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Was ist Wirklichkeit? Was wissen wir über sie? Warum, schließlich, wissen wir überhaupt etwas über die Welt? Existiert sie nicht, da wir sie nur über unsere Sinne wahrnehmen können, allein in unserem Kopf, in unserer Einbildung? Einige sehr abstrakte Fragen, wie es zunächst scheinen mag, die höchstens für philosophische Hinterzimmer oder esoterische Expertenzirkel taugen. Die uns, im Alltag, kaum zu berühren scheinen: denen aber in einer Welt, die von sich behauptet, eine Welt des Wissens zu sein, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Mit diesen Fragen als Ausgangspunkt entführt der Autor seine Leser:innen auf eine vieldimensionale, atemlose Reise: die von der Evolution des Menschen über Religion und Philosophie bis hin zur Wissenschaftsgeschichte der letzten zweieinhalb Jahrtausende führt. Er zeichnet unsere eigene, menschliche Genesis nach: wie wir uns von den allerersten Vorläufern des Menschen bis hin zum heutigen homo sapiens entwickelt haben. Und wie wir im Laufe dieser Evolution begannen, über die Welt nachzudenken. Er beschreibt die geistige Entwicklung des Menschen: die frühen Naturreligionen, in denen wir alles Unverstandene dem Walten von Göttern zueigneten. In der Welt der Antike besucht er die Höhlen Platons genauso wie die staubtrockene Logik eines Aristoteles. Und schließlich das Zeitalter des Christentums und unsere chaotische Neuzeit: in dem sich unser Verständnis der Welt zu dem formte, was wir heute kennen. Am Ende, in einem ausführlichen zweiten Teil des Buches, spürt er dem Werdegang unserer Naturerkenntnis nach: von den griechischen Naturphilosophien über den eigentlichen Beginn der Naturwissenschaften durch Galilei (der die Sprache der Natur in der Mathematik verortete) und Newton bis hin zu den abstrakten und hochgradig kontraintuitiven Realitätskonzepten der heutigen Physik. Auf all diesen vielen, eng miteinander verwobenen Reisen treibt den Autor immer diese eine, grundlegende Frage an: was wissen wir eigentlich – und was glauben wir nur zu wissen?
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Für Marianne, David und Gabriel.
Inhalt
Vorwort
Teil I: Mensch und Wissen
1. Wissen, Glauben und Erkenntnis. Einige Fragen.
1.1 Kultur und Lernen
1.2 Lernen und Wissen
1.3 Wissen und Erkennen
1.4 Erkennen und Evolution
2 Eine kurze Geschichte unserer Evolution
2.1 Die früheste Entwicklung der Hominiden
2.2 Grundlagen unseres Gehirnwachstums
2.3 Der Neandertaler und homo sapiens
2.4 Exkurs: Sprechen lernen
2.5 Kulturelle Evolution
3 Evolution und Verstand
3.1 Phänomenologie des Alltags
3.2 Ratiomorphe Verrechnung
3.3 Im Angesicht einer komplexen Welt
4 Von Mythen, Mächten und Vernunft
4.1 Vom Glauben zum Denken
4.1.1 Die Anfänge der Philosophie
4.1.2 Die klassische Antike
4.2 Zwischen Antike und Neuzeit
4.2.1 Das Zeitalter des Christentums
4.2.2 Auf dem Weg zur Aufklärung
4.2.3 Kant
4.3 Bis in die Gegenwart
4.4 Wissenschaft und Religion
Teil II: Welt und Wissen
5 Von der Naturphilosophie zur Wissenschaft
5.1 Von der Philosophie zur Mechanik
5.1.1 Die Naturphilosophie der Antike
5.1.2 Die Entstehung der klassischen Mechanik
5.2 Astronomie
5.2.1 Eudoxos und Ptolemäus: die ersten Planetenmodelle
5.2.2 Der lange Weg ins Abendland
5.2.3 Die Theorie der Gravitation
5.3 Mathematik
5.3.1 Mathematik und Physik
5.3.2 Anatomie der Mathematik
5.3.3 Mathematik und Wirklichkeit
5.4 Jenseits der Mechanik: vier Skizzen zur Physik
5.4.1 Woraus besteht die Welt?
5.4.2 Wärme und Energie: die Thermodynamik
5.4.3 Optik
5.4.4 Elektrizität und Magnetismus
5.5 Wissenschaft und Methode
6 Abstrakte Welten
6.1 Widersprüche in der Physik
6.1.1 Mechanik und Elektrodynamik
6.1.2 Elektrodynamik und Thermodynamik
6.1.3 Kathodenstrahlen und Atomspektren
6.2 Relativitätstheorie
6.2.1 Spezielle Relativitätstheorie
6.2.2 Allgemeine Relativitätstheorie
6.2.3 Die Tiefen des Universums
6.3 Quantentheorien
6.3.1 Photoelektrischer Effekt
6.3.2 Die Sprache der Spektren
6.3.3 Die Mechanik der Quanten
6.3.4 Deutungsversuche der Quantenmechanik
6.4 Jenseits der Quantenmechanik
6.4.1 Kernphysik und Elementarteilchen
6.4.2 Feldtheorien und Standardmodell
6.4.3 Ordnung und Symmetrie
6.5 Spekulative Theorien
6.5.1 Noch einmal: woraus besteht die Welt?
6.5.2 Und noch einmal von Raum und Zeit
6.5.3 Die Fragen hinter den Fragen
7 Epilog
7.1 Warum Naturwissenschaft?
7.2 Was wissen wir?
Anmerkungen
Quellen
Impressum
Vorwort
Als ich vor nunmehr vielen, langen Jahren das erste Mal die Universität betrat, um Physik zu studieren, tat ich dies mit großem Respekt, voller Erwartung und hochfliegenden Hoffnungen. Ich würde nun, so glaubte ich, endlich verstehen, wie die Natur funktioniert, begreifen, warum sie sich genau so verhält, wie wir sie erleben, und vor allem – um das alte, etwas abgedroschene Zitat von Goethe heranzuziehen – lernen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Woraus Materie wirklich besteht, was es mit all diesen Elementarteilchen auf sich hat, von denen ich schon so viel gelesen hatte, wie all dieses komplizierte Gewirr von Nukleonen und Elektronen, von Quarks und Leptonen zusammenspielt. Was Raum ist, was Zeit, wie diese beiden grundlegenden Konstituenten unserer Wirklichkeit diese Welt erzeugen. Und so lernte ich, mit viel Eifer und genauso vielen Mühen, Mechanik und Mathematik, Thermodynamik und wieder Mathematik, Elektrodynamik und noch mehr Mathematik, und wartete, Semester um Semester, auf das wirkliche, allumfassende Verständnis, darauf, dass mir all diese Geheimnisse gelüftet würden. Was man mir beibrachte, stattdessen, waren Theorien, waren Konzepte, waren mathematische und physikalische Methoden, mit denen man sich verschiedenartigste experimentelle Befunde erklären kann. Was ich erwartet hatte, war ein zwingendes, in sich logisches und vor allem absolut zweifelsfreies Verständnis dieser Welt; was ich bekam, waren Modellvorstellungen, Theorien, Erklärungsversuche – die blauäugigen, simplen Erwartungen meiner Anfangszeit wurden bald schon bitter enttäuscht.
Ich bin wohl kein allzu guter Student geworden, damals. Zu groß war die Diskrepanz zwischen meiner Erwartungshaltung und dem, was die Naturwissenschaft mir zu bieten hatte; es hat mich lange Jahre gekostet, um zu begreifen und wirklich anzuerkennen, dass die Wissenschaft nicht mehr bieten kann als dies: Vermutungen und Hypothesen, Theorien und modellhafte Ansätze. Ich habe, viele Jahre später, die Wissenschaft verlassen und beschäftige mich beruflich seitdem mit ganz anders gelagerten Aufgabenstellungen; dieser „kulturelle Schock“ aber, den ich in jenen ersten Jahren meines Studiums erlebt habe, hat mich nie wieder losgelassen. Die Naturwissenschaft kann eine Leidenschaft sein, die einen gefangen hält, auch dann, wenn man schon längst kein beruflich praktizierender Naturwissenschaftler mehr ist. Und die Suche nicht nur nach einem Begreifen der Welt, sondern nach Wahrheit, nach wirklichem Verständnis hat mich persönlich von jener Zeit an über alle Wechselfälle des Lebens immer begleitet. Und aus all diesem Nachdenken, all diesen Überlegungen, all diesem Sinnieren über das, was man mir in den Jahren meines Studiums beigebracht hat, ist mir eine Frage haften geblieben, die mich seitdem zeitweilig nachgerade obsessiv beschäftigt hat: wenn nun die Physik uns nichts mehr zu bieten hat als Theorien und Modelle, wenn aber gleichzeitig – wie wir wissen – diese Physik eine der grundlegendsten Disziplinen all unserer Welterkenntnis ist – was wissen wir dann überhaupt über diese Welt? Was von all diesen Vermutungen und Theorien ist denn nun wirklich wahr?
Dies ist keine physikalische Fragestellung mehr, sondern in ihrem Grunde eine genuin philosophische. Eine Frage, die tatsächlich sogar mit Naturwissenschaft nur noch am Rande zu tun hat, sondern viel mehr mit uns Menschen selbst. Mit unserer grundlegenden Befähigung, Dinge zu erkennen und zu begreifen, mit der Art und Weise, wie wir denken – mit den Fundamenten unserer intellektuellen und geistigen Beschaffenheit. Es geht, am Ende, um Erkenntnistheorie (eine ungemein trockene Materie) und um die Frage, wie unser Denken funktioniert. Welche sich aber wiederum nur dann zumindest ansatzweise beantworten lässt, wenn wir in Betracht ziehen, wie der Mensch sich selbst im Laufe der vielen vergangenen Jahrtausende entwickelt hat – die Suche nach physikalischer Wahrheit hat zumindest mich nicht nur zur Philosophie und Erkenntnistheorie geführt, sondern genauso dazu, zu begreifen, wie die Evolution des Menschen (und damit unserer Denkfähigkeit) im Laufe der letzten Jahrhunderttausende stattgefunden hat.
Dieses Buch ist ein Versuch, all diese Gedanken, all das, was ich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gelernt habe, in einem einzigen möglichst konsistenten Ansatz zusammenzufassen. Es versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen Philosophie und Erkenntnistheorie auf der einen Seite, der Evolution des menschlichen Bewusstseins auf der zweiten, und unserem Verständnis der Welt (in Gestalt der Physik) auf der dritten. Ein Versuch, wohlgemerkt. Niemals werde ich mich im Laufe der kommenden Kapitel erdreisten, Wahrheiten zu verkünden, letzte und unwidersprechbare Erkenntnisse; all unsere Erkenntnis, all unser Wissen – dies habe ich selbst im Laufe meines Lebens widerstrebend lernen müssen – ist immer nur vorläufig, und die Wahrheit, wenn wir sie denn suchen, wird immer woanders sein. Doch es ist diese eine Frage, die im Zentrum all dieser Überlegungen steht – eine, zugegebenermaßen, möglicherweise naive Frage, die sich vielleicht allein aus meiner höchst eigenen Historie speist: was wissen wir? Was wissen wir, was vermuten wir nur, und wo fangen die Spekulationen an?
Den Leser – die Leserin (ich habe mich zumindest bemüht, in den folgenden Kapiteln „gendergerechte“ Sprache zu verwenden) erwartet ein teils hoffentlich amüsanter, teils mit Sicherheit nachdenklich machender, teils in jedem Falle anstrengender Ritt durch all diese drei Gebiete: Evolution, Erkenntnistheorie und Physik. Wobei, sicherlich, die Physik den größten Teil des Raumes einnehmen wird. Und an dieser Stelle möge der Leser gleich zu Beginn gewarnt sein: obwohl es, einschlägigen Meinungen zur Folge, nicht opportun ist, in Büchern dieser Art die Mathematik zu sehr in den Vordergrund zu stellen, verwende ich an verschiedenen Stellen – dort, wo es angemessen erscheint – mathematische Gleichungen. Nicht mit dem Anspruch, dass jeder Leser diese Gleichungen sofort und unmittelbar verstehen kann, sondern vielmehr zur Veranschaulichung. Das Buch der Natur – so ein in Folge noch weidlich genutztes Zitat von Galileo Galilei – ist in der Sprache der Mathematik geschrieben; ein Buch zu schreiben, das sich mit Physik beschäftigt, ohne auf diese Sprache zurückzugreifen, käme gleichsam einem Etikettenschwindel gleich.
Es ist üblich, in einem Vorwort all jenen Dank zu zollen, die zum Gelingen des Werkes beigetragen haben. Dank, in diesem Sinne, gilt vor allem meiner Frau und meinen Söhnen, die den etwas absonderlichen Spleen ihres Familienvaters über viele Jahre duldsam ertragen haben. Ganz besonderer Dank gebührt Heike Lambrecht für das (bezeiten mehr als mühsame) Korrekturlesen der ersten Version. Dank aber gilt noch vielen, vielen anderen. Um noch einmal ein etwas abgenutztes Zitat – diesmal von Isaac Newton – heranzuziehen: dieses Buch konnte nur entstehen, weil der Autor auf den Schultern von Riesen stand. Der wirkliche Dank muss daher all diesen Personen der Geschichte gelten, die es uns als Menschen bis auf den heutigen Tag ermöglicht haben, zumindest eine Ahnung von Wissen zu erlangen – und all jenen, von denen ich im Laufe der Jahre meine Inspiration erfahren habe. Um nur die allerwichtigsten dieser ungezählt Vielen zu nennen: Dante Alighieri, Aristoteles, Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Tim Berners-Lee, Niels Bohr, Matthias Claudius, Charles Darwin, Hoimar von Ditfurth, Manfred Eigen, Albert Einstein, Erasmus von Rotterdam, Richard Feynman, Galileo Galilei, Werner Heisenberg, Immanuel Kant, Siegfried Lenz, Konrad Lorenz, James Clerk Maxwell, Jacques Monod, Isaac Newton, Wolfgang Pauli, Roger Penrose, Max Planck, Platon, Karl Popper, Wilhelm Raabe, Rupert Riedl, Arthur Schopenhauer, Erwin Schrödinger, William Shakespeare, Lee Smolin, Arnold Sommerfeld, Hans Thirring, Pjotr Tschaikowsky, Gerhard Vollmer, Jimmy Wales, Paul Watzlawick, Stephen Weinberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Thornton Wilder, Thomas Wolfe.
Teil I: Mensch und Wissen
Wissen, Glauben und Erkenntnis. Einige Fragen.
Naked and alone we came into exile. In her dark womb we did not know our mother’s face; from the prison of her flesh have we come into the unspeakable and incommunicable prison of this earth.
Which of us has known his brother? Which of us has looked into his father’s heart? Which of us has not remained forever prisonpent? Which of us is not forever a stranger and alone?
Thomas Wolfe, Look Homeward, Angel
Nackt, blind und unwissend betreten wir die Welt. Noch lange nachdem wir den Mutterleib verlassen haben, sind wir nichts als hilflose Bündel Fleisch, denen außer den grundlegendsten Reflexen – atmen, saugen, Abfallstoffe ausscheiden – nichts gelingen mag. Zu primitiv, zu unfertig sind unsere Sinnesorgane und unser Gehirn zu Beginn unseres Lebens, als dass wir mehr als nur die allernotwendigsten, zum puren Überleben erforderlichen Reize verarbeiten und auf sie reagieren könnten. Wir schlafen, die meiste Zeit, liegen in unseren Kinderbetten, eingehüllt in ein dumpfes, höchst unbeholfenes Dasein, das nicht Zeit und Raum kennt, keinen Sinn und keinen Gedanken. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit: kaum vorhanden in diesen ersten Tagen, Wochen unseres Daseins; wohl mögen wir bereits in der Lage sein, zu hören, oder mit zerbrechlich kleinen Fingern die Umwelt zu ertasten, schon beim Sehen jedoch gestaltet sich der Beginn schwierig. Abhängig sind wir, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – so unselbständig, dass wir ohne die ständige Fürsorge der Mutter kaum ein paar Stunden überleben könnten, so immens angewiesen auf die Zuwendung der Eltern, dass die ersten Lebensmonate eines jeden Menschen im Grunde lediglich eine Fortsetzung des embryonalen Daseins außerhalb des Mutterleibes sind. Welche gewaltigen, ja gar furchterregenden Fähigkeiten wir auch immer später entwickeln mögen: zu Beginn sind wir höchst erbarmungswürdige, jämmerliche Kreaturen.
So mühen wir uns die ersten Jahre unseres Daseins ab, um zumindest eine basale, grundlegende Lebensfähigkeit zu erlangen. Nicht einmal das Stehen auf den eigenen Beinen will uns gelingen – was so gut wie allen anderen Säugetieren bereits zur Stunde ihrer Geburt an Fähigkeiten mitgegeben wurde, müssen wir erst mühevoll, in vielzähligen, schmerzhaften Versuchen erlernen. Über ein Jahr braucht das Gehirn, um die minimale Koordination zwischen Gleichgewichtssinn und Muskulatur herzustellen, die es uns schließlich erlaubt, zumindest auf wackeligen Füßen, ohne uns an Gegenständen, Möbeln oder den Händen der Eltern festzuhalten, frei stehen und vielleicht sogar den einen oder anderen Schritt gehen zu können – wir beginnen wahrlich sehr, sehr langsam, uns auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Und auch unser Wahrnehmungsapparat mag sich nur sehr zögerlich entwickeln, braucht lange Jahre, bis er voll ausgereift ist. Das Tasten ist der einzige Sinn, der uns wohl schon von Anbeginn des Lebens vollständig gegeben ist, benötigen wir ihn doch zum Überleben, um die mütterliche Brust zu finden, um die lebensspendende Milch aufsaugen zu können. Das Schmecken und das Riechen aber: das lernen wir erst, im Laufe unserer Entwicklung, wenn wir – einmal abgestillt – die Vielfältigkeit der Nahrungsmittel erleben, wenn wir mit der Zeit die mannigfaltigen gustatorischen und olfaktorischen Eindrücke der Umwelt erfahren. Was aber das Sehen anbetrifft: hier müssen wir, qua unserer evolutionär bedingten Herkunft, mit äußerst kleinen Schritten beginnen. Können wir doch als Säuglinge die Welt nur in Grautönen erkennen, nur als ein einfaches schwarzweißes Abbild der äußeren Realität, braucht es doch ein gutes Jahr, bis wir in der Lage sind, das gesamte Farbspektrum wahrzunehmen und zu differenzieren. Und schließlich das Hören – neben der Fähigkeit, Licht wahrzunehmen, wohl der bedeutendste Sinn, den uns die Natur mitgegeben hat. Auch hier beginnen wir das Leben nicht als Meister. Nehmen wir die Worte unserer Eltern zu Beginn nur als sinnentleerte Geräusche, als unintelligible Lautmalereien wahr, können wir als Säuglinge lediglich durch Schreien, Wimmern oder Glucksen mit unserer Umwelt kommunizieren, so beginnen wir doch im Alter von schon wenigen Monaten damit, die Laute der Eltern – als sinnfreies, dennoch die eigene Sprechfähigkeit trainierendes – Gebrabbel nachzuahmen, bis wir schließlich nach grob einem Jahr die ersten einfachen Worte zu formen in der Lage sind.
Langsam, fast unmerklich zunächst, beginnen wir unseren Weg in ein eigenes Leben zu beschreiten. Lernen, Dinge zu greifen, in den Mund zu nehmen, an ihnen zu riechen und sie zu schmecken, sie mit allen Sinnen zu erfahren. Erobern Stück für Stück unsere nähere Umwelt – eingeschränkt zunächst noch durch unseren begrenzten Bewegungsradius, gebremst von längst noch nicht voll ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten; doch mit der Zeit sind wir zusehends in der Lage, die Welt immer eigenständiger zu erkunden. Wir machen Erfahrungen, ständig und allerorten: wie man Bauklötze aufeinanderschichtet oder Sandburgen baut, wie man Schneebälle formt und wirft, Schneemänner baut, Steine über das Wasser hüpfen lässt, wir erfahren, wie Gräser riechen, wie matschig Schlamm sein kann und wie pulverig trocken ein harter Boden im Sommer, wie die wechselnden Jahreszeiten verschiedene Witterungsbedingungen erzeugen, wie die Sonne unsere Haut wärmt und der Regen, der Schnee, der Wind uns frieren lässt. So lernen wir, mit immenser Geschwindigkeit: Tag für Tag in unseren frühen Lebensjahren, und erweitern ständig und stetig unseren Horizont. Und mit jeder Erfahrung, die wir machen, mit jeder neuen Entdeckung, jedem neuen, intensiv empfundenen Sinneseindruck formt sich in dieser Phase des Lebens unser Gehirn: jenes mächtigste Werkzeug, das wir besitzen. Milliarden von Synapsen schalten sich, Tag für Tag, immer weiter zusammen, und beginnen das wohl komplexeste Organ zu entwickeln, das die Evolution jemals hervorgebracht hat.
Von dem Moment an, in dem wir anfangen die Sprache zu beherrschen, beginnt sie unser Dasein und unsere Wahrnehmung mehr und mehr zu dominieren. Erkannten wir die Objekte unserer Umgebung bis dahin nur als namenlose Strukturen, als unmittelbar angeschaute Elemente der Realität, so lernen wir nun, sie nicht nur zu benennen, sondern auch zu unterscheiden, sie sprachlich und semantisch zu kategorisieren: wir beginnen, die Welt zu erkennen. Ein Stuhl und ein Baum: so grundverschieden sie sind, so bestehen sie doch aus demselben Material – ein Haus, aus Stein gebaut, hat Gemeinsamkeiten mit einem Felsen – doch unsere Eltern, obschon den Lebewesen zugehörig, müssen strikt von unserem Hund unterschieden werden. Wir gruppieren die Bestandteile der Umwelt, sortieren die einzelnen Elemente in zugehörige, passende Schubladen und bilden so, unbewusst zunächst, eine einfache, aber grundlegende Hierarchie unserer physischen Umwelt: mein Spielzeugauto – die Autos – die Fortbewegungsmittel – die von Menschenhand geschaffenen Dinge; oder: meine Eltern – die Menschen – die Lebewesen – die Welt. Wir kategorisieren, ordnen ein, sortieren unsere Umgebung: aber machen sie gleichzeitig gerade dadurch erst für uns, in unserem heranwachsenden Gehirn, lebendig und geistig fassbar. Gerade in der frühen Kindheit wird uns jedes Objekt unserer Umgebung, jeder Gegenstand dieser Welt erst dann real, unterscheidbar aus der Masse der Eindrücke, die uns tagtäglich begegnen, wenn wir ihn benennen, dadurch kategorisieren und einordnen können.
Bewegung, Aktion, Dynamik kommen schließlich dazu: die Liste der Verben, die Kinder in den ersten wenigen Monaten nach Beginn des Spracherwerbs von ihren Eltern übernehmen, ist schier endlos. Das Gehen, das Laufen, Rennen und Sitzen, Liegen, Schlafen sind Formen der Dynamik und Ruhe, die wir sehr früh schon lernen. Und mehr noch als das: auch Empfindungen beginnen wir zu erfassen, beginnend mit den simplen, grundlegenden Zuständen unserer Befindlichkeiten, die wir lernen zu artikulieren und dadurch erst im eigentlichen Sinne zu erfahren und zu begreifen; und so beginnen wir langsam uns selbst zu erkennen. Hunger, Durst, Müdigkeit, also Mangelerscheinungen – Freude, Spaß, Zufriedenheit, Sattheit werden gruppiert zu negativ und positiv besetzten Gemütszuständen. Eine angeborene Empathie für unsere Umwelt, die frühen, oft einschneidenden Erlebnisse unserer Kindheit tun ihr Übriges, um diese ursprünglich selbstbezogenen Befindlichkeiten in einen weit größeren Rahmen zu setzen und sie zur begrifflichen Grundlage unserer Selbsterfahrung zu machen, ihnen dabei einen Kontext zu geben, der weit über unsere eigene, zutiefst egozentrische Sicht hinausgeht: der kranke Hund – die tote, nie mehr ansprechbare, erlebbare, fassbare Großmutter – der Krieg, der alles auslöscht, was lebendig war.
Wir erfassen die Welt: Stück für Stück, Element um Element erweitern wir unseren geistigen Horizont, bilden uns, zunächst lediglich auf die direkte Wahrnehmung, dann mehr und mehr auf die Abstraktionsfähigkeit der Sprache gestützt, ein inneres, zutiefst individuell geprägtes, uns allein eigenes Abbild der Welt in unserem Gehirn. Mit der Zeit jedoch, spätestens mit dem Eintritt in die Schule, wird diese Entdeckung der Welt durch eigene, unmittelbare Erfahrung abgelöst von einem uns von außen vorgegebenen Lernprozess. Der sich auf die Aneignung von jenem Wissen, jenem kulturellen Kontext, jenen tradierten Sichtweisen und gesprochenen, geschriebenen Überlieferungen konzentriert, die uns von unseren Eltern, Lehrern und Vorfahren, einer über Jahrhunderte, Jahrtausende gewachsenen Interpretation der Welt übermittelt werden. Anstatt eigene Erfahrungen zu machen, unsere Sinne zu schärfen und durch direktes, eigenes Erleben die Welt zu erfahren und zu begreifen, sind wir gezwungen, im Zuge unserer schulischen Laufbahn, die Umwelt und uns selbst basierend auf den Blickwinkeln unserer Vorfahren zu begreifen, uns im Verständnis der Welt am Ende vollständig auf kulturell gewachsene Weltbilder zu beziehen. Und so unsere unmittelbare, ungefilterte Wahrnehmung in die Tradition und das Verständnis unserer Kultur einzubetten.
Was wir, als Kinder, auch einfordern: wir wollen und müssen verstehen, wie diese Welt funktioniert, wollen von unseren Lehrmeistern – Eltern und Lehrern – Erklärungen haben und Antworten bekommen auf unsere mannigfaltigen Fragen, Einblicke, die unser Unverständnis erhellen können. Dass dieser individuelle Lernprozess auf einer instinktiven, uns Menschen angeborenen Neugierde basiert, kann jeder erfahren, der selbst Kinder großgezogen hat: die oftmals unheimliche (und für Eltern vielfach höchst anstrengende) Penetranz, mit der kleine Kinder die Frage nach dem „Warum“ an jeder nur erdenklichen Stelle an uns richten, zeugt von der gewaltigen, ursprünglichen Kraft, auf der das Wissen-Wollen in uns beruht. Leider Gottes wird viel zu oft durch repressive Erziehungsmethoden, unfähige Bildungseinrichtungen und immer wieder auch ideologisierte, dogmatisierte und pervertierte gesellschaftliche Verhältnisse diese uns angeborene Wissbegierde am Ende abgetötet, wird uns unsere angeborene Lust am Selber-Denken äußerst wirkungsvoll ausgetrieben – und der heranwachsende Geist bleibt als intellektueller Untoter zurück.
Und in diesem Lernen, diesem Aufsaugen an Informationen und Interpretationen beginnen wir, über Jahre hinweg in einem langsamen, teils sprunghaften, unsteten Entwicklungsprozess das anzuwenden, was wir gemeinhin Verstand nennen, die einzig uns Menschen bekannte Möglichkeit, uns mit unserer Umwelt auseinanderzusetzen: indem wir – wie später noch auszuführen sein wird – die Welt in atomare Einzelteile zerlegen, partikuläre Aspekte beleuchten und so, in mühevoller Kleinarbeit, uns ein Bild vom Großen und Ganzen machen. Wir erzeugen in unserem Denken eine unablässige Flut von Vorstellungen, von Bildern, von ausgesprochenen und unausgesprochenen Geschichten, von Projektionen in die Zukunft und in die Vergangenheit, die in der Summe unser Weltbild ausmachen, die uns manchmal antreiben, manchmal nur beschäftigen, manches Mal auch zutiefst quälen, die aber in ihrer Gesamtheit unser eigenes Ich erst ausmachen. Es ist die Phantasie, die uns zu Menschen macht: diese uns ureigene Fähigkeit, noch nicht Erlebtes zu denken, uns Szenarien über die Zukunft auszumalen, uns Vorstellungen zu machen, bildliche Hypothesen zu entwickeln über die Zusammenhänge in dieser Welt, uns Geschichten auszudenken. Wir denken in Symbolen, die wir miteinander in Beziehung setzen, in abstrakten Strukturen, die wir uns oftmals nur mühevoll selbst verbal verständlich machen können. Wir interpretieren die Welt: jeder für sich allein, jeder auf seine eigene Art und Weise, und versuchen stets krampfhaft, genau diese Interpretation mit den fortwährenden Reizen und Eindrücken in Einklang zu bringen, die in jeder Minute auf uns einprasseln.
Irgendwann in seiner frühen Kindheit erlebt jeder von uns diesen einen, elementaren Moment, in dem er begreift, dass das eigene Ich auf immer abgesondert sein wird von dem der anderen, dass wir selbst, jeder von uns, eine eigene, getrennte Individualität besitzen: dass uns auf immer von anderen Menschen – ob Eltern, Geschwistern oder Freunden – eine Grenze scheiden wird, die nicht überbrückbar ist. Dass wir allein sind, mit unseren Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken, in unserem Kopf, in unserem innersten Dasein. Das größte Geheimnis, das am schlechtesten – eigentlich niemals – zu lösende Rätsel werden wir uns immer selbst sein. Wir sind allein mit unseren Gedanken. Stellen fortwährend, Zeit unseres Lebens, Mutmaßungen über die anderen an, können sie aber nie wirklich verstehen – begreifen wir doch oftmals, eigentlich meistens, uns selbst kaum. Diese immense Komplexität des Gehirns, die unsagbar verschlungenen Wege, die unsere Gedanken und Gefühle nehmen, scheinen zu Zeiten so unvorhersehbar, so volatil und unbestimmbar, dass wir oft an uns selbst verzweifeln mögen, dass wir – vor allem in jungen Jahren – uns nie unserer selbst sicher sein können, fortwährend im Dunkeln tappen bei der Einschätzung des eigenen Ich und der Welt, die uns umgibt. Manchmal mag es uns scheinen, als lebe unser Gehirn ein Eigenleben, als sei es eine vom Willen und Wollen separierte eigene Entität, die wir kaum beeinflussen, nur selten bewusst steuern können. Wir sind ihnen ausgeliefert: diesen Gedanken, Assoziationen, Empfindungen und Bildern in unserem Kopf, die sich vom Bewusstsein kaum lenken lassen wollen. Manche von uns schaffen es nicht: können sich nicht anstemmen gegen die immense Bilderflut, gegen die selbstinduzierten Vorstellungen von Katastrophe, Leid und Tränen, die doch nur in unserem Gehirn existieren, und verzweifeln am Ende, sondern sich – durch soziale oder manchmal auch tatsächlich physische Selbsttötung – von der Gesellschaft, von der ihnen vererbten Kultur ab: ein tragischer Tribut an den extrem langen Prozess des Erwachsenwerdens, der uns Menschen ausmacht, der uns erst in die Lage versetzt, diese unsere Welt in nie gekannter Weise zu verstehen und zu beherrschen.
Wir sind Individuen, wie alle Lebewesen. Und als solche behaftet mit einer hermetischen Grenze, die uns von unseren Mitmenschen trennt. Nur durch Sinneswahrnehmungen, gepaart mit einem anerzogenen analytischen Verstand, sind wir in der Lage, jenes zutiefst individuelle Bild der Welt in uns zu erzeugen, von dem wir nur hoffen können, dass es der Realität zumindest einigermaßen entsprechen möge. Allein über Kommunikation, über indirekte Deutung von verbalen und nonverbalen Zeichen der anderen vermögen wir, uns mit unserem Gegenüber auszutauschen, einen Einblick in seine eigenen Sinneswahrnehmungen und Gedanken zu erhaschen. Doch auch dieser Einblick findet wiederum nur in unserem Inneren statt – wir sind bedingungslos unseren Sinnen und unserem Denken ausgeliefert: nichts mehr als dieses steht uns zur Verfügung, um die Welt zu erkennen. Zeit unseres Lebens sind wir Gefangene unter unserer Schädeldecke, eingesperrt in eine feste Schalung aus Knochen, allein gelassen in einer solitären, nur uns selbst eigenen Welt. Auf diese Weise ist jeder von uns allein, und baut sich sein Leben lang ein inneres Universum auf: ein individueller Kosmos, der nur in unserem eigenen Gehirn existiert.
Wir werden in eine fertige Welt hineingeboren. Von Kind auf lernen wir, uns in ihr so zu bewegen wie unsere Vorfahren, üben uns in den Sitten und Gebräuchen unserer Gesellschaft und übernehmen auch, ohne es anfangs überhaupt zu bemerken, unhinterfragt die Art und Weise, wie unsere jeweilige Kultur die Welt versteht und interpretiert. Dies beinhaltet nicht allein die Sprache, deren Bedeutung und Erwerb weiter vorne schon erwähnt wurde, es umfasst auch ganz alltägliche Riten, die jeder von uns – will er sich nicht abseits seiner Familie, Gruppe, Gesellschaft stellen – von früh auf einzuüben angehalten wird. Wir geben uns die Hand und sagen artig „Guten Tag“, wenn wir uns begrüßen, und „Auf Wiedersehen“, wenn wir uns verabschieden. Wir sagen „Gesundheit!“, wenn jemand niest und „Guten Appetit“, wenn wir uns gemeinsam zum Essen setzen. Unterlassen wir diese rituellen Handlungen, so gelten wir als unhöflich, grob, ungeschlacht, tollpatschig: wir sondern uns von der Gemeinschaft ab, sind nicht mehr ganz Teil von ihr.
Und so bestimmen immer wieder Rituale und Gebräuche, ungeschriebene oder auch schriftlich fixierte Gesetzmäßigkeiten unser Leben. Dies betrifft alle Aspekte unseres Alltags – unseren Tagesablauf, unseren Umgang miteinander, die Art, wie wir in der Öffentlichkeit auftreten. Selbst welche Kleidung wir tragen, bleibt nicht allein uns überlassen, sondern ist abhängig von unserer beruflichen Tätigkeit, unserem gesellschaftlichen Stand und unserer Stellung in der Gemeinschaft. Ein Bauarbeiter im Gesellschaftsanzug wird von seinen Kollegen – unbeschadet der praktischen Unzulänglichkeit seiner Kleidung – genauso wenig akzeptiert werden wie ein Manager im Blaumann; wir würden genauso wenig im Schlafanzug auf der Arbeit erscheinen wie im Smoking auf einem Hard-Rock-Konzert.
So durchzieht unsere jeweilige Kultur ein dichtes Geflecht an Regularien, die in ihrer Summe genau das soziale Koordinatensystem bilden, innerhalb dessen wir uns als Individuen in unserer Gemeinschaft positionieren und bewegen können. Dies beginnt bei den simplen Verhaltensregeln – wie oben beschrieben – die wir schon als Kinder von den Eltern und Erziehern eingetrichtert bekommen, und setzt sich fort in den vielen Jahren, in denen wir in Kindergarten und Schule unsere gesellschaftliche Initiation erleben. Wir lernen, kaum haben wir die Sprache zu beherrschen begonnen, sie schriftlich zu fixieren, lernen die Regeln und Riten der Rechtschreibung und Grammatik, lernen Substantive, Verben und Adjektive, Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien zu unterscheiden, lernen Schachtelsätze, Parataxen, Hypotaxen und all die tiefgehenden Feinheiten der Grammatik zu beherrschen. Die Sprache, die uns zunächst als einfaches Kommunikationsinstrument diente, um uns mit unserem Gegenüber zu verständigen, mutiert im Laufe dieser Lernphase zu einer eigenen Wissenschaft, einer eigenen kulturellen Instanz, die wir lernen, adaptieren und mit der wir so die mündlich überlieferte, geschriebene, vor allem aber über Jahrhunderte gewachsene Tradition unserer jeweiligen Kultur fortschreiben. In fortgeschrittenen Kulturen ist Sprache weit mehr als nur ein Mittel zum Informationsaustausch: sie ist eine Kunst, eine kulturstiftende Entität, ein Ausdruck unseres Selbstverständnisses; und wie wir sprechen, wie wir schreiben, verrät viel über unsere Herkunft, unsere eigene Positionierung in diesem unsichtbaren kulturellen Koordinatensystem und unsere uns eigene Denkweise.
Doch mehr noch als das: wir lernen (in diesen langen, langen Jahren unserer Schulzeit, in denen uns bedauerlicherweise zumeist die Lust am Lernen, die allen Kindern eigentlich wie angeboren scheint, mit großem Geschick und viel Akribie seitens der Verantwortlichen für unsere Schulsysteme grundlegend ausgetrieben wird) weit mehr als nur die rituellen Gepflogenheiten unserer Gesellschaft; wir werden geschult, langsam und über die Jahre, die Welt aus dem Blickwinkel unserer jeweiligen Kultur zu betrachten. Dies fängt im Kleinen, Überschaubaren an: in der Grundschule nennt sich das dann Heimat- und Sachkunde, und in diesen Fächern befassen wir uns zunächst, noch ganz und gar angelehnt an unsere direkte, unmittelbare Erfahrungswelt, mit den geographischen, kulturellen, geschichtlichen Besonderheiten unserer Stadt, unseres Landkreises, unserer Region, mit den Pflanzen und Tieren unserer Heimat, mit den allergrundlegendsten Phänomenen von Physik, Chemie und Biologie. Die unmittelbaren Erfahrungen, die wir schon in unserer vorschulischen Erlebniswelt – bar jeglicher übergeordneten Interpretation – zuhauf machen konnten, werden hier – so der Anspruch der Schule – in das „rechte Licht“ gerückt, in den Deutungsrahmen unserer Weltsicht eingeordnet. Wasser, Wasserdampf und Eis sind nicht mehr einfach nur unmittelbar erlebte Erscheinungen, sondern verschiedene Aggregatzustände eines einzigen, vielfach wandelbaren Moleküls namens H2O; Feuer ist nicht ausschließlich eine faszinierende, manchmal auch angst machende, immer aber fesselnde Naturerscheinung, sondern der Ausdruck eines Umwandlungsvorgangs, bei dem durch chemische Reaktionsprozesse Energie freigesetzt wird. Und Geräusche – Musik, Sprache, Klänge – sind nicht mehr allein Eindrücke, die unser Ohr verarbeitet, die in unserem Gehirn Empfindungen und Emotionen auslösen, sondern sie werden transportiert durch wellenartige Verdichtungen der Luft, die in hohen Frequenzen unsere Ohrmuschel, den Gehörgang, das Trommelfell und schließlich Hammer, Amboss und Steigbügel im Innenohr erreichen, so dass wir sie wahrnehmen können.
Sind so in den ersten Jahren unserer kulturellen Initiation erst einmal die Grundlagen geschaffen, so vertiefen wir diesen gesellschaftlich geprägten Blick auf die Welt in unserer jeweils weiterführenden Schule so lange, bis unser prinzipielles Verständnis der Welt exakt deckungsgleich ist mit dem unserer Vorfahren. Wir lernen die Geschichte unseres Landes, die Historie der ganzen Welt – angefangen von der griechischen und römischen Antike, über die Christianisierung des Abendlandes, den Feudalismus und Absolutismus bis hin zu Aufklärung, Revolution, den brutalen, sinnlosen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts und unserer chaotischen Neuzeit. In diesem Lernen erkennen wir, dass wir uns selbst nur als Bestandteil einer übergeordneten Geschichte, als Akteure in einem viel größeren Geschehen begreifen müssen, als es unsere eigene, mediokre Existenz scheinen lassen mag. Aber mehr noch als das: wir lernen, die Geschichte und unsere eigene Rolle, die Bedeutung unserer eigenen Kultur in einem unserer Gesellschaft eigenen Kontext zu sehen; immer ist die Auffassung von der Historie eines Volkes, einer Kultur auch geprägt von einer apologetischen Strömung, einer die eigene Bedeutung überhöhenden Komponente. Wachsen wir in einer Demokratie auf, so werden wir zwangsläufig gelehrt bekommen, dass diese Gesellschaftsform die einzig bekannte sinnvolle, humanistische, sozial verträgliche Art des Zusammenlebens ist, dass die gesamte Geschichte am Ende in genau dieser Form des Zusammenlebens als Krönung münden musste; leben wir in einer wie auch immer gearteten Diktatur, einer (auch heute noch existenten) absolutistischen Gesellschaft, so wird man uns genau diese Form des Zusammenlebens auf die eine oder andere Art und Weise als sinnvoll, zwangsläufig und zweifelsfrei richtig nahebringen. Wir lernen, die Welt mit den Augen unserer Kultur zu sehen. Und mögen wir auch, in späteren Jahren, uns gegen diese Tradition stellen, mögen wir uns auch als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft am Ende aus wohlüberlegten Gründen oder einfach nur aufgrund einer in der persönlichen Historie begründeten Fundamentalopposition für eine völlig andere Politik einsetzen, mögen wir auch, geboren in einer Diktatur, uns mit Leib und Seele für eine Demokratisierung, Liberalisierung, geistige Öffnung unserer Gesellschaft einsetzen: dieses Erbe unseres Lernens wird uns bleiben, wird uns lebenslang begleiten – entweder als Segen, der uns in unserem weiteren Lebensweg überaus hilfreich ist, oder als Nemesis, die uns verfolgt, gegen die wir uns auflehnen Zeit unseres Lebens. Das Erbe unserer Kultur ist in seinen Fundamenten etwas Unabänderliches, was uns – egal wie unser weiterer Lebensweg aussehen mag – niemals loslassen kann, das wir Zeit unseres Lebens mit uns herumtragen.
Auch unsere Sicht auf die Natur ist weitgehend von unserer kulturellen Entwicklung geprägt. Die grundlegenden Denkansätze der Naturwissenschaft sind uns – wie an einigen Beispielen beschrieben – von Kindesbeinen an eingetrichtert worden und bilden eines der Fundamente unseres Verständnisses der Welt. Bieten sie uns doch einen reichhaltigen Katalog an Interpretationen für eine große Mannigfaltigkeit an komplexen, zunächst unüberschaubaren Phänomenen, die uns Tag für Tag begegnen. Die wenigsten von uns sind wirkliche Experten in dem einen oder anderen wissenschaftlichen Gebiet – aber selbst wer keine solche fundierte Ausbildung erhalten hat, wird immer noch in den Grundlagen seiner Denkweise unsere rationalen, aufgeklärten, von Theorie und Experiment geprägten Erklärungsmuster in sich tragen. Niemand von uns käme auf die Idee, die Ursache für einen Regenschauer, ein Gewitter, einen Hagelsturm irgendwo anders zu suchen als in den grundlegenden physikalischen Wechselwirkungen von Luft, Feuchte, Temperatur und Druck; auch wenn man von Meteorologie nur wenig oder gar keine Ahnung hat, wird jeder von uns sich im Klaren darüber sein, dass jegliches Phänomen der Natur letzten Endes auf der Basis von physikalischen, chemischen, biologischen Prozessen erklärt werden kann. Dies ist der kognitive Rahmen, den uns unsere kulturelle Erziehung vorgibt: alles Geschehen der uns umgebenden Welt lässt sich wissenschaftlich erklären. Zugegebenermaßen: kaum einer von uns ist Experte in allen wissenschaftlichen Disziplinen; selbst die Anzahl der Menschen, die sich in einzelnen Fachgebieten wirklich tiefgreifend auskennen, ist aufgrund der hochgradigen Komplexität der heutigen Wissenschaft immer überschaubar – aber ein Grundwissen, eine prinzipielle Ahnung, wie die Zusammenhänge aussehen könnten, ist uns schon aufgrund unserer Erziehung vorgegeben. Alles, so unsere kulturelle Überzeugung, ist wissenschaftlich erklärbar; die Natur – so könnte man es in Entgegensetzung zu religiösen, animistischen, vorwissenschaftlichen Weltbildern formulieren – ist sich selbst genug und schafft sich ihre eigenen Gesetze; unsere Aufgabe als denkende, forschende Menschen ist es allein, die ihr innewohnenden Prinzipien zu entdecken und zu verstehen.
Wir müssen an dieser Stelle allerdings Einschränkungen machen – dass die Wissenschaft wirklich alles erklären könnte, ist selbst für unsere zutiefst aufgeklärte, rationale und nüchterne Kultur eine allzu optimistische, zu allumfassende Aussage. Der Psychologe und Philosoph Paul Watzlawick hat in diesem Kontext einmal eine recht treffende Unterscheidung von zwei verschiedenen Welten formuliert, die jeweils auf ganz unterschiedlichen Erklärungsmustern aufbauen: die eine Welt – die er „Wirklichkeit erster Ordnung“ nennt, bezieht sich auf rein physische, objektivierbare Eigenschaften von Dingen und damit auf das, was wir gemeinhin als Naturwissenschaft bezeichnen. Daneben aber gibt es eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, die – in seinen Worten – „ausschließlich auf der Zuschreibung von Sinn und Wert an diese Dinge und daher auf Kommunikation“ beruht [1]. Dies ist die Welt unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, unserer Partnerschaften, Liebschaften und Abneigungen; dies ist die oft schwer fassbare, aber uns täglich umgebende Wirklichkeit, die wir allein dadurch erzeugen, dass wir übereinander reden, voneinander denken, miteinander kommunizieren. Es ist die Welt der Kultur im engeren Sinne, der eingangs beschriebenen alltäglichen Rituale und Verhaltensnormen, die Welt der Liebe und der Feindschaft, der Zuneigung und des Hasses, der Psychologie, der Gesellschaft, der Politik, der Kriege und Friedensschlüsse, der sozialen Abstufungen – Kasten, gesellschaftliche Schichten, auch der politischen Parteien – genauso wie der Literatur, der Kunst und der Musik, die unsere tägliche Wirklichkeit zu einem großen Anteil ausmacht. Und die wir nicht einmal ansatzweise mit naturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren, geschweige denn zu verstehen in der Lage sind. Unsere größten Leiden und unsere allerhöchsten Freuden ziehen wir aus dieser Form der Wirklichkeit; unser Mensch-Sein ist ohne sie nicht denkbar, denn wir definieren uns nur – durch uns selbst und unsere Beziehungen.
Diese zweite Wirklichkeit entzieht sich – das haben wir in vielen Jahrhunderten mühsam lernen müssen, und tun dies noch jetzt – jeder harten, überprüfbaren wissenschaftlichen Erkenntnis. Nicht umsonst werden von Naturwissenschaftlern Gebiete wie Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften oftmals – teils möglicherweise zu Unrecht – als „weiche“ Wissenschaften angesehen, die den genormten Spielregeln von Experiment, Hypothese und fundierter Theorie nicht gerecht werden können. Die Vergangenheit hat vielfach gezeigt, dass jeder Versuch, das zwischenmenschliche, gesellschaftliche, politische Zusammenleben auf Basis von angeblich wissenschaftlich oder philosophisch fundierten Prinzipien zu organisieren, am Ende zu Dogmatik, Diktatur, Gewalt, Unterdrückung und Krieg geführt hat. Wir verstehen uns selbst am allerwenigsten; wir Menschen, mit unseren komplexen Gehirnen, unseren verschlungenen Wegen von Gefühlen und Gedanken sind nicht dafür geschaffen, auf einem wissenschaftlichen Seziertisch auseinandergenommen und dann wieder zusammengesetzt zu werden: wir sind uns selbst, zeit unseres Lebens und zeit unserer humanen Existenz, ein immerwährendes Rätsel.
So setzt sich unser inneres Abbild des Universums, von dem eingangs die Rede war, aus zwei völlig unterschiedlichen, größtenteils disjunkten Bestandteilen zusammen: auf der einen Seite die Wahrnehmung unserer selbst und unserer Mitmenschen, die wir – wie beschrieben und im Fortgang sicherlich immer wieder zu diskutieren sein wird – nicht wirklich verstehen, nicht begreifen und selten fassen können und die zu einem überwiegenden Teil auf Glaubenssätzen, auf Mythen, auf kaum intelligibel definierbaren Denkstrukturen beruht; auf der anderen Seite die grundlegende Wahrnehmung und Interpretation der uns umgebenden physischen Welt. Dass unser Verständnis von der „zweiten Wirklichkeit“ immer geprägt ist von Einstellungen, Meinungen und nur schwer zu begründenden Glaubenssätzen – wie im vorigen Absatz angedeutet – ist uns geläufig, wenn auch selten präsent (halten wir doch unsere politischen und sozialen Überzeugungen, jeder für sich, im Allgemeinen für die einzig wahren); diese objektive Unsicherheit unserer Weltbilder ist intrinsischer Bestandteil unserer menschlichen, glaubenden und hoffenden, häufig irrenden und allzu oft in ihren Erwartungen enttäuschten Existenz. Die „Wirklichkeit erster Ordnung“ hingegen, die Welt der Naturwissenschaften, der harten Fakten, der Experimente und Theorien, sehen wir im Gegensatz dazu im Allgemeinen als zumindest in ihren Grundlagen unbezweifelbar an; die Tatsache, dass wahre Erkenntnis und damit belastbares, fundiertes Wissen allein auf Basis der wissenschaftlich anerkannten Verfahrensnormen von Versuch, Hypothese, Verifikation und Falsifikation zu beruhen hat, ist seit vielen Jahrhunderten ein fundamentaler Bestandteil unserer kulturell geprägten Grundlagen dieser ersten, primären Wirklichkeit. Und natürlich, so wird man sagen, haben wir Recht damit: haben uns doch die wissenschaftliche Erkenntnis und der technische Fortschritt in den vergangenen Jahrhunderten aus einer vorindustriellen, aus heutiger Sicht fast schon unzivilisierten Welt in ein modernes Zeitalter katapultiert, in dem wir mit technischen Mitteln – Autos, Eisenbahnen und Flugzeugen, Fernsehen und Radio, Computern, Internet und sozialen Netzwerken – eine Realität geschaffen haben, die wir als fortgeschritten, als zukunftsweisend, als qualitativ signifikant hochwertiger und lebenswerter ansehen als die in unseren Augen primitive Lebensweise der vorindustriellen Gesellschaften.
Doch unsere heutige wissenschaftliche Weltsicht hat sich lange schon von unserer Alltagserfahrung entfernt; die Modelle, mit denen wir die Wirklichkeit der Welt heutzutage beschreiben, haben einen so unglaublichen Grad der Abstraktion und Komplexität angenommen, dass der Normalsterbliche, der kein Experte auf einem wie auch immer gearteten naturwissenschaftlichen Gebiet ist, sie kaum mehr auch nur in ihren Ansätzen nachvollziehen, geschweige denn verstehen könnte. Wir lesen, hören, rezipieren Meldungen aus der Wissenschaft in den Tageszeitungen, in einschlägigen Magazinen, und sind doch kaum mehr in der Lage, sie einzuordnen, sie zu bewerten und auf ihren Gehalt an Relevanz und Wahrheit zu prüfen. Erscheinen in den Nachrichten einmal wieder Meldungen über Vorbereitungen für den nächsten Weltklimagipfel, oder die neueste Prognose der Klimaforscher für die kommenden Jahrzehnte, so assoziieren wir diese Informationen mit einer Fülle von angelerntem Wissen, paaren dieses mit einer grundlegenden politischen Meinung (die ein Element der „zweiten Wirklichkeit“ wie vorher beschrieben ist) und gelangen so zu einer eigenen Einschätzung, die begründet ist auf dem fundamentalen, wenn auch lückenhaften Wissen, das wir im Laufe unseres lebenslangen Lernens, unserer kulturellen Initiation uns angeeignet haben. Wir wissen, dass Kohlendioxid und Methan jeweils klimaschädliche (soll heißen: den Treibhauseffekt fördernde) Gase sind; wir glauben zu wissen, dass die in den letzten 150 Jahren massiv angestiegene Emission von Treibhausgasen zu einem galoppierenden Anstieg der globalen Temperaturmittelwerte geführt hat, wir haben im Kopf, dass die einschlägigen Berichte der jeweiligen internationalen Klimaverbände unisono aussagen: wir haben nur noch wenig Zeit, um in Sachen Klimaschutz das Ruder herumzureißen. Wie wir, so wir keine ausgemachten Wissenschaftler sind, diese Meldungen interpretieren – ob wir Klimaskeptiker sind oder Befürworter einer restriktiven Umweltpolitik – ist im Grunde keine Entscheidung mehr, die wir auf Grundlage unserer wissenschaftlichen Bildung (oder unserer Sicht auf die „Wirklichkeit erster Ordnung“) fällen; dies ist vielmehr eine persönliche Positionierung, die wir im Rahmen der Wirklichkeit zweiter Ordnung vornehmen: wo die Zusammenhänge zu komplex, die Informationslage zu unüberschaubar, die Interpretationen zu volatil und scheinbar anfechtbar oder zumindest nicht mehr nachvollziehbar werden, ziehen wir uns zurück auf unsere generellen, im Laufe unserer individuellen Kultivierung angeeigneten Positionen; gerade das Thema Klima wird in der Regel weniger wissenschaftlich als vielmehr weltanschaulich diskutiert.
Lesen wir aber weiterhin in den einschlägigen Rubriken der Zeitungen Berichte über die bestätigte Entdeckung eines neuen Elementarteilchens, über den endgültig erbrachten Nachweis eines lange in der Theorie vorhergesagten Gravitationsphänomens, über seltsame Experimente mit verschränkten Quantenzuständen, die augenscheinlich völlig widersinnige Resultate gezeigt haben – welche dennoch, so der betreffende Artikel, in Einklang mit den vorherrschenden Theorien gebracht werden können – oder gar über String-Theorien, die die physikalische Welt mit elfdimensionalen Räumen, kompaktifizierten Dimensionen und multidimensionalen Branen zu erklären versuchen: so wird spätestens an dieser Stelle selbst der wissenschaftlich interessierte Leser – ja selbst der voll ausgebildete Wissenschaftler – diese Nachrichten nur noch mit viel Mühe in sein Weltbild einzuordnen in der Lage sein. Die Naturwissenschaft unserer Zeit ist in Abstraktionsebenen vorgedrungen, die dem normal geschulten, auch dem wissenschaftlich vorgebildeten Menschen kaum mehr verständlich sind – zu komplex sind die Grundvoraussetzungen, die vielschichtigen physikalischen oder auch biologischen, und natürlich auch und gerade mathematischen Grundlagen, als dass der Einzelne sie noch durchdringen könnte. Das, was wir – um nur eines der eindrücklichsten Beispiele zu nennen – als das Standardmodell der Elementarteilchenphysik bezeichnen, ist in seiner theoretischen Basis eine Quantenfeldtheorie; diese wiederum beruht auf den Grundlagen der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie. Die Quantenmechanik wiederum fußt auf Erkenntnissen zu schwarzen Strahlern und dem Bohrschen Atommodell, das sich mit den Gesetzen der klassischen Physik nicht mehr erklären lässt; während die (spezielle) Relativitätstheorie auf der einen Seite auf der Erkenntnis basiert, dass die Lichtgeschwindigkeit eine universale Konstante ist und auf der anderen Seite auf dem Befund, dass genau diese Lichtgeschwindigkeit räumlich absolut isotrop ist – mit anderen Worten: das Licht propagiert in jedem Inertialsystem gleich schnell. Das Bohrsche Atommodell wiederum ist Resultat einer langen Reihe von Experimenten – angefangen mit Rutherfords Streuversuchen – mit denen man versuchte, über die Struktur und die Beschaffenheit der (zunächst nur hypothetisch angenommenen) kleinsten Bestandteile der Materie Aufschluss zu gewinnen; um andererseits erkennen zu können, dass Licht eine eigene, spezifische Geschwindigkeit hat, musste man zunächst eine Vorstellung von der Wellennatur des Lichtes gewinnen, die in den Maxwellschen Gleichungen ihre bis heute gültige Form gefunden hat. Und, schlussendlich, ist die Frage nach den Grundbestandteilen der Materie so alt wie die Menschheit – immer schon haben wir uns Gedanken darüber gemacht, woraus unsere Umwelt eigentlich besteht, und genauso haben wir uns jahrhundertelang den Kopf darüber zerbrochen, welcher Natur das Licht eigentlich ist – wovon viel später mehr.
So fußt in unserem kulturell gewachsenen Weltbild eine Erkenntnis auf der vorhergehenden, so lässt sich unser heutiges Wissen darstellen als eine schier endlos scheinende Kette von Fragen und Antworten, die Grundlage sind für weitere Fragestellungen, für ein noch tiefer gehendes Verständnis, und jedes Erkennen, jedes Begreifen – oder auch jedes letztendlich erfolgreiche Modellieren unserer Umwelt – dient immer als Basis für die nächste Stufe, als Ausgangspunkt für noch komplexere Fragestellungen. Unser heutiges Wissen ist nur ein momentaner Zustand in einer langen Genealogie von Einsichten, die wir im Laufe unserer Menschheitsgeschichte in die Funktionsweise, die Beschaffenheit und die Struktur unserer Welt gewonnen haben.
Natürlich ist diese Darstellung der Zusammenhänge arg vereinfacht; auf kurzem und knappen Raum ließe sich ein kompletter Stammbaum der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zum heutigen Standardmodell der Elementarteilchen, zu unseren heutigen Vorstellungen von der Struktur des Weltalls geführt haben, aber auch kaum darstellen. Erst später werden wir uns mit diesem schichtenhaften Aufbau der Wissenschaft in größerem Detail beschäftigen. Wichtig an dieser Stelle ist allein die Aussage: es gibt eine solche Genealogie, es existiert eine konsequente Abfolge wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien, in der jeder neue wissenschaftliche Ansatz, jeder neue Befund und jede neue Theorie auf Erkenntnissen beruht, die in der Vergangenheit gemacht wurden. So lässt sich unser gesamtes wissenschaftliches Weltbild der Gegenwart darstellen als ein historisch gewachsenes, Schicht für Schicht aufeinander gemauertes Gebäude, in dessen höchsten Stockwerk die Wissenschaftler der Gegenwart weiter an der nächsten Etage werkeln und zimmern, fußend auf dem (hoffentlich) festen Boden, den ihnen ihre vorangegangenen Generationen gebaut haben.
Wir wissen, dass unsere „zweite Wirklichkeit“, die Welt unserer Gesellschaften, Beziehungen und Kulturen, zu einem nicht vernachlässigbaren Teil auf Mythen aufgebaut ist, auf kulturell vereinbarten Interpretationsmustern unserer Vergangenheit und gesellschaftlich akzeptierten Übereinkünften in Bezug auf unser kulturelles Selbstverständnis. Im Gegensatz dazu erwarten wir im Allgemeinen von unserer Sicht auf die „erste Wirklichkeit“, dass diese eine logische, fundamentale, unbezweifelbare Abbildung der äußeren Realitäten darstellt. Doch angesichts der hochgradigen Komplexität unserer heutigen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen, angesichts dieses immensen, Schicht auf Schicht aufgebauten Weltbildes, das uns die Naturwissenschaft als „wahr“ oder zumindest als zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Wahrheit am nächsten kommende Interpretation präsentiert, angesichts der erwähnten aktuellen physikalischen Modelle, die niemand von uns mehr auch nur ansatzweise verstehen kann – drängt sich der Gedanke auf, dass auch unsere Naturwissenschaft, drastisch formuliert, am Ende auf Mythen basiert, auf reinen Hypothesen und möglicherweise nicht immer hinreichend fundierten Grundannahmen. In einer schier endlosen Abfolge von Forschungen, Experimenten und Überlegungen haben wir immer neue Theorien, neue Modelle der Wirklichkeit entwickelt, die mit jeder Stufe komplexer, undurchschaubarer wurden, die wir aber dennoch in unserer heutigen Sicht auf die Welt als Wahrheit akzeptieren. In der heutigen Wissenschaft, so mag es scheinen, bewegen wir uns wie auf einem schwankenden Schiff: nicht wissend, ob das Meer der unseren Überlegungen zugrundeliegenden Theorien uns auf Dauer noch tragen wird, steuern wir dennoch weiter in der Hoffnung, dass die Wellen nicht irgendwann über uns zusammenschlagen. Die moderne Wissenschaft hat sich, in Kenntnis dieses Dilemmas, längst schon auf einen reduzierten Interpretationsrahmen zurückgezogen, indem sie all unsere Theorien pauschal als „Modelle“ deklariert. Doch erscheint dieser Ansatz gar zu einfach, gar zu reduktionistisch: nähmen wir ihn ernst, so müssten wir anerkennen, dass wir überhaupt nichts wirklich wissen, sondern über die uns umgebende Außenwelt nichts weiter als Hypothesen, Theorien, Annahmen aufstellen können. Eine Wissenschaft, die den Anspruch hat, die Welt zu erkennen und zu erklären, kann sich auf Dauer nicht hinter „Modellen“ verschanzen; wir erwarten von ihr Antworten, und nicht nur vage Aussagen, Wahrheiten, und nicht nur Vermutungen.
All das bisher geschriebene ist uns, eigentlich, wohlbekannt. Wir sind, in unserem Alltag, immer auf Vermutungen angewiesen – über unsere Mitmenschen, über unsere mittelbare und unmittelbare Umwelt, über oft unüberschaubare Zusammenhänge. Die Wissenschaft selbst, die sehr wohl den Anspruch in sich trägt, uns eine Erkenntnis, ein wirkliches Wissen von der Welt zu vermitteln, ist sicherlich ein wohl festgefügtes, aber dennoch ebenfalls auf intelligenten Hypothesen basierendes Konstrukt; sie kann uns immer nur eine Ahnung von der Wirklichkeit vermitteln, kämpft aber seit ihrem Beginn und bis heute mit der Aufgabe, diese Realität vollständig zu erfassen und zu verstehen. – Gleichzeitig aber ist unser eigenes, individuelles Wissen – jenes, das jeder von uns selbst in sich trägt – nur höchst selten ein Ergebnis unseres eigenen, unabhängigen Forschens und Nachdenkens; das allermeiste von dem, was wir über die Welt zu wissen glauben, haben wir uns angeeignet – in der Schule, im Studium, durch Bücher und andere Medien. – Was wir uns aber nur in den allerseltensten Fällen wirklich vergegenwärtigen, ist die Tatsache, dass die gesamte Welt, die uns umgibt – alles, was wir von ihr und in ihr erleben, alles, was wir zu kennen, zu wissen, zu begreifen glauben – zunächst einmal allein in unserem Kopf existiert. Wir können die Welt nur gefiltert durch unsere Sinnesorgane wahrnehmen, verarbeitet durch die Zerebrallappen unseres Gehirns, mit den winzigen, aber myriadenfach gleichzeitig stattfindenden elektrischen Impulsen unserer Neuronen – unser Empfinden, unser Verstehen, ja selbst das Bewusstsein unserer eigenen Existenz findet nur in diesem einen Organ statt, das eingesperrt ist in unseren Schädelknochen.
Wir sind, auch wenn wir es uns nur allzu selten eingestehen wollen, höchst solitäre Existenzen. Unsere Sinnesorgane versorgen uns mit Informationen über die Außenwelt, die unser Gehirn verarbeitet und speichert, und aus der Summe all dieser Eindrücke formen wir, im Laufe unseres Erwachsenwerdens, ein inneres Abbild der Wirklichkeit. Vielfach aber werden wir beeinflusst: von unseren Bekannten und Verwandten, von Erziehern und Lehrern, von den Autoren der Bücher und Zeitschriften, die wir lesen, von den Regisseuren und Redakteuren der Filme und anderer Medien, die wir konsumieren. So sind wir, in gewisser Weise, fremdgesteuert: müssen teils einfach glauben, was man uns erzählt, müssen – wie nun hinlänglich dargestellt – unsere Interpretation der Wirklichkeit an jene unseres jeweils eigenen Kulturkreises angleichen, übernehmen, was uns von unseren Vorfahren überliefert worden ist. Wir sind, als Menschen, nicht schlecht gefahren mit dieser Strategie in den vergangenen Jahrtausenden: obwohl jeder von uns, für sich, allein ist, haben wir als Kollektiv eine unglaubliche, nachgerade monströse Macht gewonnen.
Doch müssen wir, auf uns selbst zurückgeworfen, immer wieder versuchen, diese Welt und unser inneres Abbild von ihr zu reflektieren – was wir, in unserer Geistesgeschichte, hinreichend oft getan haben: was wir jedoch, jeder für sich selbst, in unserem Alltag nur allzu selten tun. Müssen uns aber gleichzeitig vergegenwärtigen, dass wir all das, was wir von der Welt zu begreifen glauben, allein aus tradierten Überlieferungen, von unseren Eltern, Lehrern und Erziehern übermittelt bekommen haben, aber nur in den allerseltensten Fällen die Gelegenheit hatten, die Welt direkt und unmittelbar zu begreifen und zu erfahren. Und dürfen auch, immer und immer wieder, dieses eine, entscheidende Faktum nicht aus den Augen verlieren: dass wir die Welt nur in unserem Kopf wahrnehmen, nur durch unsere Sinne und unser Gehirn.
Betrachten wir aber all dies zusammen, dann müssen wir uns geradezu zwangsläufig die Frage stellen: was von all dem, was wir zu wissen glauben, wie viel von diesem inneren Universum, das wir in uns tragen, entspricht eigentlich der Realität? Was ist Wahrheit, was eine vernünftige, aber nicht begründbare Annahme, was reine, unhaltbare Spekulation? Was, in Summe gefragt, wissen wir eigentlich von dieser Welt? Diese Frage hat – in der einen oder anderen Form – die Menschen seit jeher beschäftigt, und gerade heute ist sie aktueller denn je. Sind wir doch heute – wie schon angedeutet – konfrontiert mit wissenschaftlichen Modellen von der Realität, die den normalen Verstand weit übersteigen. Sind wir doch einer Vielzahl von wissenschaftlichen, politischen, weltanschaulichen, religiösen Interpretationen der Welt ausgesetzt, die allesamt am Ende des Tages oftmals nicht plausibilisierbar, nicht verifizierbar, nicht rational begründbar erscheinen.
Reflektieren wir diese Frage, so kaskadiert sie förmlich in eine ganze Reihe von Problemstellungen, deren jede einzelne eine Herausforderung an sich darstellt. Ist es uns, als menschliche Spezies, überhaupt grundsätzlich möglich, Wahrheit zu erkennen, zu begreifen? Entspricht dieses innere Abbild der Welt, das wir in unserem Kopf haben, das – wie dargelegt – nur zu einem geringen Teil auf unmittelbarer, eigener Wahrnehmung beruht, zum größten Anteil aber erlerntes, aufgeschnapptes, unhinterfragt akzeptiertes Halbwissen ist, entspricht diese unsere individuell ureigene Interpretation der Welt wirklich der Realität? Und überhaupt, was ist eigentlich Realität? Gibt es sie, so mag man, ins Extreme weiterspinnend, fragen? Oder ist möglicherweise selbst die Annahme einer objektiven Wirklichkeit nur ein Hirngespinst, eine völlig unbegründbare, nicht beweisbare Spekulation, eine sinnentleerte Interpretation der visuellen, haptischen, durch unsere begrenzten kognitiven Fähigkeiten induzierten Eindrücke, die wir tagtäglich von der Umwelt erfahren?
Was also, noch einmal gefragt, wissen wir eigentlich wirklich von dieser Welt?
Nun ist „Wissen“ ein höchst dehnbarer Begriff. Oft genug setzen wir ihn mit Bildung gleich – doch diese besteht lediglich aus einer Ansammlung von Faktenwissen, aus einer angelernten Fähigkeit, sich an viele Details unserer kulturellen Geschichte und Gegenwart zu erinnern. Menschen, die sich eine weitreichende Kenntnis der antiken oder zeitgenössischen Literatur, Musik oder Kunst angeeignet haben, gelten in unserer Kultur im Allgemeinen als gebildet und wir gestehen ihnen einen hohen Grad an Wissen zu; wer gar in der Lage ist, über alle Gedichte und Epen John Miltons, die Gemälde Tizians oder sämtliche musikalischen Werke Orlando di Lassos zu referieren, gilt als hochgebildetes, über alle Maßen akademisch geschultes Mitglied unserer Gesellschaft. Doch auch dem Leser wird klar sein, dass es nicht diese Art von rein faktischem Wissen ist, um die es hier geht. Unsere Sicht auf die Welt beruht nicht allein auf einer mehr oder minder umfassenden Kenntnis von Tatsachen, sondern auch und insbesondere auf einem prozessualen Verständnis von Zusammenhängen, auf einer grundlegenden Vorstellung davon, wie diese Welt funktioniert – auf welchem Gebiet, in welchem Bereich auch immer. Wir glauben zu wissen, wie sich Gesellschaften in bestimmten Situationen verhalten – ein Wissen, das, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, auf tönernen Füssen steht, gehört dies doch zu jener „zweiten Wirklichkeit“, die eher von subjektiven Meinungen denn von objektiven Erkenntnissen geprägt ist. Genauso haben wir aber auch ein Bild, ein Modell von den grundlegenden Zusammenhängen in der Natur im Kopf – egal ob wir nur halbgebildete naturwissenschaftliche Laien sind oder spezialisierte Wissenschaftler der Physik, Chemie, Biologie oder Medizin. Wir glauben zu verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert, haben ein grundlegendes Verständnis entwickelt vom Aufbau mikroskopisch kleiner Zellen, von chemischen Reaktionen und Stoffveränderungen, vom Aufbau der Atome genauso wie von der Struktur, der Geschichte und der Zukunft unseres gesamten Universums. Das meiste davon haben wir in der Schule oder vielleicht an der Universität gehört, haben diese Ansichten, dieses prozessuale Abbild unseres Universums von unseren Lehrern, Dozenten, Professoren gelernt und übernommen. Doch wie bereits angedeutet: die Beschreibung der Wirklichkeit, die uns von den Naturwissenschaften heute angeboten wird, ist für unseren Verstand eigentlich kaum mehr fassbar; die Wissenschaftler selbst bevorzugen mittlerweile die Aussage, dass all unsere Vorstellungen vom Aufbau der Materie und von den Zusammenhängen des gesamten Universums letzten Endes nur Modelle sind, nur unvollständige Beschreibungen der Realität, die immer nur eine begrenzte Gültigkeit haben und nur vielleicht irgendwann einmal ein vollständiges Bild ergeben werden. Doch Modelle zu entwickeln, Hypothesen und Theorien, hat nur begrenzt etwas mit Wissen zu tun; die aktuelle Wissenschaft mutet teilweise wie ein Hesse’sches Glasperlenspiel an, das mit – im vorangegangenen Kapiteln bereits erwähnten – elfdimensionalen, kompaktifizierten Dimensionen und hyperdimensionalen Branen, mit einer im Kern akausalen Quantentheorie und einer den menschlichen Verstand völlig überfordernden allgemeinen Relativitätstheorie mittlerweile Ebenen der Abstraktion angenommen hat, die keinem von uns mehr intuitiv zugänglich sind, die wirklich nur noch modellhaften Charakter zu haben scheinen, die mit Wissen – im eigentlichen, engeren Sinne des Wortes, im Sinne eines klaren, logischen, zwingenden und unbezweifelbaren Verständnisses der Welt – kaum mehr etwas zu tun zu haben scheinen.
Was also, in Gottes Namen, wissen wir eigentlich wirklich von dieser Welt?
Sokrates – einer der ersten Urväter unserer heutigen Sicht auf die Dinge – hat auf diese Frage eine scheinbar stichhaltige, jedenfalls weit verbreitete und seitdem in die Fundamente des westlichen Kulturgutes eingebettete Antwort gefunden: sein berühmtes Zitat oîda ouk eidōs – Ich weiß, dass ich NICHTS weiß – wird auch noch heutzutage allerorten aus dem Fundus der pseudophilosophischen Weisheiten herausgezogen, wenn es darum geht, unser angebliches Wissen von der Welt kritisch zu begutachten. Doch scheint dies zunächst – bei allem Respekt gegenüber einer Ikone unserer Kultur wie Sokrates – eine allzu plumpe Herangehensweise, ein am Ende allzu simplifizierendes Bonmot zu sein; denn nehmen wir diesen Satz einmal ernst – um ihn noch einmal zu zitieren: „ich weiß, dass ich NICHTS weiß“ – dann sagt er uns: Wissen ist unmöglich, ja selbst der Versuch, sich Wissen anzueignen, ist im Grunde lächerlich. Dieser Ausdruck negiert vollständig jede auch nur ansatzweise Erkenntnisfähigkeit des Menschen; er stigmatisiert all unsere Anstrengungen, unsere Welt und uns selbst zu begreifen, als Nichtigkeit, als eitles Gewäsch und selbstgefälliges Bramarbasieren. Diesen Satz zu sagen und ihn dabei ernst zu nehmen, heißt, uns selbst auf eine Stufe mit Affen, gar mit Amöben zu stellen, und uns jegliche Befähigung zur Reflexion, zum Begreifen, zum Verstehen der Welt abzusprechen.
Natürlich war für Sokrates – der bei den Sophisten gelernt hatte, diesen begnadeten Rhetorikern der frühen Antike – diese Aussage nur Mittel zum Zweck, nur ein didaktisches Vehikel, um sein Gegenüber in eine tiefergehende Diskussion zu locken. Und sein oîda ouk eidōs lässt sich auch in etwas anderer Weise ins Deutsche übersetzen als jene, die wir in der Regel verwenden. Sprache ist, gerade in der Übertragung von einem Kulturraum in einen anderen, immer vielschichtig, selten wirklich kongenial, nie jedenfalls mit mathematischer Präzision übersetzbar: sie birgt immer einen Interpretationsspielraum, eine leichte, manchmal aber entscheidende Unschärfe. Das oîda ouk eidōs lässt sich auch in der Form „ich weiß, dass ich nicht weiß“ ins Deutsche übertragen – ich weiß also nicht nichts, sondern nicht: mit anderen Worten: mein Wissen – das ich durchaus in mir trage – ist, obwohl ich mir seiner eigentlich so sicher wähne, höchst fragil, höchst unsicher begründet, und eigentlich ist es kein Wissen, sondern nur eine Ansammlung von erlernten, von unseren Vorfahren und Lehrern übernommenen Ansichten, die einer strengen Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt in den seltensten Fällen standhalten wird. Auf didaktische Weise stellt Sokrates hier das eigene Wissen und das der Anderen infrage, um genau auf diesen Umstand hinzuweisen, der weiter oben schon angedeutet wurde: dass ein großer Teil unseres erworbenen inneren Abbildes der Welt im Grunde nur eine Art von Scheinerkenntnis ist, eine Ansammlung von erdachten Zusammenhängen und vermuteten Tatsachen, die wir rein aus Gewohnheit für selbstverständlich halten und selten zu hinterfragen, kritisch zu beleuchten und nur in äußerstem Falle, nur gezwungenermaßen zu revidieren bereit sind. Sokrates verwehrt uns damit nicht die grundlegende, allen Menschen gegebene Fähigkeit zu wissen: doch wir müssen jegliche Form des Wissens immer wieder hinterfragen, immer wieder auf den Prüfstand stellen.
Was wissen wir wirklich? Wissen wir – nur um ein erstes Beispiel zu nennen – ob Sokrates eine reale Person gewesen ist, oder könnte er nicht möglicherweise vielmehr eine Ausgeburt der geschichtlichen Phantasie sein? Aus Zeugnissen, Dokumenten, Berichten seiner Zeitgenossen, die uns rein zufällig erhalten geblieben sind, können wir schließen, dass er gelebt hat, aus den Schriften Platons und anderen lesen wir Berichte über diese Person – aber da von Sokrates keine eigenen Niederschriften, keine literarischen Werke erhalten sind, können wir über die Realität seiner Existenz nur intelligente Vermutungen anstellen. Rein aufgrund der fast ununterbrochenen Kette von Überlieferungen, der Transkriptionen der Werke Platons über ungezählte Generationen und viele Sprachen hinweg haben sich die Berichte über Sokrates bis in die heutige Zeit erhalten, doch einen letztendlichen Beweis für die Realität seiner Existenz haben wir nicht – mehr noch: selbst die Frage, ob andere griechische Philosophen wie Platon, Aristoteles, Pythagoras wirklich existiert haben, können wir im Grunde nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Unsere geschichtliche Tradition, unser kulturelles Selbstverständnis gebietet es, ihre wirkliche Existenz, die Realität dieser historischen Personen anzuerkennen, und kein gebildeter, vernunftbegabter Mensch der westlichen Welt würde es heutzutage wagen, diese Ansicht in Frage zu stellen – doch strenggenommen, und wenn wir zu uns selbst wirklich ehrlich sind, können wir diese Annahme nicht beweisen. Niemand von uns hat je mit Sokrates gesprochen, keiner hat ihn gesehen, nie hat ein heutiger Mensch seine Stimme gehört: trotzdem sind wir alle davon überzeugt, dass es diesen Mann gegeben hat, dass er in den Straßen Athens die Menschen angesprochen und mit ihnen debattiert hat, unter seinem zumindest laut mythischer Überlieferung zänkischen Weib Xanthippe litt, schließlich nach Anklage wegen Gotteslästerei den Schierlingsbecher trank und starb.
Wir gründen unsere Sicht auf die Geschichte auf eine Basis von Dokumenten und Überlieferungen, die wir immer wieder auf Konsistenz und Echtheit prüfen. Im Falle des Sokrates sind uns zahlreiche Schriften überliefert – allen voran die Dialoge Platons, insbesondere die Darstellung seiner letzten Lebensstunden in der Apologie – die den Historikern eine hinreichende Sicherheit bieten, um die reale geschichtliche Existenz des Sokrates als gegeben und wahr anzuerkennen. Mit anderen prominenten Gestalten unserer Vergangenheit ist die Geschichtswissenschaft weniger sanft umgegangen: glaubte man noch vor wenigen Jahrhunderten, dass biblische Gestalten wie Moses oder Abraham selbstverständlich gelebt und auch in ihrer Zeit jene immense Bedeutung gehabt haben, die ihnen in der Heiligen Schrift zugeschrieben wird, so ist sich die Wissenschaftsgemeinde heutzutage relativ sicher, dass es diese Personen so, wie in der Bibel beschrieben, nie gegeben hat – dass sie lediglich mythisierte, literarisch verbrämte Schatten ganz anderer Gestalten der Geschichte sind, deren Namen längst vergessen sind. (Und ob Shakespeare seine Dramen und Sonette wirklich selbst geschrieben hat, oder ob sich hinter diesem Namen eine ganz andere, mysteriöse Person seiner Zeit verbergen könnte, ist heutzutage bekanntermaßen immer noch beliebter Gegenstand von Spekulationen: wir wissen es nicht und werden wahrscheinlich nie wirklich uns Klarheit darüber verschaffen können.) Allein durch vergleichende Textanalysen, gepaart mit archäologischen Funden und einer gehörigen Portion Allgemeinwissen schließen wir auf die Echtheit oder Falschheit geschichtlicher Überlieferungen; die Geschichtswissenschaften sind zurecht ein methodologisch komplexes Terrain.
So sind also auch historische Wahrheiten immer mit einer Unsicherheit behaftet in dem Sinne, dass sie grundsätzlich nicht – und wenn, dann nur in wenigen, eher zeitgeschichtlich bezogenen Kontexten – nachprüfbar sind. Vom Standpunkt des Naturwissenschaftlers aus gesehen sind die zugrundeliegenden Fakten – seien es literarische Zeugnisse oder die Einschätzung archäologischer Befunde – nicht oder nur bedingt verifizierbar, es gibt kein Experiment, keine Form der direkten oder indirekten Wahrnehmung, mit der wir geschichtliche Überlieferungen als wahr oder falsch einordnen könnten. Wir sind auf Zeugnisse und auf unsere subjektive, kulturell gewachsene Überzeugung ihrer Echtheit angewiesen, wenn es darum geht, historische Wahrheiten (im wissenschaftlichen Sinne gesprochen) zu verifizieren oder zu falsifizieren. Unser vorhin erwähntes faktisches Wissen, auf dem zum überwiegenden Teil unsere Kultur und unser kulturelles Selbstverständnis beruht, und dessen wir uns im Alltag eigentlich so überaus sicher sind, ist damit wesentlich anzweifelbarer, als wir das im Allgemeinen für möglich halten. So gesehen, baut unsere Kultur im Wesentlichen auf nicht verifizierten Annahmen über angebliche, von uns in der Regel unhinterfragt akzeptierte Fakten auf; am Ende mag es sogar scheinen, als hätten wir uns über tradierte Geschichten, überlieferte Erzählungen und von unseren Vorfahren übernommene Wahrheiten einen Mythos konstruiert, der unser kulturelles Weltverständnis ausmacht, der aber zumindest in dem einen oder anderen Fall, wie oben angedeutet, einer strengen Überprüfung auf seinen Wahrheitsgehalt nicht standhaben kann.