Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Literaturhinweisen und Nachwort - Gerhart Hauptmann - E-Book

Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Literaturhinweisen und Nachwort E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Eine Bauernfamilie kommt durch Kohlenfunde zu Geld. Doch der Alkohol, der "geliebte Fusel"? von dem man einfach nicht lassen kann, macht alles zunichte. Die Uraufführung von Hauptmanns sozialem Drama "Vor Sonnenaufgang" am 20. Oktober 1889 setzte das naturalistische Drama endgültig durch und machte den unbekannten Autor über Nacht berühmt. Die Textgrundlage dieser Ausgabe bildet der Erstdruck von 1889 im Abgleich mit späteren Ausgaben. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Gerhart Hauptmann

Vor Sonnenaufgang

Soziales Drama

Herausgegeben von Peter Langemeyer

Reclam

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961203-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019017-3

www.reclam.de

Inhalt

Vor Sonnenaufgang

Widmung

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Vierter Akt

Fünfter Akt

Literaturhinweise

Ausgaben

Zeugnisse

Forschungsliteratur

Lexikalische Hilfsmittel

Nachwort

Die Uraufführung: gespaltenes Urteil

Zeitgeschichtliche Hintergründe und Motive

Biographische Hintergründe: Der Prozess gegen den Verein »Pacific«

Alkohol als Problem

Der große Bergarbeiterstreik

Die Entstehung des Dramas

Andere literarische Quellen

Eine neue Gattung: das soziale Drama

Im Widersteit der Forschung: die Figur Loth und Helenes Ende

[5]Vor Sonnenaufgang

Soziales Drama

[7]Bjarne P. Holmsen, dem consequentesten Realisten, Verfasser von »Papa Hamlet« zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung.

 Erkner, den 8. Juli 1889.

   Gerhart Hauptmann.

[9]Handelnde Menschen.

KRAUSE, Bauerngutsbesitzer.

FRAU KRAUSE, seine zweite Frau.

Krause’s Töchter erster Ehe.

HELENE

MARTHA

HOFFMANN, Ingenieur, verheirathet mit Martha.

WILHELM KAHL, Neffe der Frau Krause.

FRAU SPILLER, Gesellschafterin bei Frau Krause.

ALFRED LOTH.

DR. SCHIMMELPFENNIG.

BEIBST, Arbeitsmann auf Krause’s Gut.

Mägde auf Krause’s Gut.

GUSTE

LIESE

MARIE

BAER, genannt Hopslabaer.

EDUARD, Hoffmann’s Diener.

MIELE, Hausmädchen bei Frau Krause.

DIE KUTSCHENFRAU.

GOLISCH, genannt Gosch, Kuhjunge.

[11]Erster Akt.

Das Zimmer ist niedrig; der Fußboden mit guten Teppichen belegt. Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft. An der Wand hinter dem Eßtisch ein Gemälde, darstellend einen vierspännigen Frachtwagen von einem Fuhrknecht in blauer Blouse geleitet.

(Miele, eine robuste Bauernmagd mit rothem, etwas stumpfsinnigen Gesicht; sie öffnet die Mittelthür und läßt Alfred Loth eintreten. Loth ist mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, in seinen Bewegungen bestimmt, doch ein [12]wenig ungelenk; er hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes, lichtblondes Schnurrbärtchen, sein ganzes Gesicht ist knochig und hat einen gleichmäßig ernsten Ausdruck. Er ist ordentlich, jedoch nichts weniger als modern gekleidet. Sommerpaletot, Umhängetäschchen, Stock.)

MIELE.

Bitte! Ich werde den Herrn Inschinnär glei ruffen. Wolln Sie nich Platz nehmen?! (Die Glasthür zum Wintergarten wird heftig aufgestoßen; ein Bauernweib, im Gesicht blauroth vor Wuth, stürzt herein, sie ist nicht viel besser als eine Waschfrau gekleidet. Nackte, rothe Arme, blauer Kattunrock und Mieder, rothes punktirtes Brusttuch. Alter: Anfang 40, Gesicht hart, sinnlich, bösartig. Die ganze Gestalt sonst gut conservirt.)

FRAU KRAUSE

(schreit). Ihr Madel!! . . . Richtig! . . Doas Loster vu Froovulk! . . . Naus!!! mir gahn nischt! . . . (halb zu Miele, halb zu Loth:) a koan orbeita, a hoot Oarme. Naus! hier gibbt’s nischt! 

LOTH.

Aber Frau . . . Sie werden doch . . . ich . . . ich heiße Loth, bin . . . wünsche zu . . . habe auch nicht die Ab  . . . .

MIELE.

A wull ock a Herr Inschinnär sprechen.

FRAU KRAUSE.

Beim Schwiegersuhne batteln: doas kenn’ mer schunn. – A hoot au nischt, a hoot’s au ock vu ins, nischt iis seine! (Die Thür rechts wird aufgemacht. Hoffmann steckt den Kopf heraus.)

HOFFMANN.

Schwiegermama! – Ich muß doch bitten . . . (er tritt heraus, wendet sich an Loth) Was steht zu . . . Alfred!!! Kerl!!! Wahrhaftig ’n Gott Du!? Das ist aber ’mal . . . nein das is doch ’mal ’n Gedanke!

(Hoffmann ist etwa dreiunddreißig Jahre alt, schlank, [13]groß, hager. Er kleidet sich nach der neuesten Mode, ist elegant frisirt, trägt kostbare Ringe, Brillantknöpfe im Vorhemd und Berloques an der Uhrkette. Kopfhaar und Schnurrbart schwarz, der letztere sehr üppig, äußerst sorgfältig gepflegt. Gesicht spitz, vogelartig. Ausdruck verschwommen, Augen schwarz, lebhaft zuweilen unruhig.)

LOTH.

Ich bin nämlich ganz zufällig . . . .

HOFFMANN

(aufgeregt). Etwas Lieberes . . . nun aber zunächst leg ab! (Er versucht ihm das Umhängetäschchen abzunehmen.) Etwas Lieberes und so Unerwartetes hätte mir jetzt (er hat ihm Hut und Stock abgenommen und legt Beides auf einen Stuhl neben der Thür) hätte mir jetzt entschieden nicht passiren können, (indem er zurückkommt:)ent....schieden nicht.

LOTH

(sich selbst das Täschchen abnehmend). Ich bin nämlich – nur so per Zufall auf Dich (er legt das Täschchen auf den Tisch im Vordergrund).

HOFFMANN.

Setz’ Dich! Du mußt müde sein, setz’ Dich – bitte. Weißt De noch? wenn Du mich besuchtest, da hatt’st Du so ’ne Manier, Dich lang auf das Sopha hinfallen zu lassen, daß die Federn krachten; mitunter sprangen sie nämlich auch. Also Du, höre! mach’s wie damals.

(Frau Krause hat ein sehr erstauntes Gesicht gemacht und sich dann zurückgezogen. Loth läßt sich auf einen der Sessel nieder, welche rings um den Tisch im Vordergrunde stehen.)

HOFFMANN.

Trinkst Du was? Sag’! – Bier? Wein? Cognac? Kaffee, Thee? Es ist Alles im Hause.

(Helene kommt lesend aus dem Wintergarten; ihre große, ein wenig zu starke Gestalt, die Frisur ihres blonden, ganz [14]ungewöhnlich reichen Haares, ihr Gesichtsausdruck, ihre moderne Kleidung, ihre Bewegungen, ihre ganze Erscheinung überhaupt verleugnen das Bauernmädchen nicht ganz.)

HELENE.

Schwager, Du könntest . . . (sie entdeckt Loth und zieht sich schnell zurück). Ach! ich bitte um Verzeihung (ab).

HOFFMANN.

Bleib’ doch, bleib’!

LOTH.

Deine Frau?

HOFFMANN.

Nein, ihre Schwester. Hörtest Du nicht, wie sie mich betitelte?

LOTH.

Nein.

HOFFMANN.

Hübsch! Wie? – Nu aber erklär’ Dich! Kaffee? Thee? Grog?

LOTH.

Danke, danke für Alles.

HOFFMANN

(präsentirt ihm Cigarren). Aber das ist was für Dich – nicht?! . . . auch nicht?!

LOTH.

Nein, danke.

HOFFMANN.

Beneidenswerthe Bedürfnißlosigkeit! (Er raucht sich selbst eine Cigarre an und spricht dabei.) Die A . . Asche, wollte sagen der . . . der Tabak . . . ä! Rauch natürlich . . . der Rauch belästigt Dich doch wohl nicht?

LOTH.

Nein.

HOFFMANN.

Wenn ich das nicht noch hätte . . . ach Gott ja, das bischen Leben! – nu aber thu’ mir den Gefallen, erzähle was. – Zehn Jahre – bist übrigens kaum sehr verändert – zehn Jahre, ’n ekliger Fetzen Zeit – was macht Schn . . . Schnurz nannten wir ihn ja wohl? Fips, – die ganze heitere Blase von damals? Hast Du den Einen oder Anderen im Auge behalten?

[15]LOTH.

Sach ’mal, solltest Du das nicht wissen?

HOFFMANN.

Was?

LOTH.

Daß er sich erschossen hat.

HOFFMANN.

Wer? – hat sich wieder ’mal erschossen?

LOTH.

Fips! Friedrich Hildebrandt.

HOFFMANN.

I warum nich gar!

LOTH.

Ja! er hat sich erschossen – im Grunewald, an einer sehr schönen Stelle der Havelseeufer. Ich war dort, man hat den Blick auf Spandau.

HOFFMANN.

Hm! – Hätt’ ihm das nicht zugetraut, war doch sonst keine Heldennatur.

LOTH.

Deswegen hat er sich eben erschossen. – Gewissenhaft war er, sehr gewissenhaft.

HOFFMANN.

Gewissenhaft? Woso?

LOTH.

Nun, darum eben . . . . sonst hätte er sich wohl nicht erschossen.

HOFFMANN.

Versteh’ nicht recht.

LOTH.

Na, die Farbe seiner politischen Anschauungen kennst Du doch?

HOFFMANN.

Ja, grün.

LOTH.

Du kannst sie gern so nennen. Er war, dies wirst Du ihm wohl lassen müssen, ein talentvoller Jung. – Fünf Jahre hat er als Stuccateur arbeiten müssen, andere fünf Jahre dann, so zu sagen, auf eigene Faust durchgehungert und dazu kleine Statuetten modellirt.

HOFFMANN.

Abstoßendes Zeug. Ich will von der Kunst erheitert sein. . . . Nee! diese Sorte Kunst war durchaus nicht mein Geschmack.

LOTH.

Meiner war es auch nicht, aber er hatte sich nun doch einmal drauf versteift. Voriges Frühjahr schrieben sie da ein Denkmal aus; irgend ein [16]Duodezfürstchen, glaub’ ich, sollte verewigt werden. Fips hatte sich betheiligt und gewonnen; kurz darauf schoß er sich todt.

HOFFMANN.

Wo da die Gewissenhaftigkeit stecken soll, ist mir völlig schleierhaft. – Für so was habe ich nur eine Benennung: Spahn – auch Wurm – Spleen – so was.

LOTH.

Das ist ja das allgemeine Urtheil.

HOFFMANN.

Thut mir leid, kann aber nicht umhin mich ihm anzuschließen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

LOTH.

Es ist ja für ihn auch ganz gleichgültig, was . . .

HOFFMANN.

Ach überhaupt lassen wir das. Ich bedauere ihn im Grunde ganz ebenso sehr wie Du, aber – nun ist er doch einmal todt, der gute Kerl; – erzähle mir lieber was von Dir, was Du getrieben hast, wie’s Dir ergangen ist.

LOTH.

Es ist mir so ergangen, wie ich’s erwarten mußte. – Hast Du gar nichts von mir gehört? – durch die Zeitungen mein’ ich.

HOFFMANN

(ein wenig befangen). Wüßte nicht.

LOTH.

Nichts von der Leipziger Geschichte?

HOFFMANN.

Ach so, das! – Ja! – Ich glaube . . . . nichts Genaues.

LOTH.

Also, die Sache war folgende:

HOFFMANN

(seine Hand auf Loth’s Arm legend). Ehe Du anfängst: willst Du denn gar nichts zu Dir nehmen?

LOTH.

Später vielleicht.

HOFFMANN.

Auch nicht ein Gläschen Cognac?

LOTH.

Nein. Das am allerwenigsten.

HOFFMANN.

Nun, dann werde ich ein Gläschen . . . . Nichts besser für den Magen (holt Flasche und zwei [17]Gläschen vom Buffet, setzt Alles auf den Tisch vor Loth). Grand Champagne, feinste Nummer; ich kann ihn empfehlen. – Möchtest Du nicht . . . . ?

LOTH.

Danke!

HOFFMANN

(kippt das Gläschen in den Mund). Oah! – na, nu bin ich ganz Ohr.

LOTH.

Kurz und gut: da bin ich eben sehr stark hineingefallen.

HOFFMANN.

Mit zwei Jahren, glaub ich?!

LOTH.

Ganz recht! Du scheinst es ja doch also zu wissen. Zwei Jahre Gefängniß bekam ich, und nachdem haben sie mich noch von der Universität relegirt. Damals war ich – einundzwanzig – nun! in diesen zwei Gefängnißjahren habe ich mein erstes volkswirthschaftliches Buch geschrieben. Daß es gerade ein Vergnügen gewesen, zu brummen, müßte ich allerdings lügen.

HOFFMANN.

Wie man doch einmal so sein konnte! merkwürdig! Sowas hat man sich nun allen Ernstes in den Kopf gesetzt. Baare Kindereien sind es gewesen, kann mir nicht helfen. Du! – nach Amerika auswandern, ’n Dutzend Gelbschnäbel wie wir! – wir und Musterstaat gründen! Köstliche Vorstellung!

LOTH.

Kindereien?! – tjaa! In gewisser Beziehung sind es auch wirklich Kindereien gewesen; wir unterschätzten die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens.

HOFFMANN.

Und daß Du nun wirk–lich hinaus gingst – nach Amerika – all–len Ernstes mit leeren Händen . . . . Denk doch mal an, was es heißt, Grund und Boden für einen Musterstaat mit leeren Händen erwerben zu wollen: das ist ja beinah ver . . . . . , jedenfalls ist es einzig naiv.

[18]LOTH.

Ach, gerade mit dem Ergebniß meiner Amerikafahrt bin ich ganz zufrieden.

HOFFMANN

(laut auflachend). Kaltwasserkur, vorzügliche Resultate, wenn Du es so meinst . . .

LOTH.

Kann sein, ich bin etwas abgekühlt worden; damit ist mir aber gar nichts Besonderes geschehen. Jeder Mensch macht seinen Abkühlungsprozeß durch. Ich bin jedoch weit davon entfernt, den Werth der . . . . nun, sagen wir hitzigen Zeit zu verkennen, sie war auch gar nicht so furchtbar naiv, wie Du sie hinstellst.

HOFFMANN.

Na, ich weiß nicht?!

LOTH.

Du brauchst nur an die Durchschnittskindereien unserer Tage denken: das Couleurwesen auf den Universitäten, das Saufen, das Pauken. Warum all’ der Lärm? Wie Fips zu sagen pflegte: um Hekuba! Um Hekuba drehte es sich bei uns doch wohl nicht; wir hatten die allerhöchsten menschheitlichen Ziele im Auge. Und abgesehen davon, diese naive Zeit hat bei mir gründlich mit Vorurtheilen aufgeräumt, ich bin mit der Scheinreligion und Scheinmoral und mit noch manchem anderen . . . .

HOFFMANN.

Das kann ich Dir ja auch ohne Weiteres zugeben: Wenn ich jetzt doch immerhin ein vorurtheilsloser, aufgeklärter Mensch bin, dann verdanke ich das, wie ich gar nicht leugne, den Tagen unseres Umgangs. – Natürlicherweise! – Ich bin der Letzte, das zu leugnen. – Ich bin überhaupt in keiner Beziehung Unmensch. Nur muß man nicht mit dem Kopfe durch die Wand rennen wollen. – Man muß nicht die Übel, an denen die gegenwärtige Generation, leider Gottes, krankt, durch noch [19]größere verdrängen wollen; man muß – Alles ruhig seinen natürlichen Gang gehen lassen. Was kommen soll, kommt! Praktisch, praktisch muß man verfahren! Erinnere Dich! Ich habe das früher gerade so betont: Und dieser Grundsatz hat sich bezahlt gemacht. – Das ist es ja eben. Ihr Alle – Du mit eingerechnet –, Ihr verfahrt höchst unpraktisch.

LOTH.

Erklär’ mir eben mal, wie Du das meinst.

HOFFMANN.

Einfach! Ihr nützt Eure Fähigkeiten nicht aus. Zum Beispiel Du: ’n Kerl wie Du, mit Kenntnissen, Energie etc., was hätte Dir nicht offen gestanden! Statt dessen, was machst Du? Com–pro–mit–tirst Dich von vornherein der–art . . . . na, Hand aufs Herz! Hast Du das nicht manchmal bereut?

LOTH.

Ich konnte nicht gut bereuen, weil ich ohne Schuld verurtheilt worden bin.

HOFFMANN.

Kann ich ja nicht beurtheilen, weißt Du.

LOTH.

Du wirst das gleich können, wenn ich Dir sage: die Anklageschrift führte aus, ich hätte unseren Verein Vancouver-Island nur zum Zwecke parteilicher Agitation ins Leben gerufen, dann sollte ich auch Geld zu Parteizwecken gesammelt haben. Du weißt ja nun, daß es uns mit unseren colonialen Bestrebungen Ernst war, und was das Geldsammeln anlangt, so hast Du ja selbst gesagt, daß wir Alle miteinander leere Hände hatten. Die Anklage enthält also kein wahres Wort, und als Mitglied solltest Du das doch . . . .

HOFFMANN.

Na – Mitglied war ich doch wohl eigentlich nicht so recht. – Übrigens glaube ich Dir selbstredend. – Die Richter sind halt immer nur Menschen, muß man nehmen. – Jedenfalls hättest Du, um praktisch zu [20]handeln, auch den Schein meiden müssen. Überhaupt: ich habe mich in der Folge manchmal baß gewundert über Dich: Redacteur der Arbeiterkanzel, des obscursten aller Käseblättchen – Reichstagscandidat des süßen Pöbels! Und was hast Du nu davon? – versteh’ mich nicht falsch! Ich bin der Letzte, der es an Mitleid mit dem armen Volke fehlen läßt, aber wenn etwas geschieht, dann mag es von Oben herab geschehen! Es muß sogar von Oben herab geschehen, das Volk weiß nun mal nicht, was ihm noth thut – das »Von-unten-herauf«, siehst Du, das eben nenne ich das »Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-rennen«.

LOTH.

Ich bin aus dem, was Du eben gesagt hast, nicht klug geworden.

HOFFMANN.

Na, ich meine eben: sieh mich an! ich habe die Hände frei: ich könnte nu schon anfangen, was für die Ideale zu thun. – Ich kann wohl sagen, mein praktisches Programm ist nahezu durchgeführt. Aber Ihr . . . . immer mit leeren Händen, was wollt denn Ihr machen?

LOTH.

Ja, wie man so hört: Du segelst stark auf Bleichröder zu.

HOFFMANN

(geschmeichelt). Zu viel Ehre – vorläufig noch. Wer sagt das? – Man arbeitet eben seinen soliden Stiefel fort: das belohnt sich naturgemäß – wer sagt das übrigens?

LOTH.

Ich hörte drüben in Jauer zwei Herren am Nebentisch davon reden.

HOFFMANN.

Ä! Du! – Ich habe Feinde! – Was sagten die denn übrigens?

LOTH.

Nichts Besonderes. Durch sie erfuhr ich: daß Du [21]Dich zur Zeit eben hier auf das Gut Deiner Schwiegereltern zurückgezogen hast.

HOFFMANN.

Was die Menschen nicht alles ausschnüffeln! Lieber Freund! Du glaubst nicht, wie ein Mann in meiner Stellung auf Schritt und Tritt beobachtet wird: Das ist auch so ’n Übelstand des Reich . . . .  – Die Sache ist nämlich die: ich erwarte der größeren Ruhe und gesünderen Luft wegen die Niederkunft meiner Frau hier.

LOTH.

Wie paßt denn das aber mit dem Arzt? Ein guter Arzt ist doch in solchen Fällen von allergrößter Wichtigkeit. Und hier auf dem Dorfe . . . .

HOFFMANN.

Das ist es eben, der Arzt hier ist ganz besonders tüchtig; und, weißt Du, so viel habe ich bereits weg: Gewissenhaftigkeit geht beim Arzt über Genie.

LOTH.

Vielleicht ist sie eine Begleiterscheinung des Genie’s im Arzt.

HOFFMANN.

Mein’twegen, jedenfalls hat unser Arzt Gewissen. Er ist nämlich auch so’n Stück Ideologe, halb und halb unser Schlag – reussirt schauderhaft unter Bergleuten und auch unter dem Bauernvolk. Man vergöttert ihn geradezu. Zu Zeiten übrigens ’n recht unverdaulicher Patron, ’n Mischmasch von Härte und Sentimentalität. Aber, wie gesagt, Gewissenhaftigkeit weiß ich zu schätzen! – Unbedingt! – Eh’ ich’s vergesse . . . . es ist mir nämlich darum zu thun . . . man muß immer wissen, wessen man sich zu versehen hat . . . . Höre! . . . . sage mir doch . . . . ich seh’ Dir’s an, die Herren am Nebentische haben nichts Gutes über mich gesprochen. – Sag’ mir doch, bitte! was sie gesprochen haben.

[22]LOTH.

Das sollte ich wohl nicht thun, denn ich will Dich nachher um zweihundert Mark bitten, geradezu bitten, denn ich werde sie Dir wohl kaum je wiedergeben können.

HOFFMANN

(zieht ein Checbuch aus der Brusttasche, füllt Chec aus, übergiebt ihn Loth). Bei irgend einer Reichsbankfiliale . . . . Es ist mir ’n Vergnügen . . . .

LOTH.

Deine Fixigkeit übertrifft alle meine Erwartungen. – Na! – ich nehm’ es dankbar an und Du weißt ja, übel angewandt ist es auch nicht.

HOFFMANN

(mit Anflug von Pathos). Ein Arbeiter ist seines Lohnes werth! – doch jetzt, Loth! sei so gut, sag mir, was die Herren am Nebentisch . . . .

LOTH.

Sie haben wohl Unsinn gesprochen.

HOFFMANN.

Sag mir’s trotzdem, bitte! – Es ist mir lediglich interessant, ledig-lich interessant –

LOTH.

Es war davon die Rede, daß Du hier einen Anderen aus der Position verdrängt hättest, – einen Bauunternehmer Müller.

HOFFMANN.

Na-tür-lich! diese Geschichte!

LOTH.

Ich glaube, der Mann sollte mit Deiner jetzigen Frau verlobt gewesen sein.

HOFFMANN.

War er auch. – Und was weiter?

LOTH.

Ich erzähle Dir Alles, wie ich es hörte, weil ich annehme: es kommt Dir darauf an, die Verleumdung möglichst getreu kennen zu lernen.

HOFFMANN.

Ganz recht! Also?

LOTH.

So viel ich heraus hörte, soll dieser Müller den Bau einer Strecke der hiesigen Gebirgsbahn übernommen haben.

HOFFMANN.

Ja! Mit lumpigen zehntausend Thalern [23]Vermögen. Als er einsah, daß dieses Geld nicht zureichte, wollte er schnell eine Witzdorfer Bauerntochter fischen; meine jetzige Frau sollte diejenige sein, welche.

LOTH.

Er hätte es, sagten sie, mit der Tochter, Du mit dem Alten gemacht. – Dann hat er sich ja wohl erschossen?! – Auch seine Strecke hättest Du zu Ende gebaut und noch sehr viel Geld dabei verdient.

HOFFMANN.

Darin ist einiges Wahre enthalten, doch – ich könnte Dir eine Verknüpfung der Thatsachen geben . . . . Wußten sie am Ende noch mehr dergleichen erbaulichen Dinge?

LOTH.

Ganz besonders – muß ich Dir sagen – regten sie sich über Etwas auf: sie rechneten sich vor, welch ein enormes Geschäft in Kohlen Du jetzt machtest und nannten Dich einen . . . . na, schmeichelhaft war es eben nicht für Dich. Kurz gesagt, sie erzählten, Du hättest die hiesigen dummen Bauern beim Champagner überredet, einen Vertrag zu unterzeichnen, in welchem Dir der alleinige Verschleiß aller in ihren Gruben geförderter Kohle übertragen worden ist gegen eine Pachtsumme, die fabelhaft gering sein sollte.

HOFFMANN

(sichtlich peinlich berührt, steht auf). Ich will Dir was sagen, Loth . . . . Ach, warum auch noch darin rühren? Ich schlage vor, wir denken an’s Abendbrod, mein Hunger ist mörderisch. – Mörderischen Hunger habe ich. (Er drückt auf den Knopf einer elektrischen Leitung, deren Draht in Form einer grünen Schnur auf das Sopha herunter hängt; man hört das Läuten einer elektrischen Klingel.)

LOTH.

Nun, wenn Du mich hier behalten willst – dann sei [24]so gut . . . . . ich möchte mich eben ’n bischen säubern.

HOFFMANN.

Gleich sollst Du alles Nöthige . . . . (Eduard tritt ein, Diener in Livree.) Eduard! führen Sie den Herrn in’s Gastzimmer.

EDUARD.

Sehr wohl, gnädiger Herr.

HOFFMANN

(Loth die Hand drückend). In spätestens fünfzehn Minuten möchte ich Dich bitten, zum Essen herunter zu kommen.

LOTH.

Übrig Zeit, also, Wiedersehen!

HOFFMANN.

Wiedersehen!

(Eduard öffnet die Thür und läßt Loth vorangehen. Beide ab. Hoffmann kratzt sich den Hinterkopf, blickt nachdenklich auf den Fußboden, geht dann auf die Thür rechts zu, deren Klinke er bereits gefaßt hat, als Helene, welche hastig durch die Glasthür eingetreten ist, ihn anruft.)

HELENE.

Schwager! Wer war das?

HOFFMANN.

Das war einer von meinen Gymnasialfreunden, der älteste sogar, Alfred Loth.

HELENE

(schnell). Ist er schon wieder fort?

HOFFMANN.

Nein! Er wird mit uns zu Abend essen. – Womöglich . . . . ja, womöglich auch hier übernachten.

HELENE.

Oh Jeses! Da komme ich nicht zum Abendessen.

HOFFMANN.

Aber Helene!

HELENE.

Was brauche ich auch unter gebildete Menschen zu kommen, ich will nur ruhig weiter verbauern.

HOFFMANN.

Ach, immer diese Schrullen! Du wirst mir sogar den großen Dienst erweisen und die [25]Anordnungen für den Abendtisch treffen. Sei so gut! – Wir machen’s ’n bischen feierlich. Ich vermuthe nämlich, er führt irgend was im Schilde.

HELENE.

Was meinst Du, im Schilde führen?

HOFFMANN.

Maulwurfsarbeit – Wühlen, Wühlen. – Davon verstehst Du nun freilich nichts. – Kann mich übrigens täuschen, denn ich habe bis jetzt vermieden auf diesen Gegenstand zu kommen. Jedenfalls mach’ Alles recht einladend, auf diese Weise ist den Leuten noch am leichtesten . . . Champagner natürlich! Die Hummern von Hamburg sind angekommen?

HELENE.

Ich glaube, sie sind heut früh angekommen.

HOFFMANN.

Also, Hummern! (es klopft sehr stark) herein!

POSTPACKETTRÄGER

(eine Kiste unter’m Arm, eintretend, spricht er in singendem Tone). eine Kist-e.

HELENE.

Von wo?

PACKETTRÄGER.

Ber-lin.

HOFFMANN.

Richtig! es werden die Kindersachen von Herzog sein. (Er besieht das Packet und nimmt den Abschnitt.) Ja, ja, es sind die Sachen von Herzog.

HELENE.

Die-se Kiste voll? Du übertreibst.

HOFFMANN.

(Lohnt den Packetträger ab.)

PACKETTRÄGER

(ebenso halb singend). Schön’n gu’n A-bend(ab).

HOFFMANN.

Wieso übertreiben?

HELENE.

Nun, hiermit kann man doch wenigstens drei Kinder ausstatten.

HOFFMANN.

Bist Du mit meiner Frau spazieren gegangen?

HELENE.

Was soll ich machen, wenn sie immer gleich müde wird?

[26]HOFFMANN.

Ach was! immer gleich müde. – Sie macht mich unglücklich! Ein und eine halbe Stunde . . . sie soll doch um Gottes Willen thun was der Arzt sagt. Zu was hat man denn den Arzt, wenn . . .

HELENE.

Dann greife Du ein, schaff’ die Spillern fort! Was soll ich gegen so ’n altes Weib machen, die ihr immer nach dem Munde geht.

HOFFMANN.

Was denn? . . . ich als Mann . . . was soll ich als Mann? . . . und außerdem, Du kennst doch die Schwiegermama.

HELENE

(bitter). Allerdings.

HOFFMANN.

Wo ist sie denn jetzt?

HELENE.

Die Spillern stutzt sie heraus, seit Herr Loth hier ist; sie wird wahrscheinlich zum Abendbrod wieder ihr Rad schlagen.

HOFFMANN

(schon wieder in eigenen Gedanken, macht einen Gang durch’s Zimmer; heftig). Es ist das letzte Mal, auf Ehre! daß ich so etwas hier in diesem Hause abwarte. – Auf Ehre!

HELENE.

Ja, Du hast es eben gut. Du kannst gehen, wohin Du willst.

HOFFMANN.

Bei mir zu Hause wäre der unglückliche Rückfall in dies schauderhafte Laster auch sicher nicht vorgekommen.

HELENE.

Mich mache dafür nicht verantwortlich! Von mir hat sie den Branntwein nicht bekommen. Schaff’ Du nur die Spillern fort, ich sollte bloß ’n Mann sein.

HOFFMANN

(seufzend). Ach, wenn es nur erst wieder vorüber wär’! – (in der Thür rechts) also Schwägerin, Du thust mir den Gefallen: einen recht apetitlichen Abendtisch! Ich erledige schnell noch eine Kleinigkeit.

[27]HELENE

(drückt auf den Klingelknopf. Miele kommt). Miele, decken Sie den Tisch! Eduard soll Sekt kalt stellen und vier Dutzend Austern öffnen.

MIELE

(unterdrückt, batzig). Sie kinn’n ’s ’m salber sagen, a nimmt nischt oa vu mir, a meent immer: a wär ok beim Inschinnär gemit’t.

HELENE.

Dann schick’ ihn wenigstens rein.

(Miele ab. Helene tritt vor den Spiegel, ordnet dies und das an ihrer Toilette; währenddeß tritt Eduard ein.)

HELENE

(immer noch vor dem Spiegel). Eduard, stellen Sie Sekt kalt und öffnen Sie Austern! Herr Hoffmann hat es befohlen.

EDUARD.

Sehr wohl, Fräulein. (Eduard ab. Gleich darauf klopft es an die Mittelthür.)

HELENE

(fährt zusammen). Großer Gott! – (zaghaft:) Herein! – (lauter und fester:) herein!

LOTH

(tritt ein ohne Verbeugung). Ach, um Verzeihung! – ich wollte nicht stören, – mein Name ist Loth.

HELENE

(verbeugt sich tanzstundenmäßig).

STIMME HOFFMANN’S

(durch die geschlossene Zimmerthür). Kinder! keine Umstände! – ich komme gleich heraus. Loth! es ist meine Schwägerin Helene Krause! und Schwägerin! es ist mein Freund Alfred Loth! Betrachtet Euch als vorgestellt.

HELENE.

Nein, über Dich aber auch!

LOTH.

Ich nehme es ihm nicht übel, Fräulein! bin selbst, wie man mir sehr oft gesagt hat, in Sachen des guten Tons ein halber Barbar. – Aber wenn ich Sie gestört habe, so . . .

HELENE.

Bitte, – Sie haben mich gar nicht gestört, – durchaus nicht. (Befangenheitspause, hierauf:) Es ist . . . . [28]es ist schön von Ihnen, daß – Sie meinen Schwager aufgesucht haben. Er beklagt sich immer von . . . er bedauert immer, von seinen Jugendfreunden so ganz vergessen zu sein.

LOTH.

Ja, es hat sich zufällig so getroffen. – Ich war immer in Berlin und daherum – wußte eigentlich nicht wo Hoffmann steckte. Seit meiner Breslauer Studienzeit war ich nicht mehr in Schlesien.

HELENE.

Also nur so zufällig sind Sie auf ihn gestoßen?

LOTH.

Nur ganz zufällig – und zwar gerade an dem Ort, wo ich meine Studien zu machen habe.

HELENE.

Ach, Spaß! – Witzdorf und Studien machen, nicht möglich! in diesem armseligen Neste?!

LOTH.

Armselig nennen Sie es? – Aber es liegt doch hier ein ganz außergewöhnlicher Reichthum.

HELENE.

Ja doch! in der Hinsicht . . .

LOTH.

Ich habe nur immer gestaunt. Ich kann Sie versichern, solche Bauernhöfe giebt es nirgend wo anders, da guckt ja der Überfluß wirklich aus Thüren und Fenstern.

HELENE.

Da haben Sie recht: in mehr als einem Stalle hier fressen Kühe und Pferde aus marmornen Krippen und neusilbernen Raufen! das hat die Kohle gemacht, die unter unseren Feldern gemuthet worden ist, die hat die armen Bauern im Handumdrehen steinreich gemacht (sie weist auf das Bild an der Hinterwand). Sehen Sie da – mein Großvater war Frachtfuhrmann; das Gütchen gehörte ihm, aber der geringe Boden ernährte ihn nicht, da mußte er Fuhren machen. – Das dort ist er selbst in der blauen Blouse – man trug damals noch solche blaue Blousen. – Auch mein Vater als junger Mensch [29]ist darin gegangen. – Nein! – so meinte ich es nicht – mit dem »armselig«; nur ist es so öde hier. So . . . gar nichts für den Geist giebt es. Zum Sterben langweilig ist es.

(Miele und Eduard ab- und zugehend decken den Tisch rechts im Hintergrunde.)

LOTH.

Giebt es denn nicht zuweilen Bälle oder Kränzchen?

HELENE.

Nicht ’mal das giebt es. Die Bauern spielen, jagen, trinken . . . was sieht man den ganzen Tag? (sie ist vor das Fenster getreten und weist mit der Hand hinaus) hauptsächlich solche Gestalten.

LOTH.

Hm! Bergleute.

HELENE.

Welche gehen zur Grube, welche kommen von der Grube: das hört nicht auf. – Wenigstens ich sehe immer Bergleute. Denken Sie, daß ich alleine auf die Straße mag? höchstens auf die Felder, durch das Hinterthor. Es ist ein zu rohes Pack! – und wie sie einen immer anglotzen, so schrecklich finster – als ob man geradezu was verbrochen hätte.

Im Winter, wenn wir so manchmal Schlitten gefahren sind[,] und sie kommen dann in der Dunkelei in großen Trupps über die Berge, im Schneegestöber[,] und sie sollen ausweichen, da gehen sie vor den Pferden her und weichen nicht aus. Da nehmen die Bauern manchmal den Peitschenstiel, anders kommen sie nicht durch. Ach, und dann schimpfen sie hinterher. Hu! ich habe mich manchmal so entsetzlich geängstigt.

LOTH.

Und nun denken Sie an: Gerade um dieser Menschen willen – vor denen Sie sich so sehr fürchten, bin ich hierher gekommen.

HELENE.

Nein aber . . .

[30]LOTH.

Ganz im Ernst, sie interessiren mich hier mehr als Alles andere.

HELENE.

Niemand ausgenommen?

LOTH.

Nein.

HELENE.

Auch mein Schwager nicht ausgenommen?

LOTH.

Nein! – das Interesse für diese Menschen ist ein ganz anderes, – höheres . . . verzeihen Sie, Fräulein! Sie können das am Ende doch wohl nicht verstehen.

HELENE.

Wieso nicht? ich verstehe Sie sehr gut. Sie . . . (sie läßt einen Brief aus der Tasche gleiten, Loth bückt sich darnach) ach, lassen Sie . . . es ist nicht wichtig, nur eine gleichgültige Pensionscorrespondenz.

LOTH.

Sie sind in Pension gewesen?

HELENE.

Ja, in Herrnhut. Sie müssen nicht denken, daß ich . . . nein, nein, ich verstehe Sie schon.

LOTH.

Ich meine[,] die Arbeiter interessiren mich um ihrer selbst willen.

HELENE.

Ja, freilich, – es ist ja sehr interessant . . . so ein Bergmann . . . wenn man’s so nehmen will . . . es giebt ja Gegenden, wo man gar keine findet, aber wenn man sie so täglich . . .

LOTH.

Auch wenn man sie täglich sieht, Fräulein . . . man muß sie sogar täglich sehen, um das Interessante an ihnen herauszufinden.

HELENE.

Nun, wenn es so schwer herauszufinden . . . was ist es denn dann? das Interessante mein’ ich.

LOTH.

Es ist zum Beispiel interessant, daß diese Menschen, wie Sie sagen, immer so gehässig oder finster blicken.

[31]HELENE.

Wieso meinen Sie, daß das besonders interessant ist?

LOTH.

Weil es nicht das Gewöhnliche ist. Wir Anderen pflegen doch nur zeitweilig und keineswegs immer so zu blicken.

HELENE.

Ja, weshalb blicken sie denn nur immer so . . . so gehässig, so mürrisch? es muß doch einen Grund haben.

LOTH.

Ganz recht! und den möchte ich gern herausfinden.

HELENE.

Ach Sie sind! Sie lügen mir was vor. Was hätten Sie denn davon, wenn Sie das auch wüßten?

LOTH.

Man könnte vielleicht Mittel finden, den Grund, warum diese Leute immer so freudlos und gehässig sein müssen, wegzuräumen; – man könnte sie vielleicht glücklicher machen.

HELENE

(ein wenig verwirrt). Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß . . . aber gerade jetzt verstehe ich Sie doch vielleicht ein ganz klein wenig. – Es ist mir nur . . . nur so ganz neu, so – ganz – neu!

HOFFMANN

(durch die Thüre rechts eintretend, er hat eine Anzahl Briefe in der Hand). So! da bin ich wieder. – Eduard! daß die Briefe noch vor 8 auf der Post sind (er händigt dem Diener die Briefe ein, der Diener ab).

So, Kinder! jetzt können wir speisen. – Unerlaubte Hitze hier! September und solche Hitze! (Er hebt den Champagner aus dem Eiskübel.) Veuve Cliquot: Eduard kennt meine stille Liebe; (zu Loth gewendet:) habt ja furchtbar eifrig disputirt. (Tritt an den fertig gedeckten, mit Delicatessen überladenen Abendtisch, reibt sich die Hände.) Na! das sieht ja recht gut aus! (mit einem verschmitzten Blick [32]zu Loth hinüber:) meinst Du nicht auch? – Übrigens, Schwägerin! wir bekommen Besuch: Kahl-Wilhelm. Er war auf den Hof.

HELENE

(macht eine ungezogene Geberde).

HOFFMANN.

Aber Beste! Du thust fast, als ob ich ihn . . . was kann denn ich dafür? hab’ ich ihn etwa gerufen? (Man hört schwere Schritte draußen im Hausflur.) Ach! das Unheil schreitet schnelle.