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Die Uraufführung dieses Schauspiels in fünf Akten fand 1932 in Berlin statt. Leitmotivisch handelt das Stück von der Auflösung der alten patriarchalischen Ordnung, die im Zusammenhang mit dem Verfall bürgerlicher Lebensformen steht. Dieser Verlust einer einst vorhandenen Einheit wird zum zentralen Thema des Stücks.
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Schauspiel
Entstanden 1928; 1931.
Erstveröffentlichung: Einzelausgabe. Berlin, S. Fischer
1932.
MATTHIAS CLAUSEN, soignierter Herr von siebzig Jahren, Geheimer Kommerzienrat
WOLFGANG CLAUSEN, sein Sohn, Professor der Philologie, ungefähr zweiundvierzig Jahre alt, ein etwas steifer Professorentyp
EGMONT CLAUSEN, genannt Egert, des Geheimrats jüngster Sohn, zwanzig Jahre alt, schlanker, hübscher, sportlicher Junge
BETTINA CLAUSEN, Tochter des Geheimrats, sechsunddreißig Jahre alt, etwas verwachsen, eine mehr sentimentalische als kluge Persönlichkeit
OTTILIE KLAMROTH, Tochter des Geheimrats, siebenundzwanzig Jahre alt, hübsche anziehende Frau ohne Eigenart
ERICH KLAMROTH, Ottiliens Mann, siebenunddreißig Jahre alt, Direktor in den Clausenschen Betrieben, vierschrötig, tüchtig, provinziell
PAULA CLOTHILDE CLAUSEN, geborene von Rübsamen, fünfunddreißig Jahre alt. Sie hat scharfe, nicht angenehme Züge, einen Geierhals, dabei eine entschieden sinnlich-brutale Körperlichkeit
DR. STEYNITZ, Sanitätsrat, etwa fünfzig Jahre alt, Hausarzt und Hausfreund bei Clausens. Er ist Junggeselle, wohlhabend, hat seine Praxis eingeschränkt
HANEFELDT, Justizrat, geschmeidiger Herr, vierundvierzig Jahre alt
IMMOOS, Pastor
GEIGER, Professor an der Universität Cambridge, alter Freund des Geheimrats Clausen
DR. WUTTKE, Privatsekretär des Geheimrats, klein, rundlich, bebrillt
EBISCH, Gärtner, über fünfzig Jahre alt
FRAU PETERS, geborene Ebisch, dessen Schwester, etwa fünfundvierzig Jahre alt
INKEN PETERS, deren Tochter, nordischer Typ
WINTER, Diener bei Geheimrat Clausen
DER OBERBÜRGERMEISTER
DER STADTVERORDNETENVORSTEHER
STADTVERORDNETE, STADTRÄTE
KINDER
Ort der Handlung: eine größere deutsche Stadt.
Das Bibliotheks- und Arbeitszimmer des Geheimrats Matthias Clausen in dessen Stadthaus. Über dem Kamin links das Bildnis eines schönen jungen Mädchens, von Fritz August Kaulbach gemalt. An den Wänden bis zu der Decke hinauf Bücher. In einer Ecke Bronzeabguß einer Büste des Kaisers Marc Aurel. Zwei gegenüberliegende Türen zu den übrigen Räumen stehen offen, ebenso die Flügel einer breiten Glastür vor einem steinernen Balkon in der Hinterwand. Einige große Globen stehen auf der Erde, auf einem der Tische ein Mikroskop. Hinter dem Balkon sind die Wipfel eines Parkes sichtbar, von dort dringt Jazzmusik herauf.
Heißer Julitag, mittags gegen ein Uhr.
Es treten ein: Bettina Clausen, begleitet von Professor Geiger.
PROFESSOR GEIGER. Es ist nun drei Jahre her, ich bin seit dem Tode Ihrer Mutter nicht hiergewesen.
BETTINA. Es war furchtbar schwer mit Vater, besonders im ersten Jahr. Er konnte sich gar nicht mehr zurechtfinden.
PROFESSOR GEIGER. Ihre Briefe, liebe Bettina, haben mir oft Sorge gemacht. Fast mußte man glauben, er würde nicht aufkommen.
BETTINA. Ich glaubte felsenfest daran. Und weil ich es glaubte, ist es geschehen! Mit schwärmerischem, gleichsam verklärtem Ausdruck. Aber ich hatte ja freilich auch das Vermächtnis von Mama: sie hat ihn mir geradezu übergeben, sein Schicksal mir geradezu überantwortet, Vater geradezu an mein Herz gelegt. Zwei Tage vor ihrem Tode sagte Mama: »Ein solcher Mann hat noch viel zu tun auf der Welt, er muß ihr noch lange erhalten bleiben, und du, Bettina, sorge dafür. In dem Augenblick, wo ich die Augen schließe, beginnt deine Aufgabe.«
PROFESSOR GEIGER. Diese schwere Aufgabe haben Sie treulich erfüllt.
BETTINA. Sie war zugleich schwer und leicht, diese Aufgabe. Und dann, Herr Professor, Sie sind ja der beste Freund von Papa, Sie kannten ihn lange vor mir und besser als ich – mir war es erst in den letzten Jahren vergönnt, ihm wahrhaft verstehend nahezutreten –, so mögen Sie vielleicht ahnen, was mir diese Zeit bedeutet hat. Und schließlich das Glück, die Belohnung dieses Erfolges!
PROFESSOR GEIGER. Er ist wieder ganz der alte geworden?
BETTINA. Er war nach Mamas Tod gleichsam erblindet, wie er mir gestanden hat, und mußte sich langsam ins Leben zurücktappen.
PROFESSOR GEIGERtritt an die offenstehende Balkontür, blickt in den Garten hinunter, aus dem jetzt die Klänge einer Jazzband heraufdringen. Und nun auf einmal das Leben im Haus – – unten die Gardenparty mit Drinks, Bowle und Limonade im Gang, wie es in den glücklichsten Zeiten des Hauses gewesen ist!
BETTINA. Er ist dem Dasein wiedergegeben.
Gleichsam um sich in den Garten zu begeben, gehen beide im Gespräch zur gegenüberliegenden Tür hinaus.
Durch ebendie Tür wie die Vorigen erscheinen Professor Wolfgang Clausen und Gattin Paula Clothilde.
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Eben ist Papa der Ehrenbürgerbrief überreicht worden.
PAULA CLOTHILDE,mit gemachter Gleichgültigkeit. Man hörte ja munkeln … warum denn nicht?!
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Heute abend bringen ihm zwei- bis dreitausend Menschen aus allen Parteien einen Fackelzug.
PAULA CLOTHILDE. Na ja, das muß überstanden werden.
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Überstanden werden? Wie meist du das?
PAULA CLOTHILDE. Was ist denn schließlich ein Fackelzug? Alle naselang mußte mein Vater als Korpskommandeur so ’nen Fez über sich ergehen lassen. Er stand schließlich kaum noch von Tische auf.
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN,leicht gereizt. Dein Vater natürlich war so was gewohnt. Aber da es Papa etwas Neues ist und für seine Beliebtheit zeugt, wird er sich sehr darüber freuen.
PAULA CLOTHILDE. Ich verstehe die ganze Sache nicht. Erst kriecht euer Vater ins Mauseloch, versteckt sich, läßt sich von niemandem sprechen, dann plötzlich wird dieser Riesenrummel in Bewegung gesetzt. Da muß irgend etwas dahinterstecken.
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Papa hat den Bitten seiner Kinder, meinen, Ottiliens und Bettinens Bitten, nachgegeben und ist zu seinem Geburtstag nicht fortgereist. Nach Schwager Klamroths und unserer Ansicht war das notwendig: wer so wie Papa mit dem städtischen Leben verbunden ist, darf weite Kreise nicht vor den Kopf stoßen.
PAULA CLOTHILDE. Früher hat er das leider sehr oft getan.
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Was willst du nun eigentlich sagen, Paula? Gönnst du Vater vielleicht die ihm so in Hülle und Fülle dargebrachten Ehren nicht?
PAULA CLOTHILDE. Gönnen, gönnen: was heißt denn das? Was hätte denn ich als verarmte Adlige noch für Ansprüche?! Und schließlich bringen dir auch mal nach dreißig, vierzig Jahren die Studenten einen Fackelzug. – Sie ist auf den Balkon getreten und nimmt das Lorgnon vor die Augen. Wer ist denn die blonde Bohnenstange, mit der sich Schwager Klamroth im Kreise dreht?
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSENtritt neben sie. Die lange Blonde? Das weiß ich nicht. Ich kenne kaum diesen und jenen unter den Angestellten.
PAULA CLOTHILDE. Na siehst du, Wolfgang, ich weiß, wer sie ist: die Mutter ist Witwe, sie wohnen in Broich, der Onkel ist Schloßgärtner, sie heißt Inken Peters oder so, – man muß seine Augen da und dort haben …
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Und? – woher stammt deine Wissenschaft?
PAULA CLOTHILDE. Sie stammt von Justizrat Hanefeldt, er verwaltet die Herrschaft Broich. – Euer Vater soll übrigens manchmal draußen Besuch machen …
PROFESSOR WOLFGANG CLAUSEN. Weshalb nicht?! warum erzählst du mir das? –
Das Ehepaar geht ab.
Sanitätsrat Dr. Steynitz und Privatsekretär Dr. Wuttke kommen.
SANITÄTSRAT STEYNITZ,mit Bezug auf Paula Clothilde, der er nachblickt. Diese Dame hat Haare auf den Zähnen.
WUTTKEstellt sich unwissend. Welche Dame meinen Sie wohl?
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Eine gewisse, mit der nicht gut Kirschen essen ist.
WUTTKE. Mit welcher gewissen ist nicht gut Kirschen essen?
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Mit einer gewissen geborenen von Rübsamen. Oder meinen Sie, daß mit ihr gut Kirschen essen ist?
WUTTKElacht. Nein, das könnte wohl niemand behaupten. Über Geschmäcker ist nicht zu streiten – aber diese beiden Ehen, die von Wolfgang und die von Ottilie Clausen, verstehe ich nicht. Der brave Wolfgang und diese Paprikaschote einerseits – und diese verwöhnte Glashauspflanze Ottilie, die sich einem richtigen Bierkutscher an den Hals geworfen hat!
Direktor Erich Klamroth, etwas hastig, aus der entgegengesetzten Tür.
KLAMROTHwischt sich den Schweiß von der Stirn. Bullenhitze? Haben Sie meine Frau gesehen?
WUTTKE. Nein, aber Ihr Schwager Wolfgang und seine Frau sind eben durchs Zimmer gegangen.
KLAMROTH. Das Wölfchen mit der geborenen von Rübsamen. Diese Frau kommt sich immer vor wie die Direktrice vons Janze.
WUTTKE. Wenn sie es noch nicht ist, liegt es nicht an ihr …
KLAMROTH. Unter anderem dürfte das dann wohl auch an mir liegen. Übrigens hält sich der Seniorchef ausgezeichnet. Man sagt ja, der Ehrenbürgerbrief wird ihm überreicht. Alles klappt ja so ziemlich, wie mir scheint. Wo residieren denn jetzt die Hauptperson? Ich möchte den Aktus nicht versäumen.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Dann hätten Sie müssen früher zur Stelle sein, wenn das Ihre Absicht gewesen ist.
KLAMROTHwird dunkelrot. Was? Zu Wuttke. Konnten Sie mich denn nicht davon verständigen, hören Sie mal? Oder gehört das nicht zu Ihren Aufgaben?
WUTTKE. Nein, meine Aufgabe war das nicht.
KLAMROTH. Ihr Lapidarstil ist manchmal recht aufreizend!
WUTTKE. Ganz ohne Absicht meinerseits.
KLAMROTH. Aber es ist nicht zu leugnen, daß er es ist. Was haben Sie übrigens in der Mappe?
WUTTKE. Allerlei für den Herrn Jubilar.
KLAMROTH. Machen Sie sich nicht wichtig, Wuttke, ich erfahre nämlich auch ohne Sie alles, aber auch alles, was ich wissen muß.
WUTTKE. Es steht mir nicht an, daran zu zweifeln.
KLAMROTH. Sie drehen den Zeiger der Uhr nicht zurück! Klamroth schnell ab.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Der gute Klamroth hat mystische Wallungen.
WUTTKE. Rutschen Sie mir den Buckel lang, Herr Direktor.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Ein seltsames Wort, das den Weg für allerlei Konjekturen offenläßt.
WUTTKE. Was hat er gesagt?
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Sie werden den Zeiger der Uhr nicht zurückdrehen.
WUTTKE. Will ich den Zeiger der Uhr zurückdrehn?
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Wahrscheinlich hat er uns beide gemeint: mich, weil ich den Seniorchef schließlich doch wieder auf die Beine gestellt habe, Sie, weil Sie ebenfalls dem Geheimrat verschworen und noch nicht mit fliegenden Fahnen ins Lager Klamroth übergegangen sind.
WUTTKE. Und solange ich lebe, soll der Geheimrat das Heft nicht aus der Hand geben!
Egmont Clausen ist mit lebhaften Bewegungen eingetreten, legt die Hände gleichzeitig über die rechte Schulter des Sanitätsrats und über die linke Wuttkes und steckt von rückwärts zwischen beider Köpfe seinen Kopf.
EGMONT. So, das bedeutet zwei Fliegen mit einer Klappe! Wissen Sie, warum ich das sage, meine Herren?
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Nein, wenn Sie uns nicht totschlagen wollen, Sie Klappe.
WUTTKE. Ich weiß es ebensowenig, Klappe!
EGMONT. Soll ich von vorn sprechen, meine Herren? oder meinen Sie, daß ich von rückwärts mehr Erfolg hätte?
WUTTKE. Je nachdem Sie Duell oder Meuchelmord vorziehen.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Taschendiebe kommen von hinten am besten zum Ziel.
Egmont geht nach vorn, packt aber sogleich beide Herren beim Arm.
EGMONT. Auge um Auge, Zahn um Zahn! Nur ein Anliegen, meine Herren: Sie sollen mir nur mal das Geburtstagsgedicht abhören, das ich Papa aufsagen möchte.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Also bitte, legen Sie los.
EGMONT,bedeutsam, nah und eindringlich, aber einigermaßen wie im Geheimnis.
Habe nun, ach, Philosophie,
Juristerei und Medizin
und leider auch Theologie
durchaus studiert mit heißem Bemühn.
Da steh’ ich nun, ich armer Tor!–––
und habe Schulden wie ein Major!
Beide Herren brechen unwillkürlich in ein Gelächter aus.
SANITÄTSRAT STEYNITZ. Sagen Sie das Ihrem Alten Herrn lieber nicht auf, lieber Egert. Diese bittre Pille, noch dazu in eine Goethe-Beleidigung eingewickelt, vertrüge er nicht.
EGMONT. Deshalb brauche ich Protektion: Sanitätsrat, sanieren Sie mich! Legen Sie ein Wort für mich ein bei diesem allmächtigen Mann mit der Aktenmappe!
WUTTKE. Ich werde, wie immer, sehn, was sich machen läßt. Sie hatten mir übrigens fest versprochen, mit dem Automobiltausch bis nächstes Frühjahr zu warten: erinnern Sie sich?
EGMONT. Das hab’ ich, das hab’ ich, sicherlich. Auch wäre ich Ihnen im Wort geblieben, wenn nicht diese Gelegenheit – Gelegenheit ist Gelegenheit! – mir den Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Und dann hat Papa neulich selbst gesagt, ich sollte mal Spanien kennenlernen: mit dem alten Klapperkasten, den ich bisher gefahren habe, geht das nicht. – Also, Doktor, wann kann ich auf Antwort rechnen?
WUTTKE. In einigen Tagen, heute natürlich nicht. Kein Tröpflein Wermut darf heute in seinen Wein fallen.
Es treten ein: Geheimrat Matthias Clausen, der Oberbürgermeister, der Stadtverordnetenvorsteher mit der Kette, einige Stadtverordnete und Stadträte, Professor Geiger, Professor Wolfgang Clausen, Erich Klamroth, Bettina, die sich an den Vater schmiegt, Paula Clothilde Clausen, Ottilie Klamroth und Justizrat Hanefeldt.
EGMONTtritt mit schneller Wendung vor den Vater.Gratuliere, Papa, zum Ehrenbürger. Er küßt den Vater ungeniert auf die Stirn.
GEHEIMRAT CLAUSEN. Ja, lieber Egert, diese Herren haben mir wirklich die höchste Auszeichnung überbracht, die unser städtisches Gemeinwesen zu verleihen hat. Das Bewußtsein meiner geringen Verdienste sträubt sich noch immer gegen die Tatsache. Wäre ich jünger, Magnifizenz und verehrte Herren, so könnte ich hoffen, mich Ihrer unbegründet hohen Meinung langsam mehr und mehr würdig zu machen. Leider hämmert mir dieser festliche Tag zugleich die Erkenntnis ein, wie alt ich bin. Die schwindende Kraft, die schwindende Zeit legen mir andere Dinge nahe, als eine jugendliche drängende Kraft und eine werdende, chaotisch peinliche Zeit zu fordern haben – man wird da ganz anderer Steuermänner bedürfen –
OBERBÜRGERMEISTER. Sie sind ein Jüngling geblieben, Herr Geheimrat!
GEHEIMRAT CLAUSEN. Dieses Kompliment gebe ich an meinen Freund Geiger weiter, Herr Oberbürgermeister! Er ist extra zu meinem Geburtstag aus Cambridge herübergekommen.