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Professor Wjatscheslaw Daschitschew war Leiter der Abteilung "Internationale Politik" an der Russischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des sowjetischen Außenministeriums. In dieser Funktion waren seine Denkschriften maßgeblich für Gorbatschows Wende in Sachen einer deutschen Wiedervereinigung verantwortlich. Nach 1991 lehrte Daschitschew als Gastprofessor an der FU Berlin, sowie an den Universitäten von München und Mannheim. Schon 1991 verfasste er mit dem Welt-Korrespondenten Carl Gustaf Ströhm ein Buch über "Die Neuordnung Mitteleuropas" im Köhler Verlag. 2002 folgte bei E. S. Mittler "Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik", zu dem Michael Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher die Vorworte lieferten. Daschitschew, Jahrgang 1925, nahm als Erkundungsoffizier der Roten Armee noch selbst am Zweiten Weltkrieg teil. Seine eigene Erfahrung mit dem totalitären Regime des Kommunismus (sein Vater war General der Roten Armee und wurde von Stalin für 10 Jahre nach Sibirien verbannt) und seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus haben ihn nach einem Bericht der Berliner Zeitung zur Überzeugung kommen lassen, dass "nur eine Herrschaft des Rechts und der Freiheit den Frieden sichern" kann. Weil Daschitschew für seine Überzeugung nicht nur vor der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU eingetreten ist, sondern auch vor rechten Organisationen in Deutschland oder im Jahr 2006 vor der Akademie der FPÖ in Österreich, wurde ihm von Seiten der SPD und der Grünen Rechtsextremismus vorgeworfen, unter anderem unter Berufung auf einen älteren Eintrag im Bericht des Hamburger Verfassungsschutzes. Am 07.02.2011 hat jedoch die Bundesregierung auf eine Anfrage im Zusammenhang mit einem Vortrag Daschitschews vor dem CDU-nahen Studienzentrum Weikersheim festgestellt, ihr lägen diesbezüglich keine Erkenntnisse vor. Auch in seinem neuesten Buch erweist sich Daschitschew als unabhängiger und kritischer Geist, sowohl der Politik Putins gegenüber, wie auch der weltpolitischen Strategie der Vereinigten Staaten, denen er vorwirft, Russland systematisch einzukreisen. Das russische Vorgehen gegenüber der Ukraine hängt genau mit dieser in Moskau weit verbreiteten Sichtweise der politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zusammen. Daschitschew plädiert für eine europäische Ausrichtung Russlands und ist überzeugt, dass Europa Russland ebenso braucht, wie dieses Europa.
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Seitenzahl: 1083
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Wjatscheslaw Daschitschew
Auf der Suche nach Alternativen zur Gewalt- und Herrschaftspolitik
Russland auf dem Prüfstand
Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka GmbH, Thomas Hofer, Dobl, www.rypka.at
Bildnachweis: Umschlagabb. Vorderseite: Fotolia.de/sirina85 (Blick auf den Kreml), Umschlagabb. Rückseite: Archiv des Autors,
Abb. Innenteil: I oben, II oben lks., II unten r., III Mitte r.: Wikimedia commons, gemeinfrei; III unten r.: Frits Wiarda, Wikimedia commons; V alle Abb., VII oben r., Mitte lks., VIII alle Abb.: Wikimedia commons, gemeinfrei. Alle anderen Abb.: Archiv des Autors Umschlagabb.Rückseite von lks. nach r.: Der Autor als Oberleutnant der Roten Armee (Juni 1945); mit Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorf (lks., Sommer 1983), mit Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte, 1989), im Januar 2014
Titel der russischen Originalausgabe: От Сталина до Путина. Воспоминания и размышления о прошлом, настоящем и будущем. Дашичев, В.И. – Москва: Новый Хронограф, 2015 – 608 c. – ISBN 978-5-94881-267-0.
Aus dem Russischen übersetzt von Christina Brock M. A., München
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Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien
Gesamtherstellung: XXX
Printed in XXX
I.Vorwort
II.Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus
III.Jahre harter Prüfungen
IV.In den Dornen der Geschichtswissenschaften
V.In der Akademie der Wissenschaften
VI.Die Priorität in meinen wissenschaftlichen Forschungen
1.Die tragischen Auswirkungen der Hegemonialpolitik im 20. und 21. Jahrhundert
2.Wohin Konflikte unter Großmächten führen – Lehren aus der politischen Vorkriegskrise des Jahres 1939
3.Wie Europa das 20. Jahrhundert an die Vereinigten Staaten von Amerika verspielte
VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Außenpolitik
1.Die vierfache Sünde der sowjetischen Außenpolitik – ein Memorandum für Leonid Breschnew
2.Wie kann man eine gefährliche Eskalation der angespannten Ost-West-Beziehungen vermeiden? Ein Memorandum für Andrej Gromyko
3.Über die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Beziehungen – ein Memorandum für Jurij Andropow
VIII. Die Umgestaltung der Außenpolitik der Sowjetunion
1.Revision der außenpolitischen Werte
2.Analyse außenpolitischer Fehler und vorbeugende Maßnahmen
3.Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts „Stern“
4.Europa soll nicht zwischen Hammer und Amboss leben müssen – Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989
IX.Von der Spaltung zur Wiedervereinigung Deutschlands
1.Der Zickzackkurs der sowjetischen Politik in der deutschen Frage
2.Rätsel um die Stalin-Note an die Westmächte vom 10. März 1952
3.Die deutsche Frage auf der Konferenz des konsultativen wissenschaftlichen Beirats im Außenministerium der UdSSR am 27. November 1987
4.Mein Memorandum zur deutschen Frage
5.Am Vorabend der Wende
6.Meine Gespräche mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow
7.Das deutsche Volk soll sein Schicksal selbst bestimmen
8.„Wir sind ein Volk!“
9.Der Malta-Gipfel von Gorbatschow und Bush
10. Meinungsverschiedenheiten in Moskau hinsichtlich der Wiedervereinigung Deutschlands
11. Die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges
12. Überlegungen post factum
X.Die Charta von Paris – ein unverwirklichtes historisches Projekt für ein neues Europa des Friedens, der Demokratie und der gesamteuropäischen Zusammenarbeit
1.Neue Prinzipien für den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Hauses
2.Warum das Projekt, ein neues Europa zu schaffen, gescheitert ist
XI.Der Übergang der USA zu einer breit angelegten Politik der globalen Vorherrschaft
1.Das Projekt eines „neuen amerikanischen Jahrhunderts“ – eine Herausforderung der Weltgemeinschaft
2.Bill Clinton gegen Immanuel Kant
3.Freiheit gegen Sittlichkeit
4.Beweggründe für die amerikanische Hegemonialpolitik
5.Die amerikanische Hegemonialpolitik im Urteil der Öffentlichkeit
XII.Russland im Visier der US-Politik
1.Die Doktrin der „erneuten Eindämmung“ Russlands
2.Die amerikanische Politik im postsowjetischen Raum im historischen Vergleich und in der Gegenüberstellung
3.Von wo geht Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands aus?
4.Eine neue Doktrin der US-Politik bezüglich Russlands?
5.Welchen „Neuanfang“ in den amerikanisch-russischen Beziehungen braucht Russland?
6.Ist die westliche Russlandpolitik gescheitert?
7.Die ukrainische Tragödie und der neue Kalte Krieg der USA gegen Russland
XIII. Russland im Nebel
1.Die Sowjetunion war nicht zum Untergang verurteilt
2.Das Modell des Russland aufgezwungenen wilden Kapitalismus erwies sich als verhängnisvoll
3.Der Absturz Russlands: Gründe und Folgen
4.Wird Russland weiteren Stabilitätsprüfungen standhalten?
XIV. Epilog: Über zukünftige Wege Russlands
Anhang
Kurzbiographien
Verzeichnis der Sachbegriffe
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung des Autors
Namenregister
„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen“1 – diese Worte aus dem Gedicht von Fjodor I. Tjutschew fallen einem unwillkürlich ein, wenn man über den Weg nachdenkt, den Russland im 20. und 21. Jahrhundert durchschritten hat. Es ist wirklich schwer, sich vorzustellen, wie es allein im Laufe des 20. Jahrhunderts solch schwindelerregende gesellschaftspolitische Sprünge zustande bringen konnte, wie es von der Monarchie zum Sozialismus und vom Sozialismus zum Kapitalismus – einem System, das allem Anschein nach keine Zukunft hat – wechseln konnte. Nach diesen beiden historischen Umwälzungen ist es dem Land noch immer nicht gelungen, eine stabile Gesellschaftsordnung zur allgemeinen Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit für seine Bürger zu erlangen. Die herrschende Elite unseres Landes, die zweimal im Laufe des Jahrhunderts ihr gesellschaftspolitisches Antlitz und ihre personelle Zusammensetzung verändert hat, erwies sich jedes Mal nicht als Herr der Lage. Es ist schwer zu verstehen, wie das Volk in einem Land mit dem größten Vorkommen an Naturschätzen der Welt dazu verurteilt sein kann, ein erbärmliches Dasein zu fristen.
Die beiden sozialwirtschaftlichen Experimente – das sozialistische und das kapitalistische –, die an Russland in weniger als hundert Jahren durchgeführt wurden, haben seinem Humankapital schweren Schaden zugefügt. Besonders darunter gelitten hat sein geistiger Genpool – ein Faktor, der die Lebensfähigkeit einer Nation bestimmt. Dies hat nicht unwesentlich zu dem niedrigen Niveau des Staatsdenkens der sowjetischen Machtelite beigetragen und zu ihrer Unfähigkeit, im Land eine Ordnung der sozialen Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten sowie den Aufbau eines zivilisierten Sozialismus zu vollenden. In unserer Zeit aber spiegelt sich dies in dem erbärmlichen geistig-sittlichen Zustand der bürgerlichen Machtelite wider, der das Verständnis für die nationalen Interessen des Volkes abgeht, der der Dienst am Volk fremd ist, der es an Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der sozialwirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft, an strategischem und geopolitischem Weitblick und sogar an menschlichem Anstand mangelt.
Im Namen des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft der Gerechtigkeit, die den Interessen des gesamten Volkes dient, wurden immense Opfer gebracht, aber auch spürbare Ergebnisse erreicht. Die Sowjetunion konnte sich aus der „Rückständigkeit“ lösen, unter der das zaristische Russland jahrhundertelang gelitten hatte, und nahm die vordersten Ränge des wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Welt ein. Diese grandiosen Erfolge des Sowjetvolkes erwiesen sich jedoch als vollkommen vergeblich: Jelzin und seine Umgebung, die widerrechtlich die Macht im Lande an sich gerissen hatten, spien darauf und wischten mit ihrer Politik die gesamte vergangene und zukünftige Entwicklung unseres Landes vom Tisch – und wozu? Um das Land in kapitalistisches Chaos zu stürzen und seinen Zusammenbruch herbeizuführen, um mit dem Volksvermögen die Taschen eines Häufleins von Gaunern zu stopfen, die einen Klan von Oligarchen bildeten. Für das Volk bedeutete dies nicht nur einen gewaltigen psychischen Schock und eine geistige Erschütterung, sondern es wurde dadurch in nie da gewesenes materielles Elend gestürzt. Zudem zerstörte das Regime Jelzins und seiner Nachfolger, indem es Russland den Weg einer kapitalistischen Entwicklung aufzwang, sein wirtschaftliches und technologisches Potenzial, fügte dem Land auf den Gebieten der Bildung, Wissenschaft, Kultur sowie sittlichen Verfassung des Volkes schweren Schaden zu und untergrub seine geopolitische Bedeutung in der Welt. Dieser für Russland so verhängnisvollen Entwicklung hat Putin im Übrigen keine neue Wendung gegeben. Jelzin hatte Putin vor seinem Rücktritt als Präsident mehrfach als seinen Nachfolger bezeichnet und ihn letzten Endes in das höchste Amt Russlands lanciert. Warum das geschah, erläuterte der ehemalige Vorsitzende des Parlaments der Russischen Föderation, Ruslan Chasbulatow*2, in seinem Buch Ein verbrecherisches Regime: Die „liberale Tyrannei“ Jelzins3. Er schreibt, Jelzin sei freiwillig zu einer Marionette der US-Regierung geworden und habe die Weisungen aus Washington erfüllt. Seine Hauptaufgabe bestand darin, in der Eliminierung des Sozialismus den point of no return zu erreichen und Russland gemäß den Forderungen des Washington Consensus*4 brutal in ein Land des ungezügelten Kapitalismus umzuwandeln. Damit brachte er Russland an den Rand des Zerfalls, was schließlich selbst die Amerikaner beunruhigte (unter anderem, weil Russland Atommacht ist).
Das Verdienst Putins sehe ich darin, dass er durch seine vorsichtige Politik das Land aus einer kritischen Lage herausgeführt hat. Aber von Anfang an blieb er, so wie Jelzin, ein Anhänger des kapitalistischen Weges für Russland, und zwar in dessen asozialer Form. Er führte damit den Weg Russlands in eine soziale, politische, wirtschaftliche und geistige Sackgasse fort. Nach Ablauf von mehr als zwanzig Jahren dieser „Entwicklung“ Russlands muss deshalb die Frage gestellt werden: „Wird Russland weiteren solchen Stabilitätsprüfungen standhalten können?“
Der erste Anstoß zur kapitalistischen Umgestaltung Russlands, zu seinem „Gang durch die Hölle der Bourgeoisie“5, kam, wie gesagt, von außen – durch die Machtelite der USA. Diese verstand nur zu gut, wie lebenswichtig es für sie war, den Weg zur Entwicklung und Vervollkommnung des sozialistischen Systems als erfolgreicher Antithese zum Kapitalismus zu versperren. Mithilfe von sowjetischen Renegaten und politisch entarteten Elementen, die in den Dienst von Uncle Sam übergelaufen waren, wurde dieses Ziel nach dem Staatsstreich Jelzins im Dezember 1991 erreicht. Der amerikanischen Machtelite war es gelungen, die Sowjetmacht rücklings zu Fall zu bringen, ohne einen einzigen Schuss abgefeuert oder auch nur einen einzigen Tropfen Blut ihrer Soldaten vergossen zu haben. Danach wurde die „leise Eroberung“ Russlands vollzogen. Eine wichtige Rolle spielten dabei geheime, subversive Methoden der Einflussnahme. So stellte es für die Politik der USA keine besondere Schwierigkeit dar, die „kapitalistische Umwandlung“ Russlands durchzuführen und das Land als Haupthindernis für die Verwirklichung der globalen Pläne der USA aus dem Weg zu räumen.
Über diese traurige und tragische Geschichte unseres Volkes und Landes sind schon viele Forschungsarbeiten veröffentlicht worden. Aber noch vieles von diesen Ereignissen, welche das Volk Russlands durchlebte, bleibt ein Geheimnis. Und es wird nicht wenig Zeit erfordern, um das Verborgene ans Licht zu bringen. Im Grunde ist es in der Menschheitsgeschichte immer so gewesen.
Wenn ich zurückschaue, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mein ganzes Leben und das meiner Altersgenossen wie auch das der vorangegangenen Generationen von Bürgern unseres Landes in einer Zeit ununterbrochener Wirren verlief, die schließlich in den tragischen Zusammenbruch der Sowjetunion mündeten und zu einem nie da gewesenen moralischen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Verfall Russlands ab den 1990er-Jahren bis ins beginnende 21. Jahrhundert mündeten. Wer aber trägt daran die Schuld – das Volk oder die Regierenden? Oder äußere Kräfte? Oder sind es alle Faktoren zusammengenommen? Auf diese Fragen müssen die richtigen Antworten gefunden und die entsprechenden Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden, um Russland vor dem Schlimmsten zu bewahren.
1Der Vierzeiler des russischen Dichters Fjódor Iwánowitsch Tjútschew (1803–1873) Umóm Rossíju nje ponjátj / Arschínom óbschtschim nje isméritj / U njej ossóbjennaja statj – / W Rossíju mózhno tólko wjéritj, ist im Deutschen am besten wiedergegeben mit: „Verstand wird Russland nie verstehn, / Gemeines Maß will auch nicht taugen: / Es hat ein sonderbares Wesen – / An Russland kann man einzig glauben.“ Der Urheber dieser deutschen Version konnte nicht ermittelt werden (Anm. d. Ü.).
2Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Personen finden sich mit einer Kurzbiographie im Anhang.
3Chasbulatow, Ruslan Imranowitsch: Prestúpnyj rezhím: „Liberálnaja tiránija“ Jelzina [„Ein verbrecherisches Regime: Die ‚liberale Tyrannei‘ Jelzins“]. Moskau (Jausa-press) 2011, S. 211, 215
4Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Sachbegriffe werden im Sachverzeichnis, Abkürzungen im Abkürzungsverzeichnis näher erläutert.
5Es handelt sich hier um eine Anspielung auf die altslawische apokryphe Schrift Chozhdjénie Bogoródizy po múkam („Gang der Gottesmutter durch die Qualen [der Sünder in der Hölle]“) aus dem 12. Jh., in der die Gottesmutter Jesus um Barmherzigkeit anfleht und dieser die Sünder nur aus den Qualen der Hölle befreien will, wenn sie ihn erneut am Kreuze sterben sähe (Anm. d. Ü.).
Ich wurde am 9. Februar 1925 in Moskau geboren. Mein Vater, Iwan Fjodorowitsch Daschitschew, gebürtig aus Brjansk, hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und sich bis zum Unteroffizier hochgedient. Während der Revolution wechselte er aus ideologischen Gründen auf die Seite der Roten Armee und wurde zum „Helden des Bürgerkrieges“6, wobei er für seinen Wagemut und seine Verdienste im Kampf mit drei Rotbannerorden* (damals noch als einer von nur 30 Mann!) ausgezeichnet wurde.
In den 1930er-Jahren konnte ich als Junge beobachten, wie einer nach dem anderen von seinen Kampfgefährten in den Mühlen der Stalin’schen Säuberungen verschwand. Mitte der 1930er-Jahre führte mein Vater den Stab des ersten Garde-Schützenkorps in Moskau an. Ich kann mich noch daran erinnern, wie erschüttert er war, als der Korpskommandeur Iwan S. Kutjakow* – im Bürgerkrieg Stabschef der Division Tschapajews* und nach dessen Verlust ihr Kommandeur – 1936 verhaftet und erschossen wurde. Doch bald schon folgten neue Erschütterungen: Nach der Erschießung von Korpskommandeur Kutjakow wurde mein Vater noch im selben Jahr in den Fernen Osten versetzt und übernahm das Kommando der Sibirischen Schützendivision in der Stadt Bikin bei Chabarowsk. Die Division war Bestandteil des Chabarowsker Schützenkorps, das von Michail W. Kalmykow* kommandiert wurde. Es verging auch kein Jahr, nachdem mein Vater seinen neuen Dienst angetreten hatte, als auch Kalmykow verhaftet wurde. Dieser beging während seiner Haft Selbstmord, indem er sich in die Treppenhausflucht eines mehrstöckigen Hauses mit dem Schrei stürzte: „Es lebe der Sozialismus!“ Mein Vater war vollkommen verwirrt; es war ihm unmöglich, zu begreifen, warum man so mit Kalmykow abgerechnet hatte.
Dann kam die Reihe an Marschall W. K. Blücher*, Kommandeur des Militärbezirks Fernost. Zu ihm hatte mein Vater freundschaftliche Bande geknüpft und er war oft in unserem Haus zu Gast. Mein Vater war schockiert, als er erfuhr, dass man ihn verhaftet und erschossen hatte. Er sagte mir damals, dass Blücher ein ehrlicher und dem Vaterland und der Partei ergebener Mensch gewesen sei. In der Sibirischen Schützendivision wurden 1937 dann der Stabschef, der Stellvertreter des Kommandierenden in politischen Angelegenheiten und zwei Regimentskommandeure verhaftet. Ja selbst mein Vater wäre beinahe im Gefängnis gelandet. Ihn rettete schlicht die Tatsache, dass sein Stabschef sich im Gefängnis sogar unter Folter weigerte, eine Erklärung zu unterschreiben, dass Daschitschew ein Volksfeind sei.
1938 wurde mein Vater nach Moskau zurückgerufen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er im Fernost-Zug nach Moskau jedes Mal zusammenzuckte, wenn jemand an die Abteiltür klopfte. Für den Fall seiner Verhaftung hielt er stets einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten bereit. Acht Monate befand er sich in der Reserve der Personalhauptverwaltung der Roten Armee; es musste die Frage entschieden werden, ihn entweder „einsitzen zu lassen“ oder ihm eine neue Stelle zuzuweisen. Man kann sich vorstellen, in welcher psychischen Verfassung damals mein Vater wie auch meine Schwester und ich sowie unsere Mutter waren. Und in einer solchen Lage wie er befanden sich in der Armee Zehntausende. Schließlich wurde er 1939 zum Korpskommandeur in der Stadt Welikije Luki ernannt. Stabschef des dort stationierten Korps war der Generalmajor T. W. Kudrjawzew, mit dessen Tochter Alexandra ich gemeinsam die sechste und siebte Klasse der Mittelschule besuchte. Wir verliebten uns ineinander und ich rettete diese Liebe über den Großen Vaterländischen Krieg* hinweg, den ich von Rostow am Don bis Prag durchlebte, und nach Kriegsende heirateten wir.
Bald erwarteten meinen Vater neue Prüfungen: Sein Korps wurde in den schändlichen, verbrecherischen und vollkommen überflüssigen Finnlandkrieg* geworfen. Ihm wurde die Aufgabe gestellt, die Stadt Oulu anzugreifen und so Finnland in zwei Hälften zu schneiden. Wegen der völligen Unwegsamkeit des Geländes auf seiner Marschroute, dem außerordentlich tiefen Schnee, dem Fehlen von entsprechenden Transportmitteln und Skiern in den Truppen, wegen ihrer geringen Kampffähigkeit und der mangelnden Vorbereitung, unter ungewöhnlich harten Winterbedingungen kämpfen zu müssen, sah mein Vater jedoch von der Durchführung dieses Angriffs ab. Denn er drohte mit hohen Verlusten und mit einer Niederlage zu enden. Der zur Truppenaufstellung des Korps eingetroffene Lew Mechlis* – zu der Zeit Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (PU RKKA) und zugleich Mitglied des Kriegsrats der Leningrader Front, der „Höllenhund Stalins“, wie man ihn damals nannte – befahl meinem Vater, unverzüglich mit dem Angriff zu beginnen. Mein Vater weigerte sich, indem er erklärte, dass dies zum Verlust des Korps führen würde, doch Mechlis bestand unter Androhung einer Inhaftierung weiterhin auf seiner Anordnung. Da schlug mein Vater ihm vor, als Mitglied des Frontkriegsrats persönlich den Befehl zum Angriff zu schreiben, was dieser auch tat. In der Folge des begonnenen Angriffs wurde eine Division7, die von General Winogradow befehligt wurde, von finnischen beweglichen Einheiten in undurchdringlich zugeschneiten Wäldern eingekreist und erlitt eine Niederlage8. Lew Mechlis führte sich widerlich auf; in allem beschuldigte er meinen Vater. Es folgte die Degradierung meines Vaters zum Oberst; dasselbe erwartete auch General T. W. Kudrjawzew. Aber mein Vater rettete ihn vor dem gleichen Schicksal, indem er die ganze Verantwortung für den Verlust der Division auf sich nahm. An den Kriegsrat der Leningrader Front erstattete er Bericht, dass er von dem vollkommen aussichtslosen und für die eigenen Truppen gefährlichen Angriff auf die Stadt Oulu absehen wollte und ihn nur aufgrund eines kategorischen schriftlichen Befehls von Lew Mechlis unternahm. So wurde ihm Recht gegeben und er wurde wieder in seinen früheren Militärrang eingesetzt. Nicht nüchternes Kalkül, nicht die Kriegskunst, fußend auf dem Bestreben, eine gestellte Aufgabe mit minimalem Verlust an Menschen und mit einer fürsorglichen Haltung zu den vorhandenen Kadern zu erfüllen, sondern ein „bolschewistischer Überfall“ – dies war der Geist, der der Armee von militärischen Analphabeten von der Art eines Lew Mechlis eingepflanzt worden war.
Aus den Erzählungen meines Vaters und den tragischen Ereignissen jener Jahre gewann ich meine jugendlichen Eindrücke von dem Zustand unserer Streitkräfte am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges. In der Folgezeit, während der Chruschtschow’schen Tauwetterperiode*, als ich in der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs arbeitete, erfuhr ich aus Dokumenten, dass den Stalin’schen Säuberungen 42.000 Armeeangehörige der höheren und mittleren Führungsebene zum Opfer gefallen waren. Am Vorabend des Zusammenpralls mit dem deutschen Nationalsozialismus war die Rote Armee praktisch enthauptet.
Dies erklärt insbesondere, warum Stalin eine panische Angst vor einem Krieg mit Deutschland hatte und sogar Maßnahmen zur Herstellung der Gefechtsbereitschaft unserer Streitkräfte noch bis kurz vor dem 22. Juni 1941 verbot, um – wie er meinte – nur ja keinen Angriff der Wehrmacht „zu provozieren“. Eine größere politische Schizophrenie, Kurzsichtigkeit und Dummheit kann man sich kaum vorstellen. Aber in einer Atmosphäre der durch die massenweisen Repressionen hervorgerufenen allgegenwärtigen Angst wagte niemand, Stalin zu widersprechen. Als dann aus Pressemeldungen und anderen Quellen bekannt wurde, dass die Wehrmacht kurz vor dem Einmarsch stand, belegte der Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU)*, General Filipp I. Golikow*, diese Berichte kriecherisch mit der Resolution: „Das ist eine Provokation.“ Vor diesem Hintergrund erscheinen die Versuche des geflüchteten sowjetischen Auslandsspions Viktor Suworow (Wladimir Resun)*, nachzuweisen, dass Stalin 1941 angeblich einen Präventivkrieg gegen Hitler beabsichtigte, geradezu lächerlich. Nebenbei bemerkt waren mir während meiner Tätigkeit in der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs viele Dokumente zugänglich, die mit der Planung der sowjetischen Kriegsstrategie zu tun hatten. Darunter fielen mir keine Dokumente in die Hand, die bezeugt hätten, dass das sowjetische Oberkommando einen Präventivkrieg gegen Deutschland vorbereitete.
Erst im reiferen Alter wurden mir die Gründe für die Stalin’schen Massenrepressionen klar, die nicht nur gegen die militärische, sondern auch gegen die Eliten in Partei, Verwaltungsapparat, Wissenschaft, Erziehungswesen, Ingenieurswesen, Landwirtschaft und Kirchen gerichtet waren. Es ging dabei in keiner Weise um sogenannte „Volksfeinde“. Von Beginn der Entstehung des sowjetischen Staates an entfesselte sich ein grausamer Kampf um die politische Macht. Dies erklärte sich dadurch, dass der sowjetische Staat über keinerlei Legitimität verfügte, die aus dem Willen des Volkes hervorgegangen wäre, sondern er gründete auf der Vorherrschaft von sich zerfleischenden Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Intrigen der höheren Parteinomenklatura – de facto einer sektiererischen, verschwörerischen Organisation, die im Namen der messianischen Dogmen des Marxismus und später des Leninismus und Stalinismus handelte. An die Spitze derMacht gelangten keinesfalls die Fähigen aufgrund ihres Wissens, ihrer Bildung, ihrer politischen wie überhaupt ihrer Kultur, ihres guten Gesundheitszustands, um sich mit der Lenkung des Staates zu befassen. Dies trifft übrigens alles auch auf Stalin zu, der an einer Paranoia litt, mit allen sich daraus ergebenden Folgen für Volk und Land, für den Sozialismus und seine Zukunft.
Der von Trotzki, Lenin und ihren Gesinnungsgenossen entfesselte Bürgerkrieg und die ersten „Säuberungen“ bedeuteten für das russische Volk als namensgebender, staatstragender Nation gigantische, unwiederbringliche Verluste, vor allem unter der intellektuellen Elite. Zur Durchsetzung seiner Einmanndiktatur, die durch nichts und niemanden begrenzt war, schuf Stalin im Land eine Atmosphäre der allgegenwärtigen Angst und Unterwürfigkeit. Dafür griff er zum Mittel des Völkermords. Auf seinem Gewissen lastet der Tod von Millionen „Kulturträgern“ der Nation, die Vernichtung der geistigen Erbmasse unseres Volkes. Das ist der eigentliche Grund, warum ungebildete Führer ans Ruder des Staates gelangten und Hunderttausende ebenso einfältige Parteibeamte minderen Ranges. Am auffälligsten verkörperte diesen Typus in der Folgezeit die Figur Boris Jelzin, der bisher die beschämendste Rolle in der Geschichte Russlands gespielt hat.
Wie vielen Millionen sowjetischer Bürger gelang es auch meinem Vater nicht, einer Inhaftierung zu entgehen. Dies geschah aber schon während des Krieges. Zu Beginn der Kriegshandlungen befehligte er das 35. Schützenkorps, welches erfolgreich den Angriff des Feindes in der Moldau abgewehrt hatte. Gegen Ende des Jahres 1941 übernahm er das Kommando über das 9. Schützenkorps und während der Kertsch-Feodossijaer Landungsoperation* dasjenige der 44. Armee, deren Befehlshaber gefallen war. Diese Armee befand sich mit ihrem Rückzugsgefecht in einer verzweifelten Lage. In der Kampfbeurteilung meines Vaters aus jener Zeit hieß es:
„Er erwies sich als gut vorbereiteter, erfahrener Kommandeur, der die Führung der einzelnen Truppenteile im Kampf vollkommen routiniert beherrschte. Er ist diszipliniert, standfest und politisch weit entwickelt. Mit dem Gros der Befehlshaber und Soldaten ist er verbunden und genießt Autorität.“9
Trotzdem wurde er zu Beginn des Jahres 1942 das Opfer einer neuen Inhaftierungswelle von Dutzenden von Generälen, die auf Anweisung von Stalin mit dem altbekannten Ziel der Einschüchterung, aber dieses Mal auch auf der Suche nach Sündenböcken für die Stalin’schen Verbrechen – die schweren Niederlagen in der Anfangsphase des Krieges – über die Köpfe hinwegrollte. An der Verfolgung meines Vaters war – Ironie de Schicksals – wieder Lew Mechlis beteiligt, der damals Mitglied des Kriegsrats der Krimfront war, mit allen daraus folgenden negativen Konsequenzen für die Durchführung der militärischen Operationen. Im Juli 1942 dann, bei der Folgeleistung seiner Versetzung von der Krim in den Landkreis Kalinin zum Antritt seines neuen Dienstpostens als stellvertretender Kommandeur der Kalininer Front von Iwan S. Konjew*, wurde mein Vater verhaftet. Er war damals 45 Jahre alt! Grund seiner Verhaftung war nicht nur der Bericht von Mechlis an Stalin, der die Gründe für das Scheitern der Kertsch-Feodossijaer Landungsoperation in einem falschen Licht darstellte, sondern auch die Meldung eines Spitzels, von Oberst Loschkin, gegenüber dem mein Vater in einem Gespräch Stalin für das strategische Versagen im Jahr 1941 scharf kritisiert hatte. Er musste seine Gefängnisstrafe – in Einzelhaft – bis zum März 1953 absitzen. Nach dem Tode Stalins wurde er freigelassen und arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Seilfabrik in Rybinsk. Am 31. Juli 1953 wurde die „Anklageakte gegen I. F. Daschitschew auf Beschluss der Sonderkonferenz beim Innenministerium der UdSSR aufgrund des Fehlens eines Straftatbestands mit seiner vollkommenen Rehabilitierung geschlossen“10. Aber die Gesundheit meines Vaters war schwer angeschlagen und er konnte den ihm vorgeschlagenen Dienst in der Armee nicht wieder aufnehmen. Anstatt also seine außerordentlichen Militärkenntnisse und seine Erfahrung aus dem Kriegseinsatz gegen die Wehrmacht zu nutzen, ließ man ihn auch in der Nachkriegszeit ohne Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ganze zehn Jahre im Gefängnis zubringen. „Wo war hier die staatsmännische Klugheit Stalins und anderer sowjetischer Führer jener Zeit“, dachte ich. Von der Inhaftierung meines Vaters erfuhr ich erst Ende 1944. Bis dahin dachte ich, dass er, wie übrigens viele, unter die Partisanen gegangen sei oder irgendwo einen Spezialauftrag ausführte.
Ich schildere dies alles deshalb so ausführlich, um zu zeigen, in welch anormalem Ausnahmezustand sich unser Land in jener Zeit befand. Stalin brachte wie kein anderer mit seiner Grausamkeit und Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel zum Erhalt seiner Macht und zur Erreichung seiner Ziele sowie mit seinen diktatorischen Maßnahmen, die sich weder mit dem Gesetz noch mit der Moral oder auch mit den sozialistischen Werten vereinbaren ließen, das sozialistische System aufs Schwerste in Verruf. Im Grunde genommen rief er im Volk eine tief sitzende Enttäuschung über die in der Sowjetunion vorherrschende Gesellschaftsordnung hervor und legte so die Grundlage zu ihrem Zerfall im Jahr 1991. Diese Lage auszunutzen, versäumten indes die Regierenden in den USA wie auch die verräterischen Kräfte im Inland nicht. Und niemand rührte auch nur einen Finger, um den Untergang der UdSSR aufzuhalten.
Doch auch in diesen Wirren des Stalin’schen Terrors zweifelte ich nicht im Geringsten an der Richtigkeit der sozialistischen Ideen und Werte, des sozialistischen Entwicklungswegs. Den Stalinismus betrachtete ich im Grunde meines Herzens als ungeheure Perversion und als Abirrung vom rechten Weg, die mit der Zeit sicher überwunden werden würden.
Welches aber waren die wichtigsten Abschnitte und Ereignisse in meinem Leben, die großen Einfluss auf meine weltanschaulichen Standpunkte, auf meine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit ausübten und eng mit den politischen Scheidewegen unseres Landes verknüpft waren?
6vgl. seine Erwähnung in der ersten Ausgabe der Großen Sowjetenzyklopädie (russ. Bolschája Sowjétskaja Enziklopédija – BSE), Bd. 20
7die 44. Schützendivision
8In der in die Kriegsgeschichte eingegangenen Doppelschlacht von Suomussalmi und an der Straße von Raate zerschlug der finnische Oberst Hjalmar Siilasvuo mit seiner 9. Infanterie-Division den Stoßkeil der Roten Armee auf Oulu. Nach der beinahe vollständigen Vernichtung der sowjetischen 163. Schützendivision im Dezember 1939 bei Suomussalmi mit etwa 13.000 gefallenen und 2100 in Gefangenschaft geratenen Rotarmisten (vgl. Sander, Gordon F.: The Hundred Day Winter War. Finland’s Gallant Stand against the Soviet Army. Kansas [University Press] 2013, S. 192) dezimierte Siilasvuo im Januar 1940 die der 163. Division zu Hilfe geeilte ukrainische 44. Schützendivision unter dem Divisionskommandeur Aleksej Winogradow. Während die motorisierte 44. Division im verschneiten Waldgelände an die Straße nach Raate gebunden war, wurde sie von ski-beweglichen finnischen Einheiten umgangen, eingekesselt, unablässig aus dem Schutz der Wälder heraus angegriffen und in zahlreiche isolierte Widerstandsnester aufgespalten, wobei sie 1001 Gefallene, 1430 Verwundete und 2243 Vermisste verlor (vgl. Irincheev, Bair: War of the White Death. Finland against the Soviet Union 1939–40. Barnsley/South Yorkshire [Pen and Sword Books] 2011, S. 115; Anm. d. Ü.).
9Wjelíkaja Otjétschestwjennaja. „Komandármy“. Wojénno-biografítscheskij Slowár [„Der Große Vaterländische. ‚Armeekommandanten‘. Militärisch-biografisches Lexikon“]. Moskau (Zhukówskij: Kutschkowo polje) 2005, S. 66
10ebenda
Im Dezember 1942 wurde ich direkt von der zehnten Klasse der Mittelschule weg zum Militärdienst einberufen und in das Militärinstitut für Fremdsprachen abkommandiert, das sich in Stawropol an der Wolga befand. Da ich aber die deutsche Sprache schon sehr gut beherrschte – meine Eltern hatten darauf bestanden, dass ich sie über mehrere Jahre hin mithilfe eines Hauslehrers gründlich erlernte –, meldete ich mich zur Entsendung an die Front. Mein Antrag wurde gewährt.
In den Jahren 1943 bis 1945 nahm ich am Großen Vaterländischen Krieg als Offizier der Aufklärungsabteilung beim Stab der 4. Ukrainischen Front teil. Diese Abteilung leitete Generalmajor Grjasnow, ein großer Kenner auf seinem Gebiet, der sich auch einer hohen Autorität bei seinen Untergebenen erfreute. Unter seiner Führung legte ich kämpfend den Weg von Rostow am Don bis nach Prag zurück und beendete den Krieg mit dem Rang eines Oberleutnants. In meinen Aufgabenbereich fiel die Versorgung unserer Truppenführung mit Informationen über den Kriegsgegner, die auf verschiedenen Wegen gewonnen worden waren, besonders von Kriegsgefangenen und aus erbeuteten deutschen Dokumenten.
Lebendig in Erinnerung geblieben sind mir der Durchbruch unserer Truppen auf der Landenge von Perekop und die Befreiung der Krim im Mai 1944. Zu diesem Zeitpunkt erhielt ich vom Kommando den Befehl, mit dem Motorrad in Begleitung von Panzern und motorisierten Truppenteilen ins Innere der Halbinsel vorzudringen, dort unverzüglich die gefangen genommenen deutschen Offiziere und Soldaten zu verhören und die erhaltene Information über den Feind an die Aufklärungsabteilung weiterzumelden: seine Dislokation, seine Anzahl und Stärke sowie seine Bewaffnung. Außerdem sollte ich mit den beweglichen Truppen nach Simferopol vordringen, dort das Stabsquartier der 17. deutschen Armee ausfindig machen, das zuletzt die Krim verteidigt hatte, und die zurückgelassenen Dokumente sicherstellen. Diese Aufgabe wurde auch ausgeführt. Dann bekam ich es mit dem bei Simferopol in Kriegsgefangenschaft geratenen Kommandeur der 17. Armee, Generalleutnant Böhme*, und einigen Obersten aus seinem Stab zu tun. Es gelang mir, von ihnen wertvolle Informationen über den Zustand des deutschen Heeres zu erhalten.
Die Rückeroberung der Krim verlief jedoch nicht ohne schmerzliche Eindrücke. Während unseres Vorstoßes in das Innere der Halbinsel kamen uns Kolonnen von Krimtataren entgegen, die in der deutschen Armee gedient hatten, darunter auch Kaukasier und Asiaten, die von den Deutschen gefangen genommen worden waren. Aus ihnen waren vom deutschen Oberkommando sogenannte Turkestanische Bataillone* zusammengestellt worden, die im Wesentlichen im rückwärtigen Frontgebiet eingesetzt wurden. Sie kamen uns mit erhobenen Händen entgegen. Die Panzersoldaten hielten beim Anblick der „Verräter“ an, stiegen aus ihren Panzerfahrzeugen und spuckten in ihre Richtung. Manchmal kam es auch zu Schlägen ins Gesicht oder noch schwereren Zwischenfällen.
Im Karpatenvorland jedoch, wohin die 4. Ukrainische Front nach der Einnahme der Krim verlegt wurde, blickte ich ins Angesicht einer noch ernsteren Gefahr im Zusammenhang mit unseren falschen „Landsleuten“. Zweimal wäre ich beinahe ums Leben gekommen, als ich bei Lwow und Stanislaw bei unserem Marsch auf den Straßen aus dem Hinterhalt von ukrainischen Nationalisten, den Bandera-Leuten*, beschossen wurde.
In der Aufklärungsabteilung hatte ich mich unter der Anleitung eines erfahrenen Kundschafters, Oberst Ssapogow, auch mit einer „delikateren“ Angelegenheit zu befassen. Unter den deutschen Kriegsgefangenen gab es viele, die bereit waren, für ein demokratisches Deutschland mit der Roten Armee zusammenzuarbeiten und gegen das Hitlerregime zu kämpfen. Von ihnen bildeten wir viele verdeckte Mitarbeiter aus und setzten sie mit gefälschten Papieren und von uns sorgfältig ausgearbeiteten, äußerst realitätsnahen Legenden hinter der deutschen Front ab. Als gegen Ende des Jahres 1943 die deutsche Armeegruppe von General Hollidt* eingekreist wurde, übermittelten wir ihm über unseren deutschen „Feldjäger“ ein Sendschreiben von unserem Frontkommandeur Fjodor I. Tolbuchin* mit der Aufforderung, sich zu ergeben. Das Schreiben wurde mit Rückschein bei der Annahmestelle der Feldgendarmerie des deutschen Heeres abgegeben und unser „Feldjäger“ kehrte wohlbehalten zu uns zurück. General Hollidt gab aber nicht auf und konnte seine Truppen aus der Einkreisung herausführen.
Irgendwann im Februar 1945 ließ uns einer unserer deutschen Agenten aus Wien über Radio eine verschlüsselte Botschaft zukommen mit dem Inhalt, dass die Deutschen die Explosion einer Bombe von enormer Sprengkraft – basierend auf der „Zertrümmerung eines Atoms“, wie er schrieb – vorbereiteten. Bis heute kursieren Behauptungen, dass im März 1945 in Thüringen eine deutsche Atombombe zur Explosion gebracht worden sei und davor eine auf der Insel Rügen – also früher, als sie die Amerikaner im Juli 1945 zündeten. Tatsächlich erreichten diese Versuche aber wohl nie ein „kritisches Stadium“, d. h., sie brachten keine selbsterhaltende Kettenreaktion zustande; dafür fehlten sowohl die Zeit als auch die nötigen Mittel – das nationalsozialistische Deutschland eilte in dieser Phase des Krieges zusehends einer Katastrophe entgegen. Über die „atomare Geschichte“ NS-Deutschlands ist 2005 im Übrigen ein interessantes Buch – Hitlers Bombe11 – des deutschen Historikers Rainer Karlsch erschienen, das eine kontroverse Diskussion auslöste, aber auch keine Klarheit darüber herstellen konnte, wie weit der Bau an einer atomaren Waffe in NS-Deutschland wirklich gediehen war.
Nach Kriegsende stieß ich auf weitere Puzzleteile im Zusammenhang mit der deutschen Atombombe: Es stellte sich heraus, dass die Hauptverwaltung Aufklärung (GRU*) beim Generalstab der Roten Armee durch ihre Agenten bis ins kleinste Detail über den Entwicklungsstand des deutschen Atomprojekts informiert war. Sogar der Bauplan der deutschen Atombombe war offenbar bekannt. Der Chef des militärischen Nachrichtendienstes, General Iljitschow*, informierte die sowjetische Staatsführung darüber. Das war eine bemerkenswerte Leistung unserer Aufklärung! Auf der Ebene der Frontaufklärung konnten wir natürlich davon nichts wissen.
Im letzten Kriegsabschnitt gelangten unsere Sondereinheiten nicht nur in den Besitz einer streng geheimen Dokumentation über das deutsche Uranprojekt, sondern es geriet auch ein geheimer Film, der die Explosion einer deutschen Atombombe belegen soll, in ihre Hände, wie man mir erzählte.
Stalin soll diesen Film später noch einmal für ganz andere Zwecke eingesetzt haben. Im Juli 1949 weilte eine chinesische Partei- und Regierungsdelegation, angeführt von ihrem Staatspräsidenten Liú Shàoqí* persönlich, in Moskau. Stalin soll den gestohlenen deutschen Film vorgeführt haben und ihn als Aufnahme der Explosion einer sowjetischen Atombombe ausgegeben haben. Diese wurde bekanntlich erst kurze Zeit später, nämlich Ende August 1949, gezündet. Diese Art „Bluff“ ist ein interessanter Charakterzug im Porträt Stalins!
Der Krieg war für mich eine große Schule des Lebens – die Stählung des Willens, die Formung des Charakters und die Festigung der Heimatliebe. Man durchlebte die Schrecken des Krieges, spürte den Hauch des Todes und sah die furchtbaren Leiden der Menschen. Gerade in diesen für unser Land und unser Volk so gefährlichen Jahren nahm ich mir vor, hinter das Geheimnis der Entstehung von Kriegen zu kommen und eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Kriege wirklich schicksalhaft und unvermeidlich sind oder ob man sie nicht doch abwenden oder zumindest bändigen kann. Damals entstand bei mir der Traum und reifte der Entschluss – sollte ich am Leben bleiben –, mich ernsthaft mit der Geschichte von Kriegen und der internationalen Beziehungen zu beschäftigen. Die Aggression des faschistischen Deutschland gegen die Sowjetunion und andere europäische Staaten mit dem Ziel, deren Völker zu versklaven, brachte mich auf den Gedanken, dass als Hauptgrund für die Kriege die Hegemonialpolitik hervortritt, und ich schwor mir, all meine Kräfte für den Kampf gegen diese Politik einzusetzen, von welcher Seite sie auch ausgehen mochte. Dies wurde zum Leitspruch meiner nachfolgenden wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Verwerflichkeit dieser Hegemonialpolitik habe ich in einer Reihe meiner monografischen Untersuchungen offengelegt.12
Für die Teilnahme am Krieg und den darauffolgenden Militärdienst wurde ich mit den Orden des „Vaterländischen Krieges“, des „Roten Sterns“, mit 18 Medaillen, darunter für „Verdienste im Kampf“, und mit einer Medaille der ČSSR für die „Teilnahme am slowakischen Volksaufstand“ ausgezeichnet.
11Karlsch, Rainer: Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche. München (DVA) 2005; München (dtv) 2007
12In diesem Zusammenhang sind zu nennen: „Ssowerschénno sekrjétno! Tólko dlja komándowanija!“ Operázija „Barbarossa“ [„Geheime Kommandosache!“ – Fall „Barbarossa“]. Moskau (Naúka) 1967; Bankrótstwo stratégii germánskowo faschísma 1933–1945 gg. [„Das Scheitern der Strategie des deutschen Faschismus 1933–1945“]. 2 Bde., Moskau (Naúka) 1957; Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik. Bonn, Hamburg, Berlin (Mittler & Sohn) 2002; Stratégija Gítlera. Putj k katastrófje [„Die Strategie Hitlers. Der Weg in die Katastrophe“]. 4 Bde., Moskau (Naúka) 2005 (Anm. d. Autors).
Nach Kriegsende wurde die 4. Ukrainische Front in den Karpato-Ukrainischen Militärbezirk umgewandelt. Ihr Stab, in dem ich weiterhin Dienst tat, wurde in der Stadt Tschernowzy stationiert. Hier beschloss ich, meinen Jugendtraum – inspiriert durch die gesehenen Schrecken des Krieges – zu verwirklichen, nämlich mich mit dem Studium der Kriege zu befassen, den Gründen ihrer Entstehung, den Möglichkeiten ihrer Vorbeugung und Beseitigung aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft. So schrieb ich mich – ohne Zeit zu verlieren – als Fernstudent an der Historischen Fakultät der Universität von Tschernowzy ein. Nach meiner Kommandierung Ende des Jahres 1945 an die Frunse-Militärakademie* wurde ich als Fernstudent der Historischen Fakultät automatisch von der Moskauer Lomonossow-Universität übernommen. Das erste und einzige Mal in meinem Leben missachtete ich einen Befehl, nämlich im gegebenen Fall das Verbot für Militärangehörige, an zivilen Hochschulen zu studieren. So musste ich meine Arbeit an der Militärakademie als Dozent der Nachrichtendienstlichen Fakultät mit meinem Studium an der Universität zeitlich aufeinander abstimmen. Schließlich saß mein Vater immer noch im Gefängnis und ich hatte es auf mich genommen, meine Mutter und meine kleine Schwester moralisch und materiell zu unterstützen. So konnte meine Schwester die Mittelschule beenden und ein Geografiestudium an der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität (MGU*) abschließen. In der Folgezeit erhielt sie einen Staatspreis für eine wichtige geologische Entdeckung.
Zu jener Zeit hing über uns ständig das Damoklesschwert der Deportation aus Moskau in weit entfernte Gegenden, wie man es auf Schritt und Tritt bei Verwandten von Verhafteten beobachten konnte. Doch zum Glück entgingen wir diesem Schicksal. Vielleicht deshalb, weil der Direktor der Akademie, Generaloberst Nikandr J. Tschibissow* – ein Freund und Kampfgefährte meines Vaters – uns eine große Fürsorge angedeihen ließ. Er war ein außergewöhnlich selbstsicherer, kühner, anständiger und ehrenhafter Mensch, der den Mut besaß, zu handeln, ohne auf die „Organe“13 Rücksicht zu nehmen. Dies sollte sich später unheilvoll auf seine Karriere auswirken. Vielleicht rettete uns aber auch der Umstand, dass ich bei der Einberufung zum Militärdienst 1942 in meinem Lebenslauf für die Kaderabteilung schrieb, dass ich die 9. und 10. Schulklasse zusammen mit Swjetlana Stalina (Allilujewa)* besucht hatte. Ich schließe nicht aus, dass man es deshalb als riskante Sache betrachtete, sich mit mir einzulassen.
1950 beendete ich das Studium an der Historischen Fakultät der MGU und 1953 das Aufbaustudium als Doktorand mit einer Dissertation zum Thema „Die Aggression des faschistischen Deutschland gegen Frankreich 1939–1940“. Diese Arbeit verhalf mir dazu, auf Empfehlung von Oberst Wassilij M. Kulisch*, Doktor der Geschichtswissenschaften, 1953 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rubrik „Ausländische Militärgeschichte und -theorie“ in der Redaktion der Zeitschrift Wojénnaja Mysl [„Der Militärgedanke“]* zu werden. Ihr Chefredakteur war damals der bekannte sowjetische Militärtheoretiker General Nikolaj A. Talenskij* und nach ihm wurde es General Radjezkij. Ebenfalls 1953 erschien in dieser Zeitschrift mein erster Artikel, der der Verschwörung gegen Hitler am 20. Juli 1944 gewidmet war. Es sollte eine Reihe weiterer Artikel folgen, darunter ein Artikel über die Militärdoktrin der USA, verfasst auf der Grundlage einer Analyse der amerikanischen Militärpresse, die man in Hülle und Fülle in der Militärwissenschaftlichen Bibliothek des Generalstabs einsehen konnte. Der Artikel wurde vonseiten der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs mit einer hohen Einschätzung gewürdigt. Die sechsjährige Mitarbeit in der Redaktion der Zeitschrift Wojénnaja Mysl erlaubte mir, das „Geheimnisvolle“ der Militärstrategie und Sicherheitspolitik gründlich kennenzulernen.
1959 wurde nach langjähriger Unterbrechung die „Militärhistorische Zeitschrift“ (Wojénno-istorítscheskij Zhurnál)* wiederbegründet, welche ebenso wie Wojénnaja Mysl von der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs herausgegeben wurde. Ich fand, dass es für mich interessanter und ersprießlicher wäre, bei dieser Zeitschrift mitzuarbeiten, und stellte einen entsprechenden Antrag bei den Vorgesetzten. Der Antrag wurde positiv beschieden. So war ich in den Jahren 1959 bis 1968 Redakteur im Ressort „Ausländische Militärgeschichte“ der Militärhistorischen Zeitschrift. Zur etwa gleichen Zeit, 1963 bis 1965, wurde mir die Ehre zuteil, vertretungsweise Vorlesungen wie auch einen speziellen Vorlesungszyklus an der Historischen Fakultät der MGU zum Thema „Deutschland im Zweiten Weltkrieg“ zu halten.
Neben der Zeitschrift Nówyj Mir [„Neue Welt“]* wurde die Militärhistorische Zeitschrift zum Sprachrohr der Sechzigerjahre und genoss hohe Popularität sowohl in Militärkreisen als auch unter der zivilen Leserschaft. Zum Chefredakteur der Zeitschrift wurde Generalleutnant Nikolaj G. Pawlenko* bestellt. Mit ihm zusammenzuarbeiten war ein reines Vergnügen. Das war ein Mensch mit einer kristallreinen Seele, einer hohen Sittlichkeit und einer großen Wahrheitsliebe; zudem war er ein unübertroffener Kenner der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges. Bis dahin hatte er zehn Jahre lang in der militärhistorischen Abteilung der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs gedient und kannte wie kein anderer die Dokumente des Hauptquartiers der Obersten Heeresleitung und der Frontstäbe. Zusätzlich verfügte er noch über eine weitere, für einen Chefredakteur wichtige Eigenschaft: über wissenschaftliche Kühnheit. Unter seiner Führung nutzte das Redaktionskollegium die Tauwetterperiode unter Chruschtschow voll aus, um der Wahrheit über den Bürgerkrieg und den Großen Vaterländischen Krieg wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, die Stalin’schen Geschichtsfälschungen zu beseitigen und in Hunderten von Artikeln die unschuldigen Opfer des Stalin’schen Terrors aus der Nichtexistenz herauszuholen und ihnen posthum die gebührende Achtung zuteilwerden zu lassen – den bedeutenden sowjetischen Heerführern und Staatsfunktionären, aber ebenso den einfachen Soldaten. Es war eine fesselnde, dankbare Arbeit, begleitet von starken positiven Gefühlen.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Zeitschrift stand natürlich die Erforschung des Zweiten Weltkriegs und speziell des Deutsch-Sowjetischen Krieges. Die Seiten der Zeitschrift standen in erster Linie für Erinnerungen und Artikel von herausragenden sowjetischen Oberbefehlshabern, Heerführern und Staatsfunktionären zur Verfügung, die unseren Sieg herbeigeführt hatten. Auf diese Weise bleiben ihre persönlichen Einschätzungen als Kriegsteilnehmer im Allgemeinen wie auch von einzelnen militärischen Operationen und Feldzügen, von Fragen der wirtschaftlichen Versorgung und kriegstechnischen Ausrüstung der Armee sowie der Arbeit im rückwärtigen Frontgebiet der Nachwelt erhalten. Einen großen Beitrag zu diesem Unterfangen leisteten die sowjetischen Historiker. Vom Moment der Wiederbegründung der Zeitschrift im Jahre 1959 an bis zum Ende der Tauwetterperiode 1964 erhielten sie die einmalige Gelegenheit, mit maximaler Objektivität, ohne jegliche politische Voreingenommenheit und ohne Druck vonseiten mitunter ignoranter Parteiapparatschiks die Erforschung des vergangenen Krieges anzugehen. Dies aber setzte die kritische Beurteilung nicht nur der Handlungen und Entscheidungen auf allen Ebenen der Armeeführung, sondern auch der zahlreichen Abweichungen von der Wahrheit „ohne Ansehen der Person“ voraus. Beispielsweise nahm sich die Redaktion kühn heraus, Marschall Andrej I. Jerjomenko* zu kritisieren. Während der Schlacht um Moskau befehligte er die Brjansker Front, welche die Hauptstadt von Südwesten her schützen sollte. In seinem Buch Im westlichen Frontabschnitt (Moskau 1959) stilisierte er sich fast zum Retter Moskaus, weil seine Truppen der 2. Panzerarmee Guderians angeblich einen solchen Schlag versetzt hätten, dass diese gezwungen gewesen sei, weit nach Süden auszuweichen. In Wirklichkeit war diese Armee nach den Plänen des deutschen Generalstabs für die Landstreitkräfte gar nicht für die Teilnahme an der Schlacht um Moskau vorgesehen, sondern sollte sich von Moskau aus nach Süden wenden, um sich mit der deutschen Heeresgruppe „Süd“ zu vereinigen, der die Zerschlagung der sowjetischen Streitkräfte in der Ukraine gelungen war. Die Orjol-Brjansker Verteidigungsoperation, die Jerjomenko anführte, endete mit einer Niederlage. Ein bedeutender Teil der Brjansker Front wurde eingekreist und aufgerieben. All dies wurde in der Rezension zum Buch des Marschalls erwähnt, ohne im Ganzen seine Verdienste bei unserem Sieg zu schmälern.
Viel Aufmerksamkeit widmete die Redaktion der Erforschung von Fragen der Kriegsführung seitens der Nationalsozialisten in strategischer, wirtschaftlicher, kriegstechnischer und propagandistisch-ideologischer Hinsicht. Zu diesen Forschungsarbeiten sollte auch ich einen nicht unbedeutenden Beitrag liefern. In der Militärhistorischen Zeitschrift erschien eine ganze Reihe meiner Artikel, darunter: „Zur Frage der Vorbereitung Deutschlands auf den Krieg gegen die Sowjetunion“ (Nr. 2/1959), „Aus der Geschichte der Kapitulation Deutschlands“ (Nr. 5/1959), „Operation Weiß – der Krieg gegen Polen“ (Nr. 9/1959), „Der Generalplan Ost“ (Nr. 1/1960), „Die Planung der faschistischen Aggression gegen Frankreich“ (Nr. 10/1960), „Operation Kreml – der Plan der Eroberung Moskaus“ (Nr. 8/1961), „Das Scheitern der nationalsozialistischen Strategie“ (Nr. 9/1961), „Die Aggression Deutschlands gegen Polen und die Haltung der Westmächte“ (Nr. 12/1961), „Warum die deutschen Panzer vor Dünkirchen zum Stehen gebracht wurden“ (Nr. 6/1962), „Generalfeldmarschall Paulus über das Buch von Halder Hitler als Feldherr14“ (Nr. 5/1962), „Deutschland und das Zweifrontenproblem“ (Nr. 12/1964), „Die wirtschaftliche Planung des Krieges durch das Oberkommando der deutschen Wehrmacht“ (Nr. 7/1967) u. a. Viele meiner Artikel zu diesem Themenkreis wurden auch in der Zeitschrift Nówaja i Nowéjschaja Istórija („Neuere und neueste Geschichte“)* abgedruckt. Zu Beginn des Jahres 1966 hielt ich ein hochinteressantes Dokument in den Händen: eine Weisung des Oberbefehlshabers des Heeres, General Walther von Brauchitsch, vom 18. Dezember 1938 über die Erziehung des deutschen Offizierskorps. In dieser Direktive hieß es beispielsweise:
„Adolf Hitler, der geniale Führer, der die tiefe Lehre des Frontkämpfertums in die Weltanschauung des Nationalsozialismus umprägte, hat uns das neue großdeutsche Reich gebaut und gesichert. Nur wer das Gestern, Heute und Morgen in seiner ganzen Schwere und Größe begreift, wird der geschichtlichen Tat dieses Mannes gerecht. Gewaltig ist der Umbruch auf allen Gebieten. Ein neuer deutscher Mensch ist im Dritten Reich herangewachsen, erfüllt von anderen Idealen als die Generation vor uns. Geschaffen ist über Klassen und Stände hinweg eine neue einzigartige Volksgemeinschaft, zu der wir alle – Volk, Wehrmacht und Partei – gehören.
Unerschütterlich ist unsere Treue, fest unser Vertrauen zu dem Mann, der all dies geschaffen, der durch seinen Glauben und seinen Willen dieses Wunder bewirkt hat. (…) Wehrmacht und Nationalsozialismus sind desselben geistigen Stammes. Sie werden weiter Großes für die Nation leisten, wenn sie dem Vorbild und der Lehre des Führers folgen, der in seiner Person den echten Soldaten und Nationalsozialisten verkörpert. (…) In der Reinheit und Echtheit nationalsozialistischer Weltanschauung darf sich das Offizierskorps von niemandem übertreffen lassen. Es ist der Bannerträger, der auch dann unerschütterlich, wenn alles andere versagen sollte. Es ist selbstverständlich, daß der Offizier in jeder Lage den Anschauungen des Dritten Reiches gemäß handelt.“15
Es ist doch verblüffend, wie sehr der Inhalt dieser Anweisung der alltäglichen sowjetischen Praxis der Volkserziehung im Geiste des „Personenkultes“ ähnelte. Nikolaj Pawlenko, unser Chefredakteur, und die Mitglieder der Redaktion waren bereit, dieses Dokument zu veröffentlichen. Sie hatten bereits die Umbruchkorrekturfahne des Textes unterzeichnet, aber der Kurator der Militärhistorischen Zeitschrift in der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee, Generaloberst Rytow*, legte gegen die Veröffentlichung sein Veto ein. Er erblickte in dem Rundschreiben von Brauchitschs eine Ähnlichkeit mit gewissen Zügen der sowjetischen Wirklichkeit … Ende der Sechzigerjahre, nach der Amtsenthebung von Nikita Chruschtschow, brach im Land die in mancherlei Hinsicht neostalinistische Breschnew-Ära an. Der Kanal für Kritik am Personenkult war versperrt. Das ging bis ins Lächerliche: Der Chefideologe Michail A. Ssuslow* gab Anweisung, Publikationen einzustellen, die die Merkmale der totalitären Macht in Deutschland offenlegten, damit bei den Lesern – worauf ausdrücklich hingewiesen wurde – keine „unkontrollierbaren Assoziationen“ (!) geweckt würden. Doch er berücksichtigte dabei nicht, dass, wenn es auch in der diktatorischen Macht Hitlers und Stalins eine gewisse Ähnlichkeit gab, im sozioökonomischen System und in den Prinzipien und Zielen der Innen- und Außenpolitik zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion doch grundlegende Unterschiede herrschten. Und darin lag die Hauptsache. Doch der Personenkult warf einen düsteren Schatten auf die sozialistische Gesellschaftsordnung. Ihn musste man bekämpfen wie ein dem Sozialismus fremdes Phänomen.
Erwähnenswert ist vor diesem Hintergrund eine hochinteressante Episode aus der Geschichte der Militärhistorischen Zeitschrift im Zusammenhang mit dem Untergang des Dritten Reiches. Noch viele Jahre nach dem Krieg waren Mythen weitverbreitet, wonach es Hitler angeblich gelungen sei, sich vor der Vergeltung in Sicherheit zu bringen, mit einem U-Boot aus Deutschland zu flüchten und sich irgendwo in Südamerika versteckt zu halten. Um diese Mythen bloßzulegen, brachte die Zeitschrift zwei meiner Artikel: „Die letzten Wochen des faschistischen Deutschland“ (Nr. 6/1960) und „Auf den Trümmern des Dritten Reiches“ (Nr. 5/1961). Und dennoch fehlte es darin an überzeugenden Fakten und Argumenten, um der Legende über die Flucht Hitlers den Boden zu entziehen.
Zum 20. Jahrestag des Sieges über das faschistische Deutschland kam in der Redaktion die Idee auf, erneut auf diese Frage zurückzukommen und ein Interview mit dem damaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB)*, General Iwan A. Sserow*, der in der Folge Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) beim Generalstab wurde, zu veröffentlichen. Gegen Ende des Krieges war er der Bevollmächtigte des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD*) für die 1. Weißrussische Front unter dem Befehl Georgij K. Schukows* und dadurch in alle Geheimnisse des Untergangs der Reichskanzlei des faschistischen Deutschland, wo sich auch der Führerbunker Hitlers befand, eingeweiht. Der Redaktion war bekannt, dass Sserow 1963 im Zusammenhang mit dem Fall des bedeutenden Mitarbeiters der Hauptverwaltung Aufklärung, Oberst Penkowskij*, der vom amerikanischen Geheimdienst gekauft worden war und den nationalen Interessen der Sowjetunion schweren Schaden zugefügt hatte, aus dem Amt des Chefs der GRU entfernt worden war. Penkowskij war ein Günstling Sserows und ging sogar bei dessen Familie ein und aus. Als Folge dieses Spionagefalls wurde Sserow nicht nur als Chef der GRU des Amtes enthoben, sondern auch auf den Rang eines Generalmajors zurückgestuft und zum Stellvertreter des Kommandeurs der Truppen des Militärbezirks Wolga, zuständig für die Militärschulungseinrichtungen, bestellt. Der Redaktion der Militärhistorischen Zeitschrift war es jedoch daran gelegen, von ihm ein authentisches Bild über die Vorgänge beim Fall Berlins und bei der Einnahme von Hitlers Hauptquartier zu erhalten. Sserow konnte wie kein anderer vieles bisher Unbekannte mitteilen. Das Interview mit ihm durchzuführen, wurde mir aufgetragen. Sserow erklärte sich einverstanden, ein Interview zu geben und ich fuhr – soweit ich mich erinnere – Anfang des Jahres 1965 zu ihm nach Kujbyschew16. In dem Interview erzählte er mir Folgendes:
Am Ende des Krieges gab Stalin ihm persönlich den Befehl, die faschistischen Führer in Berlin lebendig oder tot zu ergreifen. Für die Durchführung dieser Operation wurde eigens ein Spezialtrupp von 200 Mann gebildet. Am 31. April 1945 marschierten sie geschlossen auf die Reichskanzlei zu, wo sich Hitlers Hauptquartier befand, und in der Nacht zum 2. Mai, als die Berliner Garnison kapitulierte, drangen sie als Erste in die Reichskanzlei ein. Im Hof des Hauptquartiers entdeckten sie im Krater einer explodierten Bombe oder Granate zwei verkohlte Leichen, die eines Mannes und die einer Frau. Das waren Hitler und Eva Braun. Dass sie es wirklich waren, bestätigten unter den Gefangengenommenen der persönliche Adjutant Hitlers, SS-Sturmbannführer Otto Günsche*, wie auch der persönliche Kammerdiener des „Führers“, Heinz Linge*. Günsche verbrannte zusammen mit dem persönlichen Chauffeur Adolf Hitlers, Erich Kempka*, die beiden Leichname durch Übergießen mit Benzin aus Benzinkanistern von Fahrzeugen. Unweit von dieser Stelle wurden auch die verbrannten Leichen von Goebbels und seiner Frau entdeckt. Die Leichen ihrer sechs Kinder, die mit unglaublicher Grausamkeit durch Zyankali getötet worden waren, lagen im Bunker. Im Hof der Reichskanzlei fand man auch den toten Doppelgänger Hitlers, der durch einen Kopfschuss gestorben war. Das Foto seines Leichnams fand später weite Verbreitung in der Presse. Die Identifizierung des Leichnams Hitlers wurde auch aufgrund seines Medizinbüchleins bestätigt, welches im Bunker sichergestellt worden war. Darin fand sich ein Eintrag des persönlichen Zahnprothesisten Hitlers mit einer Zeichnung von Hitlers Gebiss. Sie stimmte vollkommen mit dem Kiefer des Leichnams überein, der im Garten der Reichskanzlei vorgefunden worden war. Nun stand zweifelsfrei fest, dass dies der Leichnam des „Führers“ des Dritten Reiches war.
Nach Aussage Sserows wurden die sterblichen Überreste Hitlers auf Anweisung aus Moskau bald heimlich im Hof des Stabes der sowjetischen Armeeeinheit verscharrt, die in Frankfurt an der Oder stationiert war. Auf seinem Grab war ein Tisch verankert, auf dem die sowjetischen Soldaten Schach oder Domino spielten, nicht ahnend, dass unter ihren Füßen der tote Führer des Dritten Reiches lag. Während der Potsdamer Konferenz fragte Sserow bei Stalin und Molotow nach, ob sie nicht einen Blick auf den Leichnam Hitlers werfen wollten. Doch Stalin lehnte dies nach Sserows Worten ab. Dies sind also in Kürze die Angaben über das jämmerliche Ende Hitlers, die ich aus dem Gespräch mit General Sserow schöpfen konnte. Es gibt keinerlei Veranlassung, ihnen keinen Glauben zu schenken. Für ihre Wahrhaftigkeit bürgte Sserow bei Stalin mit seinem Kopf.
Dem gefangen genommenen Günsche wurde befohlen, eine Art Rechenschaftsbericht oder Erinnerungen über das Leben in Hitlers Hauptquartier zu verfassen. Er schrieb an diesen Erinnerungen viele Monate, während er in der Lubjanka, der Residenz des KGB, einsaß – und schließlich brachte er ein Werk von etwa tausend Seiten zustande. In ihm wurde auch das Bild von Hitlers Tod rekonstruiert. Sserow erzählte, dass es nur den Mitgliedern des Politbüros erlaubt war, diese „geheimen“ Aufzeichnungen einzusehen, und die Sowjetführer lasen sie äußerst gern. Für sie wurde eigens eine verkürzte Version der Übersetzung angefertigt. Später, schon in unserer Zeit, gelangte diese auf unbekannten Wegen in die BRD und wurde dort 2004 veröffentlicht. Günsche selbst wurde nach Hause entlassen und lebte bis zu seinem Tod – soweit mir bekannt ist – in der Nähe von Bonn. Im Übrigen veröffentlichte auch der persönliche Chauffeur Hitlers, Kempka, sein Buch Ich habe Adolf Hitler verbrannt17 in der Bundesrepublik.
Die Zeugenaussagen Sserows wurden schließlich auch von Gertraud Junge*, die von 1942 bis April 1945 die persönliche Sekretärin Hitlers gewesen war, in ihren Erinnerungen bestätigt. Wie Günsche geriet auch Gertraud Junge in sowjetische Gefangenschaft, wurde aber bald in die BRD entlassen. 1947 verfasste sie ihre Memoiren Bis zur letzten Stunde − Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben, konnte sich jedoch lange Zeit nicht dazu entschließen, sie zu veröffentlichen. So erblickten sie erst 2003 das Licht der Öffentlichkeit. Sie beschrieb darin das Ende im Führerhauptquartier mit den Worten von Günsche folgendermaßen:
„Wir haben den Führer noch einmal gegrüßt, dann ist er mit Eva in sein Zimmer gegangen und hat die Tür geschlossen. Goebbels, Bormann, Axmann, Hewel, Kempka und ich standen draußen im Korridor und warteten. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, aber es erschien uns eine Ewigkeit, bis der Schuss die Stille zerriss. Nach ein paar Sekunden öffnete Goebbels die Tür, und wir traten ein. Der Führer hatte sich in den Mund geschossen und außerdem noch eine Ampulle zerbissen. Der Schädel war zersprungen und sah furchtbar aus. Eva Braun hat ihre Pistole nicht benutzt, sondern nur das Gift genommen. Wir hüllten des Führers Kopf in eine Decke und Goebbels, Axmann und Kempka trugen den Leichnam die vielen Treppen hinauf in den Park. Ich nahm Eva Brauns Körper. Sie war so schwer, wie ich es dieser zierlichen Gestalt nie zugetraut hätte. Oben im Park, ein paar Schritte vor dem Bunkereingang, legten wir beide Leichen nebeneinander. Weit konnten wir nicht gehen, so stark war der Beschuss, so wählten wir einen Bombenkrater ganz in der Nähe. Dann gossen Kempka und ich Benzin über die Körper und ich warf vom Eingang aus einen brennenden Lappen darauf. Sofort standen beide Leichen in Flammen …“.18
Diese Schilderung über das Ende Hitlers stimmt mit dem überein, was mir auch Sserow mitgeteilt hatte. Leider gelang es am Ende doch nicht, das Interview mit ihm abzudrucken. Seine Veröffentlichung wurde von der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Armee (GPU SA) im Zusammenhang damit, dass er schwer in Ungnade gefallen und 1965 sogar aus der Partei ausgeschlossen worden war, mit einem Verbot belegt.
Das Verbot der Veröffentlichung des Interviews mit Sserow war nur eine kleine Episode im Vergleich zu dem, was der Redaktion bei der Darlegung von grundsätzlich wichtigen Fragen der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges noch durchzustehen bevorstand. Ich erinnere mich, wie viel Unannehmlichkeiten die Veröffentlichung eines Artikels über die Teilnahme von sowjetischen Bürgern an den Widerstandsbewegungen in Frankreich und Italien der Redaktion eingebracht hatte. Wir erhielten ein Papier aus dem ZK der KPdSU, in dem die Redaktion der „Verherrlichung von Vaterlandsverrätern“ beschuldigt wurde, d. h. von sowjetischen Kriegsgefangenen, die aus deutschen Lagern geflohen waren und mit der Waffe in der Hand gegen die nationalsozialistischen Besatzer in Frankreich und Italien kämpften. Viele von ihnen wurden mit den höchsten Orden dieser Länder ausgezeichnet, mitunter von Charles de Gaulle persönlich. Nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion wurden sie hingegen für lange Jahre in die Lager des Gulag* gesteckt. Da ich den Artikel redigiert hatte, musste ich die Verantwortung für seine Veröffentlichung übernehmen und die Redaktion von diesen absurden Anschuldigungen entlasten. Ich wurde „auf den Teppich“ in der Abteilung der Parteikontrolle des ZK gerufen; dort forderte man mich auf, eine Erklärung abzufassen. Im Namen der Redaktion wandte ich mich daraufhin an die Zentralkomitees der französischen und der italienischen Kommunistischen Partei mit der Bitte, uns die bei ihnen vorhandenen Informationen über die in dem Artikel erwähnten Personen zuzusenden. Wir erhielten hervorragende Charakterisierungen. Von den Regierungsbehörden Frankreichs und Italiens kamen ebenfalls brillante Beurteilungen. Ebensolche Rückmeldungen erhielt die Redaktion auch von den Arbeitsplätzen, an denen sich diese Helden als ungelernte Arbeiter nach Abbüßung ihrer „Strafe“ in der Heimat abmühten. Doch auch dies stellte die Mitarbeiter des Zentralkomitees nicht zufrieden. Sie beriefen sich stur auf die Anordnung Stalins, alle sowjetischen Armeeangehörigen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, als Vaterlandsverräter zu betrachten. Diese mich und die Redaktion aufreibende Geschichte zog sich ungefähr vier Monate hin; ich glaubte schon, mich nicht „reinwaschen“ zu können, und rechnete mit dem Schlimmsten. Wie groß war daher unsere Freude, als wir eines schönen Tages die aktuelle Ausgabe der Prawda aufschlugen und darin einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 18. November 1965 erblickten, und zwar über die Verleihung des Ordens des „Vaterländischen Krieges“ und der Medaille für „Verdienste im Kampf“ an Georgij W. Schibanow, Wjera A. Oboljenskaja*, I. I. Trojan, K. A. Radionow und andere sowjetische Helden der französischen und italienischen Widerstandsbewegung. Die Wahrheit hatte triumphiert! In der Redaktion jubelten wir vor Freude. Wem hatten wir das zu verdanken? Allem Anschein nach ging die Initiative hierzu eindeutig vom Sekretariat Chruschtschows aus.
Den Führungsstil Breschnews indes bekam ich bei einer anderen Angelegenheit in seiner ganzen Härte zu spüren. Die Sache trug sich folgendermaßen zu: In meinem Buch „Geheime Kommandosache!“ – Fall „Barbarossa“19. Die Strategie des faschistischen Deutschland im Krieg gegen die UdSSR, 1967 in Moskau im Verlag Naúka [„Wissenschaft“] erschienen, erwähnte ich die Tatsache, dass im Zeitraum von Juni 1941 bis Februar 1942 dreieinhalb Millionen sowjetischer Soldaten und Offiziere in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Bald darauf flatterte der Redaktion aus dem Zentralkomitee ein Brief mit herausgeschnittener Unterschrift ins Haus, in dem es hieß, dass diese Zahl eine himmelschreiende Verdrehung der Tatsachen darstelle, dass ich das sowjetische Kommando und das Heldentum unserer Truppen verunglimpfe usw. Erneut wurde ich in die Abteilung der Parteikontrolle beim ZK der KPdSU zitiert und wiederum aufgefordert, eine Erklärung abzufassen. Meine Verweise auf deutsche Dokumente, die diese Zahl bestätigten, wurden nicht zur Kenntnis genommen. Ich befand mich in einer dummen Lage. Und wiederum rettete mich die Zeitung Prawda! In ihr wurde ein Artikel des Hauptanklägers der UdSSR im Nürnberger Prozess, Roman A. Rudjenko*, veröffentlicht, in dem diese Zahl an Kriegsgefangenen ebenfalls bestätigt wurde. Es erwies sich, dass diese Zahl auch im Nürnberger Prozess gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher genannt wurde. Später stellte sich heraus, dass der Brief aus dem ZK der KPdSU von Pawel I. Batow* unterzeichnet worden war.
Ähnliche Tiefschläge mussten die Mitarbeiter der Redaktion mehrmals hinnehmen, besonders Wassilij M. Kulisch und Wassilij D. Polikarpow*, die jeweils für die Rubriken „Kritik“ und „Geschichte des Bürgerkriegs“ verantwortlich zeichneten. Dem Druck „von oben“ mussten auch der verantwortliche Sekretär der Redaktion, Ja. D. Simin, und der Redakteur der Rubrik „Großer Vaterländischer Krieg“, W. M. Krawzow, häufig standhalten. Doch Chefredakteur Nikolaj G. Pawlenko* steuerte sein Schiff felsenfest. Die Lage der Militärhistorischen Zeitschrift – wie auch die aller anderen Presseorgane – wurde nach dem Sturz Chruschtschows durch den Parteiklan Breschnew-Ssuslow noch erschwert. Die Reinigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihrer Geschichte von den Stalin’schen Verbrechen und Entstellungen wurde mit einem Veto belegt. Die neue Führung betrat – ohne sich dessen bewusst zu werden – einen Irrweg. Sie untergrub noch mehr das Vertrauen in die Partei und ihre Propaganda, verlor den Rückhalt in den Volksmassen, besonders aber in den wissenschaftlichen Kreisen. Entgegen dem gesunden Menschenverstand wurde wieder nur auf Zwang und wie in der Vergangenheit auf Einschüchterung gesetzt. „Nur ja keine Veränderungen im System, in der Ideologie, der Propaganda und in der Interpretation der Geschichte!“ – Das war die Forderung, die von oben kam.
Man verstieg sich ins Absurde. Beispielsweise plante die Redaktion im Jahre 1965, Auszüge aus den Erinnerungen der Kriegsjahre des im Volk populären sowjetischen Schriftstellers und Dichters Konstantin Michailowitsch Ssimonow* zu veröffentlichen. Diese Aufgabe wurde mir übertragen. Konstantin Michailowitsch reagierte mit Begeisterung auf diesen Vorschlag und stellte mir seine Tagebücher zur Verfügung, damit ich aus ihnen das Benötigte herausziehen könne. Einige Tage lang las ich bei ihm zu Hause seine Kriegschronik und wählte daraus einige Ausschnitte für die Zeitschrift aus. Aber wie groß waren unsere Enttäuschung und Empörung, als der Chef der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Armee (GPU SA), Armeegeneral Aleksej A. Jepischew*, berüchtigt als leidenschaftlicher Anhänger und Bewahrer der stalinistischen Vergangenheit, ihre Veröffentlichung verbot. Und für den Verstand völlig unbegreiflich: Auf seine Anweisung hin mussten aus den Militärbibliotheken sogar alle Werke Konstantin Ssimonows entfernt werden, worin er wagte, die Wahrheit über die Fehler Stalins im Krieg auszusprechen, die im Jahr 1941 für Volk und Armee eine katastrophale Wendung nahmen. Als dann schließlich das aberwitzige „Veto“ von ihm als Schriftsteller genommen wurde und sein Buch Verschiedene Tage des Krieges – Tagebuch eines Schriftstellers 1977 im Verlag Molodája Gwárdija [„Junge Garde“] erscheinen durfte, schenkte er mir ein Exemplar mit der Widmung: „Für Wjatscheslaw Iwanowitsch Daschitschew in Dankbarkeit für die kameradschaftliche Hilfe“.
Ungeachtet des Veröffentlichungsverbots von Auszügen aus den Kriegstagebüchern Konstantin Ssimonows fuhr die Zeitschrift damit fort, die historische Wahrheit weiter hartnäckig zu verteidigen. Nikolaj Pawlenko spielte die entscheidende Rolle in dem Unterfangen, den herausragenden Heerführer und vierfachen „Helden der Sowjetunion“, Marschall Georgij K. Schukow*, aus der Vergessenheit und aus der politischen Ächtung zu befreien20