer da, die Kirche, und sie hatte auch immer eine Bedeutung, war ein selbstverständlicher gesellschaftlicher Faktor, der einfach dazu gehörte und in den man hineingeboren wurde. Sichtbar wurde sie – von den Gebäuden abgesehen – in einer Gemeinde, die sich sonntags zu einem Gottesdienst versammelte, der von einem Pastor geleitetet wurde. Der Pastor war in der Regel eine Respektsperson, die sich auch um die „seelsorgerlichen“ Hoch- und Tiefpunkte der Gemeindeglieder kümmerte. Früher gab es noch fast in jedem Haus eine Bibel und ein Gesangbuch. So war es noch in meiner Kinder- und Jugendzeit.

Als Eingangslied für einen Gottesdienst fand sich da der Gesang: „Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.“ Genau darum ging es in der Kirche: Gott wurde in das Leben hineingenommen. Gott sollte angebetet werden. Gott weckte ein Gefühl der Ehrfurcht. Ein solches durch Gott bestimmtes Leben zeigte sich natürlich auch in entsprechendem moralischem Verhalten: Es ging ehrlich zu in der Kirche, man konnte einander vertrauen, konnte sich sicher sein, nicht betrogen zu werden; Angst Gier und Neid hatten da keinen Platz. Als ich einem Versicherungsvertreter einen entstandenen Schaden zeigen wollte, verzichtete er auf den Augenschein und sagte: „Herr Pastor, wenn ich ihnen nicht glauben kann, wem dann?“ Selbstverständliches Vertrauen.

Man kann ein solches Idealbild von Kirche zeichnen, aber wenn man die tatsächliche Kirche daran misst, ist man enttäuscht, denn die Menschen, die die Kirche repräsentieren, sind allesamt Menschen. Mir scheint, dass die Enttäuschung über die Kirche heutzutage sehr groß ist. Der in der katholischen Kirche aufgetauchte Missbrauchsskandal hat seine tiefgehende abstoßende Wirkung nicht nur wegen der begangenen und vertuschten Verbrechen; die Abstoßung ist gerade wegen der Enttäuschung so radikal: Das hatte man gerade von der Kirche – die protestantischen Kirchen sind eingeschlossen – nicht erwartet! Irgendwie – unbestimmt – gefühlsmäßig – vielleicht auch sehnsüchtig – war, oder ist wohl immer noch – vielleicht unbewusst – ein Idealbild von Kirche im Schwange, in der all das, was man für gut hält auch gelebt wird. Dieses Idealbild ist heute nicht nur angekratzt, sondern zerstört. Es ist ganz klar: Die Kirche ist eine menschliche Institution, wie alle anderen Institutionen auch. Ob das politische Parteien, Gewerkschaften, irgendwelche anderen Organisationen sind, sie sind in einem alle gleich: In ihnen organisieren sich Menschen! Und Menschen sind immer fehlsam.

Kirche ist heute fraglos noch da in imponierenden Bauwerken, in zu Herzen gehender Musik, in kleinen Kreisen, die ihr treu bleiben und auf Erneuerung hoffen, weil sie vom Glauben getragen werden und in vielen Wohlfahrtseinrichtungen; aber sonst? Die Kirche? Ist sie wirklich nur noch totes Holz, mühsam imprägniert? Ganz gewiss nicht! Es ist sonnenklar: Die Kirche ist nicht tot und ist nie tot gewesen.

Die Kirche hat einen unzerstörbaren Kern. Sie hat eine unglaubliche Geschichte: Sie beruft sich auf einen Menschen, der mit aller Macht von Politik und Religion durch eine grausame und abschreckende Hinrichtung aus der Welt gestoßen werden sollte. Ihre Anhänger wurden von Anfang an verfolgt, gefoltert und getötet. Trotzdem hat sie sich über die ganze Welt verbreitet; bis heute gibt es schreckliche Christenverfolgungen und dennoch wächst die Christenheit und ist heute die mit Abstand größte religiöse Bewegung der Welt. Sie ist in ihrer Geschichte schrecklichen Irrtümern erlegen, ist durch Blütezeiten und Flauten gegangen, war in sich zerstritten und uneins, ist es immer noch und lebt und ändert sich – man muss vielleicht sagen: Wie das Leben selbst. Wenn wir das Geheimnis „Kirche“ ergründen wollen, müssen wir in ihre Geschichte einsteigen,

Wie es anfing, erzählt das Evangelium, wie es weiterging erzählen unzählige, in Jahrhunderten über die Welt verstreute, Geschichten. Wir wollen auf diese Geschichten hören und versuchen, in sie einzusteigen. Vielleicht entdecken wir dabei den Saft in dem uns heute so dürr scheinenden Holz. Ich möchte es versuchen, versuchen auch, das Gehörte zu verstehen und weiter zu erzählen. Die Geschichten hole ich mir aus der Bibel. Früher hieß es wohl: „Es steht in der Schrift also ist es so.“ Aber mit einem solchen Satz landen wir dann in einer Argumentationsweise, der alle Lebendigkeit entzogen ist: Wir dreschen leeres Stroh. Die Bibel enthält nichts, das nicht vorher erzählt wurde. Wenn wir in ihr lesen, müssen wir hörend lesen. Eine Geschichte wird erzählt, und jeder Erzähler gibt einer Geschichte seine persönliche Note. Und jede Geschichte umhüllt einen „Kern“, und die Kunst des Hörens besteht darin, an die Wurzeln zu gehen, diesen Kern herauszuhören.

Jesus hat nichts geschrieben. Was wir über ihn wissen, ist nur aus den Geschichten zu hören, die seine Jüngerinnen und Jünger erzählt haben. Solche vom Erzähler gefärbten Geschichten wurden später zusammengetragen und aufgeschrieben. Dass sie sich gegen alle Widerstände und Verfolgungen so rasend schnell ausbreiteten, zeugt von einer in ihnen steckenden Energie, die sich nicht mehr unterdrücken ließ. Die Geschichte konnte allenfalls abgeflacht, verfälscht und missbraucht werden; man konnte sie später sogar institutionalisieren und sogar zur Unterdrückung instrumentalisieren, aber ihr Kern ließ sich nie zerstören. Er lebt in den Geschichten, und heute ist es an uns, als Glieder der Kirche Jesu Christi diesen Kern aus den Geschichten herauszuhören. Wir hören dann etwas, das heilsam und zur lebensfördernden Gestaltung unserer Zukunft unerlässlich ist.

Zurzeit leben wir in einer weltweiten Krise. Das ist noch keine Katastrophe, aus einer Krise kann man durchaus gestärkt hervorgehen. Nötig ist aber, die einzelnen Elemente dieser Krise in den Blick zu nehmen und sich bewusst zu machen, welche Konsequenzen es hat, wenn wir ohne einschneidende Maßnahmen einfach einem „weiter so“ folgen. Auch bei der Untersuchung der Krise müssen wir „zu den Wurzeln“ zurückgehen. Es hilft nicht, wenn wir nur betroffen die Berichte über die Wetterkatastrophen in den Zeitungen lesen und im Fernsehen vor Augen bekommen, und dann noch von der Wissenschaft hören, dass es einfach nicht so weitergehen darf.

Man kann jetzt natürlich sagen: „Geht es nicht etwas kleiner?“ „Muss ich gleich die ganze Welt verändern?“ „Was kann ich mit meinem kleinen Leben denn schon ausrichten?“ Um diese Fragen geht es. Damit müssen wir anfangen, denn wenn das, was ich tue oder sage, belanglos ist, kann ich so weitermachen wie bisher. Es ist dann alles einfach gleichgültig: Wann ich einschlafe, wann ich aufstehe, was ich esse, trinke, anziehe, wo und wie ich wohne, ob und welches Auto ich fahre, wo und wie ich meinen Urlaub verbringe, alles gleichgültig? Welche Bücher ich lese, welche Filme ich ansehe, mein Fernsehprogramm, welche Musik ich höre, meine Hobbies, wie ich meinen Garten gestalte, meine Arbeitsauffassung, mein Berufsleben, meine technische Ausstattung, Computer, Handy, alles egal? Dann muss ich weiter fragen: auch meine Freunde? Geselligkeit, Familie, Nachbarschaft? Je mehr ich aufzähle, desto klarer wird: Nichts ist egal und nichts ist gleichgültig. Ich bin mitten im Leben und für alles, was ich tue oder lasse, bin ich verantwortlich. Das gibt meinem Leben Gewicht.

Ich mit meinem kleinen Leben bin unausweichlich in ein Hamsterrad geworfen, kann nicht abspringen, denn mein kleines Rad läuft in einem großen, dem ich nicht entkommen kann. Während meiner Lebenszeit hat sich das Tempo dieses Rades exponentiell gesteigert. Ich möchte sagen: Ins Besinnungslose gesteigert. Ich sehe als große Gefahr, dass wir in dieser Hast unsere Menschenwürde nicht nur antasten, sondern aufs Spiel setzen und verlieren. Seit langem ist klar, wenn nicht Einschneidendes geschieht, ruinieren wir nicht nur ein noch immer einigermaßen intaktes ökologisches System, sondern degradieren auch uns selbst als Menschen zu verschiebbaren Elementen, die von tausend Einflüssen in Werbung, Reklame und Meinungen gelenkt werden und dabei ihre Selbstbestimmung verlieren.

Wir wollen an sich ja gar nicht mehr, als in Sicherheit zu leben; wir möchten uns sicher fühlen und verlangen danach. Früher sollte der „Vater“ Staat Sicherheit garantieren, heute soll es „die Politik“. Wir „rechnen“ sozusagen mit dieser Sicherheit, meinen, wir haben einen Anspruch darauf: Was können wir doch nicht alles! Es muss doch Sicherheit geben können! Was können wir nicht alles! Was irgendwo auf der Welt passiert, wir können es uns zeitgleich in unserem Wohnzimmer ansehen. Unser Handy weiß die Antwort auf jede Frage. Und binnen kurzem steht uns eine künstliche Intelligenz zur Verfügung, die unserem Denkapparat noch voraus ist. Die medizinischen Fortschritte gehen ans Wunderbare. Ich wäre schon vor Jahren gestorben, wenn mir nicht die einem Schwein entnommene Herzklappe eingesetzt worden wäre. Alle Fortschritte, die unser Leben bereichern, können wir dankbar genießen, aber „wunderbar“ ist keiner. Es ist alles berechenbar.

Und darum sind wir als Kirche gefordert, vernehmlich „Halt!“ zu rufen. Wir können uns nicht in einem blinden Optimismus einseitig mit Entwicklungen abfinden, die in eine dunkle Zukunft führen. Wir können es nicht ohne deutlichen Einspruch und Widerspruch einfach hinnehmen, dass eine Intelligenz ohne Herz sich als verfügende Gewalt etabliert. Sowohl als Organisation Kirche, wie auch als einzelner Christ sind wir gefragt und gefordert, uns nichts vorzumachen, sondern der Wirklichkeit standzuhalten und Welt und Menschen wahrzunehmen, wie sie sind. Und das heißt: Ich höre den Schrei und höre das leise Wimmern von Millionen von Menschen, die auch durch meine Art zu leben unter Hunger, Elend, Krieg und Flucht leiden; ja, das ist so, und nun? Was tue ich? Und was will ich antworten, wenn meine Enkel und Urenkel mich fragen: „Was hast du getan?“ Ich verleugne meine Würde, wenn ich mich diesen Fragen nicht stelle. Ich weiß, dass es nicht genügt, zu sagen: „Ich habe gespendet“. Grundlegend habe ich nichts geändert.

Meine Hilflosigkeit quält und bedrückt mich: Ich weiß einfach nicht weiter. Wen kann ich fragen? Wo finde ich Hilfe? Diese Frage duldet keinen Aufschub. Solange ich diese Frage unbeantwortet vor mir herschiebe, solange habe ich auch nur noch scheinbar Anteil an der Wirklichkeit des Lebens. Zur Fülle des Lebens gehört, dass ich es in seiner ganzen Fülle mitlebe und an seiner Gestaltung mitwirke, den Jammer also nicht verdränge.

Ich müsste jetzt viele Programme kritisch durchleuchten, die allesamt Wege aufzeigen, um uns aus dieser Misere herauszuhelfen (etwa „Fridays for Future“ oder „Die Letzte Generation“ u.a.). Dazu fehlen mir die Zeit und die Kompetenz. Was – um Himmels willen – steht uns nicht heute alles zur Verfügung!? Was bestimmt und lenkt unser Verhalten!? Die Kräfte des Marktes! Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sind auf einem nie gekannten Höhenflug! Da muss es doch Lösungen geben! Ich bin überzeugt: Der Markt allein wird es nicht richten! Und Technik und Wissenschaft? Selbst wenn sie Lösungen anbieten, fehlt es ihnen an Macht, sie auch durchzusetzen. Ich sehe nur eine Antwort: Ich befrage uns als Menschen und nur als Menschen. Ich frage die Geschichten, die mir in der Bibel überliefert sind und stoße auf uraltes Menschheitswissen. Ich befrage sie nach unserem bisherigen Weg und lasse mich über die Möglichkeiten beraten, die wir jetzt haben, um die gegenwärtige Krise zu meistern.

Ich beginne mit der Bibel und fange mit der Frage an, wie unser christlicher Glaube in die Welt gekommen ist.

Hören wir zu!

Es wird erzählt1: Nach Pfingsten gab es in Jerusalem eine Gruppe von Leuten, die sich zu Jesus bekannten: Petrus und Johannes aus dem engeren Kreis dieser Gruppe waren zusammen im Tempel und Petrus hatte dort einen Lahmen geheilt. Es gab einen Auflauf, es war schon Abend und die Tempelwache nahm die beiden „Übeltäter“ aus Sicherheitsgründen fest und brachte sie vor die Obersten, Ältesten und Schriftgelehrten. Am Morgen wurde sie vorgeführt und Petrus rechtfertigte sein Handeln durch eine Rede, in der er den offiziellen Autoritäten zum Schluss ihren Irrglauben vorhielt, denn – so sagte er – „es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden, als eben der, in dessen Namen wir geheilt haben.“ Und dann kommt als zweiter Satz: „Wir können´s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten von dem, was wir gesehen und gehört haben,“ Den Autoritäten war an Ruhe und Ordnung gelegen, „sie drohten ihnen und ließen sie gehen und wagten nicht sie zu bestrafen um des Volkes willen; denn sie lobten alle Gott über das, was geschehen war.“

Was war geschehen? Dem Volk war für einen „Augen-Blick“ der Horizont geöffnet: Das „Heil“ war erschienen und sie lobten Gott: Das Heil hatte auf einmal einen Namen und in diesem Namen treffen sich seither Menschen, finden sich zu einer ergriffenen Gemeinschaft. Der Name ist Jesus und dieser Name steht nun für „Gott“ – das „Leben“ – das „Heil“.

Petrus hat das Heil an die Person Jesus gebunden. Die Apostelgeschichte wurde vermutlich in den Jahren um 65 - 71 geschrieben; zur selben Zeit entstand das Johannes-Evangelium2 mit dem Jesus in den Mund gelegten Satz: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“3 Inhaltlich sind beide Aussagen deckungsgleich: Jesus ist der Weg in Person, ist die Wahrheit in Person, ist das Leben in Person und nun auch das Heil in Person. Als Person wird der Mensch zum Träger des Wesentlichen.4

Wir müssen und können davon ausgehen, dass von der Urgemeinde Jesus tatsächlich und ausschließlich gegen alle sonst bekannten Götter, Geister und Dämonen bekannt wurde als Weg zum Heil. Ihr Glaubensbekenntnis hatte im Griechischen nur zwei Wörter: „Kyrios Jesous“ (zu deutsch: „Herr ist Jesus“) Wenn das so ist, dann wurde das Heil nicht nur als jenseitiges Heil verstanden, sondern als bestimmende Wegweisung ins diesseitige Leben hineingenommen. Petrus hatte ja tatsächlich geheilt. Es ist ein Wesensmerkmal von Geschichten, dass sie nicht im Wolkenkuckucksheim ihren Ort haben, sondern mitten in der gelebten Welt. Die von und über Jesus und die Apostel erzählten Geschichten sind Geschichten aus dem Alltag und spiegeln das alltägliche Leben und das Denken und Fühlen „alltäglich“ denkender und fühlender Menschen.

Johann Hinrich Claussen hat in einem Vortrag dargestellt „Was die frühen Christen wirklich glaubten“5 und ist dabei nicht, wie üblich, von Texten und Schriften ausgegangen, sondern vom archäologischen Befund, also von den „Bildern, Inschriften und rituellen Gegen-ständen, die die ersten Christen geschaffen und benutzt haben.“ Dabei ergibt sich aus ungezählten Funden aus allen Teilen des Römischen Reiches Staunenswertes. Aus der Fülle des von Claussen genannten Materials und der daraus erhobenen Erkenntnisse nenne ich hier nur einige Gesichtspunkte, die für unsere Untersuchung hilfreich sind.

Die Funde zeigen die weite Verbreitung des Christenglaubens über eine große Fläche, es gab kein Zentrum, weder Rom noch Byzanz, keine hierarchisch geordnete Kirche, sondern „mehrere globale Bewegungen zugleich. Ihre Kennzeichnungen waren Vielfalt, Offenheit, Vermischung, Grenzüberschreitung, Lebendigkeit.“ „Woran hängten die frühen Christen ihr Herz?“, fragt Claussen und erhebt: „Offenkundig ging es weniger um heilige Texte, theologische Lehren oder die Institution Kirche, sondern um das, worum es in der Religion immer geht: Schutz, Heilung, Vertrauen, Vergewisserung, Freude, Dankbarkeit, Gemeinschaft.“ „Man rief gute Mächte an6, damit sie für einen gegen böse Mächte kämpften. Man brauchte einen Glauben, der einem im beschwerlichen, gefährlichen Alltag der Antike half: gegen Krankheit, Hunger, Gewalt, den bösen Blick.“

Claussen sagt dann weiter: „Auch in den Christusbildern findet sich viel Nicht-Christliches. Oft scheinen die Bilder bewusst mehrdeutig gehalten zu sein.“ Claussen zitiert den Historiker Peter Brown, der darin eine Stärke sieht: „Es war genau diese Unsauberkeit, dieser Mangel an Bestimmtheit, dieses Fehlen einer eindeutigen Identität, diese opportunistische Offenheit, die das Christentum – damals mehr eine Bewegung als eine Kirche – so erfolgreich sein ließ.“ Zusammenfassend sagt Claussen dann: „Der archäologische Blick ins frühe Christentum zeigt, wie offen, lebendig, vielfältig und widersprüchlich die Geschichte des Glaubens gewesen ist.“ Und dann: „Wer das Christentum nur als eine theologische und kirchliche Ordnung kennt, erfährt eine heilsame Verstörung. Er begegnet einer Bewegung, die man mit den handelsüblichen Unterscheidungen von „christlich – jüdisch – heidnisch“ oder „orthodox – ketzerisch“ oder „gläubig – abergläubisch“ nicht in den Griff bekommt.“ Ich möchte für mich ergänzen, dass ich für die Mitteilung dieser archäologischen Forschungsergebnisse sehr dankbar bin, denn sie zeigen und belegen, worum es mir geht: Der christliche Glaube entzieht sich jeglicher Festlegung oder Systematisierung, weil er wie sein Gegenstand lebendig ist und von Anfang an war und bleiben wird.

So ist es – oder besser – kann und sollte es auch heute sein und sich in unserer Frömmigkeit niederschlagen. Frömmigkeit enthebt uns nicht dem Alltag, sondern äußert sich auf vielfältige Weise. Traditionell geht es bei der Frömmigkeit um unser Verhältnis zu Gott und darum, welchen Einfluss dieses Verhältnis auf unser Leben und Handeln hat. Wenn wir nun genau hinsehen, stoßen wir auf überraschende Zusammenhänge. Auch in unserer heutigen säkular, d.h. rein diesseitig geprägten Welt taucht nämlich selbst im alltäglichen Verhalten immer wieder ein jenseitiger Gott bestimmend auf. Dietrich von Oppen weist in einem Aufsatz über „Frömmigkeit ohne Vorbilder“7 darauf hin, dass die historische Grundfigur für die Lebensordnung und das Gottesverhältnis die des Vaters war. Wir müssen also fragen: Sind auch heute noch „Gott“ und „Vater“ Grundfiguren unserer Lebensgestaltung?

Unsere heutige Figur des „Vater“ geht ins 6. Jahrhundert zurück und fußt auf Benedikt von Nursia als „Vater“ eines Mönchsklosters, des „Abbas“ oder des „Abtes“. Von diesem Vaterbild her ist eine prägende Kraft in alle Bereiche des Lebens ausgegangen: in den „Hausvätern“ der Dörfer und Städte, in der Gestalt des Papas der Christenheit, des „Papstes“. In der politischen Welt stand der „Landesvater“ an der Spitze, der sich „patri“-archalisch (wörtlich übersetzt: Vater-herrschaftlich) um seine Untertanen kümmerte und in der evangelischen Kirchengemeinde trat der Pfarrer an die Stelle des benediktinischen Vaterbildes.

Von Oppen sieht nun drei Züge, die das Vaterbild in der Folgezeit geprägt haben: Der erste ist der, dass der Vater für die, die ihm unterworfen sind, an die Stelle Gottes tritt. Daraus folgt als erste Tugend der Gehorsam. Die ganze Ordnung kreist um den Gehorsam, ja, die Überschrift sagt es deutlich, die „Regel“ des Benedikt ist „so genannt, weil sie „das Leben Gehorchender regelt“. Der zweite Zug ist der Eingottglaube, alles ist auf die Person des Abtes zugeschnitten und hängt an seiner Entscheidung.“8 Der dritte Grundzug ist der, dass damit eine Tradition begründet wurde, „die am längsten mit gleichbleibender Ordnung gelebt hat.“ Die einmal gesetzte Ordnung hat sich durchgesetzt und wurde überall und allenthalben eingehalten und weitergegeben. „Überall verwalteten Väter treu der Überlieferung ein Erbe, um es wohlverwahrt den Söhnen und Enkeln weiterzureichen.“ (Das hat sich erst in jüngster Zeit mit der Emanzipation der Frauen geändert.)

Ich habe v. Oppen so ausführlich zitiert, weil seine Analyse der Frömmigkeit zwei Achsen freilegt, die meiner Meinung nach bis heute das Bild beherrschen, das man sich üblicherweise von Frömmigkeit macht: die Achse nach oben und die Achse nach rückwärts. Ich bin mir sicher, dass diese Achsen noch heute in unsere kulturellen Wurzeln reichen. Wenn wir also einen wirklichen und tiefgreifenden Bewusstseinswandel erreichen wollen, müssen wir bei diesen Wurzeln ansetzen, da, wo dieses Bewusstsein gebildet wurde. Helfen kann es uns dabei, die eigene Geschichte in den Blick zu nehmen.

Ein kurzer Rückblick in meine eigene Geschichte möge uns helfen: Mein Vater wurde als Soldat 1918 mit dem „Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet. Der Orden wurde im Verlauf der Befreiungskriege 1813 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III gestiftet; es war also eine ursprünglich preußische, dann deutsche Kriegsauszeichnung für soldatische Tugenden, wie Gehorsam, Mut, Tapferkeit, Einsatzfreude, Pflichterfüllung. Diese Tugenden mussten sich im Kampf gegen die „Feinde“ bewähren, und das waren dann in Sonderheit Franzosen oder auch Engländer. Es ging beim Kampf für die „deutsche Sache“ auch um Gerechtigkeit und somit konnte man davon ausgehen, dass wir auch „den Allmächtigen“ auf unserer Seite hatten, denn Gott, der Vater, war ja ein gerechter Gott und selbstverständlich auf der Seite seiner Kinder und das waren eben wir, die gehorsam ihre Pflicht taten. Da ist er also wieder da: Gott der Vater, nun vor den Wagen des Königs – oder Kaisers „von Gottes Gnaden“ gespannt.

Als Deutsche standen wir darüber hinaus ja auch in der preußischen Tradition, in die ich selber 1945 verstrickt wurde, als es ums Durchhalten in einem aussichtslosen Krieg ging. Der große König (Friedrich der Große) hat auch nicht aufgegeben, sondern durchgehalten und dadurch Preußen zu einer europäischen Großmacht geführt. In diese Tradition verstrickt haben wir dann auch bis zum totalen Ende durchgehalten, weil wir im Gehorsam und Vertrauen auf den „Führer“ unsere Pflicht taten, um endlich das zu werden, was uns zukommt: eine anerkannte Weltmacht. – Anna Haag schreibt in ihrem Tagebuch unter dem Datum 11. 4. 1945, also unmittelbar vor dem Ende des Krieges, das sie 10 Tage später bei Stuttgart erlebt: „Gedicht, abgedruckt in der heutigen Zeitung: >Und dennoch …< / Und dennoch – dennoch wirst du siegen, / Du heißgeliebtes deutsches Land / Denn deine Heere lenkt der Führer, / der uns wahrhaft von Gott gesandt … / usw., usf. <“.9 So waren wir auch in der Bildung unseres Bewusstseins und unseres Charakters in Geschichten verstrickt: Wir haben durchgehalten und unserem Führer wie auch unseren Vorgesetzten vertraut und sind dann – ich sage bewusst: Gott sei Dank! – enttäuscht worden.

Ich möchte nun nicht durch die Geschichte meiner Vorfahren darstellen, dass und wie mein Verhalten durch weitergegebene Prägungen bestimmt ist, sondern es beunruhigt mich, dass ich mich in diese Prägungen auch ein-gefügt habe. Von meinen Vätern habe ich einen Tugendkatalog geerbt. Ich habe ihn in der Tat an-ge-eignet, so dass er mir zu eigen geworden ist, ohne dass ich ihn bewusst erworben habe. Jetzt kann ich mir diesen Vorgang bewusst machen und entscheiden: Ich will diesen Tugendkatalog meiner Väter nicht haben und werfe ihn deshalb über Bord. Das ist ein bewusster Akt, den ich – auch vor mir selbst – begründen muss. Wir rechnen uns zu, dass wir als Menschen Vernunftwesen sind, machen indessen von der uns damit gegebenen Möglichkeit einer kritischen Prüfung alles dessen, was in uns eingepflanzt oder auch dessen, was uns übergestülpt wird, meist nur eingeschränkten Gebrauch.

Der herkömmliche Tugendkatalog, der von einer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsordnung ausgeht und sich mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung verbunden hat, schlägt sich in einzelnen und auf sich bezogenen Nationen nieder und fordert dann von jedem Einzelnen, Bürger oder Bürgerin, eine „Vater-Lands-Liebe“, die eine Trennung zwischen den Völkern und imperialistischer Gewalt nach sich zieht. Fassungslos stehen wir seit dem 24. Februar 2022 vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, der – man glaubt es kaum – vom obersten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche unterstützt wird. So beten sie dann alle für den Sieg, denn auch die Gebete für den Frieden haben gewiss einen „Sieg-Frieden“ für das eigene Land vor Augen. Das ist offenkundiger Unsinn, denn ein Sieg-Frieden ist eine contradictio in se, ein Widerspruch in sich selbst: Wer in einem modernen Krieg das Leben tausender von Menschen ruiniert, kann sich doch nicht einen Siegerkranz aufsetzen!

Ein von Gott geschenkter Sieg ist nicht nur eine schlimme, sondern auch verbrecherische Irreführung. Der Gott, der dabei angebetet wird, ist eine Schimäre, ein Hirngespinst. Und dieser „Gott“ ist trostlos. Man soll sich nichts vormachen: In unser säkulares Denken und Fühlen trifft für sehr viele Menschen dieser trostlose Gott tatsächlich das Bild, das sie sich von „Gott“ machen. Da taucht sie auf, die Welt des Unheils, in der viel von Gott, aber nie von Jesus die Rede ist. Ich nehme die Beobachtung von Oppens hier wieder auf, dass die an Gott gebundene Frömmigkeit rückwärts an der Vergangenheit orientiert ist. Diese Rückwärtsorientierung beflügelt alle rechts gerichteten politischen Bewegungen: Man will zurück zu einer durch Macht garantierten Sicherheit. Das ist ein verhängnisvoller Irrweg! Ich setze einen Satz von Kierkegaard dagegen: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts bedacht.“

Ein tröstender Gott ist sicher völlig anders als der in den zuletzt genannten Geschichten beschriebene Patriarch. Dieser Gott als Patriarch ist die Ausgeburt imperialistischer Herrscher, die sich die Religiosität ihrer Untertanen zunutze machen, um ihre Ziele zu erreichen. Der tröstende Gott ist nicht in nationalen und imperialistischen Geschichten zu finden, sondern in den Geschichten, die im Evangelium von Jesus erzählen. Da wird gegen die Trostlosigkeit des gehorsamen Untertanen der Trost des im eigenen Glauben zugänglichen liebenden Gottes gestellt, der einen erbaulichen Rückblick und Ausblick möglich macht, der ermutigt und zugesprochen wird, der aus der Enge heraus in Weite und Offenheit führt.

Ich kann mich nicht selbst trösten. Ich kann aber meine Begabung zu hoffen nutzen und Paul Gerhards Aufforderung folgen: „Hoff´, o du arme Seele, hoff ´ und sei unverzagt!“ und die Aussicht glauben: „so wirst du schon erblicken die Sonn´der schönsten Freud.“ Ich bin dann „recht bei Trost“ weil ich durch den Trost den Tröster erfahre, in und von dessen Liebe ich mich gehalten wissen darf und ermutigt werde, diese Liebe zu leben. Vielleicht kann man Frömmigkeit so beschreiben: ein aktives Leben in hoffen, glauben und lieben. So verstandene Frömmigkeit hat auch in der diesseitigen Welt ihren Platz, weil sie ja durch das Handeln des Frommen ins tägliche Leben eingetragen wird. Und da taucht dann – wie bei Paul Gerhard – Jesus in seinen Geschichten wieder auf.

Aktives Leben ist immer auch politisch auf die Gestaltung der Gesellschaft bedachtes Leben, denn keiner lebt für sich allein. In einer demokratischen Verfassung ist das selbstverständlich. Ganz anders ist das in einer patriarchalisch aufgebauten Ordnung, da gebietet der Patriarch (oder Diktator). Und nun ist es ja spannend herauszufinden. an welchen Gott die Frömmigkeit in Politik und Kirche in der Geschichte gebunden wurde: War Gott der befreiende, liebende und helfende Gott, wie Jesus ihn lebte oder der Gehorsam fordernde Patriarch? Ist ein Zusammengehen von an den liebenden Gott gebundene Frömmigkeit mit dem Patriarchat überhaupt möglich, oder schließt es sich nicht notwendigerweise gegenseitig aus. Ein Blick in die Geschichte lohnt sich auch, um die bewusste oder unbewusste Manipulation bloßzulegen, mit der die religiöse Bedürftigkeit der Menschen von Machthabern für ihre Zwecke ausgenutzt und missbraucht wurde, werden kann und wird.

1 Apg. 4. 1 ff.

2 Nach Berger/Nord: „Das Neue Testament und frühchristliche Schriften“, Frankfurt 2003

3 Joh. 14. 6

4 „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“, München 1995

5 NDR-Kultur: Glaubenssachen, am 4. April 2021

6 Man tut es bis heute. Bonhoeffers Vers „Von guten Mächten wunderbar geborgen...“ ist zum bekanntesten Trostvers unserer Zeit geworden.

7 In „Frömmigkeit in einer weltlichen Welt“, Hrsg. Hans Jürgen Schulz, Stuttgart 1959, S. 28 ff.

8 Von Oppen a.a.O. S. 32 (Diese patriarchalische Ordnung ist das Gegenbild zur Demokratie!)

9 Anna Haag: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“, Tagebuch 1940 – 1945, Reclam

Die Kirche hat einen Auftrag

„Die Kirche hat nicht den Auftrag, die Welt zu verändern; wenn sie aber ihren Auftrag erfüllt, ändert sich die Welt“, sagt der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker. Ich frage im folgenden Absatz nach dem speziellen Auftrag der Kirche für die Lebensordnung in der Welt und wie weit sie bei der Erfüllung dieses Auftrags dem Evangelium gefolgt bzw. von ihm abgewichen ist.

Auch zu diesem politischen Thema gibt es im Evangelium eine Geschichte10: Es wird erzählt: Man wollte Jesus hereinlegen. Deshalb schickte man Leute entgegengesetzter politischer Richtungen zu ihm und die stellten ihm eine Fangfrage. Zunächst schmeichelten sie ihm und sagten, sie wüssten wohl, dass er nicht drumherum redete, sondern klare Antworten gäbe, nun möchten sie wissen: ob sie dem Kaiser Steuern zahlen sollten oder nicht. Für die römerfreundlichen Sadduzäer war dies natürlich klar; die Pharisäer, für die die römische Besatzung nur schwer zu ertragen war, waren ebenso natürlich strikt dagegen. Was sollte Jesus nun antworten? War er für die Steuern, hatte er die gesetzestreuen Pharisäer gegen sich aufgebracht, sprach er sich gegen die Steuern aus, machte er sich die Römer und die Sadduzäer zu Feinden. Jesus antwortete nicht nur klug, sondern schaffte mit der Antwort eine grundsätzliche Haltung. Er ließ sich eine Münze geben – offenbar hatte er keine in der Tasche – und fragte nach dem eingeprägten Bild. Es war das Bild des Kaisers. „Also“, sagte Jesus, dann: „gebt dem Kaiser was des Kaisers ist“. Offenbar hat er bei diesem Satz dem Fragenden ins Gesicht gesehen, jedenfalls fährt er fort: „und Gott was Gottes ist“.

Damit war klar – das eingeprägte Bild galt als Eigentums-bezeichnung –: Münze und Kaiser gehören zusammen. Das ist eine Einheit: Der Kaiser und das römische Reich, das Imperium Romanum. Das ist die