Von Zeit und Fluss - Thomas Wolfe - E-Book

Von Zeit und Fluss E-Book

Thomas Wolfe

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Beschreibung

Neuübersetzung

Ein amerikanisches Epos, das seinesgleichen sucht – eine hymnische Daseinsfeier und das faszinierende Bekenntnis einer überschwänglichen, allumspannenden Künstlerseele. Thomas Wolfes «Von Zeit und Fluss» ist ein Herzensbuch für alle Suchenden und Sehnenden, ob jung oder alt, eine Meditation über die Geschicke des Menschenlebens – über Bestand und Unbestand, Endlichkeit und Dauer.

Eugene, lebenshungrig und unerfahren, ist auf der Suche nach sich selbst, nach seinem Bestimmungsort in der Welt. In Harvard und im New York der Zwanzigerjahre sammelt er erste Erfahrungen, lernt zu lieben, zu erkennen, zu denken, sich von falschen Vorbildern loszusagen und sich dabei selbst treu zu bleiben. Bloß keine Erstarrung in Routinen – alles in seiner reifenden Seele ist noch im Werden, in permanenter Umgestaltung. Der Held macht sich auf nach Paris, doch auch an diesem Sehnsuchtsort lässt ihn sein abenteuerliches Herz keine Ruhe finden. Was Eugene antreibt und was er sich über alle Wechselfälle des Lebens hinweg erhält, ist der Hunger nach Erkenntnis und sinnlichem Genuss. So folgen aus seiner Selbstsuche philosophisch und spirituell höchst anregende Refl exionen über das menschliche Dasein – über Sein und Werden, Zeit und Fluss.

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Seitenzahl: 2007

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THOMAS WOLFE

Von Zeit und Fluss

Legende vom Hunger des Menschenin seiner Jugend

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt

und umfassend kommentiert

von Irma Wehrli

Nachwort von Michael Köhlmeier

MANESSE VERLAG

ZÜRICH

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der amerikanischen Ausgabe:«Of Time and the River.A Legend of Man’s Hunger in His Youth» (1935)
Für die großzügige Förderung ihrer Übersetzung dieses Romansdankt die Übersetzerin sehr herzlich der Jurysowie den öffentlichen und privaten Trägerndes Vereins Dialog-Werkstatt Zug.
Copyright © 2014 by Manesse Verlag, Zürichin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln,ISBN 978-3-641-14335-0V003
www.manesse.ch

Für Maxwell Evarts Perkins

Einem großen Verleger und tapferen und ehrlichen Mann, der in Zeiten bitterer Hoffnungslosigkeit und Bedenken zum Verfasser dieses Buches hielt und ihn nicht seiner Verzweiflung überantwortete, ist dieses unter dem Titel «Von Zeit und Fluss» erscheinende Werk in der Hoffnung gewidmet, dass es sich als Ganzes, wenn auch unzulänglich, der unverbrüchlichen Treue und geduldigen Aufmerksamkeit würdig erweisen möge, die ein unerschrockener und unerschütterlicher Freund ihm in allen Teilen entgegengebracht hat und ohne die nichts davon hätte entstehen können.

«Kriton, mein lieber Freund Kriton, dies ist es, glaube mir, was ich zu hören meine, wie die Korybanten Flötenspiel hören im Wind, und der Klang dieser Worte dröhnt und hallt mir in den Ohren nach, und ich kann nichts anderem lauschen.»1

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht’ ich mit dir, O mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, getan?

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht’ ich mit dir, O mein Beschützer, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:

Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin

Geht unser Weg; O Vater, lass uns ziehn!2

… vom Wandern auf ewig und von der Erde wieder … von Aussaat, Blüte und der fallreifen Frucht. Und von den großen Blumen, den herrlichen Blumen, den seltsam unbekannten Blumen.

Wo werden die Müden ruhen? Wann werden die Einsamen heimkehren? Welche Türen stehen dem Wanderer offen? Und wer von uns wird seinen Vater finden, sein Antlitz erkennen und an welchem Ort und zu welcher Zeit und in welchem Land? Wo? Dort, wo die Herzensmüden für immer bleiben können, wo die Wandermüden Frieden finden, wo der Aufruhr, das Fieber und der Tumult sich für immer legen.

Wer besitzt die Erde? Wollten wir denn die Erde und irrten doch auf ihr herum? Brauchten wir denn die Erde, wenn wir nie still sein konnten auf ihr? Wer die Erde braucht, soll die Erde haben: Er wird still sein darauf, er wird in einem kleinen Gelass ruhen, er wird für immer in einer einzigen Kammer wohnen.

Hatte er denn tausend Zungen nötig, dass er im Durcheinander und Grauen tausend tobender Straßen nach ihnen suchte? Er wird keine Zunge mehr brauchen, er wird keine Zunge brauchen für das Schweigen und die Erde: Er wird kein Wort sagen können mit den durchwurzelten Lippen, ein kaltes Schlangenauge wird an seiner Statt durch die Stirnhöhlen spähen, es wird kein Schrei aus dem Herzen fahren dort, wo die Rebe schwillt.

Die Tarantel kriecht durch die morsche Eiche, die Viper lispelt wider die Brust, Kelche stürzen: Aber die Erde wird ewig währen. Die Blume der Liebe lebt in der Wildnis, und Ulmenwurzeln fädeln die Knochen begrabener Liebender auf.

Die tote Zunge verdorrt und das tote Herz modert, blinde Mäuler bohren Gänge durch das begrabene Fleisch, aber die Erde wird ewig währen; Haar sprießt aprilgleich auf der begrabenen Brust, und aus den Stirnhöhlen sprießen die Totenblumen und werden nicht vergehen.

O Blume der Liebe, deren kräftige Lippen uns in den Tod hinabsaugen, in alles Ferne und Flüchtige, Fee unserer zwanzigtausend Tage, der Verstand wird rasen und das Herz aussetzen, gebrochen von ihrem Kuss, aber Gloria, Gloria, Gloria, sie bleibt: Unsterbliche Liebe, allein und sehnsüchtig riefen wir in der Wildnis zu dir: Du warst nicht fern von unserer Einsamkeit.

ERSTES BUCH

OREST:FLUCHTVORDER FURIE

1

Vor etwa fünfzehn Jahren, gegen Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, standen vier Leute auf dem Bahnsteig des Bahnhofs einer Stadt in den Hügeln des westlichen Catawba beisammen.3 Diese kleine Station, im Grunde nur ein vorstädtischer Fortsatz der größeren Siedlung, die sich hinter dem abschirmenden Wall einer Anhöhe eine Meile oder zwei nach Westen und Norden erstreckte, war in den Jahren zuvor zum beliebten Ankunfts- und Ausgangsort für Reisende nach und aus den Städten des Ostens geworden und nahm eigentlich viel mehr Verkehr auf als der Hauptbahnhof der Stadt, der zwei Meilen weiter westlich an der mächtigen Biegung der Geleise lag. Aus diesem Grund war eine beträchtliche Anzahl Menschen nun hier versammelt, und an ihren Worten und Gesten, einer sanft unterdrückten Aufregung, die irgendwie dem schläfrigen Mittoktobernachmittag eine elektrisierende Lebendigkeit einzuflößen schien, ließen sich die Erregung und Bedrohung durch den herannahenden Zug erspüren.

Ein Beobachter hätte den Charakter dieser Versammlung gleichsam als gemischt empfunden – als absonderlich und vertraut in einem, als fremd und einheimisch, weltmännisch und provinziell zugleich. Es war nicht das übliche, durchwegs von Einheimischen geprägte Bild der Menge, die man auf den Bahnsteigen einer typischen Stadt in Catawba sah, wenn die Züge vorbeifuhren. Diese Menge war durchmischter und bunter, und sie hatte einen starken Anstrich weltläufiger Gewandtheit, jene Spur modischer Pfiffigkeit, die man gelegentlich an Orten antrifft, wo einheimisches und fremdes Volk zusammengefunden hat. Und dies traf hier zu: Die Stadt Altamont,4 rund eine Meile entfernt, war ein bekannter Kurort, und die durchmischte Gesellschaft auf dem Bahnsteig war für ihre Einwohnerschaft ziemlich repräsentativ. Doch all diese Leute, ob Auswärtige oder Einheimische, waren von einem gemeinsamen Erlebnis angezogen worden, einem Ereignis, das seit je im Leben aller Amerikaner von herausragender Bedeutung ist. Dieses Ereignis ist die Einfahrt des Zugs.

Es wäre für einen Beobachter offensichtlich gewesen, dass von den vier Personen, die am einen Ende des Bahnsteigs 3 beisammenstanden, drei – die beiden Frauen und der Junge – von einem Fleisch und Blut waren. Ein Fremder hätte gleich gewusst, dass der Junge und die jüngere Frau Geschwister waren und dass die ältere Frau ihre Mutter war. Die Verwandtschaft zeigte sich quasi in Ton, Textur, Taktmaß und Entschlossenheit und im Wesen und Temperament. Die Mutter war eine Frau von kleinem, aber starkem und kräftigem Wuchs. Obwohl sie bald sechzig war, glänzte ihr Haar pechschwarz, und ihr Gesicht, voller Entschlossenheit und Kraft, war fast so glatt und faltenlos wie das eines Mädchens. Ihr Haar war über einer hohen, weißen, breiten, entblößt wirkenden Stirn nach hinten gebürstet, einer Stirn, die ihrem Gesicht zusammen mit dem Ausdruck ihrer braunen und ziemlich verbrauchten, sehschwachen, aber stets aufmerksamen, stets sinnenden Augen jenen Anschein argloser, würdevoller Unschuld gab, die Kindern eigen ist, und auch von scharfem angeborenem Verstand und Rechtschaffenheit. Ihre Haut war milchweiß, von weicher Beschaffenheit, vollkommen farblos bis auf die Nase, die rötlich, breit, an der Wurzel fleischig und seltsam männlich war.

Ein Fremder, der sie zum ersten Mal sah, hätte gleichsam gewusst, dass die Frau aus einer großen Familie stammte und dass ihr Gesicht das ihrer Sippe war. Er hätte sich gleichsam sicher sein können, dass die Frau Brüder hatte und dass diese, sähe er sie, ihr stark ähneln würden. Doch war dieser maskuline Zug nichts Geschlechtsspezifisches, war diese Frau doch, abgesehen von der breiten, männlichen Nase so ausgesprochen weiblich, wie eine Frau es nur sein kann. Es war vielmehr ein Zug von Sippe und Wesen – von Sippe und Wesen, die entschieden maskulin waren.

Der abschließende Befund der Frau hätte so ausfallen können: Dass ihr Leben gleichsam über und jenseits von Gut und Böse stand; einerlei wie Hergang und Verlauf ihres Lebens gewesen sein mochten, einerlei welche Untaten, begangen aus Versehen, aus Geiz, aus Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit, man ihr anlasten, einerlei, welches Leid oder böse Folgen ihr Handeln anderen Menschen beschert haben mochte, ihr Leben war diesen Wechselfällen der Zeit, der Sitten und Umstände gleichsam enthoben und die Frau selbst so unschuldig wie ein Kind, ein Fluss, eine Lawine oder sonst eine Naturgewalt.

Die jüngere der beiden Frauen war ungefähr dreißig Jahre alt. Sie war groß, fast sechs Fuß, stattlich und doch fast hager, mit schlaksigen Gebeinen und Gliedern. Beide Frauen waren offensichtlich Geschöpfe von ungeheurer Entschlossenheit, aber wo die Mutter eine gleichbleibende, ruhige und fast unermüdliche Kraft ausstrahlte, war die Tochter unverkennbar eines jener großen, impulsiven irdischen Wesen, die über eine gewaltige und dabei ungezügelte Lebenskraft verfügen, die sie mit seelenvoller und fast besinnungsloser Freigiebigkeit an jeden Menschen, jedes Vorhaben, jeden Gegenstand verschwenden, der ihre großherzige Zuneigung anspricht.

Dieser Unterschied zwischen den beiden Frauen spiegelte sich auch in ihren Gesichtern wider. Das Gesicht der Mutter war bei all seiner verblüffenden Regsamkeit, der aufgeschreckten animalischen Aufmerksamkeit, mit der ihr Blick von einem Gegenstand zum anderen flog, und der Beweglichkeit ihres energischen und sensiblen Munds, den sie mit frappierender Geschmeidigkeit spitzte und verzog und dadurch ihre beständigen Geistesanstrengungen verriet, das Gesicht einer Frau, deren Gemüt eine Geduld, Standhaftigkeit und Ruhe von beinahe elementarer Natur besaß.

Das Gesicht der jüngeren Frau war groß, breitknochig und gütig und schon gezeichnet von der Hektik und Rastlosigkeit ihres Lebens. Zuweilen war darauf deutlich und schauerlich die gepeinigte Anspannung der Hysterie zu lesen, von bis zum Zerreißen gespannten Nerven, von wütender Ungeduld, Rastlosigkeit und Unausgeglichenheit ihres geplagten Gemüts, von der drohenden Entkräftung und vom Kollaps ihrer überreizten Lebensenergie. Doch im Nu konnte sich dieses hagere, angespannte, gepeinigte und fast hysterische Gesicht in einen Ausdruck der Heiterkeit, Weisheit und Gelassenheit verwandeln, der in unfassbarer Weise stille und strahlende Schönheit auf die nervösen, hageren und gepeinigten Züge zauberte.

Im Moment musterten die beiden Frauen, jede auf ihre Weise, die übrigen Leute auf dem Bahnsteig sowie die Neuankömmlinge mit begieriger und verschlingender Aufmerksamkeit und bedachten sie samt und sonders mit einer Flut von Feststellungen, Bemerkungen und Mutmaßungen, die auf ein umfassendes Wissen über die Lebensgeschichte jedes einzelnen Einheimischen schließen ließen.

«… aber ja, Kind», sagte die Mutter ungeduldig, als sie ihren flüchtigen Blick von einem Grüppchen abwandte, über das sie gerade diskutierten, «genau das sag ich doch! – Weiß ich das etwa nicht? … Bin ich nicht mit all den Leuten da aufgewachsen? … War Emma Smathers etwa nicht eine Jugendfreundin von mir? … Der Junge da ist überhaupt nicht von dieser Frau. Er stammt aus Emma Smathers erster Ehe.»

«Na, das ist mir neu», antwortete die Jüngere. «Das ist mir aber wirklich neu. Ich wusste gar nicht, dass Steve Randolph mehr als einmal verheiratet war. Ich hab immer geglaubt, die Kinder seien alle von Mrs. Randolph.»

«Aber mit Sicherheit nicht!», rief die Mutter ungehalten aus. «Die sind alle nicht von ihr, außer Lucille. Alle anderen waren von Emma. Steve Randolph war schon fünfundvierzig, als er sie heiratete. Er war jahrelang Witwer gewesen – die arme Emma starb im Kindbett, als Bernice geboren wurde –, keiner hat je gedacht, dass er noch mal heiraten würde, und keiner dachte, diese Frau würde je eigene Kinder kriegen, denn sie war fast so alt wie er – aber ja! –, schließlich war sie schon mal verheiratet gewesen und verwitwet, weißt du, als sie ihn kennenlernte, ist nach dem Tod ihres Mannes hierhergekommen, irgendwo aus dem Westen draußen – na, Wyoming oder Nevada oder Idaho, aus einem der Staaten da draußen – und hat weder Kind noch Kegel gehabt, wie man so sagt – bis sie Steve heiratete. Und ganze vierundvierzig Jahre alt war sie, als Lucille zur Welt kam.»

«Ach nein! … Ach ja!», murmelte die jüngere der beiden Frauen geistesabwesend im Ton gespannter und gebannter Aufmerksamkeit, während sie zerstreut auf die Leute in der Schar neben ihnen blickte und mit ihrer großen, knochigen Hand nachdenklich an ihrem breiten Kinn zupfte. «Dann ist Lucille in Wahrheit nur die Halbschwester von John?»

«Aber natürlich!», rief die Mutter. «Ich dachte, das wüsste jeder. Lucille ist die Einzige, von der diese Frau sagen kann, sie sei ihres. Alle Übrigen sind von Emma.»

«Na, das ist mir wahrhaftig neu», sagte die Jüngere so bedächtig wie zuvor. «Das hör ich zum ersten Mal … Und sie war vierundvierzig, sagst du, als Lucille zur Welt kam?»

«Das war sie ganz sicher», sagte die Mutter. «Das weiß ich. Und womöglich war sie sogar noch älter.»

«Na», sagte die Jüngere und wandte sich mit einem heiseren Kichern an ihren schweigsamen Ehemann Barton: «Daran sieht man nur, wo Leben ist, da ist auch noch Hoffnung, was? Also Kopf hoch, Schatz», sagte sie zu ihm, «wir haben vielleicht noch ’ne Chance.» Aber trotz ihrer Miene derber Anzüglichkeit lag in ihren klaren Augen für einen Augenblick ein Ausdruck von Trauer und von tiefem Schmerz.

«Chance!», rief die Mutter laut und mit einem verächtlichen kleinen Schürzen der Lippen, «aber klar gibt es die! Wenn ich noch mal so alt wäre wie du, würd ich noch ein Dutzend kriegen – und würd gar nichts finden dabei.» Einen Moment lang verstummte sie und schürzte ihre sinnenden Lippen. Plötzlich begann ein schwaches, verschmitztes Lächeln um ihre Mundwinkel zu zucken, und sie drehte sich nach dem Jungen um und raunte ihm mit verschwörerischer Miene neckisch zu: «Na, Junge», sagte sie, «da gibt es manches, was du nicht weißt – du hast immer geglaubt, du seist der Letzte – der Jüngste –, nicht wahr?»

«Stimmt das denn nicht?», fragte er.

«Hm!», sagte sie mit einem schmallippigen, verächtlichen Lächeln und vielsagend verschwörerischer Miene – «Da gibt es so manches, was ich dir erzählen könnte …»

«O mein Gott!», stöhnte er und wandte sich mit flehendem Gesichtsausdruck an seine Schwester. «Noch mehr Geheimnisse! … Nächstens werd ich erfahren, dass es noch fünfmal Drillinge gab, nachdem ich auf die Welt gekommen bin – Na komm schon, Mama», rief er ungeduldig. «Drucks nicht den ganzen Tag drum herum … raus mit der Sprache – wie viele waren’s?»

«Hm!», sagte sie mit einem schmallippigen, neckisch verächtlichen und vielsagenden Lächeln.

«O mein Gott!», stöhnte er wieder. «Hat sie dir je was davon gesagt?» Wieder wandte er sich flehentlich an seine Schwester.

Sie kicherte mit belegter Stimme, ein seltsam hoch-heiseres und feixendes Falsettlachen, und stupste ihn dabei mit ihren großen Fingern derb in die Rippen: «Hi-hi-hi-hi-hi», lachte sie. «Mehr Schauergeschichten, was? Du kennst ja nicht mal die Hälfte davon. Als Nächstes wird sie dir sagen, du warst erst Nummer vierzehn.»

«Hm!», sagte die ältere der beiden Frauen mit einem verächtlich dünnen Lächeln ihrer geschürzten Lippen. «Na, ich könnt ihm noch viel mehr erzählen! Nummer vierzehn! Pah!», sagte sie wegwerfend – «ich könnt ihm erzählen …»

«O Gott!», stöhnte er kläglich. «Ich hab’s ja gewusst! … Ich will es gar nicht hören.»

«K-k-k-k-k», kicherte die jüngere Frau feixend und stupste ihn wieder in die Rippen.

«Nein, Sir», fuhr die Ältere resolut fort, «und das ist noch nicht einmal alles! – Also, Junge, ich will dir was sagen, was du noch nicht gewusst hast», und während sie sprach, richtete sie den seltsamen und verwaschenen Starrblick ihrer ernsten braunen Augen auf ihn und erhob eine halb zur Faust geballte Hand mit gestrecktem Zeigefinger zu einer locker beiläufigen, unwillkürlichen und machtvollen Männergeste. – «Es gibt vieles, was ich dir sagen könnte und was du noch nie gehört hast. Lange Jahre nachdem du zur Welt kamst, Kind – na, damals als ich euch Kinder zur Weltausstellung in St. Louis5 mitnahm» – hier bekam ihr Gesicht etwas Strenges und Trauriges, sie schürzte ihre Lippen resolut und schüttelte mit einem kurzen krampfhaften Rucken den Kopf –, «ach, wenn ich daran denke … zu denken, was ich da durchmachen musste … ach schrecklich, schrecklich, weißt du», flüsterte sie ominös.

«Ach Mama, um Gottes willen, ich will es nicht hören!», brüllte er nachgerade, außer sich vor Empörung und dunklen Ahnungen. «Verdammt, können wir denn keinen Frieden haben … nicht einmal, wenn ich weggehe!», schrie er erbittert und wider alle Vernunft. «Immer diese verdammten düsteren Anspielungen und Offenbarungen – dieses schauerliche Pentland-Zeug», brüllte er, «diese verdammte Ich-könnte-wenn-ich-nur-wollte-Miene der Geheimniskrämerei, des Grauens und der Verdammnis!», rief er wie von Sinnen. «Wen kümmert’s? Was soll das?», schrie er und fügte verzweifelt hinzu: «Ich mag nichts davon hören – es kümmert keinen.»

«Aber, Kind, ich sagte doch bloß …», hob sie hastig und diplomatisch an.

«Schon gut, schon gut, schon gut», murmelte er. «Ist mir egal …»

«Aber wie ich schon sagte», begann sie wieder.

«Ist mir egal!», schrie er. «Friede, Friede, Friede, Friede, Friede», murmelte er wie von Sinnen und wandte sich seiner Schwester zu. «Einen Moment lang Frieden für uns alle, bevor wir sterben. Einen Moment lang Friede, Friede, Friede.»

«Also, Junge, wahrhaftig», sagte die Mutter beleidigt und heftete ihren vorwurfsvollen Blick auf ihn, «was in aller Welt ist in dich gefahren? Du führst dich ja auf wie ein Verrückter. Wahrhaftig, das tust du.»

«Nur einen Moment lang Frieden!», murmelte er wieder und fuhr sich mit einer Hand ungestüm durchs Haar. «Ich bitte dich und flehe dich nur um einen Moment Frieden an, bevor wir alle zugrunde gehen!»

«K-k-k-k-k», kicherte die jüngere Frau feixend, als sie ihn abermals derb in die Rippen stupste. «Es gibt keinen Frieden für die Erschöpften. Es ist wie ein Fluss, der endlos weiterzieht», sagte sie mit einem schwachen frivolen Zucken anzüglichen Humors in den Winkeln ihres gutmütigen breiten Munds – «Jetzt siehst du’s, was?», sagte sie und sah ihn mit diesem anzüglichen, herausfordernden Blick an. «Du siehst jetzt, wie’s ist, was? … Du bist der Glückspilz! Du bist dem entronnen! Du bist schlau genug, irgendwo weit weg ans College zu gehen – nach Boston – Harvard – irgendwohin – jedenfalls bist du fein raus. Du kriegst es mal kurz ab, wenn du nach Hause kommst. Was glaubst du, wie ich es aushalte?», sagte sie kämpferisch. «Ich muss es mir die ganze Zeit über anhören … Oh, immer und immer und immer wieder!», sagte sie entnervt vor Verzweiflung. «Wenn man mich bloß mal für fünf Minuten in Ruhe lassen würde, könnte ich es vielleicht schaffen, mich zusammenzureißen, aber es geht die ganze Zeit so und immer und immer wieder. Das entgeht dir nicht, was?»

Doch als sie nun im Tonfall heiserer und keuchender Empörung ihre leidenschaftliche Auflehnung beendet hatte, versank sie gleich wieder in einen Zustand tiefer, erschöpfter und mutloser Resignation. «Ja, ich weiß, ich weiß», sagte sie mit matter und gleichgültiger Stimme.» … Vergiss es … Reden hilft auch nichts … Einfach versuchen, das Beste draus zu machen, die kurze Zeit, wo man hier ist … Ich dachte mal, man könnt was ändern … aber jetzt weiß ich es besser», murmelte sie, obwohl sie den Sinn dieser wirren und unzusammenhängenden Sätze nicht hätte erklären können.

«Ha? … Was denn?», rief die Mutter nun spitz, und ihre Blicke schossen mit der raschen, aufgescheuchten, seltsam erschrockenen Wachsamkeit eines Wilds oder eines Vogels von einem zum anderen. «Was denn?», rief sie wieder spitz, als niemand antwortete. «Ich dachte …»

Aber glücklicherweise wich in diesem Augenblick das seltsam verstörende, grelle Licht, in dem die blinden und verworrenen Absichten aufgeschienen waren – die mächtigen und dunklen Antriebe, die gemarterten Nerven, die ganzen tragischen Wirrnisse der Seele, die die Textur ihres Lebens ausmachten –, der Aufregung in einer der Gruppen auf dem Bahnsteig und schallendem Gelächter, das die drei Personen sogleich dieser schmerzlichen und bestürzenden Szene entriss und ihre verblüffte Aufmerksamkeit auf den Ort lenkte, von dem das Gelächter ausging.

Und jetzt hörten sie das schallende Gelächter wieder – ein markiges «Ha-ha-ha!», das von solch ansteckendem Überschwang animalischer Gutmütigkeit war, dass andere Leute auf dem Bahnsteig instinktiv zu lächeln und dem Lachenden wohlwollende Blicke zuzuwerfen begannen.

Im Nu, kaum dass das Lachen ertönt war, hatte die junge Frau die erschöpfte und mutlose Resignation des Augenblicks von eben vergessen und starrte mit einem geistesabwesenden und doch beflissenen Blick der Neugier in den Augen zu der Gruppe hinüber, aus der das Gelächter gekommen war, und lachte nun geistesabwesend selbst, zupfte sich mit einer Geste nachdenklicher Neugier an ihrem ausladenden Kinn und sagte: «Ha-ha-ha! … Das ist George Pentland … Den erkennt man aber auch überall an seinem Lachen.»

«Aber ja», sagte die Mutter rasch und mit Genugtuung. «Das ist George, stimmt. Ich würd ihn im Dunkeln erkennen, sobald ich dieses Lachen hörte. – Und wisst ihr was? Das hat er immer gehabt – ja, schon als er noch klein war … und mit Steve rumzog … Oh, der platzte überall heraus damit, ja, in der Sonntagsschule, in der Kirche oder wenn der Pfarrer vor der Kollekte betete – dieses mächtige, laute Lachen, ja, das man landauf, landab hört, wie man so sagt … Na, ich weiß ja nicht, wo das herkommt – keiner sonst in unsrer Familie hat das je gehabt; wir haben zwar alle ganz gern gelacht, aber ein solches Lachen hab ich von keinem von ihnen je gehört – und eines steht fest, Will Pentland hat sein Leben lang nie so gelacht … Oh, und Pett, wisst ihr! Pett!» – ein verächtlicher und ein wenig bösartiger Ausdruck erschien auf dem Gesicht der Frau, als sie in dem weinerlichen und affektierten Ton, in dem Frauen die Redeweise anderer Frauen, die sie nicht mögen, nachmachen, auf ihre Schwägerin zu sprechen kam – «Pett wurde einmal so böse auf ihn, als er in der Kirche losprustete, dass sie mit ihm geradewegs nach Hause gehen und ihn verprügeln wollte. – Sie hat’s mir erzählt und zu mir gesagt: ‹Oh, ich könnte ihm den Hals umdrehen! Er wird noch Schande über uns alle bringen›, sagt sie, ‹wenn ich ihm das nicht austreibe›, sagt sie: ‹laut herausgeplatzt ist er mit seinem schallenden Gelächter, als Doktor Baines heut Morgen seine Gebete sprach, bis man kein Wort mehr verstand von dem, was der Prediger sagte. Ich war so gekränkt›, sagt sie, ‹dass er mir so was antun konnte, dass ich ihn bis aufs Blut ausgepeitscht hätte, hätt ich meine Kutschergeißel dabeigehabt›, sagt sie, ‹ich weiß nicht, woher er das hat› – sagte sie spitz, wisst ihr», bemerkte die Frau und äffte die Stimme der anderen mit höhnischer, giftiger Abneigung nach – «‹Ich weiß nicht, woher er das hat, außer es ist dieses vulgäre Pentland-Blut, das sich da Bahn bricht› – ‹Na, jetzt hörst du mir mal zu›, sag ich; oh, ich hab ihr geradewegs ins Gesicht geblickt, weißt du» – hier fixierte die Mutter ihre Tochter mit dem durchdringenden, unverwandten Blick ihrer verwaschenen braunen Augen und unterstrich ihre Worte mit der koketten und machtvollen Geste der halb geschlossenen, fingerzeigenden Hand –, «‹du hörst mir jetzt zu. Ich weiß zwar nicht, wo dieses Kind sein Lachen her hat›, sag ich, ‹aber du kannst deinen letzten Dollar drauf wetten, dass er es nicht von seinem Vater hat – oder von sonst einem Pentland, von dem ich je gehört hab – denn keiner von denen hat je so gelacht – Will nicht, Jim, Sam, George, Ed und Vater nicht und nicht mal Onkel Bacchus›, sag ich – nein, und auch der alte Bill Pentland nicht, der Urgroßvater von dem Jungen da – denn die hab ich alle gesehen und gehört›, sag ich. ‹Und was dieses vulgäre Pentland-Blut betrifft, von dem du sprichst, Pett› – oh, ich denke, ich hab kein Blatt vor den Mund genommen, wisst ihr», sagte sie mit einem schmallippigen, bitteren Lächeln und dem kurzen, heftigen, krampfartigen Zucken ihrer kräftigen geschürzten Lippen – «‹was dieses vulgäre Pentland-Blut betrifft, von dem du sprichst, Pett›, sag ich, ‹so hab ich auch davon nie gehört – denn wir waren angesehen in der Gesellschaft›, sag ich, ‹und wir fanden alle, dass Will sich herabließ, als er eine Creasman heiratete!›»

«Oh, das hast du doch nicht gesagt, Mama, das sicher nicht», erwiderte die junge Frau mit einem heiseren, protestierenden und doch zerstreuten Lachen, wobei sie die Leute auf dem Bahnsteig mit gedankenverlorener, sinnender Neugier weiter musterte und sich nachdenklich an ihrem großen Kinn zupfte, während sie sie betrachtete, und von Zeit zu Zeit innehielt, um in alberner und ziemlich gezierter Weise zu grinsen, artig den Kopf zu neigen und zu murmeln: «Guten Tag, ah-ha. Guten Tag, Mrs. Willis.»

«Ha-ha-ha!» Und wieder brach das große Gelächter animalisch hohler Gutmütigkeit über den Bahnsteig herein, und diesmal wandte sich George Pentland von der Gruppe ab, zu der er gehörte, und blickte sich geistlos um, die Zähne in wildem Entzücken entblößt, als er sich mit zwei braunen Fingern seiner kräftigen linken Hand resolut in das muskulöse Gewebe seines harten Schenkels kniff. Es war ein animalischer Reflex, instinktiv und unbewusst, der sich in Augenblicken großer Heiterkeit immer zeigte.

Er war ein kräftiger und stattlicher junger Mann in den frühen Dreißigern, mit kohlschwarzem Haar, einem starken, feisten Nacken, kräftigen Schultern und der bulligen Vitalität des Athleten. Er hatte ein rotes, sinnliches Gesicht mit einem seltsam animalischen und leidenschaftlichen Ausdruck, und wenn sein schallendes Gelächter ertönte, entblößten seine roten Lippen zwei Reihen Zähne, die weiß und regelmäßig und fest wie Elfenbein waren.

Doch nun, da der Anfall jenes wilden und geistlosen Gelächters vorüber war, hatte George Pentland auf einmal die Mutter und ihre Kinder erspäht, winkte ihnen einen freundlichen Gruß zu und spazierte, nachdem er sich bei seinen Begleitern – einer Gruppe junger Leute mit dem sportlichen Auftreten und der Kleidung des «Country-Club-Sets» – entschuldigt hatte, mit lässig schwungvollem Schritt auf seine Verwandten zu, unterwegs innehaltend, um nach allen Seiten hin die Grüße der Leute zu erwidern, bei denen er offensichtlich sehr beliebt war.

Als er näher kam, entblößte er wiederum seine kräftigen weißen Zähne zum Gruß und sagte mit schleppender, sonorer Stimme, die unverkennbar die sinnliche Fülle, den Humor und das Selbstvertrauen der Pentlands und dazu eine subtile, aber hämische Note satter Selbstgefälligkeit besaß: «Hallo, Tante Eliza, wie geht’s dir? Hallo, Helen – wie geht es, Hugh?», sagte er in seiner hohen, ein wenig vorwurfsvollen, aber sehr kräftigen und männlichen Stimme und legte seine große Hand mit zwangloser Freundlichkeit auf Bartons Arm. «Wo zum Teufel habt ihr euch denn versteckt?», sagte er vorwurfsvoll. «Warum kommen ein paar von euch uns nicht mal besuchen? Ella hat neulich nach euch allen gefragt – wollte wissen, warum Helen nicht öfter vorbeikommt.»

«Tja, George, ich sag dir, wie’s ist», sagte die junge Frau mit einer Miene großer Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit. «Hugh und ich hatten schon hundertmal vor, rüberzukommen, aber das Leben bestand den ganzen Sommer lang nur aus einer verdammten Pflicht nach der andern. Wenn ich bloß einen Moment lang mal Ruhe hätte – wenn ich bloß mal wegkäme und einen Moment für mich hätte – wenn die mich bloß mal für ’ne Stunde am Stück allein ließen, wäre ich wieder ganz die Alte, glaub ich – verstehst du, was ich meine, George?», sagte sie heiser und beflissen in dem Bemühen, ihn für ihr mitleidheischendes Geständnis einzunehmen – «Wenn die sich nur ab und zu mal selber beschäftigen könnten – aber sie kommen alle zu mir, wenn was schiefgeht – sie lassen mich nicht einen Moment in Ruhe – bis ich zuweilen glaube, ich werde verrückt – ich werde irre – übergeschnappt, weißt du», sagte sie vage und konfus. «Ich weiß nicht mehr, ob am Dienstag oder letzte Woche tatsächlich was passiert ist oder ob ich es mir bloß eingebildet hab.» Und flüchtig legte sich der dumpfe, angespannte Ausdruck der Hysterie auf ihr großes, hageres Gesicht.

«Die Anspannung ist für sie den ganzen Sommer sehr groß gewesen», sagte Barton mit tiefer und ernster Stimme. «Es ist … es ist», er hielt sorgsam, tiefsinnig inne, suchte nach einem Wort und senkte den Blick, als er etwas Asche von seiner langen Zigarre schnippte: «Es ist – zu viel für sie gewesen. Alles lastet auf ihren Schultern», schloss er mit seiner tiefen, ernsten Stimme.

«Mein Gott, George, was ist los?», sagte sie ruhig und schlicht, im Ton einer Bittstellerin, die Auskunft begehrt. «Wird das unser ganzes Leben lang so weitergehen? Soll es nie ein wenig Ruhe oder Glück für uns geben? Muss es immerzu so sein? Ich frage dich jetzt – gibt es nichts anderes auf der Welt als Probleme?»

«Probleme!», sagte er spöttisch. «Na, Probleme habe ich mehr gehabt als irgendwer, von dem du je gehört hast … Es hätte gereicht, um ein Dutzend Leute umzubringen … aber als ich sah, dass es mich nicht umbringen würde, hab ich das Sorgen sein lassen … Also tu das doch auch», riet er jovial. «Teufel auch, sorg dich nicht, Helen! … Das hat dir noch nie was gebracht … Wird schon wieder werden», sagte er. «Es gibt nichts, worum du dich sorgen müsstest. Du weißt nicht, was echte Probleme sind.»

«Oh, mir würd’s ja gut gehen, George … ich glaub, ich könnt alles ertragen – den ganzen Rest –, wenn bloß Papa nicht wär … Ich dreh fast durch von den Sorgen, die ich mir diesen Sommer um ihn gemacht hab. Dreimal dachte ich schon, das wär das Ende … Und ich glaub wirklich, ich hab ihn jedes Mal mit schierer Kraft und Entschlossenheit zurückgeholt – weißt du, was ich meine?», sagte sie heiser und beflissen. «Ich war einfach nicht willens, ihn gehen zu lassen. Wenn sein Herz zu schlagen aufgehört hätte, ich glaub, ich hätt es wieder in Gang gebracht … ich hätt mich über ihn gebeugt und hätt ihm meinen Atem eingeblasen … ihm mein Blut eingeflößt … ihn geschüttelt», sagte sie mit einer heftigen, nervösen Bewegung ihrer großen Hände, «irgendwas, bloß um ihn am Leben zu halten.»

«Sie hat … sie hat … ihm das Leben gerettet – Mal für Mal», sagte Barton langsam, schnippte seine Zigarrenasche sorgsam weg und senkte tiefsinnig den Blick, auf der Suche nach einem Wort.

«Er wär … er wär – längst schon ein toter Mann – wenn sie nicht gewesen wär.»

«Ja – ich weiß», säuselte George Pentland. «Ich weiß, wie sehr du zu Onkel Will gehalten hast … und ich denke, er weiß es auch.»

«Nicht, dass es mir groß was ausmacht, George – verstehst du?», sagte sie beflissen. «Himmel, nein! Ich glaube, ich könnte ein Dutzend Leben hergeben, wenn ich dächte, das könnte seins retten! … Aber es ist die Anspannung … Monat für Monat … Jahr um Jahr … nachts wachliegen und sich fragen, ob es ihm gut geht da drüben im Hinterzimmer in Mamas Haus – sich fragen, ob ihm auch warm genug ist in der kalten alten Hütte …»

«Aber nein, Kind», sagte die ältere Frau hastig. «Ich hab ein gutes Feuer brennen lassen in dem Raum, den ganzen Winter hindurch … das war das wärmste Zimmer im ganzen Haus … es gab kein wärmeres …»

Doch sogleich wurde sie verschlungen, weggeschwemmt und zerschmettert vom Redeschwall ihres Gegenübers.

«… sich fragen, ob er krank ist oder mich braucht … ob er wieder zu bluten begonnen hat – oh, George! Es macht mich krank, daran zu denken … der arme alte Mann, sich dort selbst überlassen, wie er an diesem schrecklichen Krebs dahinsiecht, die ganze Zeit von diesem Gestank umgeben … was er auch anhat, alles wird richtig steif von diesem fauligen verdorbenen Zeug … verstehst du, was es heißt, zu warten, warten, warten, Jahr um Jahr und Jahr um Jahr, und nie zu wissen, wann er sterben wird, während alles an einem seidenen Faden hängt, bis man meint, man lebt schon seit ewig … und es werde nie ein Ende haben … und man werde keine Gelegenheit mehr haben, sein eigenes Leben zu leben … und einen Moment lang Ruhe oder Frieden oder Glück zu verspüren, nur für sich? Mein Gott, muss das immerzu so weitergehen? … Kann ich niemals wieder einen Moment lang glücklich sein? … Müssen immerzu alle zu mir kommen? Muss immerzu alles auf meinen Schultern lasten? … Kannst du mir das mal sagen?» Ihre Stimme war zu einem Ton heftiger Verzweiflung angeschwollen. Sie funkelte ihren Cousin mit einem Blick verzweifelten und panischen Flehens an, ihre ganze hagere Gestalt war verkrampft und gespannt von der Bürde ihrer Hysterie.

«Das … das ist jetzt das Problem», sagte Barton, senkte den Blick und rang um Worte. «Sie … sie … muss immerzu alles ausbaden … Sie … sie muss alles allein machen … Das … das ist es, was ihr den Rest gegeben hat.»

«Nicht dass es mich groß kümmern würde – wenn es was nützt … Himmel, nein, Papas Leben bedeutet mir mehr als sonst was auf der Welt … Ich würd ihn am Leben halten um jeden Preis, solange noch ein Atemhauch in ihm ist … Aber es ist die Anspannung, die bare Anspannung … warten und warten Jahr um Jahr, sie die ganze Zeit auf sich lasten zu spüren, nie zu wissen, wann er sterben wird … immerzu die Anspannung, die Anspannung – verstehst du, was ich meine, George?», sagte sie heiser, beflissen und flehentlich. «Das verstehst du, was?»

«Ganz bestimmt, Helen», sagte er mitfühlend, kniff sich in den Schenkel, und eine schnelle, katzenhafte Grimasse lief über sein Gesicht. «Ich weiß, das ist schrecklich hart für dich gewesen … Wie geht es Onkel Will jetzt?», sagte er. «Ein wenig besser?»

«Aber ja», sagte die Mutter, «es schien ihm besser zu gehen …», doch sie wurde sofort unterbrochen.

«O ja», sagte die Tochter in müde resigniertem Ton. «Er hat diesen letzten Anfall überstanden und sich so weit erholt, dass er die Reise nach Baltimore machen konnte … Wir haben ihn vor einer Woche wieder da hingeschickt für eine weitere Behandlungsreihe … Aber es nützt nicht wirklich was, George … Sie können ihn nicht heilen … Wir wissen das inzwischen … Sie haben es uns erzählt … Es verlängert nur die Leidenszeit. … Sie helfen ihm für ein Weilchen, und danach beginnt alles von vorn … Der arme alte Mann!», sagte sie, und ihre Augen waren nass. «Ich würde alles geben, was ich habe … mein eigenes Blut, mein eigenes Leben … wenn es ihm was nützen würde … aber, George, er ist verloren!», sagte sie verzweifelt. «Begreifst du das nicht? … Sie können ihn nicht retten! … Nichts kann ihn retten! … Papa ist schon ein toter Mann!»

George blickte einen Moment würdevoll mitleidig drein, zuckte rasch zusammen, kniff sich mit harten Fingern in den Schenkel und sagte dann: «Wer hat ihn nach Baltimore begleitet?»

«Na, Luke ist da droben», sagte die Mutter. «Wir haben gestern einen Brief von ihm gekriegt … er sagt, Mr. Gant sieht schon viel besser aus … isst ordentlich, weißt du, hat Appetit … und sei guter Dinge, sagt Luke. Also …»

«O Mama, um Himmels willen!», rief die Tochter aus. «Was soll das, so zu reden? … Es geht ihm nicht besser … Papa ist ein todkranker Mann … liegt im Sterben … weiß Gott! Geht das denn keinem von euch in den Schädel?», schnaubte sie. «Bin ich denn die Einzige, die merkt, wie krank er ist?»

«Nein, ich wollte doch nur sagen», begann die Mutter hastig, «Na, wie ich schon sagte», fuhr sie fort, «Luke ist da droben bei ihm … und Gene macht sich grad auf den Weg … er wird morgen dort einen Halt einlegen, auf seinem Weg nach Norden, zum College.»

«Gene!», rief George Pentland in vollmundig jovialem, neckischem Ton und wandte sich dem Jungen erstmals direkt zu. «Was höre ich da alles von dir, Junge?» Er packte mit seiner muskulösen Hand den Arm des Jungen und umklammerte ihn mit wohlmeinendem, aber kräftigem Griff. «Hast wohl an einen College nich genug, Junge», näselte er und scherte sich absichtlich nicht um korrekte Grammatik, sprach gutmütig, aber mit einer Spur des Hohns, den ein Verschwender und Tunichtgut gelegentlich für Leute empfindet, die den Fleiß und die Entschlossenheit bewiesen haben, die es für ausdauernde oder konzentrierte Anstrengung braucht. «Bist einer von die Kerls, die wo zwei oder drei Hochschulen brauchen, um den Hals vollzukriegen?»

Der Junge wurde rot, grinste unsicher und schwieg.

«Na, Junge», säuselte George in seinem jovialen, wohlwollenden und doch neckischen Ton, in dem unverkennbar eine Spur Boshaftigkeit mitschwang, «du wirst demnächst so gescheit und hochnäsig werden, dass du gar nich mehr mit uns reden willst … Du wirst den Kopf so hoch in den Wolken tragen, dass du ’n Raubein wie mich nich mal mehr ansiehst, geschweige denn meinereiner sprichst.» – Während er mit derlei Sarkasmen fortfuhr, war seine Redeweise gleichsam vorsätzlich fehlerhaft geworden, als versuche er damit die Überlegenheit des ungehobelten, jovialen, bodenständigen Kerls über den Bücherwurm herauszustreichen. «… wo geht er denn diesmal hin, Tante Eliza?», wandte er sich fragend an sie, hielt den Arm des Jungen aber immer noch fest umklammert. «Wo is er denn jetzt unterwegs hin?»

«Na», sagte sie und zupfte sich mit einer etwas ratlosen Geste an ihrem geschürzten strengen Mund, «er sagt, dass er nach Harvard will. Ich denke», sagte sie in demselben ratlosen Ton, «das ist in Ordnung … ich denke, er weiß, was er tut. Sagt, er hat sich dazu entschlossen … ich hab ihm erklärt», sagte sie und schüttelte wieder den Kopf, «dass ich ihn für ’n Jahr da hinschicken würd, wenn er es versuchen wolle … und dann müsse er raus und selbst schauen, wo er bleibt. Wir werden sehen», sagte sie. «Ich denke, es ist gut so.»

«Harvard, was?», sagte George Pentland. «Junge, du willst aber hoch hinaus! … Was hast du da droben vor?»

Der Junge, zornesrot im Gesicht, wand sich, und dann stammelte er schließlich: «Na … ich denke … ich denke, dass ich studieren werde!»

«Das denkst du?», polterte George. «Dann tu es verdammt noch mal auch … jede Wette, dass deine Mutter dir sonst das Fell gerben wird, wenn sie rausfindet, dass du ihr Geld verbummelst.»

«Und ob», sagte die Mutter und nickte ernst, «ich hab ihn gewarnt, es ist an ihm, das Beste daraus zu machen …»

«Harvard, was», sagte George Pentland wieder und musterte seinen Cousin gemächlich von Kopf bis Fuß. «Hoch hinaus willst du, was, Junge! … Na dann flieg mal nich so hoch, dass du nich mehr zur Erde zurückfindst! … Weißt du, wir andern, die wo nich nach Harvard gegangen sind, müssen hier (immer noch) auf dem Boden bleiben», sagte er. «Drum flieg nich zu hoch, sonst können wir dich nicht mal mehr sehen!»

«George, George!», sagte die junge Frau leise, legte eine Hand vor den Mund und beugte sich vor, um ihm mit einem Blick auf ihren kleinen Bruder vernehmlich zuzuflüstern: «Glaubst du, irgendwer könnte besonders hoch fliegen mit Füßen wie denen da?»

George Pentland besah sich einen Moment lang die riesigen Füße des Jungen und schüttelte dann gemächlich und reichlich erstaunt den Kopf. «Nein, zur Hölle!», sagte er schließlich. «Der käm nie vom Boden hoch! … Aber würde man sie ihm abschneiden», sagte er, «würd er sofort aufsteigen wie ein Ballon, was? Ha-ha-ha-ha!» Das laute Gelächter platzte aus ihm heraus, er bleckte grinsend sein kräftiges Gebiss und kniff sich blind in den Schenkel.

«Hi-hi-hi-hi-hi», höhnte die Schwester, als sie das zornesrote Gesicht des Jungen sah und stupste ihn feixend in die Rippen – «Das ist unser Harvard-Boy! K, k, k, k!»

«Lass dich nicht aufziehen, Kleiner», sagte George jetzt in liebenswürdigem und freundlichem Ton. «Mach’s gut! Gib ihnen Saures, wenn du da hinkommst! … Du bist der Einzige von uns, der je den Mumm dazu gehabt hat, aufs College zu gehen, und wir sind stolz auf dich! … Lass Onkel Bascom und Tante Louise und die andern alle von mir grüßen, wenn du nach Boston kommst … Und grüss mir deinen Vater und Luke, wenn du in Baltimore bist … Auf Wiedersehen, Gene – ich muss jetzt gehen. Mach’s gut, Junge», und mit einem freundlichen Druck seiner kräftigen Hand wandte er sich zum Gehen. «Kommt mal zu uns rüber, Leute – ihr alle», sagte er zum Abschied. «Wir würden uns freuen.» Und er ging.

Inzwischen hatten sich, den ganzen Bahnsteig hinauf und hinab, die Leute umgedreht, um der aufgeregten tiefen Stimme eines jungen Mannes zu lauschen, der im Stakkato bestürzter Ungläubigkeit sagte: «Das ist doch nicht dein Ernst! … Du schwörst, dass sie’s getan hat! … Und du warst dabei und hast es mit eignen Augen gesehen! … Also, wenn das nicht alles schlägt, von dem ich je gehört hab! … Verdammich!», worauf er mit einem bestürzten Lachen im Falsett zerstreute und achtlose Blicke in die Runde warf, die eine Hand rasch und nervös in seine Hosentasche schob, sodass sein gediegener brauner Mantel verrutschte und die große, diamantenförmige Nadel der Delta-Kappa-Epsilon-Verbindung6 enthüllte, während er mit der anderen schmalen, nervösen Hand wiederholt durch das glatte braune Haar fuhr, das seinen kleinen und wohlgeformten Kopf bedeckte, und dazu weiterhin im Ton fassungslosen Unglaubens murmelte – «Herrgott! Herrgott! … was sagt man denn dazu?», bis er plötzlich am anderen Ende des Bahnsteigs die Frau mit ihren beiden Kindern erblickte, jäh auf dem Absatz kehrtmachte und auf sie zuging, während er seinen erstaunten Freunden zumurmelte: «Wartet mal! … Da ist wer, den ich sprechen muss! … Bin gleich wieder da!»

Er näherte sich der Mutter und ihren Kindern rasch in seinem ungelenken, gezierten, vorwärtsstürmenden Schritt; das schmale Gesicht beflissen auf sie gerichtet, hielt er mit ungestümer Zielstrebigkeit auf sie zu, als wäre die ganze Aufmerksamkeit und Energie seines Lebens auf sie gerichtet, als hänge eine Angelegenheit von existenzieller Wichtigkeit davon ab, dass er sobald wie möglich bei ihnen wäre. Angekommen, sprach er den anderen jungen Mann ohne ein Wort des Grußes oder der Erklärung an, platzte heraus mit der jähen, bruchstückhaften Explosivität, die ein Teil von ihm war: «Nimmst du auch diesen Zug? … Fährst du heute? … Also, was hast du vor?», raunte er in geradezu anklägerischem und herausforderndem Ton. «Hast du dich schon zu ’ner Entscheidung durchgerungen? … Pett Barnes sagt, du hast dich für Harvard entschieden. Stimmt das?»

«Ja, das stimmt.»

«Herrgott, Herrgott!», sagte der junge Mann und ließ wieder sein Falsettlachen ertönen. «Wie kannst du nur! … Du würdest lieber mit mir mitkommen … Was hast du dir bloß in den Kopf gesetzt?», sagte er in herausforderndem Ton. «Warum willst du ausgerechnet dahin?»

«Ha? Was sagen Sie da?» Die Mutter, deren Augen mit der schnellen und aufgeschreckten Wachsamkeit eines Tiers vom einen Jungen zum andern geschossen waren, mischte sich ein: «Ihr kennt euch … Ha? … Sie nehmen auch diesen Zug, sagen Sie?», fragte sie geradeheraus.

«Ah-ha-ha!», lachte der junge Mann brüsk und nervös; grinste, machte eine rasche, ungelenke kleine Verbeugung und sagte mit nervöser, gewinnender Ehrerbietigkeit: «Ja, Ma’am! … Ah-ha-ha! … Guten Tag! … Wie geht’s, Mrs. Gant?» Er gab ihr rasch die Hand und lachte noch immer sein abgehacktes und nervöses «Ah-ha-ha» … «Guten Tag», sagte er und grinste nervös zu der jüngeren Frau und zu Barton hinüber: «Ah-ha-ha! Guten Tag!»

Die ältere Frau hielt immer noch seine Hand fest in der ihren, die rau und abgearbeitet war, und sah einen Augenblick ruhig zu ihm auf, die Lippen in grübelnder Nachdenklichkeit geschürzt. «Na», sagte sie leise, im Tonfall eines Menschen, der sein Versagen nicht eingestehen mag, «ich kenne Sie. Ich kenne Ihr Gesicht. Geben Sie mir nur noch einen Moment, und ich kann Ihnen den Namen sagen.»

Der junge Mann grinste rasch, nervös und sagte danach respektvoll in seinem Stakkatoton: «Ja, Ma’am … Ah-ha-ha … Robert Weaver.»

«Ach ja! genau!», rief sie und schüttelte ihm mit unvermittelter Innigkeit die Hand. «Sie sind Robert Weavers Sohn, natürlich.»

«Ah-ha-ha!», sagte Robert mit seinem raschen, nervösen Lachen. «Ja, Ma’am … So ist es … Ah-ha-ha … Gene und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Wir waren in derselben Klasse am College.»

«Aber natürlich!», rief sie, als wäre ihr nun alles klar, und fuhr etwas gekränkt fort: «Ich schwör ’s! Ich hab Sie doch gleich gekannt! Ich wusste beim ersten Blick auf Sie, dass ich Sie schon gesehen hab! Ihr Name war mir bloß vorübergehend entfallen – und dann fiel es mir natürlich blitzartig wieder ein: Sie sind Robert Weavers Sohn! … Und wahrhaftig, das sind Sie.» Immer noch hielt sie seine Hand in ihrem kräftigen, mütterlichen und freundlichen Griff und betrachtete ihn mit einem verschmitzten, schmallippigen Lächeln, das um ihre Mundwinkel huschte, verstummte für einen Augenblick und musterte ihn. «Na, Junge», sagte sie dann leise, «Sie mögen ja denken, dass ich ein ziemlich schlechtes Gedächtnis für Namen und Gesichter habe – aber ich will Ihnen was sagen, das Sie vielleicht überraschen wird … Ich weiß nämlich mehr über Sie, als Sie glauben. Und jetzt», bemerkte sie, «geb ich Ihnen ein Beispiel, und Sie sagen mir, ob ich recht habe.»

«Ah-ha-ha!», sagte Robert respektvoll: «Ja, Ma’am.»

«Sie wurden geboren», fuhr sie langsam und bedächtig fort, «am 2. September 1898 und sind somit genau zwei Jahre, einen Monat und einen Tag älter als dieser Junge hier …», sie wies mit dem Kopf auf ihren Sohn: «Und jetzt sagen Sie mir, ob ich recht habe oder nicht.»

«Ah-ha-ha!», sagte Robert. «Ja, Ma’am … Sie haben recht … Sie haben vollkommen recht», rief er und bemerkte dann in erstauntem und bewunderndem Ton: «Na, ich muss schon sagen … Wenn das nicht alles schlägt! … Wie um alles in der Welt konnten Sie denn das behalten!», rief er mit einem Erstaunen aus, das ihrer Eitelkeit offensichtlich sehr schmeichelte.

«Ich will es Ihnen verraten», antwortete sie mit einem schmallippigen, selbstgefälligen Lächeln – «ich sag Ihnen, wieso ich das weiß … Ich erinnere mich an den Tag Ihrer Geburt, Junge – weil an demselben Tag eins meiner eigenen Kinder – mein Sohn Luke – wieder aufstehen durfte, nachdem er mit Typhusfieber im Bett gelegen hat … Am selben Tag, Sir, sagte Mr. Gant nämlich, als er zum Essen nach Hause gekommen ist: ‹Na, ich hab auf der Straße soeben mit Robert Weaver gesprochen, und es ist alles in Ordnung. Seine Frau hat heute Morgen einen Jungen zur Welt gebracht, und er sagt, sie sei außer Gefahr.› Und ich weiß noch, dass ich zu ihm sagte: ‹Na, dann ist das ein Glückstag für uns beide gewesen. McGuire war nämlich heute Morgen hier und hat gesagt, dass Luke jetzt wieder aufstehen darf. Er ist außer Gefahr.› – Und ich denke», fuhr sie leise fort, «darum hat mir das Datum solchen Eindruck gemacht – denn natürlich war Luke schrecklich krank gewesen», sagte sie ernst und schüttelte den Kopf, «mehr als einmal dachten wir, er muss sterben – drum als der Doktor kam und mir sagte, er ist außer Gefahr – na, da war das wahrhaftig ein Freudentag für mich. Und darum weiß ich’s – 2. September 1898 –, genau da war es, genau an dem Tag, als Sie geboren wurden.»

«A-ha-ha!», sagte Robert. «Na und ob das stimmt … Ha, wenn das nicht alles schlägt!», rief er mit freundlich erstaunter Miene aus: «Das Erstaunlichste, von dem ich je gehört habe», sagte er feierlich.

«Also beim nächsten Mal, wenn Sie Ihren Vater sehen», sagte die Mutter mit der stillen Genugtuung der Allwissenheit, «erzählen Sie ihm, Sie hätten Eliza Pentland getroffen … er wird schon wissen, wer ich bin, Junge – das kann ich Ihnen versichern – denn wir sind keine fünf Meilen voneinander entfernt geboren worden und aufgewachsen, und Sie können ihm sagen, dass sie Sie sofort erkannt hat und Ihnen sogar auf Stunde und Minute genau den Tag Ihrer Geburt nennen konnte! … Erzählen Sie ihm das mal», sagte sie.

«Ja, Ma’am!», sagte Robert respektvoll, «werd ich bestimmt! … Ich werd’s ihm erzählen! … Das ist wirklich erstaunlich … Ah-ha-ha! … Schlägt alles, was ich je gehört hab! … Ah-ha-ha», er verbeugte sich unablässig und lächelte der jungen Frau und ihrem Gatten zu und murmelte: «Ah-ha-ha! … War mir ein Vergnügen … Muss jetzt wieder gehen, weil ich noch eine anderweitige Verpflichtung habe … aber ich werd’s ihm bestimmt erzählen … ah-ha-ha … Gene, ich seh dich dann im Zug … Auf Wiedersehen … Auf Wiedersehen … Sehr erfreut, Sie alle getroffen zu haben … Ah-ha-ha … Höchst bemerkenswert, wirklich … Auf Wiedersehen!», und er machte brüsk kehrt und entfernte sich rasch mit seinem ungelenken, gezierten und seltsam vorwärtsstürmenden Schritt.

Die Jüngere der beiden Frauen sah der hochgewachsenen Gestalt des Jungen nach, als er Abschied nahm, und zupfte sich nachdenklich und geistesabwesend am Kinn: «So, das ist also Richter Weavers Sohn? … Na», fuhr sie fort und nickte energisch zustimmend mit dem Kopf. «Der ist in Ordnung … Er hat gute Manieren … Er sieht aus und benimmt sich wie ein Gentleman … Man sieht, dass er eine gute Kinderstube hatte … ich mag ihn!», so lobte sie weiter.

«Aber ja», sagte die Mutter, die der großen sich entfernenden Gestalt sinnend nachgeschaut hatte, die Hände lose über dem Leib gefaltet – «aber ja», fuhr sie fort, mit einem nachdenklichen und herablassenden Kopfnicken, das ein wenig wunderlich wirkte: «Er ist ein gut aussehender, patenter Junge … Und an Verstand scheint es ihm auch nicht zu mangeln.» Sie schwieg einen Moment lang, schürzte nachdenklich die Lippen und schloss dann mit einem schwachen Nicken. «Na denn, der Junge mag ja in Ordnung sein … Ich sag nicht, dass er es nicht ist … Es wird ja vielleicht doch was ganz Passables aus ihm.»

«Passabel?», sagte die Tochter mit leichtem Stirnrunzeln und einem Anflug von Ärger, jedoch mit einem schmallippigen, anzüglichen Grinsen um die Mundwinkel: «Was meinst du mit in Ordnung? Aber natürlich ist er in Ordnung … Wie kommst du darauf, er sei’s nicht?»

Die andere schwieg erneut einen Augenblick lang: Als sie wieder zu sprechen begann, war ihr Ton unheilvoll, und sie drehte sich um und bedachte ihre Tochter unversehens mit einem durchdringenden, tödlichen Blick, ehe sie loslegte. «Na, Kind», begann sie, «ich sag dir was: Vielleicht wird ja doch was Passables aus dem Jungen da … ich hoffe es … aber …»

«O mein Gott!», lachte die jüngere Frau heiser, jedoch ein wenig verärgert, drehte sich um und stieß ihren Bruder kräftig in die Rippen. «Jetzt kriegen wir’s ab!», kicherte sie und stupste ihn, «k-k-k-k-k! Wie soll man es nennen?», sagte sie mit einem anzüglichen, stirnrunzelnden Grinsen, das in seinem Aufblitzen derben Humors unbeschreiblich komisch war – «die schändliche Wahrheit … der Sumpf? … Hast du’s je anders erlebt? … Da trifft man jemanden, und schon kommt sie mit der Leiche im Keller an.»

«… na, na, Kind, ich sage ja nichts gegen den Jungen … vielleicht wird es ihm nichts anhaben können … womöglich kommt gerade er davon … und alles läuft gut mit ihm … aber …»

«O mein Gott!», stöhnte die jüngere Frau mit groteskem und flehentlichem Augenrollen: «Da kommt’s.»

«Du bist zu jung, um etwas davon zu wissen», fuhr die andere bedeutungsschwanger fort – «du gehörst einer anderen Generation an … du weißt nichts davon … ich aber schon.» Sie hielt erneut inne, verzog ihre geschürzten Lippen in einer Grimasse des Abscheus, dann musterte sie ihre Tochter wieder mit ihrem durchdringenden und tödlichen Blick und sagte langsam, mit einer resoluten Geste: «In der Familie dieses Jungen wütet schon seit Generationen der Wahnsinn!»

«O mein Gott! Ich hab es gewusst!», stöhnte die andere.

«Jawohl!», sagte die Mutter unerbittlich – «und zwei seiner Tanten … Robert Weavers Schwestern starben als tobsüchtige Irre … und Robert Weavers eigene Mutter war wahnsinnig in den letzten zwanzig Lebensjahren, bis ihr das letzte Stündchen schlug … und ich habe gehört, das gehe zurück bis …»

«Ach, verschon mich», unterbrach die Jüngere sie stirnrunzelnd und beinahe erbost. «Ich mag nichts mehr davon hören … Überaus seltsam ist nur, wie gut es ihnen trotz allem geht … besser als uns … also lass Vergangenes ruhen … und grab nicht aus, was einmal gewesen ist.»

Sie wandte sich mit einem schmallippigen, stirnrunzelnden Lächeln an ihren Bruder und sagte matt: «Hast du’s je anders erlebt? … Die wissen alles, was?», unkte sie. «Kaum trifft man jemanden, den man mag, bewerfen sie ihn mit Dreck … Na, mir ist es ja egal», murmelte sie. «Halt dich nur an solche Leute … Er scheint ein netter Junge zu sein und …», schloss sie mit einem anerkennenden Seitenblick auf Roberts Freunde, «er verkehrt da mit feinen Leuten … Halte dich nur an diese Kreise. Ich mag ihn.»

Nun redete die Mutter wieder: Der Junge beobachtete, wie sich ihr energischer und sensibler Mund rasend schnell veränderte, von nachdenklich geschürzten Lippen über zittriges Lächeln, neckische, neugierige Heiterkeit, leidvolle Erinnerungen und getragene Feierlichkeit bis zu Larmoyanz, die die Ankunft eines Zuges stets in ihr erweckte, sinnendem Ernst und spontanem hoffnungsvollem Spintisieren. «Na, Junge», sagte sie nun feierlich, «du gehst jetzt – gewissermaßen –», hier schüttelte sie leicht den Kopf, resolut, schnell, mit energisch geschürzten Lippen, und sogleich waren ihre schwachen, verwaschenen braunen Augen tränenfeucht, «gewissermaßen in ein fremdes Land … als Fremder unter Fremden … Vielleicht für lange, lange Zeit», flüsterte sie matt und heiser, die Augen tränenfeucht, mit unergründlichem Kopfschütteln, das den Jungen sogleich mit herzzerreißendem Mitleid, Seelenpein und würgender Empörung über die Unlauterkeit der Frauen erfüllte: «… ich hoffe, wir sind alle noch da, wenn du wiederkommst … ich hoffe, du findest uns alle noch am Leben …» Sie lächelte tapfer, geheimnisvoll, tränenreich. «Man weiß ja nie», flüsterte sie, «man weiß ja nie.»

«Mama», er hörte, wie heiser und fremd seine Stimme in seiner Kehle klang, erstickt von der Not und Empörung über ihre Tränenseligkeit, «Mama … um Christi willen! Warum musst du dich jedes Mal so danebenbenehmen, wenn jemand weggeht! … Ich flehe dich an, lass das um Gottes willen doch sein.»

«O hör doch auf damit! Hör auf!», sagte seine Schwester in rauem, entschiedenem und doch freundlichem Ton zur Mutter, mit ernsten und sorgenvollen Augen, aber auch einem schwachen, rauen Lächeln in den Winkeln ihres gutmütigen Munds. «Er wird nicht für immer gehen! Meine Güte, du benimmst dich ja, als ob jemand gestorben wär! Boston ist nicht so weit weg, dass du ihn nie wiedersehen wirst! Es fahren täglich Züge dahin, weißt du! … Überhaupt», sagte sie unvermittelt und mit einer Bestimmtheit, die den Jungen erboste, «geht er ja heute gar nicht. Na, du hast doch nicht die geringste Absicht, heute zu gehen, was?», sagte sie zu ihm. «Er hat euch bloß die ganze Zeit an der Nase herumgeführt», sagte sie nun und wandte sich mit aufreizender Bestimmtheit an die Mutter. «Er hat keinerlei Absicht, den Zug da zu nehmen. Er wird bis morgen zuwarten. Das hab ich schon immer gewusst.»

Der Junge entfernte sich stampfend den Bahnsteig hinauf und kehrte stampfend wieder zu ihnen zurück, während die anderen Leute rundum grinsten und glotzten.

«Helen, in Gottes Namen!», krächzte er außer sich. «Was soll das, wenn ich alles fix und fertig gepackt habe und auf diesem gottverdammten Bahnhof auf den Zug warte! Du weißt, dass ich heute gehe!», brüllte er mit einer jähen elenden Herzensnot bei dem Gedanken, dass jetzt noch etwas dazwischenkommen könnte. «Du weißt es! Warum sind wir denn hergekommen? Worauf in Gottes Namen warten wir hier, wenn du nicht glaubst, dass ich gehe?»

Die junge Frau lachte ihr hohes, heiseres Lachen, das fast absichtlich aufreizend und spöttisch klang – «Hi-hi-hi-hi-hi!» –, und stupste ihn mit ihren großen, steifen Fingern in die Rippen. Dann, fast erschöpft, wandte sie sich ab, zupfte sich gedankenverloren an ihrem breiten Kinn und sagte: «Na, mach, was du willst! Es ist deine Sache! Wenn du fest entschlossen bist, heute zu gehen, so kann niemand dich aufhalten. Aber ich sehe nicht ein, warum du nicht noch bis morgen zuwarten kannst.»

«Aber ja!», sagte die Mutter nun munter und erwartungsvoll. «Genau das würde ich tun, wenn ich du wäre! … Also das schadet ja gewiss keinem, wenn du ’nen Tag oder so später kommst … Also ich bin zwar nie da gewesen», fuhr sie in ihrem ruhig sarkastischen Ton fort, «aber ich hab stets gehört, die Harvard-Universität sei eine kolossale Sache – und ich wette», sagte die Mutter nun ernst, mit einem nachdrücklichen, bedächtigen Kopfnicken – «ich wette, du wirst sie noch genau dort antreffen, wo sie immer schon war. Ich wette, du wirst feststellen, dass sie sich um keinen Fußbreit fortbewegt hat», meinte sie, «und lass dir gesagt sein, Junge», fuhr sie mit einem fast strengen Blick auf ihn fort, jedoch mit dem Anflug eines Lächelns um ihren energischen und sensiblen Mund: «Ich hab zwar nicht so viel Bildung genossen wie du und weiß nicht so gut über Universitäten Bescheid – aber ich hab noch nie was gehört von einer, die jemanden wegschicken würd, weil er ’nen Tag zu spät kommt, solange er genug Geld hat, um seinen Unterricht zu bezahlen … Du wirst sehen, sie warten schon auf dich, wenn du kommst – und du kommst da rein», sagte sie langsam und eindringlich. «Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen … sie werden sich über dich freuen und dich ohne Weiteres aufnehmen, wenn sie sehen, dass du bezahlen kannst.»

«Ach, Mama …», sagte er in gedämpftem, panischem Ton. «Ich beschwöre dich, um Gottes willen, nicht …»

«Schon gut, schon gut», antwortete die Mutter hastig besänftigend. «Ich meinte ja bloß …»

«Um Gottes willen, ich beschwöre dich …»

«K-k-k-k-k-k!», kicherte die Schwester und stieß ihn in die Rippen.

Doch nun nahte der Zug. Drunten auf den mächtigen, leuchtenden Geleisen, eine halbe Meile entfernt, schob sich die schwarze Riesenschnauze der Lokomotive langsam um die kühne Kurve und über die blitzenden Schienen, die zum Güterbahnhof von Altamont in zwei Meilen Entfernung führten, und gondelte unter kurzen heftigen Schnaufern ihres behäbigen Schornsteins langsam heran. Durch den goldenen, pollenflirrenden Dunst des warmen Sommernachmittags betrachteten sie sie mit tauben Lippen und einer Leere aus Angst, Entzücken und Kummer im Herzen.

Und durch das sinnliche Entsetzen, das ekstatische Vibrieren in Erwartung jenes Zuges erwachten alle Dinge vor, neben und rings um den Jungen herum urplötzlich zum Leben, in so sinnlicher und unerträglicher Lebensechtheit, wie ein Todgeweihter sie empfinden mag, der zum letzten Mal vom Blutgerüst herab die Welt betrachtet, auf dem er sterben soll. Er konnte alles fühlen, schmecken, riechen und sehen mit urplötzlicher stiller Innigkeit, der Anschaulichkeit einer Vision, die sich dem Geist des Betrachters für immer einprägt, und das dichte, staubige Herbstgewirr der Bäume spüren, die zur Linken die Geleise säumten, und das zähe, brodelnd heiße Schienenpech riechen, die trockene Wärme und den angenehm milden Holzgeruch der mächtigen Eisenbahnschwellen und das matte Rostrot eines gähnend leeren, erleichterten Güterwagens sehen mit seinem rauen, von sanften Sickerspuren groben Mehls geweißten Boden, und wie man ihn auf ein rostiges Abstellgleis hinter ein Lagerhaus aus rohen Betonklötzen zog, und jäh darob verzweifeln, wie es da so roh und neu hingeworfen lag in der heißen, feuchten, wuchernden, namenlosen, dickblättrigen Vegetation des Südens.

Dann überfiel sie die Lokomotive, dräute achtunggebietend über ihnen und zog langsam an ihnen vorüber mit einem gewaltigen Schub achtfacher Treibradsätze, allesamt ihre Köpfe überragend, mit wildem Feuerflackern aus der Kesselglut, mächtigem schlauchdickem Dampfeszischen, dem Aufblitzen eines hageren alten Schädels, einer alten erfahrenen behandschuhten Hand an der Drosselklappe, einem Glimmen dämonischer Falkenaugen, unentwegt auf die Schienen spähend, einem heillosen Gewirr von Reglern, Hebeln, Ventilen, Klappen und dem bebrillten, rußigen Gesicht des Heizers, mitunter erhellt von einer Höllenflamme, der die beladene Schaufel gebückt und in kühnem Bogen vor den Kesseltüren hin und her schwang.

Die Lokomotive schob über ihren Köpfen voran, tilgte das Sonnenlicht aus ihren Gesichtern, verschlang sie sogleich und erfüllte sie mit Entsetzen, sog ihnen mit der Göttlichkeit ihrer jähen Absolutheit die Seelen aus den Mündern und ließ sie leer, erschrocken, erstarrt für immer zurück: ein Gewirr zusammengekauerter Gestalten, ein Geäst glotzender weißer Gesichtchen, emporgerichtet, stumm und ergeben, klein, einsam und ängstlich.

Dann, als die schweren, rostschwarzen Wagen vorüberrumpelten und die Räder bedächtig knirschend anhielten, konnte der Junge das weiße, verstörte Gesicht seiner Mutter neben sich erkennen, die nackte erschrockene Unschuld in ihren Augen, und er fühlte ihren rauen, ermatteten Griff um seinen Arm und hörte ihre erschrockene Stimme, voller Furcht, Entsetzen und Erstaunen, als sie zischte: «Wie denn? Was denn? Ist das sein Zug? Ich dachte …»

Es war sein Zug, und er war gekommen, ihn mitzunehmen ins fremdartige und verschwiegene Herz des großen Nordens, den er nie gekannt hatte und dessen karges und einsames Bild, dessen gefrorene Hitze und eiskaltes Feuer und düstere, strenge Schönheit doch von Kind auf seine Fantasien durchglüht hatte. Denn er hatte geträumt und sich verzehrt nach dem stolzen, unbekannten Norden mit jener wilden Rauschhaftigkeit, jener unerträglichen, wortlosen Freude der Sehnsucht und des Begehrens, wie sie nur ein Bewohner des Südens empfinden kann. Mit feurigem Herzen, in Bann geschlagenem Geist, einem Gemüt heimgesucht von der seltsamen, verschwiegenen und unbekannten Magie des stolzen Nordens hatte er immer gewusst, dass er ihn eines Tages fände – seines Herzens Hoffnung und das Land seines Vaters, die verlorene, jedoch unauslöschliche Hälfte seiner Seele – und ihn sich zu eigen machen würde.

Und nun war dieser Tag gekommen, und diese beiden Bilder – oder vielmehr Lichter und Wetter der Menschenseele – des weltfernen, verlorenen und einsamen Südens und des wilden, großartigen, seltsamen und verschwiegenen Nordens wimmelten wahnhaft durch sein Blut. Und genauso wie er tausend Bilder des begrabenen und stillen Südens gesehen hatte, der ihm sein Leben lang vertraut gewesen war, erschien ihm nun eine Vision des stolzen, wilden Nordens mit all seinen glänzenden Städten und seinen Gezeiten des Lebens. Er sah die steinige Grazie seines Bodens und seine grüne Anmut, und er wusste um seine klammheimlichen Ahnungen, sein aufgewühltes, fiebriges Warten auf Schnee, seinen Geruch nach Häfen und seinen Handel mit stolzen Schiffen.