Wahrer Wohlstand - Juliet B. Schor - E-Book

Wahrer Wohlstand E-Book

Juliet B. Schor

4,8

Beschreibung

Wer möchte das nicht, weniger arbeiten und besser leben? Mit großer sprachlicher Leichtigkeit präsentiert die US-amerikanische Soziologin Juliet Schor einen intelligenten Weg aus dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad. An seinem Ende stehen nicht allein veränderte Konsummuster und gesteigertes Umweltbewusstsein, sondern das befriedigende Gefühl, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

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Juliet B. Schor
WAHRERWOHLSTAND
Mit weniger Arbeitbesser leben
Aus dem Amerikanischenvon Karsten Petersen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Deutsche ErstausgabeCopyright der Originalausgabe»Plenitude. The New Economics of True Wealth«:© 2010, Juliet B. Schor.Erstmals veröffentlicht bei: The Penguin Press, New York
Copyright der deutschen Ausgabe:© 2016 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat der Übersetzung: Christoph Hirsch, oekom verlagKorrektorat: Maike SpechtUmschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deLayout und Satz: Reihs Satzstudio, Lohmar
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-86581-995-6
Für Prasannan
Inhalt
Vorwort von Harald Welzer
Einführung zur deutschen Ausgabe
Kapitel 1Ein Weg aus der Krise
Kapitel 2Vom Konsumrausch zum ökologischen Bankrott
Kapitel 3Wirtschaftswissenschaft kontra Erde
Kapitel 4Erfüllt leben auf einem angezählten Planeten
Kapitel 5Die Plenitude-Ökonomie
Danksagung
Quellen
Anmerkungen
Vorwort
Wenn es jemals ein einzelnes Jahr gegeben hat, das den glücklichen Bewohnerinnen und Bewohnern der sogenannten frühindustrialisierten Länder deutlich gemacht hat, dass ihre Wirtschaftsweise keine Zukunft hat, dann war es das Jahr 2015. Das war nicht nur ein Jahr voller Gewaltkonflikte, sondern das Jahr, in dem die schon lange vorhergesagten Zahlen von Flüchtlingen in der Welt sich in Gestalt höchst konkreter Kinder, Frauen und Männer an den Grenzen Europas manifestierten.
Angesichts der Zahl der Menschen, die ihr Leben durch eine Flucht nach Europa zu retten versuchten, war viel von der »Bekämpfung der Fluchtursachen« die Rede, bemerkenswerterweise aber nie von der wichtigsten dieser Ursachen: Die liegt in dem schlichten Umstand begründet, dass die fossile Wirtschaft fossile Rohstoffe braucht, allen voran das Öl, das vor allem in den Ländern Arabiens gefördert wird, und dass dies Hauptursache von Kriegen, gestürzten Regierungen, »failed states« und in der Folge von Terrorismus und eben massenhafter Flucht ist.
Eine fossile Wirtschaft kann nicht nur niemals nachhaltig sein, weil sie auf die beschleunigte Verbrennung von Rohstoffen baut, die in Jahrmillionen entstanden sind; sie macht die Gesellschaften, die auf sie bauen, auch in höchstem Maße abhängig und verwundbar. Wenn ihnen der Stoff ausgeht, sind sie so hilflos wie der Junkie ohne Nachschub an Heroin. Das ist, gespiegelt an unendlich vielen Teilphänomenen unserer Wachstumswirtschaft, die Juliet Schor in ihrem Klassiker Plenitude1) herausarbeitet, der Befund, der uns dringender denn je herausfordert, den Pfad des »Business as usual« zu verlassen und uns etwas anderes einfallen zu lassen, was zugleich ein auskömmliches Leben und eine moderne Staatlichkeit garantiert.
Um nichts weniger geht es der Soziologin Juliet Schor, und damit ragt ihre Studie aus dem Gros der einschlägigen Literatur zur Nachhaltigkeit und zum Postwachstum heraus: Sie konstatiert nicht nur das Versagen der konventionellen Ökonomie, den ökologischen Problemen wirksam zu begegnen, sondern entwickelt auch ein im besten Sinn ganzheitliches Konzept einer anderen Lebens- und Wirtschaftsweise, mit der man durch das 21. Jahrhundert kommen kann.
Schor hat ihr Buch ursprünglich vor dem Hintergrund des Kollapses der Finanzwirtschaft geschrieben, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass das hier deutlich gewordene Totalversagen des Neoliberalismus, vernünftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen zu etablieren, zu einer schnellen Umkehr und damit zum Konzept von »Plenitude« führen könne. Inzwischen zeigt der Neoliberalismus in jedem gesellschaftlichen Teilbereich von der Sicherheit über die Ökologie bis hin zur Ökonomie selbst, dass er die zugleich trivialste wie zerstörerischste Form von Wirtschaft feiert, die die Moderne hervorgebracht hat: Märkte allein können Zusammenleben eben nicht regeln, dazu bedarf es etwas mehr – Normen zum Beispiel, Recht, Abwägung, Teilen, Kooperation und Zeit, um das alles demokratisch auszuhandeln.
Schor verwendet weite Strecken ihrer klugen Abhandlung auf den Faktor Zeit, der ihr als Schlüssel für einen Pfadwechsel erscheint, denn nur mit dem Mittel der Arbeitszeitverkürzung und der Wiedergewinnung von selbstbestimmter Zeit lassen sich das ökologische Desaster verhindern und gutes Leben herstellen. Mir scheint diese Diskussion auch deshalb besonders wichtig, weil Gesellschaften unseres Typs in dieser Hinsicht schon viel weiter waren als heute und weil die Kategorie der eigenen, nicht entfremdeten Zeit in der gegenwärtigen Nachhaltigkeits- und Postwachstumsdebatte nur eine untergeordnete Rolle spielt. Eine nachhaltige Lebensweise braucht systematisch nicht nur Effizienz, sondern auch Ineffizienz – Zeit, die nicht verwertet wird, Kommunikation, die nicht instrumentell ist, Handlungen, die nicht optimiert werden. All das ist Bestandteil von Juliet Schors Konzept »Plenitude«, das seit seinem Erscheinen nicht das Geringste an Aktualität verloren hat. Was im Übrigen auch für die Statistiken gilt, die Schor ihrer Analyse zugrunde legt: Denn auch wenn die Erhebungen größtenteils aus den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch der Finanzkrise stammen, ist die Tendenz, die sie belegen, ganz ungebrochen: Die Menge der konsumierten Güter wächst unaufhörlich, ebenso wie der Energie- und Transportaufwand, mit dem sie erzeugt und zu den Konsumenten gebracht werden. Die Digitalisierung hat daran keinen Deut verändert; sie kann zwar alternative Wirtschaftsformen wie das Sharing organisatorisch erleichtern, beschleunigt aber, überregional und global betrachtet, den Irrsinn des Hyperkonsums an Gütern und Dienstleistungen mit einer zuvor ungekannten Dynamik, ohne auch nur ein einziges der ökologischen Probleme näherungsweise abzumildern.
Mich haben an den Arbeiten Juliet Schors immer die Genauigkeit der Analyse bei gleichzeitiger politischer Klarheit beeindruckt und ihr Beharren darauf, dass das alles nicht so weitergehen muss, sondern verändert werden kann, sogar einfacher, als gemeinhin behauptet wird. Das Wichtigste am Modell von »Plenitude« scheint mir nicht nur das Aufzeigen von Alternativen zum »Business as usual«, sondern die Freiheitlichkeit, die Schor dabei immer mitdenkt: Ihr Konzept favorisiert weder den »starken Staat« noch die »Ökodiktatur«, sondern setzt auf die Intelligenz der Praxis: Man muss die einzelnen Dinge einfach anders machen, damit alles anders wird.
Harald Welzer, im Dezember 2015
1)  Der Begriff »Plenitude« bezeichnet das zentrale Konzept dieses Buches und lässt sich nur unbefriedigend ins Deutsche übersetzen. Er bedeutet so viel wie »Fülle« und »Überfluss«, aber auch »Vielfalt« und »Vollkommenheit« (Anm. d. Ü.).
Einführungzur deutschen Ausgabe
Plenitude. The new economics of true wealth erschien ursprünglich im Jahre 2010. Ich habe das Buch unter dem Eindruck zweier fataler Entwicklungen geschrieben. Die erste war die sogenannte Finanzkrise, die schlimmste Krise des Finanzsektors seit den berüchtigten 1920ern. Im Jahr 2007 kam es in England zu einem »Bankensturm«, in den USA nahm die Subprime-Krise ihren Anfang, in deren Verlauf die Investmentbank Lehman Brothers 2008 Insolvenz anmelden musste. Als im September 2008 Zahlungen eingefroren wurden, brach Panik aus. Die Turbulenzen auf dem Finanzsektor führten zu einer weltweiten Rezession, die weit über die Grenzen der Verursacherstaaten hinausreichte. Für viele Länder, etwa im Süden Europas, blieb es nicht dabei – aus der Rezession wurde eine Depression.
Die zweite Tragödie war die Tatenlosigkeit der Welt in Bezug auf den Klimawandel. Im Herbst 2009 veröffentlichte eine Reihe von Wissenschaftlern Klimadaten, die unmissverständlich aufzeigten, wie dramatisch die Lage mittlerweile war. Die Meldungen reichten von Temperaturrekorden und intensiviertem Abschmelzen der Gletscher bis hin zu furchtbaren Dürren, Artensterben und Extremwetterereignissen. In fast allen Fällen wurden die Erwartungen des vierten IPCC-Reports von 2007 übertroffen. Die Wissenschaftler hofften, dass ihre neuen Vorhersagen die Welt dazu bewegen würden zu handeln. Doch der Kopenhagener Klimagipfel (2009) endete im Fiasko. Ich erinnere mich noch heute lebhaft an jene Wochen zwischen Anspannung und Hoffnung, an deren Ende die Gewissheit stand, dass die Menschheit ihren fatalen Kurs nicht aufgeben würde. Und bei aller Euphorie um den 21. Klimagipfel in Paris 2015 muss die Welt weiterhin besorgt sein – und sich fragen, warum sechs weitere Jahre verloren wurden.
Ziel meines Buches ist es, einen gangbaren Weg aus der Sackgasse aufzuzeigen, einen Weg, der die Kohlendioxidemissionen kappt und unseren ökologischen Fußabdruck reduziert, es jedoch gleichzeitig möglich macht, in Wohlstand zu leben. Diese Vision basiert auf einem Ansatz jenseits der Konventionen von heutigem Denken und Handeln. Ich bin froh, dass ich nachfolgend darlegen kann, wie sich die Welt seit Erscheinen meines Buches entwickelt hat: War meine ökonomische Analyse richtig? Haben die Menschen meinen Weg des »Wahren Wohlstands« eingeschlagen? Ist dieser Weg immer noch sinnvoll und richtig? Um diese Fragen zu beantworten, kehre ich zu den Anfängen des Buches zurück, zur Doppelkrise von Wirtschaft und Klima.
Das Zusammenfallen beider Krisen bedeutet eine besondere Herausforderung. Ein Grund dafür ist, dass die Krisen separat betrachtet werden, obwohl sie zusammenhängen. Die Klimapolitik hat die wirtschaftlichen Nöte vieler Menschen noch nicht auf dem Schirm, und innerhalb der Wirtschaftspolitik ist es noch schlimmer: Das beste Bild dafür ist ein Auto, das sich unaufhaltsam auf einen Abgrund zubewegt – und die Wirtschaftswissenschaften haben sich intensiv darum bemüht herauszufinden, wie man die Fahrt des Autos noch beschleunigen kann. Diese Kurzsichtigkeit ist leider immer noch die Norm. Zwar gab es Reaktionen auf die Finanzmisere, die man als klimapolitisch relevant einstufen kann; sowohl in den USA als auch in Europa wurde in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investiert. Aber diese »erste grüne Phase« war nicht von Dauer. In den USA begannen die konservativen Republikaner einen wahren Krieg gegen Sonnen- und Windenergie. Und für Europa kam Frank Geels vom Sustainable Consumption Institute zum Schluss, dass sich das »Fenster der Möglichkeiten« in den Jahren 2010/11 wieder geschlossen hat. Danach sah es zwar so aus, als würde ein dramatischer und unvorhergesehener Kostenrückgang den Erneuerbaren zum Durchbruch verhelfen. Doch nur in wenigen Staaten – etwa in Deutschland und Dänemark – steht die Umstellung des Energiesektors weit oben auf der Agenda.
In vielen Staaten wird die Politik von einem fundamentalen Problem beherrscht: Es ist die vollständige Abstinenz von Fantasie, eine Fehleinschätzung der Zusammenhänge zwischen ökonomischem Erfolg und Umweltschutz. Eine Lektion aus der Krise war, dass es politischer Kreativität bedarf, um in Zeiten wirtschaftlicher Not nicht in Automatismen zu verfallen und Ausgaben für Umwelt- und Klimaschutz sowie für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen zurückzufahren. In den USA führten schlechte Wirtschaftsdaten zu einer Stärkung der Republikaner im Repräsentantenhaus und damit zu einem Kongress, den man nur als »antiökologisch« bezeichnen kann – fürwahr schlechte Zeiten für den Schutz von Klima und Umwelt.
Die Krise der Jahre 2009/10 war eine verpasste Chance. Die finanzielle Panik war groß, und der Rückgang der Wirtschaftsleistung war deutlich spürbar, so deutlich, dass sogar die Business-as-usual-Wirtschaft aufgerüttelt wurde. Auf einmal waren selbst ideologische Verfechter und bedingungslose Anhänger eines freien Marktes besorgt. Immerhin durchlebten sie gerade einen katastrophalen Zusammenbruch, für den sie verantwortlich waren, was einige, wie Alan Greenspan, sogar offen zugaben. In den Vereinigten Staaten schien sich für etwa sechs Monate tatsächlich ein Fenster für den Wandel zu öffnen. Plötzlich wurden neue Fragen gestellt: Sollten die Banken verstaatlicht oder zumindest in erheblichem Maß kontrolliert werden (als Ausgleich für ihre teure Rettung)? Sollte das System nicht normale Bürger unterstützen (statt wohlhabende Aktionäre)? Wird es gelingen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen? Zur gleichen Zeit gab es echte Optionen, eine ökologische Transformation anzustoßen, an deren Ende ein neues Energiesystem und Beschäftigung stehen würden. Warum aber wurde nicht in die Erneuerung eines veralteten Energie- und Verkehrssystems investiert, sondern in die Rettung des zwielichtigen Finanzsektors? Warum waren die Rettungsaktionen der Automobilunternehmen nicht mit der Verpflichtung verbunden, die Elektromobilität voranzutreiben? Diese und ähnliche Fragen lagen auf dem Tisch. Aber leider verfielen die Eliten in ihre alten Denkmuster, und es gelang ihnen, ihre Dominanz wiederzuerlangen. In Europa äußerte sich dies in einer brutalen Sparpolitik, die vor allem den südlichen Ländern aufgezwungen wurde, in den USA in einem langsamen und schmerzhaften Ausbluten der Wirtschaft.
Ich habe natürlich auf ein anderes Ergebnis gehofft, aber die Tatsache, dass es anders kam, untergräbt die Gültigkeit des Plenitude-Modells in keinster Weise. Ich habe das Buch sogar in der Annahme geschrieben, dass kurzfristig kein politischer Wille vorhanden ist, eine fundamentale Transformation auf den Weg zu bringen. Ich wollte einen Weg in die Zukunft präsentieren, den die Menschen selbst dann einschlagen könnten, wenn staatlicher Wille zum Handeln fehlt (und während der Bush-Ära sah es sehr danach aus). Angesichts dieser politischen Lage habe ich mich bemüht, für die Zweckmäßigkeit eines neuen Modells nicht nur in allgemeinen Begriffen zu argumentieren. Ich hielt und halte das Modell gerade in wirtschaftlicher Hinsicht für äußerst sinnvoll und von großem Vorteil für die Menschen.
Als ich das Buch schrieb, befanden sich die Weltwirtschaft und die Ökonomie der wohlhabenden Nationen in tiefster Unsicherheit. Niemand wusste, was passieren würde. Einige befürchteten, dass wir es mit jahrzehntelanger Massenarbeitslosigkeit wie in den 1930er-Jahren zu tun haben werden, eine Besorgnis, die nicht unbegründet war. Ich war vorsichtig und hütete mich davor, eine Voraussage darüber zu treffen, wie es mit dem Wachstum der Wirtschaft weitergehen wird. Entsprechend schrieb ich, dass die Zukunft der Wirtschaft für alles offen ist – für Erholung, Stagnation oder Niedergang.
Aber mir war klar, dass unser Wirtschaftssystem erhebliche strukturelle Mängel aufweist und dass sich dies auf verschiedene Weise offenbaren wird. Ich glaubte und tue es noch, dass die reichen Länder wirtschaftlich schwere Zeiten vor sich haben. Ferner erwartete ich eine Phase langsamen Wachstums und, sogar noch wahrscheinlicher, niedriger Gewinne. Schließlich war ich von einem steten Niedergang der energieintensiven Business-as-usual-Wirtschaft überzeugt.
Nun, bezüglich der Gewinne der US-Wirtschaft lag ich falsch. Auch die niedrigen Rohstoffpreise und die weiter anhaltende Dominanz der US-Wirtschaft habe ich nicht erwartet, wofür zum Teil eine restriktive Geldpolitik in Europa verantwortlich war. Mit anderen Dingen habe ich gerechnet, etwa mit den hohen Kosten des Klimawandels, der sich in Extremwetterereignissen (der Taifun »Haiyan« schlug mit 12, Superstorm Sandy mit 50 Milliarden US-Dollar zu Buche) manifestierte, in Dürren und gestörten Ökosystemen.
Am wichtigsten für meine Argumentation war aber die Erwartung, dass die meisten Menschen im globalen Norden eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen erfahren würden, unabhängig davon, was makroökonomisch geschehen würde. Ich erwartete eine anhaltende Schwäche auf dem Arbeitsmarkt. Ich glaubte an ein Stagnieren der Reallöhne, entweder aufgrund der negativen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt oder weil die Rohstoffpreise wieder beginnen würden zu steigen, sobald die Wirtschaft sich erholt (aufgrund der dann hohen Nachfrage in Zeiten knapper Ressourcen). Besorgt war ich angesichts der stark zunehmenden Ungleichheit, die westliche Volkswirtschaften seit Jahrzehnten geprägt hat. Die Einkommen aus Arbeit waren rückläufig, und die Kapitaleinkommen stiegen. Die Finanzialisierung der vergangenen Jahrzehnte hat Vermögenswerte in einem schwindelerregenden Maß konzentriert, bis sich Besorgnis und Wut über die Ungleichheit in der Occupy-Bewegung Ende 2011 Luft gemacht haben – einer Bewegung, die immer noch fasziniert, wie sich im durchschlagenden Erfolg von Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, das 2014 veröffentlicht wurde, zeigt. Mit diesem Teil meiner Erwartungen lag ich richtig.
Mein Hauptargument war, dass Arbeitsplätze innerhalb der BAU-Wirtschaft (BAU steht für »business-as-usual«) zunehmend unattraktiv würden, weniger sicher, lukrativ und erstrebenswert. Außerdem erwartete ich eine erhöhte Instabilität gerade in diesem Sektor. Unter diesen Bedingungen war es sinnvoll, dem Plenitude-Modell zu folgen, um Abhängigkeiten zu reduzieren, neue, nachhaltige Tätigkeitsbereiche zu entdecken und verstärkt in nicht finanzielle Kapitalformen zu investieren – in Kapitalformen wie »Sozialkapital« (etwa durch die Intensivierung nachbarschaftlicher Kontakte und den Aufbau von Netzwerken) und »ökologisches Know-how«, das zunehmend in den Mittelpunkt unserer Produktionspraktiken treten wird. Last, not least geht es mir bei Plenitude um die Schaffung von mehr Zeitwohlstand durch eine Verringerung der Arbeitszeiten, worauf ich weiter unten nochmals zurückkommen werde.
In Europa ging man im Zuge der Finanzkrise zu einer Sparpolitik über, die in Griechenland, Portugal oder Irland zu schmerzhaften Krisen und in vielen weiteren Ländern zu anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und stagnierendem Wachstum geführt hat. Im Vergleich dazu schien die US-Wirtschaft weniger stark betroffen zu sein. Die Krise führte zwar zum deutlichen Einbruch der Wirtschaftsleistung, doch blieben die USA von einer länger anhaltenden Depression verschont. Trotzdem ist das Bild einer gesunden und robusten US-Wirtschaft nicht korrekt, denn viele Menschen haben das Wohlstandsniveau, das vor der Krise herrschte, nicht wieder erreicht, trotz einer fünfjährigen »Erholung« der Wirtschaft.
Das positive Bild ist nahezu ausschließlich auf finanzielle Kennzahlen zurückzuführen. Die Gewinne der US-Unternehmen erreichten Ende 2008 mit 672 Milliarden US-Dollar einen Tiefpunkt, haben sich jedoch bis Mitte 2015 auf 1880 Milliarden Dollar fast verdreifacht. Der Dow-Jones-Index stieg von 7062 im Frühjahr 2009 auf 17.400 am Ende des Jahres 2015.
Zieht man andere Kriterien heran, entsteht für die Vereinigten Staaten ein anderes, differenzierteres Bild. Seit 2010, dem ersten Jahr der Erholung, ist das BIP nur um armselige 2,2 Prozent gewachsen und damit mit deutlich niedrigeren Raten als in den Vorjahren (und es lag nur knapp über dem Bevölkerungswachstum dieses Zeitraums, das etwa bei 0,75 Prozent lag). Arbeitsmarktindikatoren zeigen eine noch schlechtere Performance. Zwar ist die offizielle Arbeitslosenquote um etwas mehr als sechs Prozent gesunken, doch war dies zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass viele Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Das Verhältnis der Erwerbstätigen zur Gesamtbevölkerung liegt nach wie vor bei knapp 60 Prozent und damit genau auf dem Stand des Krisenjahrs 2009. Seit 2010 sind die inflationsbereinigten Einkommen durchschnittlich nur um 0,3 Prozent pro Jahr gestiegen, die Reallöhne sind gesunken. Knapp 15 Prozent der Bevölkerung gelten nach wie vor als arm und haben von der »Erholung« der Wirtschaft nicht profitiert; die Zahl der Menschen in Haushalten, die auf Nahrungsmittelhilfe (etwa 47 Millionen) angewiesen sind, sind nach wie vor auf Rekordniveau.
Insgesamt sind die Verluste, die die meisten Amerikaner als Folge des Abschwungs erlitten, enorm. Emmanuel Saez von der Berkeley University hat in einer Studie (Striking it richer: The Evolution of Top Incomes in the United States) Daten vorgelegt, die dies eindrucksvoll belegen. Vom Spitzenjahr 2007 bis zum Tiefpunkt des Jahres 2009 ist das durchschnittliche Realeinkommen pro Familie um 17,4 Prozent gefallen. Niemals seit den Krisenjahren der 1930er waren stärkere Rückgänge in einem so kurzen Zeitraum zu verzeichnen. Bis 2013 haben 99 Prozent der Haushalte ihre krisenbedingten Verluste immer noch nicht wieder wettgemacht, was bei Anstiegen von mageren 0,8 Prozent in den Jahren 2009 bis 2013 auch nur schwer möglich ist. Im Gegensatz dazu erhöhten sich die Einkommen des obersten einen Prozents der Bevölkerung um 34,7 Prozent.
Ich könnte weiteres Zahlenmaterial aufführen, aber ich denke, die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: »Normale« Amerikaner haben von der Erholung nicht oder kaum profitiert. Jobs sind nach wie vor knapp, die Armut bleibt hoch, Löhne fallen oder stagnieren. Die Einkommens- und Vermögenskonzentration setzt sich zügig fort. Im Jahr 2012 verfügten die obersten zehn Prozent der Haushalte über 50,2 Prozent aller Erträge.
Die schlechten Wirtschaftsdaten waren vor allem für junge Menschen katastrophal. Die Jugendarbeitslosigkeit ist weltweit außerordentlich hoch, und vielen Schulabgängern ist es nicht gelungen, im Berufsleben langfristig Fuß zu fassen. Entsprechend gering ist das Vertrauen vieler junger Menschen in die BAU-Wirtschaft – und entsprechend hoch war gerade innerhalb dieser Gruppe das Interesse am Plenitude-Ansatz. Im Globalen Norden geht die Jugend voran. Sie zeigt sich interessiert an Genossenschaften, Solidaritätsbewegungen, der DIY-Bewegung und alternativen Formen der Landwirtschaft und Nahrungsmittelerzeugung sowie dezentralen Energieprojekten. Ich habe in meinem Buch die Überzeugung vertreten, dass Plenitude vielerorts bereits Realität geworden ist und dass sich immer mehr Menschen für diese alternativen Lebensstile und Produktionspraktiken interessieren. Beweise dafür gibt es inzwischen genug, nicht nur in den USA, sondern auch in ganz Europa. Die Kombination von wirtschaftlicher Not und die zunehmende Entzauberung der Business-as-usual-Wirtschaft haben zum Aufstieg von Zeitbanken und Tauschwirtschaft, lokalen Währungen, Märkten für gebrauchte Konsumgüter, städtischer Landwirtschaft oder dezentraler Energieerzeugung geführt, um nur einige Spielarten zu nennen. Transition Towns, Einkaufsgruppen, und Resilienzgruppen sprießen wie Pilze aus dem Boden, Menschen entwickeln neue, kreative Ideen, um zu produzieren, zu verbreiten und zu konsumieren. Einige werden vom Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit getrieben, andere wollen einfach nur ein anderes Leben führen.
Einer der am schnellsten wachsenden Bereiche war die sogenannte Sharing Economy – eine Branche, mit der ich mich seit Veröffentlichung des Buches intensiv auseinandergesetzt habe. Ich sehe in den verschiedensten innovativen Sharing-Ansätzen ein großes Potenzial, Einkommensausfälle zu kompensieren, vor allem für all diejenigen, die aus der BAU-Wirtschaft ausgeschieden sind, weil sie sich mit den dortigen Anforderungen nicht mehr identifizieren können oder wollen.
Mittlerweile sind Unternehmen entstanden, die weltweit operieren, etwa Airbnb, eine digitale Plattform zur Vermittlung von Unterkünften, oder Uber, ein Online-Vermittlungsdienst für Fahrdienstleistungen. Dies sind die umstrittenen Spieler in diesem neuen Raum, weil sie eher vermieten als teilen, kommerziell motiviert sind und für ihr Gedeihen rechtliche Grauzonen nutzen. Im Zuge ihres schnellen Wachstums sind sie damit den Unternehmen der BAU-Wirtschaft in vielerlei Hinsicht immer ähnlicher geworden.
Aber es gibt nach wie vor zahlreiche Sharing-Initiativen, die altruistisch motiviert und viel näher am Geiste von Plenitude sind, etwa nachbarschaftliche Sharing-Plattformen oder genossenschaftliche Peer-to-Peer-Plattformen. Was sie eint, ist, dass sie klein (geblieben) sind und keinen oder kaum Gewinn machen. Doch es gibt auch unter den echten »Sharern« kommerzielle Unternehmen, wie den Peer-to-Peer-Markt für Kunsthandwerk Etsy, der viele Plenitude-Prinzipien verkörpert (Leser, die sich für Details meiner aktuellen Sharing-Economy-Forschung interessieren, werden hier fündig: http://www.bc.edu/schools/cas/sociology/faculty/profiles/juliet-schor/ConnectedConsumption.html).
In den letzten beiden Jahren hat sich innerhalb des progressiven Flügels der Sharing Economy eine rege Diskussion um ein Phänomen namens »Plattform-Kooperativismus« (platform cooperativism) entwickelt, bei dem Nutzung und Besitz in einer Hand liegen. Im Herbst 2015 nahmen mehr als tausend Menschen an einer Konferenz an der New School University zu diesem Thema teil. Eine Reihe derartiger Plattformen wurde bereits gestartet, andere sind im Aufbau. Meines Erachtens hat diese Eigentumsform großes Potenzial, weitreichende strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft voranzutreiben, weil sie sich schnell etablieren und ausbreiten kann und Kapital in den Händen der Produzenten und Verbraucher belässt. Abgesehen davon profitiert die Bewegung von neuartigen, hocheffizienten Technologien.
Eine andere Diskussion, die derzeit hohe Aufmerksamkeit erzielt, ist die Frage nach der Zukunft der Arbeit in einer Welt, in der sich künstliche Intelligenz mit hohem Innovationstempo ausbreitet. Hier stehen sich zwei Lager gegenüber: Die einen gehen davon aus, dass es bald bei Weitem nicht mehr genug Arbeit geben wird, die anderen halten diese Sichtweise für übertrieben. Ich vertrete eine dritte Position: Es wird ein drastischer Nachfragerückgang nach Arbeitskräften eintreten, aber eine Katastrophe wird ausbleiben, wenn es uns gelingt, das verbleibende Arbeitsvolumen gerecht zu verteilen. Tatsächlich war dies eine zentrale Botschaft meines Buches: Arbeitszeitverkürzung ist nicht nur für Haushalte und Individuen sinnvoll, um sich damit von der BAU-Wirtschaft zu emanzipieren und die Einkommenssituation auf eine breitere Basis zu stellen (siehe Kapitel 4). Sie ist auch volkswirtschaftlich von immenser Bedeutung, um in Zeiten technischen Wandels hohe Arbeitslosenzahlen zu vermeiden (Kapitel 5). Darüber hinaus ist Arbeitszeitverkürzung gleichbedeutend mit Klimaschutz, wie umfangreiche Untersuchungen gezeigt haben, die ich mit meinen Mitarbeitern Kyle Knight und Eugene Rosa durchgeführt habe. Darin konnten wir zeigen, dass Kohlendioxidemissionen und Arbeitszeiten stark miteinander korrelieren. So ist der hohe ökologische Fußabdruck der USA in Teilen auf das hohe Arbeitspensum der US-Amerikaner zurückzuführen. Mit anderen Worten: Eine Reduzierung der Arbeitszeit ist nicht nur gute Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, sondern auch gute Umweltpolitik.
Bevor ich nun diese Einführung zur deutschen Ausgabe schließe, möchte ich nochmals mein größtes Bedauern ausdrücken: Ich habe den Willen der Menschen, sich zusammenzuschließen und gemeinsam zu agieren, unterschätzt. Nach wie vor ist zwar der politische Wille, einen Systemwechsel voranzutreiben, nicht vorhanden, nicht in Europa, nicht in den USA. Doch es gibt einen weitaus wirkmächtigeren und effektiveren Weg, Veränderungen anzustoßen, und zwar über den Weg der kommunalen Vereinigung. Überall kommen Menschen zusammen, begründen Initiativen, um die großen Fragen um Klima, Energie, Ernährung und Mobilität auf lokaler Ebene zu diskutieren und Lösungen zu erarbeiten. Ich wünschte, ich hätte diesen community-based initiatives noch mehr Raum in meinem Buch gewidmet.
Heute ist Heiligabend 2015. Ich lebe in Newton, Massachusetts, wo es Ende Dezember in der Regel kalt ist und oft Schnee liegt. Heute habe ich jedoch 21 Grad Celsius gemessen, und ich werde diese Einleitung daher mit demjenigen Thema beenden, das mich motiviert hat, mein Buch zu schreiben. Dieses Jahr wird wieder alle Rekorde brechen, und im nächsten Jahr kann es sogar noch wärmer sein.
Die Klimakonferenz in Paris wurde von einem beispiellosen Maß an Optimismus getragen, aber die wissenschaftlichen Daten erzählen eine andere Geschichte. Wenn wir einen katastrophalen Klimawandel noch verhindern wollen, müssen wir im neuen Jahr und darüber hinaus alle Kraft daransetzen, unsere Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Ich hoffe, dass der Plenitude-Ansatz dazu beiträgt, Mut und Optimismus zu verbreiten, denn er zeigt eindrucksvoll auf, dass eine andere Zukunft möglich ist.
Juliet Schor,Newton, MA, im Dezember 2015
Kapitel 1
Ein Weg aus der Krise
Im Jahr 2008 schien der globale Kapitalismus am Ende zu sein. Das Finanzsystem stand beängstigend nahe vor einem totalen Zusammenbruch und konnte nur durch staatliche Garantien und massive Liquiditätsspritzen gerettet werden. Vermögen im Wert von erstaunlichen 50 Billionen Dollar wurde weltweit vernichtet.1 Rund um den Globus trieb die wirtschaftliche Not die Menschen auf die Straße, von Island über Griechenland und Ägypten bis nach China.
Im Anschluss ist die globale Wirtschaft zwar »gerettet« worden, aber repariert wurde sie nicht. Eine Reparatur würde fundamentale Veränderungen erfordern. Die Destabilisierung des Klimas, der Zusammenbruch der Wirtschaft und die steigenden Preise von Lebensmitteln und Energie sind Warnsignale eines extrem belasteten Planeten. Ein Team von Ökologen um Johan Rockström hat eine Reihe »sicherer Operationsbereiche« für die komplexen Systeme der Erde definiert und festgestellt, dass die Aktivitäten des Menschen uns bereits in mehreren Fällen aus dem sicheren Bereich hinausgeführt haben. Aber der Diskurs, der gerade begonnen hatte, sich in den Köpfen vieler einzunisten und zum Mainstream zu werden, ist durch Fatalismus abgewürgt worden – wir sind besser darin, das zu erkennen, was nicht getan werden kann, als das, was wir erreichen müssten.

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