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In der Bibel gibt es nicht nur heilige Held:innen, die unerreichbare Maßstäbe setzen, oder hoffnungslose Fälle, die maximal als schlechtes Beispiel taugen. Das Personal darin ist erfrischend lebendig und erschreckend normal. Tatsächlich beschäftigen sich Maria, Jakob, Rebekka, David & Co. mit vielen Fragen und Problemen, die bis heute aktuell sind und in denen wir uns schnell wiederfinden: echte Freundschaft, krasser Burnout, Dating-Erfahrungen, Minderwertigkeitsgefühle, Scheitern von Träumen und vieles mehr! Hauke Burgarth geht diesen Personen nach und holt sie mit ihrem Leben und Erleben wortwörtlich in die heutige Zeit. Durch die Neuerzählungen entsteht ein frischer Zugang zu 20 bekannten und unbekannteren Bibelgeschichten. Ein Buch für Leserinnen und Leser, die den Protagonist:innen der Bibel aus einer ganz neuen Perspektive begegnen möchten. Darüber hinaus ist es auch geeignet für Gruppen, die Anregungen suchen, um über biblische Themen und Personen ins Gespräch zu kommen. Mit Reflexionsfragen zu jedem Kapitel, Platz für eigene Gedanken sowie praktischem Personen- und Stichwortverzeichnis.
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Seitenzahl: 95
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Hauke Burgarth
Von Freundschaft, Freaks und Fragezeichen
Alltäglich
Wer in seiner Bibel nur Heilige findet, der hat noch nicht hineingeschaut. Tatsächlich ist das Personal darin erfrischend lebendig und erschreckend normal. Trotzdem begegnen sich in ihren Geschichten Himmel und Erde. Und Menschen spüren, dass auch sie in diesen biografischen Erzählungen vorkommen und Raum darin haben, weil sie dem eigenen Leben und Erleben irgendwie ähneln. Sie finden darin Hilfe, Trost und Orientierung.
Durch den zeitlichen Abstand wird das allerdings weniger. Manche Handlungen und Haltungen sind heute erklärungsbedürftig, andere kaum mehr nachvollziehbar. Unsere Lebenswelt unterscheidet sich krass von der damaligen, von den Menschen, die zur Zeit von Jesus leben – und erst recht von denen, die im ersten Teil der Bibel vorkommen.
Willst du ihnen trotzdem begegnen? Eine Möglichkeit, das zu tun, ist, dass du diese alten Geschichten liest und versuchst, sie anschließend auf dein eigenes Leben anzuwenden. Ein paar Hintergrundinformationen sind hierbei wertvoll und du kommst damit zu hilfreichen Ergebnissen. Viele gehen so vor und es funktioniert. Das Problem dabei ist, dass manchen Storys dadurch die Echtheit und das Leben fehlt. Ein altisraelischer König bleibt dabei seltsam blutleer oder noch schlimmer: Er wirkt nur noch blutrünstig. Permanent bist du dabei zu überlegen, was an einer Geschichte für heute und für dich Relevanz hat. Darüber dann auch noch mit anderen ins Gespräch zu kommen, ist erst recht nicht so einfach …
Ich versuche es deshalb einmal andersherum: Ich lasse die Bibeltexte Geschichten bleiben und hole sie samt ihrer Personen in die Gegenwart. Da ist einiges ausgeschmückt und manches weggelassen. Geschenkt. Aber die Männer und Frauen der Bibel fangen wieder an zu atmen, wenn sie ihren alten Herausforderungen in unserer heutigen Zeit begegnen – genauso wie du.
Die kurzen Begegnungen mit bekannten und weniger bekannten Personen aus der Bibel sind kein Ersatz fürs Original. Sie können maximal eine Brücke dorthin bauen. Deshalb sind sie auch nie „auserzählt“ und am Ende jedes Abschnitts steht ein Textverweis auf die ursprüngliche und vollständige Geschichte zum Weiterlesen, Überlegen und Diskutieren. Du kannst die Kapitel allein für dich betrachten, dich darüber freuen, ärgern und nachdenken. Noch besser ist es, wenn du sie mit Freunden und Bekannten zusammen besprichst, vielleicht in einer Kleingruppe deiner Kirche oder Gemeinde. So entfalten die Storys eine ganz eigene Dynamik.
Am Ende jedes Kapitels stehen ein paar Fragen, die dir oder euch als Gruppe dabei helfen können, tiefer einzusteigen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Im Anhang kannst du außerdem nachschauen, wo welche Person oder ein bestimmtes Thema vorkommt.
Und jetzt lass dich überraschen von den Normalos und Held:innen der Bibel, wenn sie in deiner Nachbarschaft unterwegs sind. Höre ihnen zu, wenn sie von Freundschaft, Freaks und Fragezeichen erzählen.
Ich wünsche dir inspirierende Begegnungen
Hauke
Funkstille
„Was hast du gesagt?“ Ärgerlich schaut er seine Frau an. „Eine Weihnachtskarte? Für meinen Bruder?“ Sein gedachtes „Nein“ steht dröhnend im Raum, dann zuckt er die Schultern und sieht sie fast verlegen an: „Du weißt, wir reden schon ewig nicht mehr miteinander.“ Gleichzeitig überlegt er: Muss das eigentlich so bleiben?
Erst ist es nur ein kurzer Gedanke. Doch er wird ihn nicht mehr los: Seit diesem Jahr bin ich im Ruhestand. Mir geht es gut. Ich habe alles. Meine Familie ist ein wunderschönes Geschenk. Und jetzt habe ich auch noch mehr Zeit, um mich in der Kirche zu engagieren. Die war mir immer wichtiger als …
Schon wieder sein Bruder. Sie waren fast gleichaltrig, aber doch wie Feuer und Wasser. Klar hatten sie auch gute Zeiten miteinander erlebt, aber er erinnert sich hauptsächlich an Konkurrenz, Missverständnisse und Streit. Sein Glaube an Gott, den er schon früh für sich entdeckte, erschien dem Bruder immer verdächtig. Nicht, dass der nicht geglaubt hätte, aber irgendwie anders: lauter, aktiver, selbstbewusster.
Und irgendwann verkrachten sie sich endgültig. Eigentlich waren sie schon daheim ausgezogen, aber als Vater im Sterben lag, kamen sie beide. Kaum war er tot, ging der Streit erst so richtig los. Die alten Probleme brachen wieder auf – und neue wegen des Erbes kamen dazu.
Ich fühle die Angst von damals noch, denkt er erschreckt. Denn ehrlich verhielt er sich beim Teilen der väterlichen Hinterlassenschaft nicht. Und so ging er seinerzeit, ohne einen einzigen Blick zurückzutun. Zweiunddreißig Jahre alt war er damals. Und zweiunddreißig Jahre ist das jetzt her. Sein halbes Leben … Ganz langsam greift er zu seinem Handy. Er hat die Nummer seines Bruders, irgendwann hat er sie einmal herausgesucht. Natürlich hat er sie nie angerufen, aber vielleicht schreibt er ihm einfach eine SMS?
„Hallo. Ich bin’s. Was meinst du, könnten wir uns mal treffen?“
Absenden.
Er ärgert sich plötzlich, dass er die Nachricht sofort abgeschickt hat. Wieso hat er nicht gründlicher überlegt? Was, wenn sein Bruder nie antwortet? Oder noch schlimmer: Wenn er es tut?
Kling!
„Ja, einverstanden. Wann und wo?“
Irgendwie sind wir beide nicht so die Meister der Worte, denkt er. Aber er freut sich über die Antwort. Er schlägt ein gutes Restaurant auf halbem Weg zwischen ihren Wohnorten vor. „Bis morgen dann.“ – „Bis morgen.“
Seine Frau lächelt so fröhlich, wie er es schon lange nicht mehr gesehen hat. Und er? Bekommt abends keinen Bissen herunter. Und als er sich nach dem Fernsehkrimi ins Bett legt, halten ihn die Gedanken wach: Er will mich gar nicht sehen. Er will sich rächen. Für damals. Wie konnte ich nur so dumm sein!
Er wälzt sich die ganze Nacht hin und her. Als er morgens schweißgebadet aufsteht, verdreht er sich auch noch den Fuß. Ha, denkt er, jetzt hätte ich sogar eine Ausrede, nicht fahren zu müssen. Doch trotz Müdigkeit kann er schon über sich selbst lachen: Wir sind zwei alte Männer. Was sollte er mir antun? Gleich nach dem Frühstück setzt er sich in seinen BMW, gibt die Adresse des Restaurants ins Navi ein und fährt los. Beim Pfeifengeschäft an der Ecke hält er noch einmal kurz. „Haben Sie Trinidad-Havannas?“ Er kauft ein Kistchen der früheren Lieblingszigarren seines Bruders und bezahlt ein kleines Vermögen dafür. Dann stellt er sie auf den Beifahrersitz und fährt weiter.
Verkrampft hält er das Lenkrad fest. Der nächtliche Kampf ist noch nicht ausgekämpft. Mal fragt er sich: Warum habe ich nicht noch ein, zwei Jahre gewartet mit dem Treffen? Dann wieder: Wieso musste erst mein halbes Leben vergehen, damit ich diese Strecke zu ihm fahre? Ich habe mich doch immer für den Frommeren von uns beiden gehalten. Und spricht die Bibel nicht ganz oft von Umkehr, Neuanfang und Versöhnung?
Kurz blitzt der verlorene Sohn vor seinem inneren Auge auf. „Aber meine Situation ist eine völlig andere“, ruft er dem ahnungslosen Golffahrer vor sich zu. Gut, dass der ihn nicht hört. Erst scheint ihm der Weg endlos lang, doch erschreckend schnell ist das Ziel erreicht und er biegt auf den Parkplatz des Restaurants ein. Viertel vor zwölf. Wahrscheinlich bin ich noch vor ihm hier.
Er betritt das Restaurant, hängt seinen Mantel an die Garderobe und macht sich mit den Zigarren unter dem Arm auf den Weg in den Speiseraum. Da durchzuckt ihn der Gedanke: Und wenn er nicht kommt? Wenn ich ihn nicht erkenne? Dann sieht er bereits den älteren Mann, der ein bisschen so aussieht wie er selbst. Der ihn fixiert und dann aufsteht. Der die Arme ausbreitet, lächelt und sagt: „Was bin ich froh, Jakob.“
…
Manchmal dauert es erschreckend lange, bis wir realisieren, dass Versöhnung der einzige Ausweg aus dem Teufelskreis von Verletzung, Stolz und Vergeltung ist. Das ist schon in der Urversion dieser Geschichte so, wo sich Jakob und Esau nach 32 Jahren wieder begegnen. Du findest sie in 1. Mose, Kapitel 32–33.
Dein eigener Zugang zur Geschichte:
Fallen dir ähnliche Situationen aus deinem eigenen Leben ein?Woran liegt es wohl, wenn die „guten Gründe“, die es einmal für eine Trennung gab, keinen Bestand haben?Ist Versöhnung immer möglich? Wann kann es sinnvoll sein, nicht wieder auf andere Personen zuzugehen?Was für eine Rolle könnte es spielen, selbst angeschlagen zu sein, wenn du vor einer schweren Begegnung stehst?Gescheitert?
„Hast du schon gehört: Willy ist gestorben.“
„DER Willy?“
„Ja, DER Willy.“
Harald stellt die Tasse ab und schaut Sabine über den Frühstückstisch hinweg an. Sonntag ist ihr gemeinsamer Tag. Da schlafen sie aus, so lange es sie als Frühaufsteher im Bett hält, und gegen acht sitzen sie zusammen im Wintergarten am Tisch. Zwischen ihnen dampft der Kaffee, und die Croissants warten darauf, buttrig im Mund zu zerfallen. Es ist ein schönes Ritual für sie beide. Mal reden sie angeregt über den letzten Besuch bei Susan und Bernd, mal hängen sie ihren eigenen Gedanken nach und schauen dabei in den Urwald hinter ihrem Haus, der da ist, wo die Nachbarn ihren Garten haben, und mal werfen sie sich einfach Wortfetzen und Eindrücke zu. Es ist wie ein Ballspiel. Manche bleiben bald am Boden liegen und werden auch nicht wieder aufgenommen, andere sind eine ganze Weile zwischen ihnen unterwegs. Wie das Reden über Willy.
Sabine schaut nur fragend und Harald sagt: „Ich habe Conny beim Bäcker getroffen. Sie wohnt doch im Haus nebenan. Heute Nacht ist sie vom Rettungswagen wach geworden. Es heißt, dass er einen Herzinfarkt hatte – er hat es nicht geschafft.“
„Wollte er nicht diese Woche sein Begegnungszentrum eröffnen?“
„Ja, nächsten Sonntag.“
„So knapp“, meint Sabine versunken.
Den ganzen Tag über ertappen sich beide dabei, dass ihre Gedanken zu Willy abdriften: Eigentlich ist das unfair. Er hat sich so stark für andere eingesetzt. Was wohl jetzt aus seinem Herzensprojekt wird?
Am Donnerstagnachmittag ist die Trauerfeier in der Kirche des Städtchens angesetzt. „Ich glaube, wir sind nicht die Einzigen, die sich freigenommen haben“, meint Harald auf dem Hinweg. Tatsächlich kommen aus allen Richtungen Menschen angelaufen, und die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. „So viele waren noch nicht mal an Weihnachten hier“, flüstert Sabine. „Tja, das ist Willy“, antwortet ihr Mann, während die Orgel zum Eingangsstück ansetzt.
„Liebe Trauergemeinde“, begrüßt sie Pfarrer Bergmann mit seinem volltönenden Bass, „wir sind heute“ – er holt kurz Luft und betont das nächste Wort – „zahlreich zusammengekommen, um uns von Wilhelm König zu verabschieden.“ Und dann erzählt er von ihrem Willy, was sie alle wissen, und auch das, was die Wenigsten mitbekommen haben. Er spricht von seinen Eltern, die ihn zur Adoption freigeben mussten, von seiner Kindheit und Jugend im Haus einer reichen Unternehmerfamilie. Dort begann er nach seinem Studium mitzuarbeiten und fast wäre er damals in die Firmenleitung gekommen, „wenn es nicht zu diesem dramatischen Zwischenfall gekommen wäre“. Jetzt hören alle zu, denn diesen Teil von Willys Biografie kennen nicht viele.
„Willy geriet in Streit mit einem der Vorarbeiter in der Firma; der Mann war dafür bekannt, dass er seine Mitarbeiter schikanierte. Am Ende des Tages lag er mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus, und Willy war auf der Flucht. Der Vorarbeiter erzählte etwas von ‚gewalttätig ohne jeden Grund‘, aber er erstattete nie Anzeige. Jahrzehntelang war Willy in der ganzen Welt unterwegs, hauptsächlich in Afrika. Dort heiratete er und seine Söhne wurden geboren. Früher war er ein echter Hitzkopf – das legte sich im Laufe der Zeit, aber für Gerechtigkeit und andere Menschen setzte er sich immer noch ein.“