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Der spielsüchtige Sir Giles Staverley verliert sein eigenes Zuhause und, aus lauter Verzweiflung das geliebte Staverley zurück zu gewinnen, die Hand seiner Tochter Serena und deren Mitgift von 80.000 Guineas. Unfähig seiner Tochter in die Augen zu blicken, bringt er sich schließlich um. Lord Justin Vulcan befindet sich nun im Besitz eines Hauses und eines Mädchens, weiß aber nicht, was er damit anstellen soll. Nachdem er aber Serena begegnet und feststellt, dass sie viel jünger und hübscher ist, als er sich vorgestellt hat, lädt er sie auf seinen Familiensitz ein, ungeachtet seiner gehässigen Mutter Lady Harriet Vulcan. Während Lady Vulcan versucht, Serena mit jedem Mann außer ihrem Sohn zu vermählen, schwebt Serena bald in großer Gefahr...
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Seitenzahl: 467
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2019
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Serena blickte sinnend aus dem Fenster. Der Frühling auf Staverley wird von Jahr zu Jahr schöner, dachte sie. Nie hatte der von unzähligen Tautropfen glitzernde Rasen ein satteres Grün gezeigt, nie hatten die Fliederbüsche betäubender geduftet, nie waren die Wasserlilien um den See von einem so leuchtenden Gold gewesen.
Serena fühlte, wie ihr das Herz aufging beim Anblick all dieser Herrlichkeiten, und ein Seufzer, glücklich und wehmütig zugleich, kam über ihre Lippen.
»Es ist Zeit für Ihre Schokolade, Miss Serena!«
Eine tiefe Stimme ließ das Mädchen erschreckt auffahren, und Serena wandte sich mit einem leisen Ausruf der Überraschung zur Tür um.
»Ich träume am hellichten Tag, Eudora«, sagte sie. »Ich habe dich nicht kommen gehört.«
Wenn Eudoras Stimme schon etwas Erschreckendes hatte, dann erst recht ihr Äußeres. Sie sah aus wie eine Zwergin. Ihr Kopf, der eigentlich ganz normale Ausmaße hatte, wirkte auf dem kleinen, mißgebildeten Körper unnatürlich groß. Niemand vermochte ihr Alter zu schätzen. Von der scharfen Nase bis zu den Mundwinkeln verliefen tiefe Linien, und die Augen, seltsam scharf und lebendig, lagen in dunklen Höhlen. Nichts schien ihnen zu entgehen, sie waren die Spiegel eines wilden, ungezügelten Geistes, der wie Serena als Kind oft gedacht hatte in diesem Körper regelrecht gefangen war.
Serena kannte Eudora ihr ganzes Leben lang. Es hatte nie eine Zeit gegeben, in der die kleine Frau nicht bei ihr gewesen war. Eudora hatte sie bemuttert, seit sie in der Wiege lag, hatte ihr stets jeden Wunsch von den Augen abgelesen, hatte sie geliebt mit einer abgöttischen Unterwürfigkeit, hatte sie eifersüchtig und voller Hingebung umsorgt.
Serena nahm die Schokolade von dem Tablett und ließ sich auf der Bank in der Fensternische nieder.
»Es ist fast schon elf«, sagte sie mit einem Seufzer. »Und ich habe noch so vieles zu tun.«
»Mrs. Beaton bat mich, Ihnen zu sagen, Miss, daß kein Fleisch im Haus sei, falls Sir Giles an diesem Abend zurückkommt.«
»Sie soll sich keine Sorgen machen«, erwiderte Serena. »Ich habe schon vor vier Tagen ein Lamm schlachten lassen. Es müßte inzwischen abgehangen genug sein. Lamm ist wie du weißt Sir Giles' Lieblingsspeise. Und teile Mrs. Beaton mit, daß sie vorher eine Suppe reicht und als Nachtisch einen Obstkuchen. Kein sehr aufwendiges Essen, aber eines, das meinem Vater schmecken wird.«
»Und wenn Sir Giles nicht kommt?«
Serena lächelte.
»Dann werde ich mich mit einem Stück Obstkuchen begnügen.«
»Ich werde Mrs. Beaton Ihre Anweisungen überbringen«, sagte Eudora.
»Ja, tue das, Eudora, und dann kommst du und hilfst mir, einige Blumen zu schneiden. Die in der großen Vase in der Eingangshalle sind schon ziemlich verwelkt.«
Sie drehte den Kopf und schaute zum Fenster hinaus.
»So ein wunderschöner Tag. Es wird herrlich draußen im Garten sein.« '
»Mein Herz ist schwer«, sagte Eudora plötzlich, und ihre Stimme zitterte.
»O Eudora, was hast du denn?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete die Alte. »Aber in der vergangenen Nacht habe ich kein Auge zugetan. Ich hatte das Gefühl, eine Wolke - eine dunkle Wolke - käme auf uns zu.«
Serena sprang hastig auf.
»Verschone mich damit, Eudora. Ich fürchte mich, wenn du solche Dinge sagst.«
»Tut mir leid. Miss Serena, aber ich habe sie ganz deutlich gesehen.«
»Gewiß«, erwiderte Serena. »Doch ich möchte nichts davon hören. Nicht an einem solch herrlichen Frühlingstag wie diesem. Heute möchte ich fröhlich sein und ohne Sorgen. Heute wird mein Vater zurückkehren. Und wir wollen beten, daß seine Reise nach London ein Erfolg gewesen ist...«
Unruhig wanderten Serenas Augen über die Wände mit den hellen Vierecken, und den Nägeln darüber, an denen ganz offensichtlich einmal Bilder gehangen hatten.
Ja, das Zimmer wirkte seltsam leer, und es war nicht zu übersehen, daß auch schon einige Möbelstücke darin fehlten.
Serena trat in die große Halle hinaus. Auch hier gab es den Eindruck einer bedrückenden Leere, und das Mädchen empfand nach dem Aufenthalt in dem sonnendurchfluteten Salon die Dunkelheit, die hier herrschte, noch stärker als sonst. Ein leichtes Frösteln überlief sie.
»Bitte, Eudora, beeile dich. Und wenn du in der Küche warst, bring mir aus meinem Schlafzimmer den Umhang mit. Ich möchte hinaus in die Sonne, um deine düsteren Voraussagen zu vergessen.«
»Sehr wohl. Miss Serena!« Eudora deutete einen Knicks an und entfernte sich humpelnd durch den marmorgedeckten Korridor in Richtung Küche.
Alleingelassen verschränkte Serena ihr Hände und starrte auf eine große leere Stelle über dem Kaminsims.
»O lieber Gott, gib, daß er gewonnen hat«, flüsterte sie. »Bitte, bitte! Sonst wird bald nichts mehr da sein, was wir noch zu Geld machen können!«
Ihre Stimme zitterte, und es gelang ihr nur mit äußerster Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie riß sich vom Anblick der leeren Halle los und drehte sich um. Sie öffnete die schwere Eingangstür, und würzige, scharfe Frühlingsluft drang ihr entgegen. Der kalte Wind zauste ihr Haar, aber sie bot ihm die Stirn, als könnte er die trüben Gedanken, die sich dahinter eingenistet hatten, mit einem Schlag vertreiben.
Doch Eudoras Worte hatten eine Wunde in Serena aufbrechen lassen, und die alte Angst hatte wieder Besitz von ihr ergriffen.
Es war unheimlich mit Eudora. Die Diener hatten schon immer behauptet, Eudora sei eine Hexe, aber Serena hatte über solche Reden gelacht. Trotzdem hatte es tief in ihrem Innersten oft die Befürchtung gegeben, ein Körnchen Wahrheit könnte doch dabei sein.
Eudora war anders als die anderen! Niemand wußte, wer ihre Eltern waren. Serenas Großvater war mit seiner Kutsche in halsbrecherischer Geschwindigkeit von London nach Staverley gefahren, hatte eine Kurve zu scharf genommen und eine Frau überrollt. Er lud die Schwerverletzte in den Wagen und, nahm sie mit aufs Schloß. Doch die Frau starb am nächsten Morgen, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hatte: Eudora.
Da alle Nachforschungen nach Namen und Herkunft der Frau ohne Resultat blieben, wuchs Eudora auf Staverley auf. Als sie groß genug war, wurde sie zunächst Mädchen für alles und später dann Serenas Dienerin. Eudora hing mit abgöttischer Liebe an Serena, und auch Serena hatte das elternlose Mädchen in ihr Herz geschlossen. Das Äußere der Dienerin hatte sie nie abgestoßen oder geängstigt.
Mit der Zeit hatte sich Eudora nicht nur bei ihrer Pflegebefohlenen, sondern auch bei einer Reihe anderer Leute auf Staverley unentbehrlich gemacht. Zahlreiche Diener verließen das Haus und kehrten nie wieder dorthin zurück, da sie oft monatelang keinen Lohn erhielten. Nur einige Mitglieder des Gesindes hielten der Herrschaft die Treue. Aus Anhänglichkeit, wie sie sagten, in Wirklichkeit jedoch wußten sie nicht wohin, und außerdem konnten sie sich ein Leben außerhalb von Staverley nicht mehr vorstellen.
Eudora war jetzt noch unersetzlicher als zuvor. Aber mochte sie auch noch so viele Verpflichtungen haben, niemals litt darunter ihre Sorge für Serena. Die Kleider des Mädchens waren immer frisch gewaschen und geplättet und ihr Haar stets zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt.
»Ich kann mir ein Leben ohne Eudora gar nicht vorstellen«, hatte Serena oft genug zu sich selbst gesagt.
Und auch jetzt wiederholte sie diese Worte, als sie im frischen Frühlingswind auf der obersten Stufe der großen Freitreppe stand, die hinunter in den Garten führte. Dennoch wünschte sie aus ganzem Herzen, Eudora würde ihre dunklen Ahnungen für sich behalten.
Es hatte nämlich etwas Unheimliches, wie Eudoras Prophezeiungen in Erfüllung gingen. Noch heute klangen die Worte, die sie einmal gesagt hatte, in Serenas Ohren: »Ich rieche das Unheil und die Gefahr.« Und es schien tatsächlich so, als rieche sie das Verhängnis, noch bevor es sich zeigte.
»Was mag es nur sein, das sie mit der dunklen Wolke meint?« fragte sich Serena unablässig.
Dabei wußte sie bereits, daß sie sich Sorgen um ihren Vater machte, dessen Heimkehr sie schon seit einigen Tagen erwartete.
Sie sehnte sich nach ihm, gleichzeitig fürchtete sie sich vor dem Augenblick, da er seinen Wagen vor dem Portal zum Stehen bringen würde.
Schon an der Art, wie er die Kutsche verließ, würde sie erkennen, ob er gewonnen oder verloren hatte.
Falls das Glück ihm hold gewesen war, würde er mit einem fantastischen Satz aus der Kutsche springen und dem Stallknecht mit jugendlichem Elan die Zügel zuwerfen. Zwei Stufen auf einmal nehmend würde er die Steintreppe hinaufeilen und dabei laut und fröhlich den Namen seiner Tochter rufen, obwohl er genau wußte, daß sie bereits in der Halle auf ihn wartete.
Anders, wenn er verloren hatte.
Schon an der langsamen Art, mit der sich der Wagen die Auffahrt hinaufbewegte, erkannte Serena das Schreckliche. Sogar die Pferde schienen von einer Lethargie befallen. Müde trotteten sie näher, und wenn sie vor der Treppe stehenblieben, verließ Sir Giles müde und zögernd die Kutsche. Den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet stieg er die Stufen hinauf. Schweigend und mit einem flüchtigen Kuß begrüßte er seine Tochter. Und ebenso schweigend ging er an ihr vorbei in die Halle, ließ sich vom Butler Hut und Mantel abnehmen und blickte sich suchend um.
Wie gut kannte Serena diesen Blick.
Wie oft hatte ihr Vater schon so dagestanden und sich in der Halle oder in den Zimmern des Schlosses umgeschaut.
Inzwischen waren alle Dinge von Wert aus dem Haus verschwunden: die Van Dyks, die Chinatruhe, das Charles II.-Silber, die herrlichen Gobelins, die schon seit Jahrhunderten im Speisesaal gehangen hatten.
»Bitte, lieber Gott, gib, daß er gewonnen hat!«
Wieder einmal wie schon so oft kam dieses Stoßgebet über ihre Lippen, aber der Wind ließ nicht zu, daß sie an irgendein Ohr drangen.
Serena hob den Kopf und spähte die Allee hinunter, wo zwischen den Bäumen plötzlich ein glänzender Pferderücken zu sehen war.
»Er kommt!« stieß sie hervor. »Ich habe eins der Pferde gesehen!«
Sie sprach mehr zu sich selbst als zu Eudora, die hinter sie getreten war.
»Ziehen Sie Ihren Umhang an, Miss Serena. Es ist empfindlich kalt hier draußen.«
»Es ist wirklich Vater. Er kommt! Was für eine ungewöhnliche Zeit! Er muß sehr früh von London aufgebrochen sein.«
In dem Augenblick, da sie die letzten Worte aussprach, fühlte sie, wie sich ihr Herz verkrampfte.
Wenn Sir Giles spielte, verließ er den Spieltisch selten vor Morgengrauen. Und wenn er schon vor Mittag in Staverley eintraf, gab es dafür nur eine einzige Erklärung.
Er hatte sein ganzes Geld verloren und war gezwungen gewesen, den Spieltisch früher als gewöhnlich zu verlassen.
Unwillkürlich streckte Serena die Hände nach der alten Dienerin aus, und Eudora begriff die hilfesuchende Gebärde. Sie nahm die Hände ihrer Herrin und drückte sie mitleidsvoll, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Serena war sich der Tatsache sehr wohl bewußt, daß die Dienerin kein Wort des Trostes für sie hatte.
Das Pferd, das Serena gesehen hatte, blieb eine Weile verschwunden, bis es zwischen den Alleebäumen auftauchte und in die Auffahrt einbog.
Serena stieß einen leisen Ruf aus.
»Aber es ist ja gar nicht Sir Giles!« rief sie aufgeregt. »Sieh doch, Eudora, es ist ein Reiter. Wer kann es nur sein?«
»Es ist nicht Sir Giles«, wiederholte Eudora Serenas Worte.
»Nein, das habe ich ja bereits gesagt!« Serenas Stimme klang ungeduldig. »Es könnte Vetter Nicholas sein. Ja, natürlich, jetzt erkenne ich ihn deutlich. Und ich war der Meinung, daß er ebenfalls in London weilt. Er muß frühzeitig zurückgekehrt sein. Vielleicht will er uns mitteilen, wann Vater hier eintreffen wird. Nicholas scheint scharf geritten zu sein. Rasch, Eudora, hole in der Küche etwas Wein und kaltes Bratenfleisch für ihn. Er wird hungrig sein nach dem anstrengenden Ritt.«
Eudora entfernte sich wortlos, und Serena hob die Hand und winkte dem näherkommenden Vetter erfreut zu.
»Nicholas, wie entzückend, dich zu sehen. Ich glaubte zuerst, es sei Vater, der heimkehrt. Kommst du direkt aus London?«
Nicholas Staverley blickte zu Serena hoch, die auf der obersten Stufe der Freitreppe stand. Ihr Haar schimmerte in der Sonne, und der Wind bauschte ihre Röcke.
Sie war sich nicht bewußt, welch hinreißenden Anblick sie bot vor den grauen Steinen des alten Hauses, und sie bemerkte auch nicht den bewundernden Blick aus den Augen des jungen Mannes.
Nicholas zog den Hut, und schwang sich aus dem Sattel. Die Zügel überreichte er einem alten Pferdeknecht, der herbeigeeilt war, ihm das Pferd abzunehmen.
»Sie sind mächtig scharf geritten, Mister Nicholas«, sagte der Mann mit der Vertraulichkeit des alten Dieners.
Als Nicholas ihm nicht antwortete, entfernte er sich leise brummend.
»Komm doch herein, Nicholas«, sagte Serena. »Nett, dich wiederzusehen. Es müssen fast zwei Monate her sein, seit du nach London gegangen bist, und ich habe nur einen einzigen Brief von dir erhalten. Eigentlich sollte ich über eine solch sträfliche Vernachlässigung gekränkt sein, aber ich kann mir natürlich denken, daß du bei den vielen Abwechslungen, die die Stadt einem jungen Mann bietet, nicht die Zeit fandest, deiner Kusine vom Land zu schreiben. «
»Aber nein, Serena, ich schwöre dir, das war nicht der Grund«, sagte Nicholas und errötete wie ein Schuljunge. »Du weißt doch, daß mir das Briefschreiben nicht liegt.«
»Na schön, aber nun bist du hier und kannst mir persönlich berichten, was es an interessanten Neuigkeiten aus London gibt. Aber bitte, du mußt mir zuerst sagen, was mit Vater ist. Hat er gewonnen?«
Bei den letzten Worten hatte Serena die Stimme gesenkt. Nicholas blickte sie an. Er überragte seine Kusine um Haupteslänge - ein hochgewachsener junger Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften.
Doch im Augenblick wirkte er nicht besonders männlich und selbstbewußt, eher wie ein verunsicherter, ängstlicher Knabe, der seinem Lehrer eine Übertretung zu berichten hat.
Serena erkannte den Ausdruck der Verlegenheit auf seinen Zügen.
»Was hast du, Nicholas?« fragte sie beunruhigt.
»Gehen wir ins Haus. Hier draußen läßt sich nicht darüber reden.«
Sie betraten das Haus, durchschritten schweigend die Halle, und Serena öffnete die Tür zum Salon.
Noch immer flutete heller Sonnenschein durch die hohen Fenster, doch irgendwie hatte Serena das Gefühl, als hätte die Atmosphäre sich plötzlich verwandelt. Ihr war, als lauerte in den Ecken des Raumes bereits das Unheil, die Erfüllung von Eudoras düsterer Prophezeiung.
Nicholas schloß leise die Tür hinter sich, dann blieb er stehen und schaute Serena an, die sich zu ihm umgewandt hatte.
Sie stand im Gegenlicht, und die Sonne umgab sie wie ein Strahlenkranz. Das schwere weizenblonde Haar schimmerte wie reines Gold.
»Was ist, Nicholas?«
»Onkel Giles...« begann er stockend.
Serenas Augen weiteten sich.
»Ist er krank? O Nicholas!«
»Schlimmer, Serena, viel schlimmer!«
Serena stieß einen kleinen Schrei aus.
»Schlimmer? Er ist... er ist doch nicht tot?«
Nicholas nickte.
Einen Moment lang stand Serena wie versteinert. Sie rührte sich nicht, nur ihre Augen suchten blicklos die seinen.
Dann fragte sie mit einer Stimme, die kaum zu vernehmen war: »Wie ist es geschehen?«
»Im Duell«, antwortete Nicholas. »Heute, im Morgengrauen. Ich war einer seiner Sekundanten.«
»Im Duell!«
Serenas Hand zuckte zur Brust. Sie glaubte, ihr Herz würde aussetzen, aber nach einem Moment fürchterlicher Angst begann es wieder zu schlagen.
Fast hätte sie »Gott sei Dank!« gesagt. Sie hatte etwas anderes, viel Schlimmeres erwartet. Etwas, das sie seit langem befürchtet hatte.
»Ja, im Duell«, wiederholte Nicholas.
»Hat er gelitten?«
»Nein, er war sofort tot. Aber... o Serena, er hat es gewollt, er hat es heraufbeschworen.«
Nicholas Gesicht war plötzlich aschfahl und Serena bemerkte, wie müde und erschöpft er aussah. Sie atmete tief, versuchte die Kontrolle über ihre Gefühle zurückzugewinnen.
Sie zwang sich, an Nicholas und, nicht an den eigenen Schmerz zu denken.
»Du bist müde, Nicholas! Komm, setze dich in den Sessel, so läßt es sich besser reden.«
Nicholas winkte unwillig ab.
»Warte, Serena, da ist noch etwas, das ich dir zu sagen habe. Bitte, du mußt mich anhören!« Er trat ein paar Schritte auf sie zu. »Ich möchte, daß du mich heiratest, Serena. Jetzt, auf der Stelle! Heute noch.«
Er sprach drängend, mit beschwörender Stimme. Die Augen weit vor Überraschung, schaute Serena zu ihm auf.
»Was meinst du damit, Nicholas? Was soll das?«
»Es ist keine Zeit zu verlieren. Mit einer Sondererlaubnis dürfte es keine Schwierigkeit sein. Andernfalls reisen wir in dieser Nacht noch nach Gretna.«
»Aber Nicholas, was ist mir dir? Fühlst du dich nicht wohl?«
Nicholas fuhr sich mit einer fahrigen Geste über die Stirn.
»Nein, mir fehlt nichts, Serena. Du mußt nur einwilligen! Das ist das einzige, was du jetzt tun kannst, glaub es mir!«
»Nicholas, Lieber, ich schlage vor, du erzählst jetzt von Anfang an, was dies alles zu bedeuten hat!«
Besorgt ruhte ihr Blick auf seinem Gesicht.
Er war ihr vertraut, seit sie Kinder gewesen waren. Als ihr erster Vetter war er der Erbe von Staverley, da sie selbst keine Brüder hatte. Aber er war immer ein ruhiger und zurückhaltender Junge gewesen. Als Kinder hatten sie miteinander gespielt und hatten sich auch ab und zu einmal gestritten. Aber zumeist war Nicholas der Nachgiebigere gewesen und hatte Serena die Führung überlassen. Nur selten hatte Nicholas einmal die Initiative ergriffen. Von seiner Wesensart her war er eher reserviert und förmlich. Sein Vater hatte ihm ein kleines Vermögen hinterlassen. Nicht viel, aber es reichte, um dem Sohn ein angenehmes. und sorgloses Leben zu sichern. Vor einiger Zeit war Nicholas nach London gereist, um sich ein wenig bei Hof umzuschauen. Er hing sehr an Serena, wie diese sehr wohl wußte. Aber das, was er für sie empfand, war wohl mehr die Zuneigung des Bruders, nicht die des Mannes zu einer Frau. Das letzte, was Serena jemals erwartet hätte, war ein Heiratsantrag aus dem Munde des Vetters.
»Nimm Platz, Nicholas!« bat sie.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Eudora trat ein, in der Hand ein Tablett mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern.
»Eine Stärkung wird in wenigen Minuten fertig sein«, sagte sie. »In der Zwischenzeit wird Mister Nicholas sicher gern einen Schluck Wein trinken, dachte ich mir.«
»Stelle das Tablett hin und laß uns allein, Eudora«, befahl Serena ruhig.
Nachdem Eudora den Raum verlassen hatte, trat Nicholas, ohne eine Einladung abzuwarten, an den Tisch und goß sich ein Glas Wein ein. Er leerte es in einem Zug. Dann machte er einige ziellose Schritte durch den Raum, seine Rechte fuhr mit einer fahrigen Bewegung über die Stirn.
»Und nun, Nicholas, erzähle mir alles!«
Nicholas holte tief Luft. Er schien nach Worten zu suchen. Dann begann er zu reden, und seine Stimme klang gehetzt und stockend.
»Onkel Giles hatte in den letzten drei Tagen unablässig Pech. Er verlor. Er konnte machen, was er wollte, er bekam einfach keine vernünftigen Karten mehr. Doch plötzlich, am gestrigen Abend wendete sich das Glück. Er gewann wieder. Kein Vermögen, aber immerhin einige Tausende. Etwa so viel, wie er an den Tagen zuvor verloren hatte. Ich war die ganze Zeit bei ihm und habe zugeschaut. Als sein Mitspieler sich erhob und erklärte, er müsse leider aufhören, machte ich Onkel Giles den Vorschlag, gemeinsam zum Essen zu gehen. Er lächelte mich an und meinte: ‚Das ist eine gute Idee, Nicholas, mein Junge! Mir kommt es so vor, als hätte ich schon seit einer Ewigkeit nichts mehr zu mir genommen.‘ Er erhob sich, und wir wollten eben den Speisesaal verlassen, als sich die Tür öffnete und ein Mann hereinkam.«
Nicholas hielt inne.
»Wer war dieser Mann?« fragte Serena.
»Vulcan.«
»Der Marquis von Vulcan?«
Nicholas nickte.
»Dieser Mensch!« rief Serena. »Seinetwegen mußten wir die van Dycks verkaufen.«
»Ja, ich weiß. Er ließ seine Blicke durch den Saal wandern, und als er Onkel Giles bemerkte, sagte er: ‚Ah, Giles, falls Sie Wert auf Revanche legen, ich stehe Ihnen gern zur Verfügung!‘ ‚Mylord‘, unterbrach ich ihn, ‚mein Onkel ist gerade dabei, mit mir zum Essen zu gehen.‘ Er starrte mich an, als sei ich ein Lakai und wandte sich wieder an deinen Vater. ,Well, Sir Giles, sind Sie gewillt?‘ Dein Vater nahm sofort wieder auf seinem Stuhl Platz und erwiderte: ‚Ich stehe zu Diensten, Mylord!‘ Glaub mir, Serena, ich konnte nichts dagegen tun. Ich war einfach machtlos.«
»Ja, Nicholas, ich weiß, du hast dein Bestes getan«, erwiderte Serena. »Und was geschah dann?«
»Sie begannen zu spielen. Dein Vater verlor, das Glück hatte ihn wieder verlassen. Er verlor alles, was, er hatte mehrere tausend Pfund. Und schließlich bot er als Einsatz dieses Haus.«
»O nein, Nicholas, nicht das!«
»Doch, Serena.«
»Und er verlor?«
»Ja, er verlor.«
Einen Moment lang bedeckte Serena mit beiden Händen die Augen.
»Das kann ich nicht ertragen«, flüsterte sie. »Staverley ist meine Heimat.«
»Das ist noch nicht alles«, fuhr Nicholas mit heiserer Stimme fort.
»Was denn noch?«
»Onkel Giles erhob sich und sagte zu dem Marquis: ‚Mylord, Sie haben alles Geld, das ich besaß, gewonnen: Und nun verlor ich auch noch mein Haus an Sie. Ich muß Ihnen Gute Nacht sagen, denn ich besitze nichts mehr, das ich einsetzen könnte!‘«
Nicholas machte eine Pause und blickte Serena besorgt an.
Serena nickte und bedeutete ihm, weiter zu reden.
»Lord Vulcan schaute deinen Vater an«, fuhr Nicholas in seinem Bericht fort. »Plötzlich sagte er: ‚Das ist schade, Sir Giles. Ich hatte gehofft, Ihnen Revanche geben zu können. Haben Sie wirklich nichts mehr,, womit Sie Ihr Glück versuchen können?‘ Während er sprach, spielte er mit den Karten, und dein Vater schien regelrecht hypnotisiert zu sein. In seinen Augen leuchtete es begierlich, und schließlich erwiderte er mit einer unnatürlichen Ruhe: ‚Es gibt noch ein letztes, das ich besitze!‘«
»Was meinte er denn damit?« wollte Serena wissen.
Nicholas senkte den Blick.
»Ich... ich kann es dir nicht sagen, Serena.«
»Nun mach' dich nicht lächerlich, Nicholas. Natürlich kannst du es mir sagen. Also bitte, fahre fort!«
»Er meinte dich.«
»Was... was meinte er?«
»Onkel Giles sagte: ‚Mylord, eins ist mir noch geblieben, und ich bin ganz sicher, wenn ich das einsetze, werde ich gewinnen. Ich habe eine Tochter, und wenn sie heiratet, wird sie achtzigtausend Pfund erben. Aber verstehen Sie richtig: Nur wenn sie heiratet. Sind Sie bereit, Mylord, Ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen?‘«
Mit einer ruckartigen Bewegung trat Serena an das offenstehende Fenster. Sekundenlang verharrte sie reglos, dann hatte sie sich gefaßt. Ihre Stimme war fest, wenn auch leise, als sie sich zu Nicholas herumdrehte.
»Sprich weiter, Nicholas!«
»Der Marquis lächelte mokant, und wenn ich den Mut dazu gehabt hätte, ich hätte ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht geschlagen. Aber ich war wie gelähmt. Ich stand nur da und starrte auf deinen Vater, und ich fragte mich, wie weit er diesen Wahnsinn noch treiben würde. ‚Wie ist es, sind Sie einverstanden?‘ sagte Onkel Giles. ‚Ich bin einverstanden!‘ antwortete der Marquis. ‚Alles, was Sie verloren haben gegen meine Freiheit!‘ Sie begannen zu spielen. Nach knapp drei Minuten war alles vorbei. Lord Vulcan hatte gewonnen.«
Serena schloß die Augen. Die ganze Welt schien sich in wilden Wirbel um sie zu drehen.
»Und was geschah dann?«
»Onkel Giles verließ den Club ohne ein Wort. Ich folgte ihm, versuchte mit ihm zu reden, aber er stieß mich zurück. ‚Laß mich in Ruhe, Nicholas‘, sagte er. ‚Niemand kann mir jetzt noch helfen. Ich muß allein in der Hölle schmoren, die ich mir bereitet habe!‘ Er ging wie ein Schlafwandler durch die St. James' Street. Ich war ratlos, wußte nicht, was ich tun sollte und folgte ihm in einigem Abstand. Auf dem Piccadilly angekommen, blieb er einen Moment lang stehen. Ein Mann kam auf ihn zu, der Kleidung nach ein Gentleman.
Ganz plötzlich setzte sich dein Vater in Bewegung, ging auf den Mann zu und rempelte ihn mit der rechten Schulter an. ‚Aus dem Weg, Sir!‘ rief er dabei mit scharfer Stimme. Der Unbekannte starrte Onkel Giles an. ‚Würden Sie gefälligst etwas besser auf Ihre Manieren achten, Sir!‘ sagte er. ‚Meine Manieren gehen Sie einen Dreck an!‘ erwiderte dein Vater, und es bestand nicht der geringste Zweifel, daß er den Mann absichtlich provozierte. Denn plötzlich hob er die Rechte und schlug dem anderen klatschend die Handschuhe ins Gesicht.«
»O nein!« rief Serena entsetzt.
»Ja, es war Absicht«, fuhr Nicholas fort. »Dem Fremden blieb keine Wahl. Er bat um die Karte deines Vaters und reichte ihm die eigene. Dann erklärte er, in wenigen Stunden würde er ihm seine Sekundanten schicken. Ich trat zu Onkel Giles und bot ihm meine Dienste an. Er willigte ein und nahm freundlich meinen Arm. ‚Gehen wir zu meinem Hotel in der Half Moon Street, Nicholas, mein Junge‘, sagte er, und er schien irgendwie erleichtert. Ich nahm ihm die Karte des Fremden aus der Hand und blickte darauf: Mister Michael Blacknorton. ‚Onkel Giles‘, rief ich entsetzt, ‚du mußt den Verstand verloren haben. Weißt du, wer dieser Mann ist? Einer der besten und streitsüchtigsten Pistolenschützen Londons.‘ Dein Vater nickte. ‚Dachte ich es mir doch. Er kam mir gleich irgendwie bekannt vor.‘ Seine Stimme klang ungerührt, und nun wußte ich endgültig, daß ich mit meiner Vermutung recht hatte: Er hatte diesen Streit absichtlich vom Zaun gebrochen.«
»Aber warum nur? Warum?«
»Du weißt genau warum«, entgegnete Nicholas. »Begreifst du denn nicht, Serena. Er hatte Staverley verloren und dich.«
»Ja, ich glaube, nun ist mir alles klar.«
»Mister Blacknortons Sekundanten standen eine Stunde später vor der Tür«, setzte Nicholas seinen Bericht fort. »Ich versuchte, auf Degen zu bestehen, aber dein Vater akzeptierte Pistolen. Bis zum Morgengrauen hörte er nicht auf zu trinken und zu reden. Dann fuhren wir zu einem Feld in der Nähe des Dorfes Chelsea. Was mich am meisten überraschte, war die Heiterkeit, die Onkel Giles ausstrahlte. Er machte den Eindruck eines Mannes, der seinen Frieden gefunden hat. Er schüttelte meine Hand und sagte: ‚Kümmere dich um Serena, so gut du kannst, Nicholas. Und bitte sie um Vergebung. Sag ihr, ich sei ihrer Liebe und ihrer Gebete nicht wert!‘«
Nicholas Stimme erstarb.
Sekundenlang herrschte verzweifeltes Schweigen zwischen ihnen, dann sagte Serena, während ihr die Tränen über die Wangen liefen: »Hat er Mister Blacknorton verletzt?«
»Er schoß in die Luft«, antwortete Nicholas. »Und ich hatte den Eindruck, Blacknorton hatte vor, ihn nur zu streifen. Aber Onkel Giles drehte sich regelrecht in die Flugbahn der Kugel. Sie traf ihn wenige Zoll über dem Herzen. Er war auf der Stelle tot. «
»O Nicholas, hätte ich doch bei ihm sein können!«
Serena sank auf der Bank in der Fensternische nieder und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Ich konnte nichts mehr für ihn tun«, sagte Nicholas. »Peter Vivien war mit dabei. Er versprach mir, für die Überführung deines Vaters zu sorgen. Ich selbst machte mich unverzüglich auf den Weg hierher, um dich von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen und dich zu überreden, mich zu heiraten...«
»Das ist gut gemeint von dir, Nicholas, aber wir haben uns nie geliebt.«
Eine leichte Röte verdunkelte das Gesicht des jungen Mannes.
»Ich habe dich stets sehr gemocht, Serena. Mehr oder weniger sind wir unser ganzes Leben zusammen gewesen. Wir würden bestens miteinander auskommen, möchte ich behaupten.«
»Ohne Liebe? Nicholas, mein Freund, ich weiß, du meinst es gut mit mir. Aber es würde dein ganzes Leben zerstören, und dessen bist du dir auch bewußt.«
»Das ist doch Unsinn, Serena. Wir mögen uns, und jeder kennt den anderen. Fürs erste könnten wir auf Gables Manor wohnen.«
»Mit dem Blick auf Staverley, das wir für immer verloren haben? Nein!« Serenas Augen funkelten unter Tränen. »Ich habe nicht vergessen, daß auch du Staverley verloren hast. Eines Tages hätte es dir gehört, und die Staverleys leben seit den Tagen Heinrichs VIII. hier. O Nicholas, es tut mir so leid für uns beide, für dich und für mich.«
Nicholas durchquerte den Raum und ließ sich neben Serena auf dem Fenstersitz nieder. Er legte seine Hände auf die ihren und drückte sie behutsam.
»Um Himmels willen, Serena, höre auf mich! Du kannst doch unmöglich Lord Vulcan heiraten!«
»Warum nicht? Vorausgesetzt, er macht mir überhaupt einen Antrag.«
»Das traue ich ihm durchaus zu. Der Mann ist ein Teufel, Serena. Ein jeder fürchtet sich vor ihm; und überall erzählt man sich die schlimmsten Greuelmärchen über ihn.«
»Welche Greuelmärchen?« wollte Serena wissen.
»Ich habe keine Ahnung. Persönlich kenne ich ihn nicht näher, da ich mich geflissentlich bemühe, ihm aus dem Weg zu gehen. Du kannst in London fragen, wen du willst: Jedermann wird dir sagen, daß sich eine anständige Lady nicht in seiner Begleitung sehen lassen kann. Natürlich sind immer Frauen um ihn herum. Er zieht sie an, wie das Licht die Motten. Aber er nimmt nur die, die er will, und schon nach kürzester Zeit ist er ihrer überdrüssig und legt sie ab, wie einen alten Hut.«
Nicholas sprach mit einem solchen Eifer, daß Serena unwillkürlich der Verdacht kam, daß er einen ganz besonderen Grund dazu hatte.
»Aber was kann ich tun?« fragte sie.
»Auf gar keinen Fall darfst du ihn heiraten. Ich werde jetzt zum Bischof reiten und ihn für uns beide um eine Sonderlizenz bitten. Dann werden wir Mann und Frau sein, bevor Vulcan hier eintrifft.«
»Wäre das ehrenhaft?« fragte Serena nachdenklich.
Nicholas zögerte einen Moment.
»Das sollte uns nicht kümmern, wenn der Marquis mit im Spiel ist. Sogar der Prinz soll eines Tages zu ihm gesagt haben: ‚Justin, ich habe nie wirklich an den Teufel geglaubt, bis ich dich kennenlernte.‘ Stell dir das vor!«
»Und weil er ein ehrloser Mensch ist, sollen wir ebenfalls ehrlos handeln, Nicholas?«
Nicholas schwieg, und Serena erhob sich von ihrem Platz. Sie begann rastlos im Raum auf und ab zu wandern. Schließlich blieb sie vor dem Bild ihres Vaters stehen.
Nachdem sie es eine Weile betrachtet hatte, sagte sie ruhig: »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß er jemals etwas Unehrenhaftes getan hat, Nicholas. Gewiß, er war ein hoffnungsloser Spieler, er besaß jedoch seinen Stolz und ein ausgeprägtes Gefühl für männliche Ehre.«
Serena schwieg erneut. Nicholas schaute sie beunruhigt an, dann stand er mit einer ruckartigen Bewegung auf und ging auf Serena zu.
Dicht vor ihr blieb er stehen.
»Du wirst mich heiraten, Serena«, sagte er gebieterisch.
»Genau das werde ich nicht tun!«
»Sei nicht so verbohrt, Serena«, verlangte Nicholas scharf. »Ich weiß, was das Beste für dich ist und du wirst tun, um was ich dich bitte!«
Serena lachte, obwohl ihre Augen voller Tränen waren.
»O Nicholas, du bist so spaßig. Du hast mich noch nie dazu bringen können, dir zu gehorchen, obwohl du drei Jahre älter bist als ich. Und auch diesmal wirst du das nicht fertigbringen. Ich werde hier auf Staverley bleiben und dem, was auf mich zukommt, tapfer ins Auge sehen. Vielleicht wird Seine Lordschaft mich gar nicht wollen, wenn er mich sieht.«
»Um dir die Wahrheit zu sagen, Serena, ich glaube in Wirklichkeit nicht daran, daß er dich heiraten wird. Schon so viele Frauen in London haben versucht, ihn einzufangen und ihn vor den Traualtar zu schleppen. Aber bisher ist es keiner gelungen. Da ist zum Beispiel im Augenblick eine Dame, die unsterblich in ihn verliebt ist, aber er macht sich nichts aus ihr.«
Nicholas Stimme klang plötzlich verändert, und nun wußte Serena, daß hier der Punkt lag, an dem ihr Vetter persönlich in die Geschichte verwickelt war.
»Und wer ist diese Dame?« fragte sie leise.
»Lady Isabel Calver«, antwortete Nicholas. »Du wirst nie von ihr gehört haben. Sie heiratete, als sie noch ein junges Mädchen war, aber ihr Ehemann fiel im Kampf gegen Napoleon. Nun ist sie Witwe. Lady Isabel ist sehr schön, Serena, die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Aber Vulcan will nichts von ihr wissen.«
»Wenn das so ist, Nicholas, dürfte es ziemlich sicher sein, daß er mich nicht heiraten wird«, entgegnete Serena. »Aber ich danke dir, liebster Vetter, daß du mir helfen wolltest. Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, und es rührt mich, daß du mir zuliebe ein solches Opfer auf dich nehmen wolltest.«
»Das hast du sehr lieb gesagt, Serena«, entgegnete Nicholas. »Aber ich weiß, du begehst einen Fehler. Diesem Burschen ist nicht zu trauen. Wenn er dich auch nicht heiratet, irgendwie wird er es bewerkstelligen, an dein Vermögen heranzukommen!«
»Dann wird er aber sehr clever sein müssen«, meinte Serena zuversichtlich. »Du weißt, wer die Treuhänder sind, die das Geld verwalten.«
»Well, dann gibt es also nichts mehr, was ich für dich tun könnte«, erklärte Nicholas.
»Keiner von uns beiden kann noch etwas tun«, erwiderte Serena. »Wir können uns jetzt nur noch mit der Tatsache beschäftigen, daß Vaters Leichnam auf dem Weg nach hier ist.«
»Ich habe es nicht vergessen, Serena.«
»Wirst du mit dem Vikar reden?« fragte sie. »Ich werde das Gesinde unterrichten. Aber nun mußt du unbedingt etwas essen, Nicholas.«
»Du hast recht. Ich bin sehr hungrig. Und müde bin ich auch. In der vergangenen Nacht habe ich kein Auge zugetan aus Sorge um dich. Eines Tages wirst du es bitter bereuen, meinem Plan nicht zugestimmt zu haben.«
»Vielleicht«, erwiderte Serena. »Aber vergiß nicht: Die Staverleys sind noch nie vor Schwierigkeiten davongelaufen. Und ich denke nicht daran, eine Ausnahme zu machen. Auch dann nicht, wenn ich gezwungen wäre, mit dem Teufel persönlich einen Ehevertrag zu schließen.«
»Vulcan wird sich verspäten«, bemerkte der Earl von Gillingham und griff lässig nach dem Weinglas, das neben ihm auf einem niedrigen Beistelltisch stand.
»Im Gegenteil«, erwiderte Sir Peter Burley, »er wird pünktlich mit dem Stundenschlag durch diese Tür kommen. Da mache ich jede Wette mit dir.«
»Einverstanden!« Lord Gillingham blickte auf die große Kaminuhr. »Um was wetten wir?«
In diesem Augenblick drang von draußen Stimmengewirr in den Salon, und Lord Gillingham sagte verblüfft: »Verdammt, Peter, ich glaube, du hast die Wette schon gewonnen.«
Doch dann öffnete sich die Tür und auf der Schwelle erschien die Gestalt einer Frau. Sie trug ein dunkelrotes Cape mit Pelzbesatz, und die große Kapuze umrahmte ein ungewöhnlich schönes Gesicht, auf dem ein strahlendes Lächeln lag.
»Isabel!« rief Lord Gillingham überrascht.
»Guten Abend, Gilly. Ich, habe nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen. Und dich auch nicht, Peter.« Lady Isabel Calver deutete einen Knicks an, dann trat sie zu ihrem Bruder und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Du siehst blendend aus, Gilly. Hast du eine neue Eroberung gemacht, oder war dir das Kartenglück hold?«
»Weder, noch«, gab Lord Gillingham zurück. »Aber was ist mit dir, Isabel? Kannst du mir erklären, was du heute abend hier zu suchen hast?«
»Dasselbe wie du, nehme ich an.« Lady Isabel wandte sich Sir Peter zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Guten Abend, Peter.«
Sir Peter Burley beugte sich tief über die dargebotene Rechte und hob sie an die Lippen.
»Zum Teufel damit, Isabel, du weißt sehr gut, was ich meine«, sagte Lord Gillingham unwillig. »Hier findet heute Abend keine Party statt. Jedenfalls war nichts Derartiges geplant, als Vulcan uns einlud, mit ihm zu dinieren.«
»Dann werden wir eben eine Party daraus machen!« Isabel lächelte, und ließ ihren purpurfarbenen Umhang von den Schultern in Sir Peters Hände gleiten. Dann schritt sie zum Kamin und ließ sich in einem der Sessel nieder.
»Du bist uneingeladen hier«, sagte ihr Bruder vorwurfsvoll. »Sei also vernünftig, Isabel. Du kannst zu dieser späten Stunde nicht ohne Anstandsdame mit Vulcan dinieren.«
»Ohne Anstandsdame?« rief Isabel. »Ist mein hochverehrter Herr Bruder nicht Anstandsdame genug? Und außerdem, wer sollte schon davon erfahren? Jedenfalls muß ich unbedingt mit Justin sprechen.«
»Ich glaubte, du seist verreist«, sagte Lord Gillingham.
»Das war ich auch bis gestern abend«, erwiderte seine Schwester. »Aber die Kutsche war so grauenhaft langsam, und ich war nach der Fahrt derart müde und zerschlagen, daß ich mich sofort hingelegt und bis heute nachmittag geschlafen habe. Du mußt also entschuldigen, daß ich dir meine Rückkehr noch nicht gemeldet habe, lieber Bruder!«
»Das ist immer noch kein Grund, hier so mir nichts dir nichts aufzutauchen!« wies Lord Gillingham sie zurecht.
»Um alles in der Welt, du bist wirklich hartnäckig, Gilly!« Isabel seufzte. »Ich habe dir doch gesagt, ich muß Justin sprechen. Ich hatte heute nachmittag meine Augen noch nicht richtig auf, als ich bereits mit einigen wilden Geschichten über Justins neueste Eskapaden konfrontiert wurde. Ich habe mich natürlich sofort auf die Suche nach ihm gemacht. Schließlich erfuhr ich, daß er nach Mandrake zu seiner Mutter gefahren sei, jedoch zur Nacht zurückerwartet werde, da er mit dir und Peter dinieren wolle. Bist du nun zufrieden?«
Lord Gillingham tauschte einen Blick mit Sir Peter. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Was sind das für wilde Geschichten, die du gehört hast?«
»Bitte, spiele mir kein Theater vor, Gilly«, antwortete Isabel scharf. »Du hast davon genauso gehört wie ich. In ganz London spricht man von nichts anderem. Und ich möchte nun von Justin selbst hören, was es damit auf sich hat.«
»Welche Geschichte meinst du denn?« fragte Lord Gillingham vorsichtig. »Es gibt zu viele davon.«
»Das weiß ich«, entgegnete Isabel unwillig. »Und es dürfte wohl keine geben, die mir nicht bekannt wäre. Dieses neueste Gerücht über Lord Vulcan berichtet von einem höchst merkwürdigen Kartenspiel. Er soll dabei seine Freiheit eingesetzt und eine Braut gewonnen haben.« Isabel war aufgesprungen und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Well«, rief sie wütend, »stimmt das nun, oder stimmt es nicht?«
Ein Blick in die Gesichter der beiden Männer verriet ihr, daß ihre Informationen der Wahrheit entsprachen, und sie stieß einen leisen Schrei aus.
Kaum war sie verstummt, als die Uhr auf dem Kaminsims zu schlagen begann.
»Hörst du, Gilly?« fragte Sir Peter mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme. Doch er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als die Tür geöffnet wurde und der Marquis von Vulcan gestiefelt und gespornt den Raum betrat.
»Ich wurde aufgehalten, Gentlemen«, sagte er, »aber ich weiß, Sie werden mir verzeihen.« Er streifte die Handschuhe ab und warf sie einem bereitstehenden Diener zu. Als er Lady Isabel erblickte, hob er sekundenlang die Brauen, dann ging er lächelnd auf sie zu. Er nahm ihre Hand in die seine und hob sie an die Lippen. Dann wandte er sich zu Gilly um und fragte: »Nun, Gilly, was gibt‘s Neues von White's?«
Marquis Vulcan schien den Raum mit seiner Gegenwart zu füllen. Ein Strom der Autorität ging von ihm aus. Jedermann kam sich in seiner Gegenwart klein und unbedeutend vor. Selbst der Earl von Gillingham, ein Mann von überdurchschnittlicher Größe, wirkte neben ihm wie ein Zwerg:
»Justin«, sagte Isabel hastig und sah ihn aus flehenden Augen an. »Justin, ich mußte dich heute abend einfach sehen.«
»Natürlich, meine Liebe, und jetzt bin ich hier.«
Lord Vulcans Stimme klang sanft.
»Ich bin gestern von meiner Reise zurückgekehrt und mußte feststellen, daß ganz London wieder einmal nur von dir spricht«, fuhr Isabel fort.
Lord Vulcan hob abwehrend die Hand.
»Verschone mich mit diesem kindischen Geschwätz! Wenigstens bis nach dem Dinner. Ich habe eine anstrengende Fahrt hinter mir und möchte mich zunächst bei einem guten Mahl davon erholen.«
»Wie lange hast du gebraucht?« erkundigte sich Sir Peter.
»Nicht mehr als fünf Stunden. Ich habe nur zweimal das Gespann gewechselt. Meine neuen Grauen sind hervorragend. Die tausend Guineas, die ich dafür gezahlt habe, waren bestens angelegt.«
»Du mußt müde sein«, sagte Isabel besorgt.
»Kutschieren ermüdet mich nie«, erwiderte Lord Vulcan. »Aber ich bin ein wenig steif, und die Straße von Dover war fürchterlich voll für diese Jahreszeit. Habe den Eindruck, viel zu viele Leute lockt die goldene Sonne in den Süden. «
Lord Gillingham lachte dröhnend.
»Vermute eher, daß es die goldenen Guineas sind. Ich hörte, die Schmuggler werden von Tag zu Tag kühner und frecher. Und die Franzosen sollen sich für den Bau von Guineas-Booten mehr interessieren als für die siegreiche Beendigung des Krieges.«;
»Die Franzosen haben ein Gespür dafür, wo der größere Profit zu holen ist«, sagte Lord Vulcan und nahm das Glas Wein, das der Diener ihm reichte.
»Leisten Sie mir Gesellschaft, Isabel?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, und Lord Vulcan hob das Glas und prostete ihr schweigend zu.
Als er das Glas auf das Tablett zurücksetzte, erschien der Butler in der Tür und verkündete:
»Das Dinner ist serviert, M'lord.«
Lord Vulcan bot Lady Isabel galant den Arm und geleitete sie in den Dining-Room.
Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist doch nicht böse, daß ich gekommen bin, Justin. Ich mußte mit dir sprechen.«
»Böse?« entgegnete er, ohne die Stimme zu dämpfen. »Hast du jemals erlebt, daß ich dir böse war?«
Sie seufzte leise.
»Nein, Justin. Manchmal wünschte ich sogar, du wärst es. Dann wüßte ich wenigstens, daß ich imstande bin, überhaupt ein Gefühl in dir zu wecken.«
Er lächelte, und leichter Spott kräuselte seine Lippen.
»Ihr Frauen seid alle gleich. Nie seid ihr mit einem Mann zufrieden, so wie er ist.«
Isabel öffnete den Mund zu einem Widerspruch, doch sie schluckte die Worte hinunter, als sie den Beiklang von Bitterkeit in seiner Stimme hörte. Der Besuch bei seiner Mutter hatte ihn vermutlich verstimmt, wie das meistens der Fall war.
Sie betraten den festlich erleuchteten Dining-Room. Die Tafel war mit kostbarem Geschirr gedeckt, und hinter jedem Stuhl stand ein Diener in der bordeauxroten, goldbetreßten Livree des Hauses Vulcan.
Der Marquis nahm, mit Isabel zu seiner Rechten, am Kopfende des Tisches Platz. '
Das Mahl war lang und abwechslungsreich. Ein Gang folgte dem anderen. Der Koch des Marquis war bekannt für seine vortrefflichen Speisen, selbst bei Hof verfügte man über keinen besseren.
Solange sich die Diener im Raum befanden, plätscherte die Unterhaltung ruhig dahin. Lord Vulcan vermied es geschickt, das Thema zu berühren, auf dessen Erörterung die Gäste voller Ungeduld warteten. Schließlich wurde der Nachtisch gereicht. Die Diener füllten die Gläser nach und zogen sich diskret zurück.
Lord Vulcan blickte von einem zum anderen und sagte leise: »Heraus mit der Sprache. Die Zurückhaltung, die ihr euch auferlegt habt, könnt ihr nun vergessen. Redet also: Was habt ihr auf dem Herzen?«
»Diese Wette, Justin...« brach es aus Isabel hervor. Es war offenkundig, daß sie ihre Aufregung und Ungeduld kaum noch zu bezähmen vermochte.
»Eine Minute, Isabel!« unterbrach ihr Bruder sie. »Justin, du hast gehört, was mit Sir Giles Staverley geschehen ist?«
»Daß er bei einem Duell getötet wurde?« fragte Lord Vulcan. »Ja, ich hörte gestern davon.«
»Die Sache war regelrechter Selbstmord«, sagte Lord Gillingham. »Hast du gehört, mit wem er sich anlegte?«
»Mit Blacknorton.«
»Ja, und er selbst feuerte in die Luft.«
»Armer Narr«, murmelte Lord Vulcan.
»Blacknorton reiste noch am selben Tag nach Frankreich«, mischte Sir Peter sich ein. »Mache jede Wette, daß er in spätestens einem halben Jahr wieder hier sein wird. Dennoch ist es ein Glück, daß wir ihn wenigstens für eine kurze Zeit los sind. Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen, mir war er noch nie sympathisch.«
»Trotzdem: Er ist ein ausgezeichneter Schütze«, bemerkte Lord Vulcan.
Isabel blickte von einem zum anderen.
»Ist Sir Giles der Vater dieses Mädchens? Und wie ist er mit Nicholas Staverley verwandt?«
»Er ist oder besser war sein Onkel«, erwiderte Gilly.
»Ja, richtig, jetzt erinnere ich mich, daß Nicholas einmal davon gesprochen hat.«
»Nicholas Staverley ist einer deiner Beaus, nicht wahr, Isabel?«
Isabel zuckte die Schultern.
»Kein übler Mensch, aber furchtbar langweilig. Doch ich glaube, seine Person ist im Augenblick nicht so wichtig. Justin, stimmt es, was man sich über dieses Mädchen erzählt?«
»Das hängt davon ab, was du gehört hast.« Lord Vulcan lehnte sich im Sessel zurück und nahm bedächtig einen Schluck Wein. '
»Justin, willst du mich zum Wahnsinn treiben!« rief Isabel erregt. »Ich möchte wissen, ob du wirklich vorhast, das Mädchen zu heiraten.«
Alle schwiegen gespannt und blickten auf Lord Vulcan. Seine Antwort erfolgte ruhig und in der ihm eigenen leicht gelangweilten und gleichgültigen Art.
»Ich habe das nie gesagt, oder?«
»Wie kann nur jemand auf die Idee kommen, du würdest eine Frau heiraten, die du nie im Leben gesehen hast!« meinte Lord Gillingham. »Die ganze Wette war lächerlich, du hättest dich nie darauf einlassen sollen.«
»Glaubt mir, ich wollte dem Mann nur eine Chance geben«, erwiderte Lord Vulcan gedehnt. »Ich hatte ihm bei anderen Gelegenheiten große Summen abgenommen und wollte ihm einfach Revanche geben.«
»Dann genügte also eine Laune der Großherzigkeit, und dir fielen innerhalb weniger Minuten sein Vermögen, sein Besitz und die Hand seiner Tochter zu?« fragte Isabel mit sarkastischem Unterton in der Stimme. »Unsinn, Justin, du kannst nicht von uns verlangen, daß wir dir eine solch windige Geschichte abnehmen. Laß uns die Wahrheit hören! Dir geht's doch nur um die achtzigtausend Pfund, und du denkst nicht im Traum daran, das Mädchen zu heiraten. Heraus mit der Sprache, was hast du vor?«
Lord Vulcan lächelte.
»Die Pläne, die dein schönes Köpfchen ausbrüten, übersteigen meine Vorstellungskraft.«
»Dann streitest du also nicht ab, daß es so ist«, rief Isabel und klatschte aufgeregt in die Hände. »O Justin, ich wußte doch, daß du das Mädchen niemals heiraten würdest.«
»Hat jemand von euch Miss Staverley schon einmal gesehen?« fragte Sir Peter. »Lady Rohan will wissen, sie habe einmal die Blattern gehabt und sei fett wie eine Jerseykuh.«
Isabell lachte.
»Mir wurde erzählt, sie schielt«, meldete sich ihr Bruder. »Allerdings halte ich das für leeres Gerede. In Wirklichkeit hat niemand dieses Mädchen gesehen, und Nicholas Staverley, der einzige, der etwas über sie sagen könnte, hat unmittelbar nach dem Duell die Stadt verlassen.«
»Wann ist denn das alles passiert?« fragte Isabel.
»Vor zehn Tagen etwa«, antwortete ihr Bruder.
»Vor zehn Tagen?« Isabel wirkte überrascht. »Und du hast in dieser Sache bisher noch nichts unternommen, Justin?«
Sie strahlte vor Glück. Eine Zentnerlast schien von ihrer Seele genommen zu sein.
»Um die Wahrheit zu sagen, meine Liebe«, erwiderte Lord Vulcan, »das Ganze war mir völlig entfallen. Meine Mutter ließ mich nach Mandrake rufen - einige Dinge waren dort zu regeln -, und wenn nicht gestern abend einer der Gäste zufällig den Tod von Sir Giles erwähnt hätte, wäre der Vorfall bei mir wohl total in Vergessenheit geraten.«
»Bei meiner Seligkeit, Justin, das ist ein verdammt starkes Stück«, bemerkte Lord Gillingham anerkennend. »Du gewinnst Ländereien, ein berühmtes Schloß und eine Braut mit einer Mitgift von achtzigtausend Pfund und vergißt das einfach. Wenn mir das ein anderer auftischen wollte, ich würde ihn für einen Witzbold halten. Aber dir, bei Gott, kaufe ich das ab.«
»Danke, Gilly«, sagte Lord Vulcan ernst. »Und nun, da ihr mir all das wieder ins Gedächtnis gerufen habt, schlage ich vor, daß wir hinfahren und uns meinen Besitz einmal anschauen!«
»Wann? Morgen?« fragte Sir Peter.
»Morgen?« erwiderte Lord Vulcan. »Warum dieser Aufschub? Warum nicht heute nacht schon?«
»Aber Justin, das ist doch unmöglich«, gab Isabel zu bedenken.
Vulcan lächelte sie an.
»Nichts ist unmöglich«, erklärte er.
»Jedenfalls für mich nicht! Was meint ihr, Freunde?« Er wandte sich an Lord Gillingham und Sir Peter. »Schauen wir uns Staverley Court und meine triefäugige, pockennarbige Braut doch gleich einmal an! Wenn ich mich recht erinnere, liegt das Schloß nicht mehr als zwölf Meilen von der Stadt entfernt. Ein Katzensprung für uns. Wir fahren hin und können um Mitternacht schon wieder zurück sein.«
»Zum Teufel, den Spaß möchte ich nicht verpassen«, rief Sir Peter begeistert.
»Ich werde mitkommen«, entschied Isabel kategorisch.
»Nun mach dich aber nicht lächerlich, Isabel«, wies ihr Bruder sie zurecht.
»Ich möchte auf dieses Vergnügen genauso wenig verzichten wie ihr. Du wirst mich mitnehmen, Justin, nicht wahr? Und zum Teufel mit Gillys ewigen Nörgeleien! Er führt sich auf wie meine Gouvernante. Ich kann sagen und tun, was ich will, er hat immer etwas daran auszusetzen.«
»Wenn du wüßtest, wie man bereits über dich redet, wärest du nicht gleich so eingeschnappt, liebe Schwester«, verteidigte sich Lord Gillingham. »Es dauert nicht mehr lange, und man wird dich aus Almack's ausschließen, warte nur ab!«
»Pah, was kümmert mich Almack's?« rief Lady Isabel und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die meisten Abende dort langweilen mich sowieso zu Tode.«
»All right, wenn du nicht anders willst, dann geh deine eigenen Wege«, entgegnete Lord Gillingham verärgert.
»Ja, genau das werde ich tun. Die Hauptsache ist nur, daß es auch Justins Wege sind.«
Lady Isabel blickte Lord Vulcan an. In ihren Augen lag ein schmachtender Ausdruck, und sie tat nichts, ihre Verliebtheit vor ihm und seinen Freunden zu verbergen.
Doch der Marquis schien ungerührt. Er reagierte nicht so, wie sie sich das eigentlich wünschte, indem er ihr tief in die Augen schaute. Und als sie eine halbe Stunde später neben ihm auf dem Bock des Phaetons saß, war er für ihre Annäherungsversuche ebenso unempfänglich.
Lord Gillingham fuhr in Sir Peters Zweispänner mit, und beide waren entschlossen, die Wette gegen Lord Vulcan zu gewinnen und als erste auf Staverley Court zu sein. Der Wetteinsatz betrug zweitausend Guineas.
Es war keine sehr warme Nacht, und Isabel hätte eigentlich trotz des pelzbesetzten Umhangs gehörig frieren müssen. Aber die Kühle der Nacht schien ihr nichts anzuhaben. Sie war mit Justin alleine. Endlich. Seit Wochen, ja Monaten hatte sie darauf gewartet.
Isabel war verliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben liebte sie einen Mann wirklich. Die Ehe mit einem mittellosen Offizier der Dragoon Guards war nur eine flüchtige Episode gewesen. Ihre Eltern liebten Isabel abgöttisch, und von Kind an war sie es gewohnt, daß man ihr jeden Willen erfüllte. Also hatte sie auch diese Ehe durchgesetzt. Zum Glück war ihr Mann schon kurz nach der Hochzeit gefallen, und alle Möglichkeiten standen ihr wieder offen. Justin war ihr in dieser Situation wie ein Engel des Himmels erschienen. Mit der ihr eigenen Wildheit und Rücksichtslosigkeit hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Es war ihr bewußt, daß er bei den angesehenen Londoner Gastgeberinnen nicht sehr beliebt war. Sie kannte das Naserümpfen, die kritischen Blicke, mit denen man sie bedachte, wenn man sie in seiner Gesellschaft antraf. Aber Isabel kümmerte das alles nicht. Noch nie hatte , sie etwas um die Wünsche oder Gefühle anderer gegeben. Sie wollte Justin, und sie würde alles tim, ihr Ziel so rasch wie möglich zu erreichen.
Zu ihrem Erstaunen machte sie jedoch wenig Fortschritte, was Justin betraf..
Er ermutigte sie weder in ihren Absichten, noch entmutigte er sie.
Isabel glaubte die Gründe für sein distanziertes Verhalten zu kennen. Es war nämlich kein Geheimnis, daß Justin eine Liebesbeziehung mit La Flamme, einer bildschönen französischen Tänzerin unterhielt, die seit kurzem auf der Bühne von Vauxhall Gardens auftrat und der Schwann aller jungen Edelmänner bei Hofe war.
Justin galt als ihr anerkannter Beschützer, doch Isabel ließ sich davon nicht beirren. Mochte es noch so viele französische Tänzerinnen in seinem Leben geben, sie traute es sich zu, sie allesamt auszustechen. Bisher hatte sie noch immer alles bekommen, was sie gewollt hatte. Und das würde diesmal nicht anders sein.
Kein Zweifel, sie würde Justin heiraten und damit das erreichen, worum sich alle ehrgeizigen Mütter mit heiratsfähigen Töchtern in den letzten Jahren vergeblich bemüht hatten.
»Nun kann ich endlich mit dir reden«, sagte sie zu Justin und schmiegte sich noch ein wenig fester an ihn.
»Hast du mich in der letzten Zeit wenigstens etwas vermißt?« fragte sie leise.
Einen flüchtigen Moment lang nahm Justin den Blick von der Straße und schaute auf sie nieder. Sie sah, daß seine Lippen sich zu einem unerwarteten Lächeln teilten.
»Ich habe nicht die Möglichkeit, eine andere Frau zu vermissen, wenn ich bei meiner Mutter bin.«
Isabel dachte über seine Antwort nach. Was er sagte, mußte wahr sein. Noch vor einigen Tagen war sie Zeuge einer Unterhaltung gewesen, in der sich jemand über das Verhältnis des Marquis zu seiner Mutter mokierte.
»Die Marchioness von Vulcan behandelt ihren Sohn, als sei er ihr Liebhaber. Doch wer etwas Genaueres wissen möchte, müßte wohl die beiden selbst fragen!«
Isabel spürte die leichte Verstimmung, die sie mit ihrer Frage in Lord Vulcan erzeugt hatte. Entschlossen änderte sie das Thema.
»Bist du gespannt darauf, was dich am Ziel unserer Fahrt erwartet?« fragte sie leichthin.
»Ich habe mir schon lange abgewöhnt, auf irgendetwas, das vor mir liegt, gespannt, zu sein«, antwortete Justin.
»O du Ärmster!« Isabel seufzte. »Vorfreude ist für mich die schönste Freude, Justin.«
»Und nie ist die Enttäuschung größer, wenn alles anders kommt, als man es erwartet hat!«
»Mein Gott, wie pessimistisch«, rief Isabel in gespielter Entrüstung. »Du wirst alt und zynisch, Justin!«
»Vielleicht.«
Justin gab den Pferden die Peitsche, und sie beschleunigten spürbar das Tempo.
»Ich wünschte, ich könnte dich verstehen«, fuhr Isabel fort. »Du bist ein rätselhafter Mensch, Justin, und niemand besitzt dein Vertrauen. Sobald man versucht, dir ein wenig näher zu kommen, stößt man auf eine unüberwindliche Schranke.«
Der Mond ging auf, und Justins Profil hob sich deutlich vor dem sternenklaren Himmel ab. Isabel fühlte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Wie schön er war in dem weiten Umhang und dem hohen Biberhut! Seine Augen waren nach vom auf die Fahrbahn gerichtet, seine Hände hantierten geschickt mit den Zügeln. Sie fuhren schnell, aber Justin war ein ausgezeichneter Fahrer, und Isabel verspürte so dicht neben ihm nicht die geringste Angst.
»Wie reizlos du mich hinstellst«, erwidert Justin. »Umso erstaunlicher, daß du dennoch Interesse für mich aufbringst!«
»Interesse!« Isabel seufzte, als sie das Wort wiederholte. Doch dann befiel sie plötzlich die Furcht, ihn zu verstimmen oder zu langweilen, wenn sie ihm ihre wahren Gefühle offenbarte, und sie sagte in scherzhaftem Tonfall: »Ich glaube fast, du hast an den meisten Dingen, die du tust, nicht die geringste Freude!«
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Isabel war plötzlich davon überzeugt, daß sie da etwas gesagt hatte, auf das er keine Antwort wußte. Vielleicht war es wirklich so, daß nichts; was er tat, ihm Freude machte. Aber warum tut er es dann, fragte sie sich verzweifelt. Sie fand keine Antwort auf diese Frage, und mit einem Mal stand sie wieder vor dieser Wand, die sie so hoffnungslos von dem Mann trennte, den sie liebte.
»Justin...«, begann sie gequält, verstummte jedoch enttäuscht, als er ihr das Wort abschnitt. Mit einer Stimme, die seine Erleichterung verriet, rief er: »Da kommen die anderen. Sie müssen aufgeholt haben. Wir lassen sie heran, bis sie auf gleicher Höhe mit uns sind. Dann werden wir es ihnen zeigen. Bete zum Himmel, daß wir den Weg nicht verfehlen!«
Die Zeit für Vertraulichkeiten war vorbei. Peter Burley wollte das Rennen unbedingt gewinnen, obgleich er sich darüber im Klaren war; daß er auf diesen Sieg nicht besonders stolz sein könnte. Schließlich hatte der Freund an diesem Tag schon eine lange und anstrengende Fahrt hinter sich.
Immer wieder liefen die Pferde Kopf an Kopf, dennoch erreichten Lord Vulcans Braune das. Tor von Schloß Staverley mit zwei Längen Vorsprung vor Lord Peters Grauschimmeln. Isabel stieß einen Freudenschrei aus, der in dem verlassenen Park einen eigenartigen Widerhall erzeugte.
»Gratuliere, Justin«, rief Isabel. »Und Sir Peter war so sicher, daß er dich schlagen würde. Da du den ganzen Tag unterwegs warst, hat er sich eine echte Chance ausgerechnet. Jedenfalls hörte ich, wie er zu Gilly davon sprach.« Da Justin nicht antwortete, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu: »Natürlich war auch etwas Glück dabei, nicht wahr? Aber das Glück ist ja stets auf deiner Seite. Befürchtest du nie, dein Glück könnte dich einmal verlassen?«
»Was meinst du mit meinem Glück?« fragte Justin.
Der Mond schien durch die Bäume und warf seltsam bizarre Muster auf den Weg.
»Dein Glück?« wiederholte Isabel nachdenklich. »Zum Beispiel deine Gewinne beim Kartenspiel in der Vergangenheit und jetzt etwa das hier...«
Isabel brach ab. Der Weg beschrieb einen Bogen, und das Schloß lag in seiner mondbeschienenen Schönheit vor ihnen. Es war ein überwältigender Anblick, dem sich auch Isabel nicht entziehen konnte. Und dennoch hatte sie das Gefühl, daß da etwas war, wodurch dieses imposante Bild beeinträchtigt wurde.
Dann plötzlich wußte sie es.
In den Fenstern dieses Hauses gähnte Dunkelheit. Es fehlte der warme Lichtschein hinter den Scheiben, der ein Haus bewohnt erscheinen läßt und die Nähe von Menschen ankündigt.
»Weißt du, daß es für Leute vom Land schon reichlich spät ist, Justin?« fragte Isabel. »Sie liegen sicher alle schon im ersten Schlaf.«
»Dann werden wir sie aufwecken«, erwiderte er.
»Sie werden Tag für Tag auf dich gewartet haben, ständig mit der bangen Frage beschäftigt, wann du endlich kommen wirst. Und nun, nachdem sie vielleicht schon wieder etwas Hoffnung geschöpft haben und nicht mehr mit dir rechnen, stehst du plötzlich vor der Tür.« Isabel lachte. »Guter Himmel, eine spaßige Situation und vor allem ganz typisch für dich!«
Lord Vulcan schwieg. Er lenkte die Kutsche über die Brücke, die den kleinen See überspannte, bog in die Auffahrt ein und hielt vor der breiten Freitreppe.
Der Pferdeknecht, der während der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen hatte, sprang aus dem Gefährt und sagte: »Soll ich läuten, M'lord?«
»Ja, und zwar kräftig!«
Der Junge eilte die Stufen hinauf und zog an der Glockenschnur. Im Inneren des Hauses erklang ein gedämpfter Ton, klagend und traurig.
Isabel fröstelte.
»Vielleicht sind sie alle tot. Kehren wir um und kommen ein anderes Mal wieder!«
Peter Burley zügelte neben ihnen die Pferde.
»Ich will verdammt sein, wenn das kein gutes Rennen war, auch wenn du mich geschlagen hast, Justin! Zwei oder dreimal habe ich sogar geglaubt, dich abhängen zu können!«
Lord Gillingham betrachtete das Haus.