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Wie kein anderes päpstliches Lehrschreiben zuvor und danach löste dieses Dokument, meist nur Pillenenzyklika genannt, jahrzehntelange kontroverse Diskussionen aus. Viele Ehepaare, Theologinnen und Theologen, aber auch Bischöfe waren und sind weiterhin überzeugt, dass die Entscheidung von Papst Paul VI., künstliche Methoden der Empfängnisregelung als unsittlich zu bewerten, eine Fehlentscheidung war. Dabei hatte das II. Vatikanische Konzil die Ehe als personale Liebesgemeinschaft neu beurteilt und eine funktionalistische Sicht der Sexualität (erster Ehezweck ist die Zeugung von Nachkommen) überwunden. Doch Paul VI. entschied, die Frage der Geburtenregelung den Konzilsvätern zu entziehen und sich selbst vorzubehalten. Warum letztendlich der Papst dem Minderheitsvotum der bereits von Johannes XXIII. eingesetzten Studienkommission gefolgt ist, welche Reaktionen Humane vitae hervorgerufen hat und wie die nachfolgenden Päpste die Enzyklika rezipiert haben, wird in diesem Buch beschrieben. Der Autor reflektiert kritisch die Argumentationsformen gegen die künstliche Empfängnisregelung und geht – auf dem Hintergrund von Amoris laetitia, dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus aus dem Jahr 2016 – neuralgischen Fragen nach: der Gewissensbildung, dem Verhältnis zwischen Tradition und Lehre, dem Unterschied zwischen Glaubensgehorsam und Loyalität zur Kirche, damit letztendlich die Botschaft von Humanae vitae, nämlich die Ehelehre des Konzils zu vertiefen und vor den möglichen Folgen einer von der Zeugung vollkommen gelösten Sexualität zu warnen, wiederentdeckt werden kann.
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Seitenzahl: 183
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Martin M. Lintner
Die Geschichteeiner umstrittenen Lehre
Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur
Erstveröffentlichung auf Italienisch:Cinquant’anni di Humanae vitae. Fine di un conflitto – riscoperta di un messaggio (Giornale di Teologia 409), Brescia: Queriniana 2018.
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
2018© Verlagsanstalt Tyrolia, InnsbruckUmschlaggestaltung: stadthaus 38, InnsbruckLayout und digitale Gestaltung: Tyrolia-VerlagDruck und Bindung: FINIDR, TschechienISBN 978-3-7022-3721-9 (gedrucktes Buch)ISBN 978-3-7022-3722-6 (E-Book)E-Mail: [email protected]: www.tyrolia-verlag.at
Einleitung
Teil 1:Humanae vitae: eine historisch-genealogische Studie
1. Humanae vitae – ein Wendepunkt nicht nur im Pontifikat von Paul VI
2. Die Entstehungsgeschichte
Die Päpstliche Kommission für Familien-, Bevölkerungsfragen und Geburtenhäufigkeit
Die Prüfung des „Mehrheitsberichts“ durch eine eigene Bischofskommission
Ein Überblick über die Entwicklung der Kommissionsarbeiten
Die Konzils-Subkommission über Ehe und Familie
3. Die Redaktion und Veröffentlichung
Die Reaktion Pauls VI. auf die Arbeit der Studienkommission
Die Schlussredaktion und die Veröffentlichung
4. Die Enzyklika Humanae vitae
Aufbau und Inhalt der Enzyklika
Der historische Kontext
5. Humanae vitae als Frucht eines harten und dramatischen Ringens
Teil 2:Eine kurze Rezeptionsgeschichte von Humanae vitae
1. Erste Reaktionen auf die Veröffentlichung
Das Bemühen, der Rezeption einen fruchtbaren Boden zu bereiten
Die Reaktion von verschiedenen Bischofskonferenzen
2. Zur Rezeption von Gaudium et spes 47–52 in Humanae vitae
3. Humanae vitae und die Päpste nach Paul VI
Humanae vitae und Johannes Paul II
Humanae vitae und Benedikt XVI
Humanae vitae und Papst Franziskus
Teil 3:50 Jahre Humanae vitae: Resümee und Neuaufbruch
1. Wie überzeugend sind die Argumentationsformen und die Gründe gegen die künstliche Empfängnisregelung?
2. Humanae vitae: eine Fehlentscheidung?
3. Die Botschaft von Humanae vitae wiederentdecken
Anmerkungen
Am 25. Juli 2018 jährt sich zum 50. Mal der Tag der Veröffentlichung von Humanae vitae, der Enzyklika über die Weitergabe des Lebens von Papst Paul VI.1 Wie kein anderes päpstliches Lehrschreiben zuvor und danach löste es jahrzehntelange kontroverse Diskussionen aus. Auch die Versuche, besonders von Papst Johannes Paul II., Kritik an Humanae vitae zu unterbinden oder durch Disziplinarmaßnahmen eine Zustimmung zur Enzyklika zu erwirken, konnten nicht über die Diskrepanzen hinwegtäuschen, die hinsichtlich der sittlichen Bewertung der Methoden der Empfängnisregelung bestehen blieben – bis heute. Es ist ein offenes Geheimnis: Viele Ehepaare, Katholiken und Katholikinnen, Theologen und Theologinnen2 sind überzeugt, dass die diesbezügliche Entscheidung von Paul VI. eine Fehlentscheidung war, und selbst Bischöfe äußern Bedenken in diese Richtung3. Es stellt sich daher ernsthaft die Frage, ob diese anhaltende fehlende Zustimmung seitens der Mehrheit der Gläubigen nicht im Sinne des Glaubenssinns des Volkes Gottes ein deutliches Indiz dafür ist, die Lehre zu überdenken.
Es gehört zur Tragik von Humanae vitae, dass sie sofort nach Erscheinen als „Pillenenzyklika“ disqualifiziert und damit auf das Verbot der künstlichen Methoden der Empfängnisregelung reduziert worden ist. Papst Franziskus fordert im nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia (2016): „Es gilt, die Botschaft der Enzyklika Humanae vitae Papst Pauls VI. wiederzuentdecken, die hervorhebt, dass bei der moralischen Bewertung der Methoden der Geburtenregelung die Würde der Person respektiert werden muss“ (AL 82). Diese Forderung findet sich bereits in den Schlussberichten der Bischofssynoden 2014 und 2015. Dabei fällt auf, dass weder die beiden Bischofssynoden noch Papst Franziskus im nachsynodalen Schreiben die normative Lehre des kategorischen Verbots der künstlichen Empfängnisregelung explizit wiederholen und einschärfen, sondern als wesentliche Kriterien für die sittliche Bewertung der angewandten Methode die grundsätzliche Offenheit einer Ehe für Kinder (vgl. AL 222) sowie die Respektierung der Würde der Person (vgl. AL 82) anführen. Zur Anwendung der Methoden, die auf den natürlichen Zeiten der Fruchtbarkeit beruhen, wird ermutigt (vgl. AL 222). Bestärkend und motivierend werden hierfür einige positive Effekte in Erinnerung gerufen, die die natürlichen Methoden der Empfängnisregelung für Ehepartner haben können (vgl. ebd.).
Amoris laetitia zitiert bei den einschlägigen Passagen übrigens immer den Schlussbericht der Bischofssynode 2015. Das macht deutlich, dass Papst Franziskus den Prozess der synodalen Konsensfindung gewählt hat und der großen Mehrheit der 260 Bischöfe gefolgt ist, die die 14. ordentliche Generalversammlung gebildet haben: die Vorsitzenden der regionalen Bischofskonferenzen sowie – je nach deren Größe – ein oder mehrere Vertreter. Amoris laetitia spiegelt also die Position und Überzeugung des überwiegenden Teils der Bischöfe weltweit wider.
Die Diktion der Texte der Bischofssynoden 2014 und 2015 sowie von Amoris laetitia von der „wiederzuentdeckenden Botschaft“ von Humanae vitae sowie von der „Ermutigung“ zur Anwendung der natürlichen Methoden der Geburtenregelung liegt in einer Linie mit Aussagen von Papst Benedikt XVI. Es ist auffallend, dass dieser sich sowohl als Präfekt der Glaubenskongregation als auch als Papst in Bezug auf die normative Frage der Empfängnisregelung kaum und wennschon nur sehr zurückhaltend geäußert hat: Man dürfe nicht lediglich die weiterhin gültigen Perspektiven von Humanae vitae verkünden, sondern müsse auch Wege der Lebbarkeit finden.
Man kann davon ausgehen, dass mit den Bischofssynoden 2014 und 2015 sowie mit Amoris laetitia die jahrzehntelangen kontroversen Diskussionen um die normative Lehre von Humanae vitae entschärft worden sind, vielleicht ein Ende gefunden haben. Damit wird auch der Blick wieder frei, wichtige Anliegen der Enzyklika neu in den Blick zu nehmen. Die vorliegende Publikation anlässlich des 50. Jahrtages des Erscheinens der Enzyklika will hierfür einen Beitrag leisten. Dabei kann es von Vorteil sein, dass der Verfasser selbst jünger ist als die Enzyklika. Er hat die intensiv und emotional geführten kontroversen Diskussionen nicht als Zeitzeuge miterlebt, was ihm zugleich eine gewisse Distanz verschafft und eine nüchternere Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglicht.
Im ersten Teil4 wird die wechselvolle Entstehungsgeschichte des Lehrschreibens nachgezeichnet, die sich phasenweise fast wie ein Krimi liest. Obwohl die entsprechenden Archive des Vatikans noch nicht öffentlich zugänglich sind, kann die Genealogie der Enzyklika aus den zugänglichen Quellen relativ detailliert rekonstruiert werden.5 Sie beginnt mit der Gründung der „Päpstlichen Kommission für Familien-, Bevölkerungsfragen und Geburtenhäufigkeit“ durch Papst Johannes XXIII. im März 1963. Eine wichtige Bedeutung gewinnen die Diskussionen während des Zweiten Vatikanischen Konzils und hier besonders die Arbeiten der „Subkommission über die Ehe und Familie“, die schließlich die Ehelehre des Konzils in Gaudium et spes 47–52 wesentlich prägen. Noch in den letzten Tagen vor der definitiven Abstimmung über diesen Text tobt ein heftiger Kampf darüber, ob die Ehelehre von Casti connubii (1931) und ihre Auslegung durch Pius XII. weiterentwickelt werden kann oder nicht. Eine kleine Minderheit von Kurienkardinälen und Konzilstheologen interveniert diesbezüglich bei Paul VI., damit dieser direkt in die Kommissionsarbeit eingreife und eine solche Fortentwicklung verhindere, letztlich jedoch nicht mit dem von den Initiatoren erwünschten Erfolg.6 Als folgenschwer erweist sich jedoch der Entschluss des Papstes, die Entscheidung über die sittliche Beurteilung der Methoden der Empfängnisregelung den Konzilsvätern zu entziehen und sich selbst vorzubehalten.7 Schließlich setzt er im März 1966 eine Bischofskommission ein mit dem Auftrag, den Abschlussbericht der päpstlichen Studienkommission zu prüfen, die von einem gesonderten Bericht einer kleinen Minderheit der Kommissionsmitglieder, die dem Kommissionsbericht nicht zustimmen wollte, flankiert worden ist. Die Mehrheit sowohl der Studienkommission als auch dieser Bischofskommission empfiehlt dem Papst, die Frage der Methoden der Geburtenregelung der Gewissensentscheidung der Ehepartner zu überantworten. Der Papst wird sich diesem zweimaligen Mehrheitsvotum jedoch nicht anschließen, sondern dem zweifachen Minderheitsvotum folgen. Das kollegiale Bemühen um größtmöglichen Konsens, das den Prozess des Zweiten Vatikanums ausgezeichnet hat, hat Paul VI. jedenfalls beiseitegelassen.8 Festzuhalten bleibt, dass er dazu formell zweifelsohne ermächtigt war; ob es klug war, darüber mag man streiten. Beleuchtet wird auch die Rolle einer vom damaligen Krakauer Kardinal Karol Wojtyła in Auftrag gegebenen Denkschrift, des sogenannten „Krakauer Memorandums“, welches Paul VI. im Februar 1968 zugespielt worden ist. Dieser Text liegt zwar nicht im Argumentationsduktus, wohl aber in den Schlussfolgerungen hinsichtlich der normativen Untrennbarkeit der einheitsstiftenden und fortpflanzungsoffenen Dimension der Sexualität im einzelnen ehelichen Akt ganz auf der Linie des Minderheitsvotums.
Der zweite Teil ist der Rezeptionsgeschichte von Humanae vitae gewidmet, beginnend von den ersten Reaktionen und den Stellungnahmen von weltweit 38 Bischofskonferenzen, von denen jene der italienischen, deutschen, österreichischen und belgischen exemplarisch herausgegriffen werden, bis zu Amoris laetitia. Kritisch untersucht wird auch die Frage, ob die von Anfang mangelhafte Rezeption der Enzyklika nicht auch damit zu tun hat, dass hier Positionen bezüglich Ehe und Familie in eine lehramtliche Verlautbarung „zurückgeholt“ werden, die bei den Konzilsberatungen keine Mehrheit mehr gefunden haben, sondern die man zu überwinden versuchte. Diese Minderheit, die sich auf dem Konzil nicht durchsetzen konnte, wollte durch Humanae vitae einzelne Aspekte der konziliaren Ehelehre gleichsam korrigieren und hat einen enormen Druck auf den Papst ausgeübt bis dahin, dass andersdenkende Theologen, ehemalige Konzilsberater und Mitglieder der Konzilssubkommission über die Ehe und Familie nicht mehr zu ihm vorgelassen worden sind.
Ein besonderes Augenmerk gilt in der Rezeptionsgeschichte Johannes Paul II., einem entschiedenen Verfechter von Humanae vitae, der aber durchaus auch hat durchblicken lassen, dass die Enzyklika seines Erachtens an einer biblischen und anthropologischen Grundlegung mangle. Er hat es sich auf dem Hintergrund seines personalistischen philosophischen Ansatzes zur Aufgabe gemacht, die biblischen, anthropologischen und moralischen Fundamente der Lehre von Humanae vitae zu erhellen und mit Vehemenz zu verteidigen. Dabei geht er sogar so weit, die Ablehnung der Enzyklika mit der Ablehnung des Gedankens der Heiligkeit Gottes gleichzusetzen. Seine Ansprache anlässlich eines Kongresses zu „20 Jahre Humanae vitae“ im November 1988 macht zudem deutlich, dass die Art und Weise, wie die Auseinandersetzung mit der Lehre über die Geburtenregelung geführt worden ist, zutiefst die katholische Auffassung von Tradition, Lehramt, Beziehung zwischen Lehramt und Gläubigen sowie das Verständnis des Gewissens betrifft. Auch hier wird kritisch die Frage zu stellen sein, ob ein Gewissensverständnis, das vorwiegend von einem moralischen Objektivismus geprägt ist und das Gewissen vordergründig als Instanz des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm sieht (vgl. Veritatis splendor 60), nicht wesentliche Aspekte der konziliaren Gewissenslehre in Gaudium et spes 16 unterbewertet.
Bei Papst Benedikt XVI. wird sich zeigen, dass er selbst dezidiert davon spricht, die Enzyklika habe ihn nach ihrem Erscheinen als Theologen nicht zufriedengestellt. Sie sei für ihn und andere Theologen ein „schwieriger Text“ gewesen. In seinem Kommentar zu Gaudium et spes 47–52 hat er bezüglich der Ehelehre bereits 1966 einige kritische Anfragen bzw. Forderungen formuliert, von denen man sagen muss, dass sie durch die Enzyklika letztlich nicht beantwortet bzw. nicht eingelöst worden sind. Schon angesprochen wurde seine Zurückhaltung zur normativen Lehre der Enzyklika während seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst, was als vorsichtige Korrektur gedeutet werden kann, wenn sie als solche auch nicht benannt worden ist (wohl um seine Vorgänger nicht zu desavouieren).
Schließlich wird ausführlich der Umgang der beiden Bischofssynoden 2014 und 2015 mit Humanae vitae dargestellt und wie die Enzyklika Pauls VI. letztlich in Amoris laetitia rezipiert worden ist.
Der dritte Teil wird mit einer kritischen Reflexion über die Überzeugungskraft der Argumentationsformen gegen die künstliche Empfängnisregelung, die in Humanae vitae und von Johannes Paul II. verwendet werden, beginnen und danach fragen, ob sie hinreichend sind, um ein kategorisches Verbot dieser Methoden zu begründen. Eingegangen wird zudem auf den bereits erwähnten Themenkomplex des Verständnisses von Tradition, Lehramt, Beziehung zwischen Lehramt und Gläubigen sowie der Gewissenslehre. Auf dem Hintergrund der beiden Bischofssynoden 2014 und 2015 sowie von Amoris laetitia gilt das abschließende Kapitel der Frage, was es bedeuten kann, die Botschaft von Humanae vitae wiederzuentdecken, und welche konsensfähige Position hinsichtlich der Methoden der Empfängnisregelung formuliert werden kann.
Humanae vitae ist die siebte Enzyklika von Papst Paul VI., veröffentlicht im sechsten Jahr seines Pontifikates. Sie wird auch die letzte bleiben: In den verbleibenden zehn Jahren seiner Amtszeit wird er nicht mehr auf diese feierliche und autoritative Form von päpstlichen Lehrschreiben zurückgreifen, um der Lehre der Kirche und seinen Anliegen Gehör zu verschaffen. Auch wenn sich der Papst klar darüber war, „wie hart und bitter“ sein Lehrschreiben viele Eheleute treffen würde und „welche schwerwiegenden Folgen“ es haben werde9, war er von der Heftigkeit der folgenden Diskussionen persönlich getroffen, vor allem auch von der Kritik aus den Kreisen der Bischöfe. Darüber, mit welch harscher, vielfach auch bissiger Kritik sein Lehrschreiben bedacht worden ist, war er enttäuscht, ja auch verbittert. Zwar hat er im Begleitschreiben an die Bischöfe, verfasst vom damaligen Staatssekretär Kardinal Amleto Giovanni Cicognani, sowie in der Enzyklika selbst10 alle Bischöfe aufgerufen, sich mit den Lehraussagen der Enzyklika auseinanderzusetzen und sich für die Verkündigung ihrer Lehre einzusetzen. Allerdings wird er von der Art überrascht gewesen sein, wie insgesamt 34 Bischofskonferenzen weltweit bzw. von nationalen Bischofskonferenzen beauftragte Kommissionen11 diesen Aufruf wahrgenommen haben: Auch wenn die grundsätzliche Übereinstimmung der Bischofskonferenzen mit der vom Papst vorgetragenen Lehre nicht zu übersehen ist, fanden doch deutliche Akzentverschiebungen statt, z. B. „bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen Gewissen und Autorität oder bei der Frage nach der objektiven und subjektiven Sündhaftigkeit der Empfängnisverhütung“12. Von der Öffentlichkeit sind viele dieser Stellungnahmen nicht nur als Kritik an, sondern als Dissens mit, ja sogar als Widerspruch gegen die Lehre der Enzyklika wahrgenommen und interpretiert worden. Der Papst selbst habe vorausgesehen, dass seine Entscheidung in der Frage der Geburtenkontrolle nicht von allen angenommen werde, wie Ferdinando Lambruschini, damals Professor für Moraltheologie an der Lateranuniversität, bei der offiziellen Präsentation der Enzyklika am 29. Juli 1968 berichtete, bei der er übrigens auch betonte, dass die Enzyklika dem sog. „authentischen Lehramt“ angehöre und deshalb hinsichtlich der verpflichtenden Kraft „keine unfehlbare Aussage“ darstelle, auch wenn ihr die Gläubigen volle Loyalität und innere, nicht nur äußerliche Zustimmung schulden.13 Weder vor noch nach Humanae vitae hat es ein weiteres päpstliches Lehrschreiben gegeben, das in der gesamten Weltöffentlichkeit ein derart großes Echo gefunden hat und zugleich so umstritten war. Dabei bleibt die Feststellung gültig: „Die Auseinandersetzungen sind umso schwerwiegender, als sie von Anfang an nicht allein um den Inhalt der Enzyklika kreisten, sondern sich auf andere Wesensfragen der Kirche ausdehnten: auf die Frage nach der Lehrautorität des Papstes, nach der Verbindlichkeit päpstlicher Äußerungen, nach dem Verhältnis Papst – Bischofskollegium, nach dem Gehorsam gegenüber dem Lehramt, nach der Freiheit des Gewissens – mehr noch: Im Grunde wird nach dem Selbstverständnis von Papst, Hierarchie und Gesamtkirche gefragt.“14 Der folgende Beitrag setzt sich jedoch nicht mit der Wirkungsgeschichte von Humanae vitae auseinander15, sondern mit ihrem Entstehen und will einen historisch-genealogischen Zugang zur Enzyklika eröffnen16. Eine historische Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte von Humanae vitae ist bedeutsam, damit dieses Lehrschreiben in einen weiteren Kontext eingeordnet und von ihm her verstanden werden kann.
Die am 25. Juli 1968 veröffentlichte Enzyklika ist Frucht eines jahrelangen Diskussions- und Suchprozesses, dessen Anfänge weit in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils hineinreichen. Zu nennen sind vor allem drei Gremien, deren Debatten und Arbeiten die Enzyklika vorbereitet haben:
1) Das erste Gremium ist die bereits von Johannes XXIII. eingesetzte und von Paul VI. weitergeführte „Päpstliche Kommission für Familien-, Bevölkerungsfragen und Geburtenhäufigkeit“.
2) Das zweite Gremium ist die „Subkommission über die Ehe und Familie“, die mit der Erarbeitung eines Entwurfs zu Fragen der Ehe und Familie im Rahmen des „Schemas XIII“ (de ecclesia) beauftragt war und deren Arbeit im ersten Kapitel des zweiten Teils der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 47–52) Niederschlag gefunden hat.17
3) Als drittes Gremium ist schließlich die von Paul VI. im März 1966 eingesetzte Bischofskommission zu nennen, die den Auftrag hatte, den Abschlussbericht der päpstlichen Studienkommission zu prüfen.
Da die Kommissionsakten dieser päpstlichen Studienkommission, die Paul VI. zusammen mit dem Schlussdokument bei der letzten Sitzung am 28. Juni 1966 überreicht worden sind, noch nicht zum öffentlichen Studium freigegeben sind, kann ihre Arbeit, im Besonderen die Diskussionen zwischen den Mitgliedern und die Entwicklungen der einzelnen Standpunkte, nur mühsam rekonstruiert werden; teils aus den persönlichen Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen von Kommissionsmitgliedern sowie teils anhand von – manchmal indiskreten – Mitteilungen von Personen, die hinter den Kulissen in die Vorgänge involviert waren.18
Die „Päpstliche Kommission für Familien-, Bevölkerungsfragen und Geburtenhäufigkeit“ wurde von Johannes XXIII. im März 1963 gegründet.19 Ihr gehörten sechs Mitglieder an, drei Kleriker und drei Laien. Ursprünglich hatte die Studienkommission, die dem Staatssekretariat untergeordnet war und deshalb vom Kardinalstaatssekretär Amleto Cicognani geleitet wurde, die Aufgabe, eine Botschaft des Papstes an die politisch Verantwortlichen der Vereinten Nationen zu demographischen Problemen vorzubereiten20, nicht jedoch die lehrmäßige sittliche Fragen betreffs der Geburtenregelung zu studieren.21 Das Problem der Bevölkerungsentwicklung war im kirchlichen Bereich bereits seit Jahren mit Sorge beobachtet und diskutiert worden.22 Johannes XXIII. sah sich zur Gründung dieser Kommission zudem veranlasst aufgrund der damals in den USA und in England aufgeflammten Diskussion über die sittliche Zulässigkeit der ovulationshemmenden Pille, die in den USA seit 1960, in Europa seit 1962 vom Pharmakonzern Pincus vermarktet worden ist23. Schon 1963 und noch 1964 gab es verschiedene Stellungnahmen von mehreren Theologen und Bischöfen, ja sogar einen Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe zu dieser Frage.24 Diese Stellungnahmen waren geprägt von der Ungewissheit darüber, ob das neue Pharmakon auch eine neue Faktenlage darstelle, sodass es nicht unter die traditionelle Lehre in Bezug auf die ausschließliche sittliche Erlaubtheit der periodischen Enthaltsamkeit als Mittel der Geburtenkontrolle falle, sondern einer gesonderten sittlichen Beurteilung bedürfe, oder ob die Möglichkeit der pharmazeutischen Verhütung zur Notwendigkeit führe, die lehramtliche Doktrin zur Frage der Geburtenregelung neu zu bedenken, oder ob sie im Licht der bisherigen Lehre schlichtweg sittlich zu verurteilen sei. Johannes XXIII. vertraute diese Frage, die bereits während der Konzilssitzungen zu Diskussionen geführt hat, vor allem im Kontext der Debatten über das „Schema XVII/b“ (de familia et problemate demographico), der Studienkommission an, von der zunächst weder die Bischöfe noch die Öffentlichkeit Kenntnis bekamen. Die erste Sitzung der Studienkommission fand übrigens vom 12. bis 13. Oktober 1963 in Leuven statt. In den Vorbereitungsakten für diese Sitzung wurde der Kommission bereits der Auftrag gegeben zu prüfen, ob im Zug der Behandlung des Problems auch eine lehramtliche Äußerung zur Geburtenregelung nötig sei.25
Die Frage nach der Erlaubtheit der Nutzung der periodischen Enthaltsamkeit als Mittel der Empfängnisverhütung stellte sich erst nach der Entdeckung des weiblichen Zyklus, dessen biologische Bedeutung fast zeitgleich 1842 von Félix Pouchet und 1843 von Theodor Bischoff erkannt worden ist.26
Das Lehramt der Kirche hat die Nutzung der periodischen Enthaltsamkeit als Mittel der Geburtenregelung von Anfang an geduldet. Im Anschluss an die Enzyklika Arcanum divinae sapientiae (Über die christliche Ehe; 10. Februar 1880) von Leo XIII. beantwortete die Heilige Pönitentierie die Frage, ob es erlaubt sei, die Ehe nur an jenen Tagen zu vollziehen, an denen eine Empfängnis schwieriger ist, mit einem vorsichtigen Ja.27
50 Jahre nach Arcanum divinae sapientiae veröffentlichte Papst Pius XI. am 31. Dezember 1930 die Enzyklika Casti connubii mit dem Untertitel „über die christliche Ehe im Hinblick auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen und Bedürfnisse von Familie und Gesellschaft und auf die diesbezüglich bestehenden Irrtümer und Missbräuche“. Darin reagierte er u. a. auch darauf, dass die anglikanischen Bischöfe auf der siebten Lambeth-Konferenz im selben Jahr die künstliche Empfängnisverhütung unter bestimmten Umständen als sittlich gerechtfertigt beurteilt hatten.28 Damit hatte die anglikanische Kirche die vorher mit der römisch-katholischen Kirche geteilte Position aufgegeben. Pius XI. hingegen verurteilte die gezielte Unfruchtbarmachung des ehelichen Aktes als widernatürlich, schändlich und innerlich unsittlich.29 Hingegen räumte er ein, dass Eheleute nicht gegen die Natur handeln, wenn sie von ihrem natürlichen Recht auf Beischlaf Gebrauch machen, auch wenn aufgrund gewisser natürlicher Umstände wie die der unfruchtbaren Zeiten keine Zeugung erfolgen kann.30
Pius XII. kam auf das Problem besonders in zwei Ansprachen im Jahre 1951 zu sprechen und bekräftigte die Lehre seines Vorgängers, d. h. die strikte Ablehnung der künstlichen Empfängnisverhütung und die Zulassung der periodischen Enthaltsamkeit als Mittel der Geburtenregelung. Die erste Ansprache ist jene vom 29. Oktober an die Teilnehmerinnen des Kongresses der katholischen Hebammen Italiens über Mutterschaft und Geburtenregelung31, die zweite jene vom 26. November an die Teilnehmer des Kongresses des Fronte della Famiglia und der Vereinigung der kinderreichen Familien über die Heiligkeit des keimenden Lebens32.
Auf die sittliche Erlaubtheit der Verwendung von Mitteln, die empfängnisverhütend wirken, aus therapeutischen Zwecken ging Pius XII. in zwei weiteren Ansprachen ein, und zwar an die Teilnehmer des Kongresses der italienischen Gesellschaft für Urologie am 8. Juli 195333 und an jene des Kongresses der internationalen Gesellschaft für Hämatologie am 12. September 195834. Darin unterschied er den Gebrauch von Mitteln zu therapeutischen Zwecken, auch wenn sie empfängnisverhütende Wirkung haben, vom Gebrauch von Mitteln zu empfängnisverhütenden Zwecken. Die entscheidende Frage ist, so der Papst, die der „Intention der betreffenden Person“: „Wenn die Frau das Mittel nicht in der Absicht nimmt, damit die Ovulation zu unterbinden, sondern nur auf ärztliche Anordnung und als notwendiges Medikament zur Heilung einer Erkrankung des Uterus oder Organismus, so verursacht sie eine indirekte Sterilisation, die aber nach dem allgemeinen moraltheologischen Grundsatz der ‚Handlungen mit dem doppelten Effekt‘ erlaubt bleibt. Eine direkte Unfruchtbarmachung dagegen, die natürlich unerlaubt ist, wird dann vorgenommen, wenn die Ovulation gehemmt wird, um Uterus und Organismus vor den Folgen einer Schwangerschaft zu bewahren, die sie nicht ertragen können.“35 Daher, so Pius XII., bleibt jeder Gebrauch eines Mittels zum Zwecke der Empfängnisverhütung auch in jenen Fällen, in denen eine (neuerliche) Schwangerschaft eine Gesundheitsgefährdung der Frau bedeuten würde, sittlich unerlaubt, da der direkte Zweck der der Empfängnisverhinderung wäre.36
Paul VI. bestätigte die damals allerdings noch wenig repräsentative Kommission, die vom 3. bis 5. April 1964 zum zweiten Mal tagte37, beließ sie jedoch unter der Leitung des Staatssekretariates, was dem Einfluss des Heiligen Offiziums auf die Kommissionsdiskussionen klare Grenzen setzte. U. a. gehörten der Kommission inzwischen folgende Theologen an: Bernhard Häring38, Pierre de Locht, Jan Visser, Marcelino Zalba und Josef Fuchs39. Als Fachmann in demographischen Fragen wurde u. a. Bernardo Colombo, ein Bruder von Bischof Carlo Colombo, in die Kommission berufen.40