Von Maulwürfen, Männern und anderen Tieren - Siegfried Schüller - E-Book

Von Maulwürfen, Männern und anderen Tieren E-Book

Siegfried Schüller

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Beschreibung

In den Geschichten "Von Maulwürfen, Männern und anderen Tieren" geht es um lebenswichtige Fragen - sei es in der Kneipe um die Ecke oder in Bethlehems Stall. Ein außerirdischer Goldfisch, ein Bär, der besser singt als Pavarotti - unterwegs werden Ihnen seltsame Kreaturen begegnen. Und Männer, denen das Wasser bis zum Hals steht, die verzweifeln und versagen, aber nicht aufgeben - und am Ende zum Wolf werden, um wieder Mensch sein zu können. Sie zeigen auch: Wer den Blues hat, muss noch lange nicht Schwarz sehen. Wer bei Humor an Putin denkt, wer Satire nicht mag, Ironie nicht versteht, Spannung kaum aushält, keine Gesellschaftskritik verträgt und bei Schrägem leicht ins Rutschen kommt - die Geschichten in diesem Buch bieten das passende Programm, um sich seelischen Ballast abzutrainieren.

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»Man darf sich nicht zu billig verkaufen. Die anderen denken sonst, die Arbeit, die man macht, ist nichts wert.«

(Zitat aus dem Buch)

Die kurzen Geschichten von Maulwürfen, Männern und anderen Tieren sind in Dankbarkeit allen gewidmet, die – wie auch immer – dazu beigetragen haben, dass ich der bin, der ich hätte sein können.

(Der Autor)

INHALTSVERZEICHNIS

Auf Leben und Tod

Navi hin, Navi her, sich verfahren ist nicht schwer

Der Herr der Fliegen

Das Wunder von Ampfling

Wie Adam zu Eva kam und die Tiere zu ihren Namen

Lichtpausen

Rotkäppchen reloaded

Auf dem Holzweg

Wenn der Goldfisch zweimal klingelt

Das Fenster zum Jenseits

Wenn der Briefträger dreimal klingelt

Frühaufsteher

Verkehrte Welt

Drama am Feldklo

Loreley lebt

Wer hat Angst vor Blau, blau, blau?

Warum der Rollmops Rollmops heisst

Was war da los in Bethlehems Stall?

Die Geschichte der tausendundzweiten und aller folgenden Nächte

Die Macht des Yoga

Rendezvous im Untergrund

Die Arie des Bären

Alptraum eines verhinderten Bundesbahnbeamten

Die Nacht der Kröten

Die Spinne

Panik im Waldpark

Prostlose Zeiten

Die Spatzenwette

Skillings letzter Einsatz

Bruder Schakal

D 300 – Nymphe im Nachtzug

Wie man günstig zu einer Liebesgeschichte kommt

Der da

Uschkureit geht

Der Kaiser von Deutschland

Das Modell des Minotaurus

Wolfsmond

Der Autor: Siegfried Schüller

Der Illustrator: Tom Meilhammer

AUF LEBEN UND TOD

Da lagen die zwei Leichen. … Was tun? … Die eine würde man auf dem üblichen Weg entsorgen können, aber wohin mit der anderen?

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen.

Arnos Nachbar ist ein ganz normaler Mensch – nicht so wie er selbst. Arno umarmt zum Beispiel den dicken Stamm seiner Birke und bittet den Baum um Verzeihung, ehe er einen störenden Ast absägt. Wer dies zufällig beobachtet, denkt garantiert: »Der tickt ja wohl nicht richtig!« – Ganz im Gegensatz zu Herrn Mälzer, Arnos Nachbarn. Der würde so etwas Seltsames nie tun. Der ist, wie gesagt, völlig normal. Das glauben alle. Jedenfalls alle, die ihn nicht so kennen, wie Arno ihn kennt. Arno aber weiß zum Beispiel, wie Mälzer seine Hecke schneidet oder seinen Rasen mäht.

Solche Arbeiten führt er mit eckigen Bewegungen und abartiger Hast aus, wobei er eine völlig verkrampfte Körperhaltung einnimmt und ein so verkniffenes Gesicht macht, dass man meinen könnte, jeder Grashalm, den er niedermäht, wäre sein persönlicher Feind.

Richtig schlimm wurde es mit Mälzer aber erst, nachdem seine Frau gestorben war. Von da an musste er neben seinem Beruf auch noch die ganze Haus- und Gartenarbeit erledigen. Seitdem schien er alles zu hassen, was seinen Ordnungssinn störte und ihm dadurch zusätzliche Mühen verursachte.

Sie sehen also: Arnos Nachbar ist völlig normal. – Erschreckend normal.

An einem Samstagmorgen im Spätherbst – Arno war gerade dabei seine Post aus dem Briefschlitz zu fingern – sprach ihn sein Nachbar am Gartenzaun an.

»Kommen Sie mal rüber und schauen Sie sich das an!«, sagte Mälzer unvermittelt und in ärgerlichem Befehlston.

»Guten Morgen erst mal, Herr Nachbar!«, sagte Arno.

»Ja, guten Morgen! – Von wegen guter Morgen, eine schöne Bescherung ist das!«, schimpfte Mälzer.

Um des lieben Friedens willen folgte Arno seinem Nachbarn in dessen Garten und überlegte dabei, was er ihm wohl angetan haben könnte. Aber dann sah er es schon. Arno atmete auf. Es war nicht seine Schuld, dass sein Nachbar so drauf war: Ein Maulwurf hatte ganze Arbeit geleistet und über Nacht Mälzers gepflegten Rasen in eine Miniatur-Mittelgebirgslandschaft verwandelt: überall frische, braune Kuppen, Hügel und Bergketten – sogar im Gemüsebeet.

»Nun sehen Sie sich das an!«, jammerte Mälzer. »Dabei hab ich erst im Frühjahr den Rasen neu angelegt und davor extra den ganzen Boden gründlich durchgefräst.«

»Eben!«, sagte Arno. »Da haben wir’s! – Maulwürfe lieben lockeren Boden. Da können sie leicht und nach Herzenslust herumwühlen. Das gleiche Problem hatte ich auch schon. Ein halbes Jahr lang hab ich damals jedes Wochenende die neuen Haufen abgetragen und die übrige Erde mit dem Rechen verteilt. Irgendwann war wieder Ruhe. Entweder die Maulwürfe hatten alle Gänge fertig, oder sie haben’s aufgegeben.«

»Oder sie sind ausgewandert«, fügte Mälzer bissig hinzu. »Zu mir!«

Arno verkniff sich ein Lachen. »Na ja, eigentlich sind’s ja nützliche Tiere«, sagte er. »Und ich hab sie jedenfalls nicht rübergeschickt zu Ihnen.«

In den folgenden Wochen konnte Arno öfters beobachten, wie sein Nachbar Schubkarren voll frischer Erde zum Waldrand schob und dort auskippte.

Schließlich kam mit Frost und Schnee der Winter. Mälzer ließ sich kaum noch blicken, und vermutlich hatte auch der Maulwurf seine Schaufelarbeiten eingestellt.

Es wurde aber wieder Frühling: Der Schnee schmolz dahin, der gefrorene Boden taute auf und die ersten Krokusse schoben ihre grünen Spitzen ans Licht. Ende Februar gab es ein paar außergewöhnlich warme Tage. So warm, dass Arno eines Nachmittags seinen Liegestuhl aus dem Gartenhäuschen holte und sich mit einer Decke draußen in die Sonne setzte.

Er war allein, genoss die Ruhe und las ein Buch. Um ihn herum summten bereits die ersten Bienen, und Blaumeisen inspizierten ihren Nistkasten.

Plötzlich ein Riesenknall.

Weitere Explosionen folgten sowie ein lauter Schmerzensschrei. Vor Schreck ließ Arno das Buch fallen. Er schoss hoch aus dem Liegestuhl und lief, um die Hecke herum, hinüber zum Nachbarsgarten.

Inmitten von Rauchschwaden stand Mälzer – in seltsam gekrümmter Haltung. Zwischen ein paar Erdhaufen trat er von einem Bein aufs andere und presste dabei die Hände gegen den Unterleib.

»Was war denn hier los? Ist Ihnen was passiert?«, fragte Arno. Der Pulvergeruch ließ ihn aber schon ahnen, was geschehen war.

Wie sich herausstellte, hatte Mälzer an Silvester einige große Kanonenschläge aufgespart. Die hatte er jetzt alle mit einer Zündschnur verbunden, in die freigelegten Maulwurfslöcher gestopft und angezündet. Durch den Druck der Explosion war einer der Knallkörper herausgeschleudert worden und genau auf Mälzers empfindlichste Teile geböllert – was denn auch das seltsame Verhalten und den Brandfleck vorne auf seiner Hose erklärte.

»Mein lieber Mann, da haben Sie mir ja einen Mordsschrecken eingejagt!«, sagte Arno, als klar war, dass kein größerer Personenschaden entstanden war.

»Tutu-ut mir leid«, stotterte Mälzer. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie gleich hinter der Hecke im Liegestuhl liegen.«

Woher wissen Sie’s denn dann, wenn Sie’s nicht gesehen haben? Arno verzichtete auf diese Frage. Mälzer konnte es halt einfach nicht sehen, wenn einer faul herumlag, während er selbst kämpfte und rackerte. Arnos Mitleid hielt sich jedenfalls in Grenzen.

Sowohl sein Nachbar als auch der Maulwurf blieben in der Folgezeit aktiv. Mälzer beschränkte sich jedoch auf weniger geräuschvolle Maßnahmen. So schob er Knoblauchzwiebeln in die Maulwurfsgänge oder verstopfte sie mit terpentingetränkten Lappen. Auch Mausfallen stellte er auf, stocherte mit Eisenstangen in den Hügeln herum oder grub dort, mit der Öffnung nach oben, leere Bierflaschen ein, die bei Wind schauerliche Töne erzeugen sollten.

Einmal versuchte er sogar mit dem Gartenschlauch die Maulwurfsgänge zu überschwemmen. Aber diese Gänge sind verzweigt, und die Maulwürfe sind gewissermaßen genetisch hochwasserfest und haben außerdem alle den Freischwimmer.

So kam es, dass Mälzers Methoden sämtlich ohne Erfolg blieben – abgesehen von ein paar toten Mäusen und ertrunkenen Regenwürmern.

Inzwischen war es Hochsommer. Ein laues Lüftchen wehte, und Arno schaukelte gemütlich in der Hängematte, als er von drüben ein seltsames Zischen vernahm. Kurz darauf stieg ihm ein beißender Geruch in die Nase.

Jetzt reichte es! Sein Nachbar war offenbar zum Gaskrieg übergegangen, und Arno hatte buchstäblich die Schnauze voll davon. Wutentbrannt rannte er um die Hecke herum zum Zaun an der vom Wind abgewandten Seite von Mälzers Grundstück.

»Was fällt Ihnen ein!«, schrie Arno. »Sind Sie wahnsinnig geworden, oder wollen Sie mich vergiften?«

Dichte graue Gasschwaden quollen drüben aus dem Rasen. Mälzer hüpfte herum wie Rumpelstilzchen und trampelte die Löcher zu, aus denen der Rauch kam. Er hustete, hielt sich mit einer Hand die Nase zu und fasste sich mit der anderen an die Brust.

Als es endlich aufgehört hatte zu qualmen, kam Mälzer angekeucht. Wie zur Entschuldigung zeigte er Arno eine leere Packung MOLEX-Patronen. – Zur Wühlmausbekämpfung stand auf dem ausgebleichten Etikett. – Weiß der Teufel, wo er die her hatte. Soweit Arno wusste, waren die Dinger verboten und schon lang nicht mehr im Handel.

»D-d-das ha-hab ich nicht gewollt«, stammelte Mälzer. »Das Zeug hat irgendwie nicht richtig funktioniert … und dann hat plötzlich auch noch der Wind gedreht.«

Arno gab sich zufrieden damit, zumal Mälzer das meiste anscheinend selbst abgekriegt hatte und jetzt wohl erst einmal kuriert war von solchen Aktionen und – wie Arno hoffte – eine Weile Ruhe geben würde.

Denkste! Kaum wieder zurück in seinem Garten, hörte Arno den Nachbarn brüllen: »Pfui, Gina, pfui! – Lass aus! – Pfui! – Jaaa, so ist’s brav. – Guter Hund!«

(Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass Mälzer außer seinen Marotten auch noch einen Dackel der Marke Rauhaar hatte.)

Durch die Hecke spähte Arno hinüber: Mälzer tätschelte den Hund. Dann hob er ein dunkles Etwas vom Boden auf und hielt es hoch.

»Ich hab ihn, ich hab ihn!«, rief Mälzer triumphierend.

»Na endlich«, dachte Arno.

Gina wedelte mit dem Schwanz. Dem Hund war offenbar gelungen, was Herrchen monatelang vergeblich versucht hatte. Arno sah, wie Mälzer mit der Beute in seinem Holz- und Geräteschuppen verschwand und zuckte zusammen, als er hörte, wie dort Schaufelblech auf Holzblock schlug.

Es war am übernächsten Morgen, Arno war gerade auf dem Weg zum Briefkasten, als drüben jemand einen entsetzlichen Schrei ausstieß. Der Schrei kam von Mälzers Schuppen her. Sofort rannte Arno dorthin.

Die Tür stand offen. Mälzer lag auf dem Boden mit weit aufgerissenen Augen und angstverzerrtem Gesicht und rührte sich nicht. In der linken Hand hielt er ein Holzscheit; die verkrampften Finger seiner rechten umklammerten eine Axt. Daneben, auf Mälzers Hackstock, lag der tote Maulwurf.

»Nein! – Das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es Arno.

Der Erdteufel hatte sich bewegt. Arno sah genauer hin: Tatsächlich, das schwarze Fell hob und senkte sich rhythmisch, als ob das Tier atmete, obwohl es bereits den süßlichen Geruch von Verwesung verströmte.

Mit einem Stecken drehte Arno den Körper vorsichtig um. An der Unterseite klaffte ein Riss im Fell und darin ein pulsierender, weißer Klumpen: Hunderte winziger Maden, die immer wieder gleichzeitig zusammenzuckten, als wären sie ein einziges, lebendes Organ. – Nach vergeblichen Wiederbelebungsversuchen an Mälzer nahm Arno eine Kehrichtschaufel und bugsierte damit die ekelerregenden Reste des Maulwurfs zu seinem Grundstück. Dann rief er den Notdienst.

Zwei Polizisten kamen, machten Fotos, stellten Fragen und nahmen ein Protokoll auf. Der Notarzt stellte fest, dass Mälzer offenbar beim Holzhacken einen tödlichen Herzanfall erlitten hatte.

Drei Tage später wurde er neben seiner Frau auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Um den Dackel kümmerten sich Mälzers Angehörige.

Zwei Spatenstiche tief, am Rand von Arnos Hecke fand der Maulwurf seine wohlverdiente letzte Ruhe.

Ab und zu kommt seine Verwandtschaft und besucht das Grab. Man sieht’s an den Hügeln.

NAVI HIN, NAVI HER, SICH VERFAHREN IST NICHT SCHWER

Wie fast alles Überflüssige hat auch ein Navigationsgerät seine Vorteile. Wer zum Beispiel geschäftlich viel mit dem Auto unterwegs ist, muss sich nicht von jeder fremden Stadt, in der man einen Termin hat, einen Stadtplan besorgen, ihn studieren und den Weg zum Zielort aufschreiben oder auswendig lernen, damit man bei der Fahrt dorthin nicht immer wieder hineinschauen muss.

Ein Nachteil, wenn man sich nur noch auf seinen digitalen Lotsen verlässt: Die fremde Stadt wird einem fremd bleiben. Man kennt sein Hotel, den kürzesten Weg zum Tagungsort, zum bevorzugten Restaurant oder Nachtclub, was aber jenseits des Displays und der eigenen Fahrtroute liegt, bleibt einem verborgen.

Wer sich ausschließlich auf sein Navigationssystem verlässt, wird mit der Zeit seinen Orientierungssinn verlieren – sofern man denn einen hatte.

Ein Freund zum Beispiel, dessen Namen ich hier nicht nennen will, ist so ein Fall. Ich weiß nicht, ob es einen Fachausdruck dafür gibt, aber man könnte ihn vielleicht als straßenblind oder als Landschaftslegastheniker bezeichnen. Jedenfalls hat er etwa so viel Orientierungssinn wie eine Schildkröte, die kopflos in ihrem Panzer steckt. – Schlimmer als die meisten Frauen, wie er selbst einmal sagte.

Selbst wenn er schon dutzendmal eine Strecke gefahren ist, kommt er bestenfalls an sein Ziel – vorausgesetzt er trifft unterwegs auf keine Baustellen, Umleitungen, Regen, Nebel, Dunkelheit oder andere widrige Umstände. Spätestens auf dem Rückweg aber, wenn das, was vorher rechts war, plötzlich links liegt, und was vorne war, auf einmal als terra incognita verkehrt herum im Rückspiegel auftaucht, dann ist er aufgeschmissen. Da ist es schon sehr hilfreich, wenn einem eine Frauenstimme freundlich, aber bestimmt sagt, wo es langgeht.

Ein weiterer Nachteil ist: Navis sind nicht immer zuverlässig. Wenn sie entweder schlecht programmiert oder ihre Daten nicht auf dem neusten Stand sind.

Bei Frau H. zum Beispiel: H. ist Bestattungsrednerin und war deswegen auf dem Weg zu uns, um den Ablauf der Beisetzung meiner Schwiegermutter mit uns zu besprechen. Da unser Haus abseits liegt, hinter Bäumen versteckt ist und ohne Ortskenntnis nicht leicht zu finden, hatte ihr meine Frau den Weg erklärt.

H. verließ sich aber doch lieber auf ihr Navi. Zum vereinbarten Zeitpunkt war ich gerade bei der Gartenarbeit, als ein Mercedes auf dem Schotterweg zügig an unserem Grundstück vorbei und den Berg hinauffuhr. Zehn Minuten später klingelte drinnen das Telefon. H. rief von ihrem Handy aus an. Sie stehe bei einer Wiese mit schöner Aussicht, in der Nähe sei ein Turm mit Stromleitungen, aber weit und breit kein Haus zu sehen. Wie sie denn von dort aus zu uns käme, wollte sie wissen.

Ihr Navi hatte sie den Flurweg hoch bis auf halbe Höhe des Anstiegs gelotst, wo die Stimme dann mitten in der Pampa verkündete: »Sie haben ihr Ziel erreicht!«

Obwohl der Anlass ihres Besuches ein trauriger war, haben wir mit Frau H. herzlich darüber gelacht.

Anderen ist das Lachen vergangen. Vor allem im Winter. Besagten Weg bergauf benutzen dann – vor allem nach Regenoder Schneefällen – nur Waldbauern mit Traktor, Jäger mit Geländewagen oder jugendliche Spinner und Draufgänger. Fehlgeleitete Navi-Opfer bleiben dann stecken und müssen entweder den ganzen Hang rückwärts herunterfahren oder sich von jemand aus dem vorher erwähnten Personenkreis herausziehen lassen.

Beim Pilzesuchen bin ich einmal sogar am Ende eines Waldwegs auf ein verrostetes Auto gestoßen mit zwei gut erhaltenen Skeletten auf den Vordersitzen. Das Display des Navis leuchtete noch und seine Stimme wiederholte in einem fort: »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Das ist natürlich geflunkert. – Es gibt keine Autobatterie, die so lange durchhält.

Hätte Kolumbus schon ein modernes Navigationsgerät gehabt und als Ziel »Indien« eingegeben – Amerika wäre wohl unentdeckt geblieben. Eine freundliche, Spanisch sprechende Frauenstimme hätte niemals gesagt: »Nehmen Sie Kurs nach Westen, bleiben Sie auf dem Atlantik und halten Sie sich immer geradeaus!« Nein, gnadenlos hätte sie ihn nach Süden und auf dem bekannten Seeweg um Afrika herum nach Indien geleitet.

So schlau und allwissend sie auch tun, Navis sind nämlich im Grunde ihres Wesens dumm und wissen nur, was man ihnen einprogrammiert hat, was also sowieso schon bekannt ist.

Auf Blue Jeans, Coca-Cola, Hamburger, Hollywood-Filme, Elvis und vieles andere mehr hätten wir verzichten müssen, und auch den Indianern wäre viel erspart geblieben.

Außerdem: Wenn jemand anscheinend immer genau weiß, wo ich gerade bin und wo ich hin will, dann ist mir das eher unangenehm. Wie ferngesteuert und von oben an der langen Leine geführt, käme ich mir dann vor.

Ich fahre lieber mit Gottvertrauen. Eine Bekannte behauptete das jedenfalls, als ich sie hochschwanger (also sie, nicht ich und nicht von mir) quer durch den Nürnberger Stadtverkehr ins Krankenhaus zur Geburt fuhr, die sich bereits wehentlich ankündigte.

Wenn ich irgendwo schon einmal war, dann finde ich auch wieder hin. Da kann ich mich auf die Karte in meinem Kopf verlassen.

Außerdem liebe ich Abkürzungen, verfahre mich auch gerne mal und nehme Umwege in Kauf. Wenn ich bei einem Ausflug oder bei einer Wanderung vom geraden Weg abweichen will, verdreht meine Frau meistens hörbar die Augen und stöhnt auf: »Nein, nicht schon wieder eine Abkürzung! Bis zum Abendessen will ich daheim sein.«

Aber nur auf Abkürzungen oder Umwegen kann man Neues entdecken: schöne, unbekannte Landschaften, verwunschene Dörfer, schlechte Straßen.

Ich habe so etwas wie einen inneren Kompass, der mich zuverlässig in die richtige Himmelsrichtung führt. Und wenn ich doch einmal nicht mehr weiß, wo ich bin oder wo es langgeht, dann vertraue ich meinem Instinkt, orientiere mich am Stand der Sonne oder, wenn sie gerade nicht scheint, an den Schatten. Ich fahre nach dem Mond oder richte mich am Heck des großen Wagens aus, oder verlasse mich darauf, dass Moos und Flechten immer auf der Wetterseite der Baumstämme wachsen.

Notfalls frage ich jemand nach dem Weg, auch im Ausland. Jeder spricht schließlich irgendeine Sprache, und sei es auch nur Zeichensprache.

Ganz selten, dass es mal nicht so gut endet.

Zwecks Abkürzung war ich wieder einmal auf eine schmalere Straße abgebogen, die immer an einem Fluss entlang führte. Ich wusste, dass es ein paar Kilometer weiter eine Brücke gab, wo ich wieder auf die bekannte, größere Straße stoßen wollte.

Die schmale Straße aber wurde zum Sträßchen, der Asphaltzum Schotterweg, der Schotter- zum Feldweg, und der endete schließlich auf einer Wiese im Morast – kurz vor Biegung des Flusses, wo die Auffahrt zur Brücke sein sollte.

Da es keine Möglichkeit zum Wenden gab, musste ich den ganzen Weg zurücksetzen, bis wir endlich wieder an die normale Straße kamen.

Den restlichen Heimweg und die ganze nächste Zeit musste dann meine Frau fahren, da ich erst zwei Wochen später meinen Hals wieder richtig geradeaus drehen konnte. Das war weniger schön.

Aber stellen Sie sich vor, eine Navi-Stimme hätte beim Rückwärtsfahren auch noch ständig wiederholt: »Bitte wenden und zurückfahren! – Jetzt sofort wenden und zurückfahren!

DER HERR DER FLIEGEN

Mit leichtem Schlürfen probierte er einen Löffel voll von der Suppe. Er schloss die Augen und lächelte genießerisch.

»Martha weiß halt, was mir schmeckt«, dachte er.

In dunkler Anzughose und weißem Hemd saß der etwas beleibte, ältere Herr – Junggeselle, wie es sich gehört – am Esstisch, vor sich den Teller mit der Suppe und einen Bierkrug. Über der Lehne des leeren Stuhls neben ihm hing seine schwarze Krawatte.

Er warf einen zufriedenem Blick auf das große Kruzifix, das über dem gediegenen, etwas altmodischen Mobiliar in einer Ecke seines Wohnzimmers hing.

Es summte. Eine Fliege landete auf dem Teller.

Der Mann hörte auf zu löffeln, beugte sich etwas herab und sah zu, wie die Fliege mit ihrem Rüssel ein Tröpfchen Suppe vom Tellerrand aufsaugte. Es war keine gewöhnliche Stubenfliege.

Die Tür zur Küche ging auf. Eine Frau, etwa so alt wie er, mit Kittelschürze, schaute herein.

»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, dann geh ich jetzt«, sagte sie.

»Ja, gehen Sie nur, Martha!«, sagte er. »Die Suppe ist übrigens köstlich.«

»Freut mich, dass es Ihnen …« Sie beendete den Satz nicht, sondern verzog ihren Mund. »Da schwimmt eine Fliege in Ihrem Teller!«

»Auch nur ein Geschöpf Gottes, das Hunger hat«, sagte er. Mit dem Löffelstiel fischte er die Fliege aus der Suppe und streifte sie behutsam am Tellerrand ab.

»Na, dann wünsch ich noch guten Appetit und einen schönen Abend, Herr Pfarrer!«, sagte seine Haushälterin, wandte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck ab und ging.

»Danke, Ihnen auch!«, rief er ihr mit vollem Mund hinterher.

Die Fliege lag wie tot auf dem Goldrand des weißen Porzellans. Plötzlich bewegte sie sich dann doch wieder. Mühsam stemmte sie sich auf ihre Beinchen, schleppte ihren nassen Körper etwa drei Zentimeter voran, fing dann an zu brummen und schüttelte sich, am ganzen Körper vibrierend, die Suppe von den Flügeln, ehe sie davonsurrte.

Später am Abend hatte Pfarrer Gebhardt es sich in seinem breiten Sessel gemütlich gemacht. Im Licht der Stehlampe las er in einem dicken Buch. Neben ihm auf dem Beistelltisch stand ein halbvolles Glas Rotwein. Es summte. Eine Fliege landete auf der aufgeschlagenen Seite des Buches und lief darauf herum. Dann fing sie an, sich zu putzen.

Der Pfarrer hielt das Buch ganz ruhig, führte es dann vorsichtig etwas näher an seine Lesebrille heran und beobachtete das Insekt. Der Anblick löste seltsame Gefühle in ihm aus. Während die Fliege mit ihren Hinterbeinchen ausgiebig und behutsam über ihre Flügel strich, begann seine Vorstellung vom Leben eine andere Gestalt anzunehmen. Etwa so, wie aus einem einzigen Gedanken manchmal ein Buch geboren wird. Oder wie beim Entkorken einer Flasche, wenn die Flüssigkeit darin ihren Charakter preisgibt oder wenigstens erahnen lässt, noch ehe man davon probiert hat.

Scheinbar hastig fuhr sich die Fliege jetzt mit ihrem vorderen Beinpaar über die Augen, immer wieder. Wie sie dabei mitrollen und nicken, ihre Facettenaugen.

»Wie mag sie mich wohl sehen? Kann sie meine Gedanken erraten?«, fragte er sich. – »Weiß sie, was ich fühle? Ahnt sie, was ich vorhabe? Ist das Licht meiner Leselampe, ist die 60-Watt-Birne ihr Fixstern und mein Wohnzimmer ihr Universum? Mag der Duft eines frisch geodelten Feldes ihr Paradies sein? Bin ich vielleicht ihr Gott?«

Er stellte sich vor, sein eigenes Dasein mit den Augen der Fliege zu betrachten. Bedeutsam erschien es ihm im Schein der Leselampe – im Mittelpunkt und vollen Licht des Lebens stehend: Er, Herr über das Seelenheil und Begleiter im Tod, der Fliege zugewandt die helle Seite seines Wesens, während die andere im Dunkel lag und für besonders feine Nasen wie die ihre vielleicht schon den süßlichen Duft des Ver-Wesens verströmen mochte.

Jetzt putzte sie sich ihr haariges Hinterteil.

»Muss auch sein«, dachte er. Die subtile Erotik des Fliegenarsches – unter den zarten, transparenten Flügeln blieb sie ihm dennoch verborgen.

Fliegen haben keine Angst vor großen Tieren, sie setzen sich einfach drauf. Sind dabei aber ständig auf der Hut. Mit Augen nach allen Seiten.

Mit Augen nach allen Seiten, man stelle sich das vor … oder nach … oder drunter und drüber. Nichts entgeht ihren wachsamen Blicken, keine noch so rasche Bewegung. Ja, selbst eine böse Absicht scheinen sie zu spüren. Wusch sind sie weg, noch ehe man zur Fliegenklatsche greift.

Nur wenn sie geil sind und sich andauernd behüpfen und bebrummen wollen, werden sie unvorsichtig. Dann sehen sie nur noch sich selbst, besitzen einander und lassen sich durch nichts stören in ihrem Treiben. Manchmal hängen sie dabei so fest zusammen, dass sie sich selbst beim Davonfliegen nicht trennen können, sodass man sie dann gleich paarweise erschlagen kann.

»Die Sterne sind nur der Samen in Gottes kosmischem Sperma.« Derart inspiriert kam dem Geistlichen ganz unvermittelt dieser Satz in den Sinn – weiß der Herr allein, woher.

Er wedelte mit der Hand und verscheuchte so die Fliege und mit ihr die abartigen Gedankengänge.

Marthas köstliche Suppe – mit in Olivenöl extra vergine gedünsteten Zucchinischeiben, verfeinert mit Kräutern, Knoblauch und gerösteten Weißbrotwürfeln – erregte noch immer die Fantasie seines Magens. Auch die Fliege hatte ja davon gekostet. Immer wieder war sie auf dem Tellerrand gelandet, um auch etwas abzubekommen, und so oft er sie mit einer fahrigen Handbewegung verscheucht hatte, so schnell war sie nach einer Runde über dem Tisch wieder zurückgekehrt.

Auch diesmal kam sie zurück und ließ sich wieder auf dem Buch nieder. Er wusste, dass es genau die gleiche Fliege war, denn er hatte ihr ins Gesicht geschaut.

Er kannte das hartnäckige, klebrige Tasten ihres Saugrüssels, und ihr Hinterleib war nicht schwarz, wie bei den meisten ihrer Artgenossen, sondern rot, fast durchscheinend rötlich gefärbt. Es war die Fliege, die er beim Abendessen aus seiner Suppe gerettet hatte.

Eine zweite, gewöhnliche Stubenfliege landete in der Nähe der ersten. Erst saß die schwarze nur ruhig da, plötzlich aber machte sie einen Hüpfer und landete auf der roten Fliege. Unter heftigem Brummen und mit vibrierenden Flügeln begannen die Tiere sich zu begatten.

Energisch und mit lauten Knall klappte Pfarrer Gebhardt das Buch zu. Er bekam gerade noch mit, wie die schwarze Fliege sich im letzten Augenblick von der anderen löste und entkam.

»Zeit ins Bett zu gehen«, dachte er und knipste die Leselampe aus.

Bis auf einen schwachen Lichtstreifen, der sich von der Straßenlaterne her oder vom Mondlicht durch den Spalt zwischen den Vorhängen hereinschob, war es dunkel im Zimmer. Plötzlich kam von draußen ein lautes, metallisches Scheppern, wie wenn jemand eine Gießkanne oder einen Blecheimer umstößt.

Pfarrer Gebhardt schreckte auf: War er doch tatsächlich im Sessel eingeschlafen. Er rieb sich die Augen. Die roten Leuchtziffern der Uhr auf dem Beistelltisch wechselten gerade von 03:59 auf 04:00 Uhr. Gleichzeitig begann die Glocke des nahen Kirchturms, die volle Stunde zu läuten.

Kaum war der letzte Glockenschlag verklungen, ertönte ein schauriges Heulen. Erst hörte es sich an wie das Jammern eines Kindes, das schreckliche Bauchschmerzen haben musste; dann eher wie das Geschrei eines hungrigen Säuglings. Schließlich erkannte er das Fauchiauen einer Katze draußen vor seinem Fenster. Seit einigen Nächten nutzten die Kater aus der Nachbarschaft seine Terrasse als Bühne für ihre Brautschau und als Arena für ihre Rivalitäten und raubten ihm mit ihrem brünstigen Miauen, Jaulen und Knurren die Nachtruhe.

Er beschloss, statt ins Bett zu gehen noch ein bisschen zu lesen. Auf seinem Schoß lag noch immer das schwere, schwarze Buch. – Die rote Fliege fiel ihm ein. Er knipste das Licht an.

Als er die Bibel aufschlug, um seine Lektüre dort fortzusetzen, wo er sie vor seinem Nickerchen beendet hatte, da pappten die Seiten in der Mitte zusammen und ein dunkler Fleck breitete sich an der Stelle aus.

Angewidert verzog er das Gesicht. Dann trennte er vorsichtig und mit Hilfe des eingelegten Lesebändchens die beiden Blätter voneinander.

Pfarrer Gebhardt setzte seine Lesebrille wieder auf, die ihm im Schlaf von der Nase gerutscht war.

Auf Vers 15 Kapitel 11 des Lukas-Evangeliums klebte die tote Fliege. – »Er treibt die bösen Geister aus durch B b, ihren Obersten«, las er an eben dieser Stelle.

Mit dem Nagel seines rechten Mittelfingers schabte er die matschigen, rötlichen Reste des toten Insekts vom Papier. Seine Hand zitterte. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Blatt. Er wusste, was ihn erwartete.

Genau dort, wo der zerquetschte Fliegenleib einen Teil des Textes verdeckt hatte, erschien das Wort »Beelzebub«.

DAS WUNDER VON AMPFLING

oder Wie die Integration baden ging

Solche Besucher hatte Erwin Kaufnagel noch nie in seinem Redaktionsbüro. Es waren seine ersten Schwarzen – mal abgesehen von den nur politisch so gefärbten.

Sie sprachen Französisch. Der jüngere der beiden, Seydou Sané, erzählte etwas von Fischern, die nicht schwimmen können und von einem gewissen Grenouille, den Jesus am See Genezareth beobachtet habe.

Die Verständigung war schwierig. Dem Zeitungsmann war der Name Grenouille – als Hauptfigur eines deutschen Bestsellerromans – durchaus geläufig. Aber in diesem Zusammenhang? Als er fragte, wer denn dieser Grenouille sei, fing Sané an zu quaken – bis Kaufnagel kapierte, dass es sich wohl um das französische Wort für Frosch handelte.

Der zweite Schwarze hieß Kéba Kanouté und war von hünenhafter Gestalt – ein schwarzer Riese sozusagen. Er sprach etwas besser Deutsch als Kaufnagel Französisch und übernahm von nun an, um weitere Missverständnisse zu vermeiden, die Rolle des Dolmetschers.

Kanouté redete von einem besonderen Projekt – von Menschenfängern, Ziel erreichen und Integration. Dann faselte er noch etwas von »Wunden durch Wandern« oder »Wandel durch Wunder« oder so ähnlich. Drogen waren keine im Spiel, Kaufnagel schob es also auf die beiderseits mangelhaften Fremdsprachenkenntnisse.

Egal! In der Redaktion herrschte die übliche Nachrichtenflaute der Saure-Gurken-Zeit, und Kaufnagel griff nur allzu gern jede Neuigkeit auf, die ihm in sein journalistisches Sommerloch hereinflatterte.

Zwei Tage später erschien sein Bericht über das Integrationsprojekt der Afrikaner in der Wochenendausgabe des Ampfländer Landboten – unter der sensationsträchtigen Schlagzeile

Asylant aus Ampfling will wie Jesus übers Wasser wandeln.

Der Zeitungsartikel sorgte für Gesprächsstoff im Ort. Auch am Sonntagsstammtisch beim Sumpferwirt. Mit waschechten Schwarzen hatten sie dort ebenfalls noch nichts zu tun gehabt, außer dass ihnen vor Jahren einmal zwei Schwarze von auswärts für wenig Geld Ledergürtel und Tabakbeutel verkauft hatten.

»Wie soll das denn gehen mit dem Über-Wasser-Wandeln?«, fragten sich die Stammtischbrüder.

»Das wird wohl gehen wie im Witz«, meinte der Scherzer Rudi. »Kennt ihr den?« – Und ehe einer mit dem Kopf hätte nicken können, legte er schon los. »Also …«, fing er an:

»Bei einem ihrer Gipfel treffen sich Berlusconi, Putin, Merkel und Obama an einem See und langweilen sich. ›Lasst uns doch mal ausprobieren, ob wir wie Jesus übers Wasser laufen können‹, schlägt Berlusconi vor. Putin rennt sofort los, bleibt aber bereits im Uferschlamm stecken. ›Ich mach das lieber auf meine Weise‹, flötet Merkel, bildet mit den Händen vorm Bauch eine Raute und wirft herausfordernde Blicke ans andere Ufer. Obama dagegen setzt zaghaft einen Fuß vor den anderen auf den trüben Wasserspiegel des Sees. Er kommt fast zehn Meter weit, ehe er ausrutscht und ins Wasser platscht. ›Nicht schlecht!‹, meint Berlusconi. ›Aber woher zum Teufel hat der gewusst, wo ich die Holzpfähle hab einsetzen lassen?‹«

Doch nicht nur am Stammtisch, auch andernorts warf der Zeitungsartikel Fragen auf. Montagmorgen zum Beispiel in einem Klassenzimmer in Ampflings einziger höherer Schule:

Der trotz seiner arabischen Herkunft bestens integrierte Biologie- und Mathelehrer Anwar Scheinlich war dafür bekannt, dass er seinen Unterricht gerne durch aktuelle Beiträge auflockert. Diesmal erzählte er seinen Schülern, die für jede Abwechslung dankbar waren, von der Jesus-Echse, die in Mittelamerika lebt. Sie werde so genannt, weil sie bei Gefahr auf ihren langen Hinterbeinen übers Wasser laufen und so ihren Feinden entkommen könne. »Mit einer Geschwindigkeit von 1,5 Metern pro Sekunde!«, rief Scheinlich. »Na, wie viele Stundenkilometer sind das?«

»5,4«, kam nach einer Weile die richtige Antwort.

»Im Verhältnis zu seinem viel größeren Gewicht müsste ein Mensch dagegen – und zwar mit Schwimmflossen an den Füßen! – mindestens 100 km/h draufhaben, um nicht auf der Stelle unterzugehen«, behauptete Scheinlich. »Höchst unwahrscheinlich also, selbst für einen schwarzen Sprinter.«

Am folgenden Samstag war es soweit und halb Ampfling auf den Beinen, um sich das Ereignis am Baggersee nicht entgehen zu lassen. Wenn schon kein Wunder, so erwartete man zumindest ein Spektakel. Außerdem gab es Imbissstände, die – von vegetarischer Bratwurst über Fleischpflanzerl bis zum Salat mit zugewanderten Süßwassergarnelen – für jeden Geschmack etwas boten. Die Ampflinger Wasserwacht hatte vorsichtshalber ihr Erste-Hilfe-Zelt aufgestellt.

Am linken Ufer des Sees hatte sich die rechte Szene aufgebaut mit einem Spruchband, auf dem in runenartigen Schriftzeichen stand: »Asylanten raus! Ampfling den Ampflingern!«

Auf der anderen Seite des Kiesweihers reckten ihnen – farblich weniger eintönig – die Mitglieder der Bürgerinitiative Ampfling braucht Asyl ihre Transparente entgegen. In bunten Buchstaben hieß es darauf: »Mit Seydou zum Sieg!« und »Arschlöcher raus aus Ampfling!«

Da die Blaskapelle Husten hatte, wurde die Veranstaltung stattdessen von den Jagdgenossen eröffnet, die auf ihren Hörnern – ohne böse Hintergedanken – das Große Halali bliesen.

Bürgermeister Martinsthaler hielt anschließend eine nicht allzu lange Rede, in der er die Errungenschaften seiner bisherigen Amtszeit hervorhob und die Bedeutung seiner zukünftigen Pläne für die Entwicklung der Gemeinde betonte. Am Ende wünschte er dem afrikanischen Mitbürger ein ebenso gutes Gelingen für dessen Vorhaben sowie einen erfolgreichen Weg übers Wasser.

Neben Martinsthaler hatte sich der Anglerverein positioniert. Seine Mitglieder hielten drei Pappschilder hoch mit den Aufschriften: »Unser Weiher muss sauber bleiben!« – »Betreten der Wasseroberfläche verboten!« und »Wer fliegt, betrügt!«

Nach dem Bürgermeister war der ökumenische Kirchenchor an der Reihe. Er intonierte die alte Fußballhymne You’ll never walk alone als dreistimmigen Gospelkanon. Ein paar Senioren im Publikum wischten sich die Augen, die anwesende Jugend wischte über die Displays ihrer Smartphones.

Der örtliche Vertreter der hierzulande dominierenden Religi-onsgemeinschaft hatte es vorgezogen, dieser möglicherweise gotteslästerlichen Veranstaltung wegen einer Sommergrippe fernzubleiben. Dass hier einer wie der Herr Jesus übers Wasser wandeln würde, glaubte er sowieso nicht. Sein afrikanischer Glaubensbruder, Seydou Sané, musste also ohne kirchlichen Segen auskommen.

Stattdessen feuerte ihn die Frauentrommelgruppe an. In ihren farbenfroh flatternden und größtenteils selbstgenähten Gewändern machte sie ein gewaltiges Tamtam, als Seydou hervortrat und anfing sich auszuziehen. Nur kurz kamen die Trommlerinnen aus dem Takt beim Anblick seines muskulösen Oberkörpers. Als Seydou nur noch seine Badehose anhatte, hörten die Frauen auf zu trommeln.

Ganz still war es jetzt, und Seydou Sané, der bisher nichts gesagt hatte, sagte: »Alors!« – Und während die einen aloha verstanden, und andere das bayerische alloa zu hören glaubten, so wussten doch alle, dass es gleich losgehen würde.

Seydou nahm jedoch nicht wie erwartet Anlauf, sondern schritt würdevoll über den Kiesstrand ins Wasser. Als es tief genug war, ließ er sich nach vorne fallen und begann mit kraftvollen Schwimmzügen durch den Weiher zu gleiten.

Vom linken Ufer, wo die Rechten standen, schallte es »Schie-bung, Schie-bung!«, und einer schrie: »Wir wollen dich laufen sehen! Heimlaufen!«

In diesem Moment griff Kéba Kanouté, der alle Umstehenden überragte, zum Megafon.