Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mangalwadi liefert eine gründliche Analyse von Weltanschauungen und kulturellen Trends. Er bietet spezifische Informationen darüber, wie man sich an der Transformation von Kultur beteiligen kann. Sein neuer, nicht-westlicher Blick auf uns Europäer und unsere geistlichen Wurzeln ist ein Augenöffner!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 402
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vishal Mangalwadi Wahrheit und Wandlung
In tiefer Dankbarkeit Dr. David und Amber McDonald
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Die Bibelstellen wurden folgenden Übersetzungen entnommen:
Revidierte Elberfelder Bibel (Rev. 26) © 1985, 1991, 2008 SCM R. Brockhaus, Witten Lutherbibel © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Neue Genfer Übersetzung © 2011 Genfer Bibelgesellschaft Ohne Vermerk: Hoffnung für alle © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.® Hrsg. von Fontis – Brunnen Basel
Dieses Buch erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel:Truth and Transformation, Copyright © by Vishal Mangalwadiwww.VishalMangalwadi.com Published by YWAM Publishing, P.O. Box 55787, Seattle, WA 98155, USA.
Übersetzung aus dem Englischen: Christian Rendel, Witzenhausen
Copyright der deutschen Ausgabe: © 2016 by Fontis – Brunnen Basel
Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Umschlagfoto: Wolf Suschitzky, Getty Images E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-786-9
Vorwort
Einführung
Danksagungen
Teil I: Brauchen wir Wandlung?
Kapitel 1:MORALDas ins Trudeln geratene Erfolgsgeheimnis des Westens
Kapitel 2:RATIONALITÄTDie vergessene Kraft hinter der westlichen Technologie
Kapitel 3:FAMILIEDie müde gewordene Charakterschule des Westens
Kapitel 4:HUMANITÄTDie verlassene Seele der westlichen Zivilisation
Teil II: Können Nationen geheilt werden?
Kapitel 5:SEINE WUNDENFür das Heil der Nationen
Kapitel 6:SEINE BARMHERZIGKEITJesus, der Unruhestifter
Kapitel 7:SEIN REICHDas Natürliche und das Übernatürliche
Kapitel 8:SEINE WAHRHEITDer Schlüssel zur Wandlung
Kapitel 9:SEIN GESETZSünde und ihre Folgen
Teil III: Wie schafft das Evangelium Veränderung?
Kapitel 10:EVANGELISATIONDie Proklamation der Wahrheit
Kapitel 11:DER HEILIGE GEISTDer Geist der Wahrheit und der Kraft
Kapitel 12:DIE GEMEINDEDer Pfeiler der Wahrheit
Kapitel 13:HOFFNUNGEr macht alles neu
Teil IV: Wo ist mein Platz im Ganzen?
Impuls 1:KORRUPTION UND DIE KULTUR DES KREUZES
Impuls 2:WANDLUNG IN AMERIKADie Rückeroberung des Bildungswesens
Anmerkungen
Über die Krisen unserer Zeit – die wirtschaftlichen, religiösen, moralischen und politischen – ist schon viel gesprochen und geschrieben worden. Manche sagen, der Kulturkampf sei vorbei, und der Säkularismus habe gewonnen. Andere sind der Meinung, uns bleibe ein Fenster von zehn bis zwanzig Jahren, in denen wir noch für geistliche Erneuerung und Wandel arbeiten können. Wenn es noch eine Möglichkeit für radikale (an der Wurzel ansetzende) Veränderung gibt, und davon bin ich überzeugt, brauchen wir einen Fahrplan, eine Agenda, die die Grundsätze formuliert, denen wir dabei folgen müssen – ein Manifest für unsere Zeit.
Ein solches haben wir in Vishal Mangalwadis Wahrheit und Wandlung vor uns. Vishal ist von manchen als «der indische Francis Schaeffer» tituliert worden. Er hat in seinen jüngeren Jahren mit Schaeffer studiert und lange Zeit an der Universität Cambridge verbracht, um den Inhalt dieses Buches zu recherchieren. Doch Vishal ist nicht nur ein Akademiker, der in seinem Elfenbeinturm sitzt und schreibt. Viele Berichte in diesem Buch zeugen von seiner weitverzweigten Arbeit für die Ärmsten der Armen in Indien. Bezeichnenderweise begann dieses Buch, als Vishal ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er (raten Sie mal) den Opfern eines Hagelsturms zu Hilfe geeilt war. Wegen seiner umfangreichen Studien und Dienste in einem indischen Kontext kann er uns im Westen (und in der ganzen Welt) angesichts der gewaltigen kulturellen Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine große Hilfe sein.
Inwiefern, so könnte man fragen, kann ein indischer Philosoph/Aktivist uns helfen? Weil jede Kultur, wie C.S. Lewis einmal argumentierte, ihre eigenen blinden Flecken hat, ihren eigenen Blickwinkel. Sie «hat für bestimmte Wahrheiten einen besonders guten Blick und ist für bestimmte Irrtümer besonders anfällig».1 Als Korrektiv empfahl Lewis das Lesen alter Bücher. Seine Faustregel lautete, für jedes neue Buch ein altes zu lesen, oder wenn das zu viel ist, zumindest ein altes auf je drei neue. Auf diese Weise könnten wir die «klare Meeresbrise der Jahrhunderte» durch unseren Geist wehen lassen und einen klareren Blick auf unsere eigene Zeit gewinnen.
Ich habe oft gesagt, dass eine andere Möglichkeit, sich diese größere Klarheit über unsere Zeit zu verschaffen, darin besteht, für längere Zeit in einer anderen Kultur oder unter Menschen aus einer anderen Kultur zu leben, die auch den Westen kennen. C.S. Lewis legte großen Wert darauf, durch die Augen anderer Menschen zu sehen. Er schrieb: «Meine eigenen Augen reichen mir nicht, ich will auch durch die Augen anderer sehen.»2
Solange wir nicht die Welt durch die Augen anderer sehen, leben wir in einem winzigen Universum, in dem wir irgendwann ersticken müssen. Vishal verschafft uns eine solche erhellende Perspektive auf unsere Zeit, nicht nur durch seine tiefe Gelehrsamkeit und Analyse, sondern auch dadurch, dass seine indische Perspektive es uns ermöglicht, die amerikanische und westliche Kultur in einem klaren, neuen Licht zu sehen.
In den ersten vier Kapiteln liegt Vishal eindrücklich dar, dass das Fundament, das den Westen groß gemacht hat, am Bröckeln ist. Der Ethik, der Menschenwürde, der Rationalität, der Technologie und dem Charakter wird der Teppich unter den Füßen weggezogen. Diese Grundgedanken, die unsere Kultur geprägt haben, haben ihre Wurzeln in der Bibel. Da diese und andere Prinzipien durch Lügen verdrängt werden, müssen wir unsere Kultur verwandeln, indem wir zur Wahrheit zurückkehren.
Vishal macht auch deutlich, dass das keine leichte Aufgabe sein wird. Mächtige Interessengruppen im Westen (und anderswo) sind darauf aus, Unwahrheiten zu zementieren. Dazu kommt, dass wir die ganze Waffenrüstung Gottes brauchen werden, da unser Kampf sich nicht nur gegen Fleisch und Blut richtet, sondern gegen die Mächtigen und Gewaltigen unter dem Himmel (geistlicher Kampf).
Wer der Lüge mit Wahrheit widerstehen will, begibt sich in einen Konflikt. Dieser Konflikt kann Rache und Verfolgung nach sich ziehen, wie es in vielen Ländern der Erde der Fall ist. Um stark zu bleiben und uns nicht überwältigen zu lassen, brauchen wir die Kraft, die durch den Heiligen Geist und das Gebet kommt. In diesem Kontext sind wir dringend angewiesen auf die Gemeinschaft, die Gemeinde, damit wir zu Liebe und zu guten Werken angereizt werden. Die Gemeinde sollte, wie Paulus an Timotheus schrieb, «der tragende Pfeiler und das Fundament der Wahrheit» sein, die den Wandel bringt.
Nicht wegen unserer eigenen Stärke dürfen wir auf den Sieg hoffen, sondern weil es der Streit des Herrn ist. Wir können auf den Charakter und die Absichten unseres Herrn vertrauen. Wir müssen in diesen Konflikt eingreifen, aber wir müssen unsere Stärke auch durch Fürbitte bewahren. Sogar wenn wir persönlich verlieren, wird unser Gott am Ende gewinnen. Das ist unsere sichere und gewisse Hoffnung.
Das Eindrucksvolle an Vishals Darlegung sind nicht nur seine Geschichten und Illustrationen, sondern auch seine Formulierung von Wahrheiten, die von evangelikalen Christen oft vernachlässigt werden – Sünde, das Kreuz, die Gemeinde, das Gericht, soziale Gerechtigkeit, das Gesetz und die Buße. Darüber hinaus beweist Vishals Arbeit dadurch, dass sie so anders ist, wie falsch die Überzeugung ist, dass alle Religionen gleich sind und dass Überzeugungen und Lehren keine Rolle spielen. In Wirklichkeit hat die Wahrheit (oder die Lüge) tiefgreifende Konsequenzen für das persönliche wie auch für das öffentliche Leben.
Wenn wir weiter den Falschheiten unserer Kultur folgen, werden wir das Wahre, Gute und Schöne verlieren, das den Westen zu einem Leuchtfeuer für so viele Menschen in aller Welt gemacht hat. Vishal ruft uns dazu auf, die Wahrheit emporzuhalten wie eine Fackel, nach ihr zu handeln (einzugreifen) und nachhaltig zu wirken, bis das Ziel verwirklicht ist. Sie werden viele seiner Beobachtungen und Geschichten unvergesslich finden.
Dr. Art Lindsley C.S. Lewis Institute, März 2009
Wir leben nicht gerade in den besten Zeiten. Sogar säkulare Amerikaner suchen nach einem Messias. Deshalb musste der damalige Senator Obama schon während seines ersten Präsidentschaftswahlkampfs seinen Unterstützern in Erinnerung rufen: «Entgegen Gerüchten, die Sie vielleicht gehört haben, wurde ich nicht in einer Krippe geboren.»
Die Leute lechzen nach guten Nachrichten, während Amerikas größte Autohersteller – die gerade eine Notfallspritze in Höhe von 25 Milliarden Dollar bekommen haben – weitere Arbeiter entlassen, noch einmal um 100 Milliarden Dollar bitten und/oder Bankrott anmelden, was einen wirtschaftlichen Tsunami durch die ganze industrialisierte Welt senden könnte.
Kein Wunder, dass, kurz nachdem Präsident Bush ein Notgesetz unterzeichnet hatte, durch das 700 Milliarden Dollar bereitgestellt wurden, um Amerikas Finanzinstituten aus der Patsche zu helfen, Präsident Obama ein neues «Anreizpaket» in Höhe von 787 Milliarden Dollar unterzeichnen musste, um die Wirtschaft wiederzubeleben. Des Weiteren kündigte er einen Hypotheken-Rettungsplan in Höhe von 275 Milliarden Dollar an, um zu verhindern, dass Familien ihr Dach über dem Kopf verlieren, und sprach sich für eine vermutlich 2 Billionen Dollar teure Maßnahme aus, um ins Straucheln geratene Banken zu retten, die doch das Rückgrat der größten wirtschaftlichen Supermacht der Welt bilden. Und dennoch …
… stürzten der Dow Jones Index auf den tiefsten Stand in zwölf Jahren und die Aktien der Bank of America und der Citibank gar auf den tiefsten Wert ihrer Geschichte.
Warum wurden die Investoren angesichts der Aussicht auf riesige Kapitalzuflüsse bei den Banken so nervös? Weil das Problem an seiner Wurzel kein wirtschaftliches ist! Konfrontiert mit Vorwürfen, die Regierung decke die Korruption, kündigte der US-Finanzminister einen «Stresstest» für die Banken an, die gerettet wurden. Die Regierung werde die Bücher der Banken prüfen, sagte er. Doch wer sich auskennt, hat kein Vertrauen mehr zu zertifizierten Wirtschaftsprüfern. Investoren wissen, dass eine echte Untersuchung für die ganze Welt sichtbar machen würde, dass einige der größten Banken Amerikas noch insolventer sind als arme Hausbesitzer, die ihre Raten nicht mehr zahlen können. – Zweifellos wird auf dem Finanzmarkt wieder Zuversicht einkehren.
Aber wissen Sie, warum?
Ein superreicher, super-selbstbewusster, super-informierter «Mafia-Don» in Arizona sagte zu einem Freund von mir: «Keine Sorge! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Anteile an der (XYZ)-Bank zu kaufen. Die Regierung kann diese Bank unmöglich pleitegehen lassen, weil sie sich schon seit langem an der Korruption der Banken beteiligt hat. Sie wird die wehrlosen Bürger zwingen, die korrupten Banken herauszuhauen.»
Dieser Mafioso übertreibt vielleicht, aber viele fragen sich, ob diese Korruptionskultur sich auch durch andere Wirtschaftsbereiche ausbreitet. Das FBI untersucht über 350 Fälle von Betrug in der amerikanischen Wirtschaft. Die US-Regierung hat die größte Bank der Schweiz, die UBS, verklagt, um die Enthüllung der Identität von bis zu 52.000 reichen Amerikanern zu erzwingen, die angeblich mindestens 14,8 Milliarden Dollar auf geheimen Schweizer Konten vor den US-Steuerbehörden versteckt halten.
John Witiko, Staatssekretär in der Steuerabteilung des US-Justizministeriums, sagte in einem Statement: «In einer Zeit, in der Millionen von Amerikanern ihren Job, ihr Haus und ihre Gesundheitsversorgung verlieren, ist es bestürzend, dass über 50.000 der Reichsten unter uns aktiv versucht haben, sich ihrer bürgerlichen und gesetzlichen Pflicht, Steuern zu zahlen, zu entziehen.» Nur wenige rechnen damit, dass bei dieser Klage etwas herauskommt. Dennoch muss ja eine Regierung, die ehrlichen Steuerzahlern an der «Main Street» das Geld aus der Tasche zieht, um die Galgenvögel an der Wall Street zu retten, zumindest den Anschein erwecken, die Wall Street würde zur Rechenschaft gezogen.
Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen, aber die entscheidende Frage lautet: Wird diese Korruptionskultur einsickern, bis sie auch Amerikas einstige Moral Majority erfasst, oder wird Amerika ein Erwachen von den Wurzeln her erleben, das eine umfassende Wandlung bringt? Präsident Obama hat drei Möglichkeiten:
Ehrliche Steuerzahler zwingen, die Korrupten zu retten. Aber für wie lange?
Die Korrupten bestrafen. Aber kann irgendjemand jeden 10. der 1.000.000 mächtigsten Amerikaner ins Gefängnis werfen?
Die Nation in die Buße führen.
Präsident Obama hat recht – diejenigen, die in ihm einen Erlöser sehen, werden tief enttäuscht werden. Es ist an der Zeit, dass die Gemeinde die Kraft der Guten Nachricht, einen Wandel in unserer kaputten Zeit herbeizuführen, zurückgewinnt und zur Entfaltung bringt.
Manche Kulturen glauben, das Böse – sei es Korruption in der Wirtschaft oder das vermeidbare Sterben eines unschuldigen Kindes an Malaria, Hunger, verunreinigten Medikamenten oder Terrorismus – sei Gottes Wille. Andere meinen, es sei Karma. Die Bibel hingegen offenbart von Anfang bis Ende einen Gott, der über das Böse trauert (1. Mose 6,6), der das Böse verurteilt (Jesaja 11,3–4) und der es sich zum Ziel gesetzt hat, alles neu zu machen (Offenbarung 21,5).
Jesus weinte über unsere Welt voller Sünde, Korruption, Unterdrückung, Armut, Krankheit, Dämonen und Tod. Er beugte weder sein Knie vor dem Teufel, noch versuchte er, dem Leiden in die Kontemplation, Meditation oder innere Ekstase zu entfliehen. Stattdessen brachte er Gottes Reich der Vergebung, Heilung und Freiheit in eine von Sünde und Satan beherrschte Welt.
Satan führte Adam und Eva hinters Licht, um die Schöpfung zu verderben. Jesus begann, ihre Kinder zu verwandeln, damit sie das Licht der Welt würden. «Wenn ihr an meinen Worten festhaltet und das tut, was ich euch gesagt habe», sagte er zu ihnen, «dann gehört ihr wirklich zu mir. Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien!» (Johannes 8,31–32).
Als ich 1980 dieses Buch zu schreiben begann, saß ich im Gefängnis, weil ich mich für die Opfer eines Hagelsturms eingesetzt hatte. Das erklärt, warum das erste Kapitel in der ursprünglichen Version3 den Titel «Jesus, der Unruhestifter» trug. Ich betrachtete das «Establishment» aus der Perspektive der Jünger Johannes' des Täufers und des Herrn Jesus, die ihre Herrschenden als böse und brutal wahrnahmen. Jenes Kapitel wurde 1983 auf einer Konferenz in Wheaton (Illinois) vorgetragen. Es kostete mich viele Freunde, dass ich den Messias als Sozialreformer darstellte, aber Dr. Miriam Adeney wurde neugierig genug, das gesamte Manuskript zu lesen, es unaufgefordert zu lektorieren und mich zur Veröffentlichung des Buches zu ermutigen.
Das zweite Kapitel stellte den Apostel Paulus ebenfalls als Unruhestifter dar, der eine korrupte Welt auf den Kopf stellte. Mit diesem Blickwinkel auf die Evangelisationstätigkeit des Paulus brachte ich noch mehr Freunde gegen mich auf. Doch Hodder and Stoughton beschloss, eine britische Ausgabe herauszugeben – wiederum unaufgefordert. Immerhin unterschrieben sie einen Vertrag. Ein koreanischer Arzt, der im Schatten des kommunistischen China und Nordkorea lebte, stieß im britischen Zweig von L'Abri auf ein Exemplar des Buches und fing an, es zu übersetzen, ohne auch nur um Erlaubnis zu bitten!
Ich wollte dieses Buch, das in Gefängnissen und Urwäldern geschrieben worden war, gründlich überarbeiten, aber als immer wieder nach dem Buch gefragt wurde und die Überarbeitungspläne immer wieder verschoben werden mussten, beschloss unsere ältere Tochter Nivedit, die dritte Ausgabe ohne größere Veränderungen zu veröffentlichen. Den Anlass zu der hier vorliegenden vierten, stark erweiterten Ausgabe gab Dr. Robert Osburn von der Universität Minnesota, als er um einige Hundert Exemplare des Buches bat. Dr. Luis Bush spielte eine ebenso wichtige Rolle bei der Initiierung einer globalen Bewegung, die Mission als Wandlung neu definiert.
Auch der Titel des Buches hat eine «Wandlung» erfahren, nachdem ich der dritten Ausgabe von Truth and Social Reform sieben neue Kapitel hinzugefügt habe. Früher lag das Hauptaugenmerk des Buches auf Indien. Die neuen Kapitel sind dazu angelegt, das Buch auch für den Westen relevant zu machen.
Obwohl die Kerngedanken dieses Buches im ländlichen Indien geboren wurden, hatte ich die Möglichkeit, sie in einen größeren, globalen Kontext zu stellen, weil mindestens dreißig Familien und Institutionen mir und meiner Frau Ruth zwischen 1997 und 2009 für kürzere oder längere Zeit Unterkunft gewährten und etliche weitere Personen, Familien, Gemeinden und Stiftungen uns und unsere Projekte finanziell unterstützt haben.
Ruth und ich haben immer wieder Grund zur Dankbarkeit für die treuen «kleinen Leute», die uns lieben, für uns beten und uns jeden Monat 20, 50 oder 100 Dollar senden. Jede Gabe erfüllt uns mit Dankbarkeit gegenüber Gott. Dennoch wäre es unaufrichtig, nicht zuzugeben, dass wir ohne diejenigen, die uns größere Summen anvertraut haben, nicht viel hätten erreichen können. Die Audioserie «Must the Sun Set on the West?» war die Erstlingsfrucht dieser Unterstützung. Die zweite Frucht – die gleichnamige Videoserie – wird gerade geschnitten. Wahrheit und Wandlung ist das dritte Resultat. Aus dieser andauernden Arbeit dürften noch weitere Produkte hervorgehen, darunter ein Lehrplan und ein neuartiges College, von denen in Anhang 2 die Rede ist.
Dankbar erwähnen möchte ich auch die folgenden Personen:
Dr. James Hwang sponserte eine Leitertagung von «Transform World USA»; Lilly ermutigte mich, dieses Projekt in Angriff zu nehmen.
Dr. David und Amber McDonald ermöglichten es Dr. Mark Harris, Samraj Gandhi, Laura Dixon und Emily Lewis, mich bei der Vorbereitung dieser Ausgabe praktisch zu unterstützen.
Die «William Carey International University», an der ich einen Lehrauftrag hatte, bot mir den Kontext für die Vorbereitung dieser Ausgabe.
Scott Allen schickte das Manuskript an den Verlag und regte die Veröffentlichung des Buches an. Außerdem stellte er das Team von «Disciple Nations Alliance» (DNA) zusammen, das in weniger als zwei Wochen eine Studienanleitung erstellte.
Bobby und Jean Norment waren in dem herrlichen Zentrum der «Bethany Fellowship» in Bloomington (Minnesota) unsere Gastgeber während des Monats, den ich damit verbrachte, das Buch druckfertig zu machen. Zusammen mit ihrem Sohn Davis und dessen Frau Michelle arbeiten sie an der Gründung des «Rivendell Sanctuary» – eines neuartigen Colleges, eines Tempels der höheren Bildung nach dem Vorbild der Jüngerschaft Jesu. Ich arbeite mit an diesem Abenteuer für den Wandel in Amerika.
Ryan Davis war ein hervorragender und enthusiastischer Lektor.
YWAM Publishing unternahm den tollkühnen Versuch, dieses Buch innerhalb von sechs Wochen rechtzeitig für die Konferenz «Transform World Houston» herauszugeben.
Die Ermutigung, der Rat und die Gebete von Bob Osburn, Art Lindsley, Tom Victor, Luis Bush und Rich und Sue Gregg waren wichtig für dieses Projekt. Ich stehe für immer in der Schuld von Prabhu Guptara für seine Weisheit und bin zumindest für alles Gute, was ich zustande bringe, angewiesen auf die bedingungslose Unterstützung meiner Familie – Ruth, Nivedit und Edwin, sowie Anandit und Albert.
Sechs Monate nach unserer Hochzeit verließen Ruth und ich das städtische Indien, um unter dem einfachen Landvolk in einem der rückständigsten Bezirke in Zentralindien zu leben. Wir lebten von weniger als zehn Dollar pro Monat, während wir versuchten, chronische Armut zu verstehen und praktische Projekte zu entwickeln, um unseren Nachbarn zu helfen, sich aus ihrem Griff zu befreien. Als unsere Arbeit sich herumsprach, bekam ich die ersten Einladungen, in verschiedenen Ländern Vorträge zu halten. 1980 wurde ich nach England eingeladen, um auf einer Konferenz über einfachen Lebensstil und Wirtschaftsentwicklung zu sprechen.
Mein Flugzeug startete gegen zwei Uhr morgens in Delhi. Ich war müde, aber als Mr. Singh, der neben mir saß, herausfand, dass ich in einer Lehmhütte in der Nähe eines obskuren Dorfes in einem völlig abgelegenen Bezirk wohnte, kam er zu dem Schluss, ich hätte guten Rat nötiger als Schlaf. Er machte es zu seiner Mission, mich zu überreden, meinen Beruf zu ändern, nach England umzuziehen und Geschäftsmann zu werden. Unermüdlich schilderte er mir in allen Facetten, wie leicht es sei, in England ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen.
Gegen halb vier Uhr morgens fiel es mir zunehmend schwerer, so zu tun, als hörte ich ihm zu, aber gerade, als ich mich anschickte, ihm zu sagen, ich müsse nun wirklich schlafen, fiel mir etwas Interessantes auf: Während mein Englisch nicht gerade toll war, war seines noch schlechter. Das brachte mich dazu, mich zu fragen, wie jemand, der nicht gut Englisch sprach, als Geschäftsmann in England erfolgreich sein konnte.
Also fragte ich ihn: «Mr. Singh, warum ist es eigentlich so einfach, in England Geschäfte zu machen?»
Er antwortete ohne zu zögern: «Weil einem da drüben jeder vertraut.»
Da ich kein Geschäftsmann war, verstand ich nicht, was Vertrauen mit dem wirtschaftlichen Erfolg einer Person oder einer Nation zu tun hatte. Hätte Mr. Singh auf meine Frage hin den Kapitalismus, den Sozialismus oder den Kommunismus verteidigt, so wäre vielleicht mein Interesse erwacht, ihm weiter zuzuhören. Aber seine Antwort entsprach keinem der Gelehrten – wieder auf der linken noch auf der rechten Seite. Also neigte ich meinen Sitz nach hinten und schlief ein.
Ein paar Monate später waren Ruth und ich in Holland, um auf der Jahreskonferenz eines der größten Hilfswerke in Holland zu sprechen. Eines Nachmittags sagte unser Gastgeber Dr. Jan van Barneveld zu mir: «Kommen Sie, lassen Sie uns Milch holen gehen.» Zu zweit gingen wir durch die schöne holländische Landschaft mit ihren herrlichen moosbedeckten Bäumen zum Milchhof. Einen solchen Hof hatte ich noch nie gesehen! Es gab dort hundert Kühe, nirgends war ein Mensch zu sehen, und alles schien erstaunlich sauber und ordentlich. In Indien hatten wir selbst eine kleine Molkerei, aber dort arbeiteten zwei Leute, und es war dreckig und stank.
Der Kontrast weckte meine Aufmerksamkeit, weil in der Region, in der ich arbeitete, mindestens fünfundsiebzig Prozent der Frauen jeden Tag eine bis zwei Stunden damit verbrachten, mit bloßen Händen Kuhmist zu sammeln. Diesen trugen sie in Körben auf ihren Köpfen zu ihren Höfen und machten daraus Kuhmistfladen, die sie als Brennstoff zum Kochen nutzten.4
Der holländische Milchhof überraschte mich, weil niemand dort war, um die Kühe zu melken. Ich hatte noch nie von Maschinen gehört, die Kühe melken und die Milch in einen riesigen Tank pumpen. Wir gingen in den Milchraum, und auch dort war niemand, um die Milch zu verkaufen. Ich rechnete damit, dass Jan eine Glocke läuten würde, aber stattdessen hielt er einfach seine Kanne unter den Hahn, drehte ihn auf und füllte sie. Dann holte er eine Schale mit Bargeld von einem hohen Fenstersims herunter, zückte sein Portemonnaie, legte zwanzig Gulden in die Schale, nahm sich etwas Wechselgeld heraus, das er in die Tasche steckte, stellte die Schale zurück, nahm seine Kanne und ging hinaus. Ich war sprachlos.
«Mann», sagte ich zu ihm, «wenn Sie Inder wären, würden Sie die Milch und das Geld mitnehmen.» Jan lachte.
Vor ein paar Jahren erzählte ich diese Geschichte in Indonesien, und ein Ägypter lachte am lautesten. Als alle Blicke sich ihm zuwandten, erklärte er: «Wir sind noch schlauer als die Inder. Wir würden die Milch, das Geld und die Kühe mitnehmen.»
Als ich damals in Holland über diese Situation lachte, begriff ich plötzlich, was Mr. Singh mir im Flugzeug nach London zu erklären versucht hatte. Wenn ich mich mit der Milch und dem Geld aus dem Staub machte, würde der Milchbauer eine Verkäuferin einstellen müssen. Und wer würde diese bezahlen? Ich, der Verbraucher!
Wenn allerdings die Verbraucher unehrlich sind, warum sollte dann der Lieferant ehrlich sein? Er würde die Milch mit Wasser versetzen, um das Volumen zu steigern. Als Aktivist würde ich protestieren, dass die Milch verwässert ist; also müsste der Staat Milchinspektoren einsetzen. Aber wer würde die Inspektoren bezahlen? Ich, der Steuerzahler!
Wenn der Verbraucher und die Lieferanten unehrlich sind, warum sollten dann die Inspektoren ehrlich sein? Sie würden Bestechungsgelder von den Lieferanten annehmen. Wenn sie die Bestechungsgelder nicht bekommen, würden sie unter dem Vorwand dieser oder jener Vorschrift dafür sorgen, dass der Verkauf sich so weit verzögert, dass die ungekühlte Milch sauer wird. Wer würde die Bestechungsgelder bezahlen? Zunächst der Lieferant, aber letzten Endes der Verbraucher.
Wenn ich dann die Milch, die Verkäuferin, das Wasser, den Inspektor und das Bestechungsgeld bezahlt hätte, bliebe mir nicht mehr genug Geld, um noch Kakaopulver zu kaufen, das ich in die Milch einrühren könnte. Ohne Kakao aber schmeckt meinen Kindern die Milch nicht. Infolgedessen sind sie nicht so stark wie die holländischen Kinder.
Wenn ich all diese Dinge bezahlt hätte, hätte ich höchstwahrscheinlich auch kein Geld mehr übrig, um meinen Kindern am Samstagabend ein Eis zu spendieren. Jemand, der Eis herstellt und verkauft, wertet die Milch auf, während die Verkäuferin, das Wasser, die Inspektoren und das Bestechungsgeld gar nichts daran verbessern.
Indem ich sie alle bezahle, bezahle ich im Grunde nur für meine Sünde: meinen Hang dazu, meinem Nachbarn die Milch und das Geld zu stehlen. Der hohe Preis der Sünde macht es mir schwer, Eiscreme zu kaufen. Mit anderen Worten, der Preis der Sünde hindert mich daran, echte wirtschaftliche Aktivität zu fördern. Meine von Misstrauen und Unehrlichkeit geprägte Kultur raubt mir das Geld, das ich dazu verwenden könnte, meinen Kindern ein besseres Leben und meinen Nächsten eine produktive Tätigkeit zu ermöglichen.
Mein Besuch auf dem Milchhof hat mir geholfen, zu verstehen, warum ein kleines Land wie die Niederlande in der Lage ist, Geld für eine viel größere Nation wie Indien zu spenden. Zugleich hat er mir begreiflich gemacht, was mein Mitreisender, ein mittelmäßig gebildeter Geschäftsmann, mir erklären wollte. Er konnte etwas sagen, worüber Wirtschaftsexperten nicht so gerne sprechen: dass moralische Integrität ein ungemein bedeutender Faktor hinter dem einzigartigen sozioökonomischen/soziopolitischen Erfolg des Westens ist.
Woher kommt diese Moral? Warum ist meine Gesellschaft nicht ebenso vertrauenswürdig?
Bildung war eine entscheidende Kraft, die Westeuropa transformiert hat. Christliche Reformatoren wie Martin Luther, John Knox und Johann Amos Comenius machten Bildung universell zugänglich, eben um Generationen von Menschen zu zivilisieren, die ein neues Europa schaffen konnten. Die Pioniere der modernen Bildung machten die Charakterbildung zu einer Hauptfunktion des Bildungswesens, weil sie sich folgende jüdisch-christliche Gedanken zu eigen machten:
Gott ist heilig.
Er hat uns Moralgesetze gegeben, wie etwa die Zehn Gebote.
Der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes ist die Voraussetzung für
schalom
(Frieden) und die Quelle eines guten Lebens.
Ungehorsam gegenüber Gottes Moralgesetz ist Sünde und bleibt nicht ungestraft.
Sünder können Buße tun und Vergebung und neues Leben empfangen.
Diese Gute Nachricht wurde zur intellektuellen Grundlage des modernen Westens. Sie war die Kraft, die moralische Integrität, wirtschaftlichen Wohlstand und politische Freiheiten hervorbrachte.5
Wenn moralische Integrität eine Grundlage für Wohlstand ist, warum reden säkulare Experten dann nicht darüber? Der Grund ist, dass die Universitäten nicht mehr wissen, ob Moralgesetze wahre universelle Prinzipien oder bloß gesellschaftliche Konventionen sind, die erfunden wurden, um unsere Freiheiten einzuschränken.
Und warum wissen sie es nicht?
Die Ökonomen haben das Erfolgsgeheimnis des Westens vergessen, weil die Philosophen den Gedanken der Wahrheit selbst vergessen haben.
Warum?
Die Wahrheit ging durch eine intellektuelle Arroganz über Bord, die jede göttliche Offenbarung ablehnte und versuchte, Wahrheit allein mit dem menschlichen Verstand zu entdecken. Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) zeigte, dass Logik und Erfahrung ohne weitere Hilfe nicht in der Lage sind, Gott, das menschliche Ich oder manche der Grundannahmen der Wissenschaft zu beweisen, zum Beispiel dass jede Wirkung eine Ursache haben muss oder dass die Gesetze der Physik überall und zu jeder Zeit im Universum dieselben sein müssen.
Humes Erkenntnis der Grenzen der Logik hätte eigentlich der Aufklärung ein wenig Bescheidenheit eintreiben müssen. Doch statt zuzugeben, dass unsere Logik ihre Grenzen hat, kamen viele auf den Gedanken, wenn die Logik Gott nicht beweisen könne, dann könne Gott nicht existieren. Hume versuchte, eine Moral ohne Gott zu begründen, doch der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) erkannte, dass der menschliche Verstand ohne göttliche Offenbarung nicht wissen kann, ob das Universum moralisch ist. In diesem Leben sehen wir die Gerechten leiden und die Bösen gedeihen, doch ohne Offenbarung können wir nicht wissen, ob es nach dem Tod ein letztes Gericht geben wird.
Kant versuchte die Moral zu retten, doch Friedrich Nietzsche (1844–1900), der deutsche Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts, kam zu dem Schluss, wenn die Logik nichts von Moral wisse, müsse die Moral ein bloßes gesellschaftliches Konstrukt sein. Da die jüdisch-christliche Moral die Schwachen begünstigt, müsste sie wohl von den Sklaven erfunden worden sein, um die Freiheit der Mächtigen – der Arier – zu begrenzen.
Existenzialistische Philosophen, die Nietzsche folgten, stellten sich auf den Standpunkt, da das Universum weder einen gottgegebenen Sinn noch gottgegebene moralische Normen habe, verlange das Streben nach Freiheit von uns, unsere eigenen Werte und Ziele zu erschaffen. Zum Beispiel begann der deutsche Existenzialist Martin Heidegger (1889–1976) seine intellektuelle Karriere als Fürsprecher des nationalsozialistischen Denkens.
Der Nationalsozialismus wurde militärisch besiegt, aber die Unfähigkeit der Logik, Gott oder die Moral zu erkennen, hat dazu geführt, dass an postmodernen Universitäten niemand mehr weiß, ob etwas richtig oder falsch ist. Nachdem die Bildungsinstitutionen Gott und seine Offenbarung abgelehnt haben, sind sie unfähig geworden, das Gute, Schöne und Wahre zu lehren. Mit diesem Aspekt des Westens wurde ich zwei Jahre nach meinem Ausflug auf den Milchhof in Holland konfrontiert.
1985 waren Ruth und ich wieder in Holland – diesmal mit unseren beiden Töchtern. Eines Tages, während Ruth Vorträge hielt, machte ich mit den Mädchen eine Sightseeing-Tour durch Amsterdam. An einem Automaten versuchte ich mir eine Tageskarte für die Busse und Straßenbahnen zu ziehen. Da die Anleitung auf Holländisch war, fragte ich zwei junge Frauen: «Wie bekomme ich Tickets an diesem Automaten?» Wie sich herausstellte, waren es Amerikanerinnen.
«Warum wollen Sie denn Tickets kaufen?», antworteten sie. «Wir fahren schon seit einer Woche hier herum. Es ist noch nie jemand gekommen, um die Tickets zu kontrollieren.»
Noch mehr als ihr unmoralisches Verhalten schockierte mich, dass sie nicht den leisesten Anflug von Scham erkennen ließen. Sie repräsentierten die neue Generation, die «willkürliche» und «repressive» religiöse Vorstellungen von Recht und Unrecht abgeschüttelt hat. Ihre akademische Bildung hatte sie von Geboten wie «Du sollst nicht stehlen» befreit.
«Es ist schön», sagte ich zu ihnen, «dass es genügend zahlende Pendler gibt, dass das System auch ein paar Leute transportieren kann, die nicht bezahlen. Aber sobald es Ihren Schulen gelingt, genügend schlaue Passagiere hervorzubringen, wird Ihr Land auch so weit sein wie meines. Dann werden Sie in jedem Bus Ticketkontrolleure brauchen, und Super-Kontrolleure, die die Kontrolleure überwachen. Dann wird jeder mehr bezahlen müssen. Aber die Korruption wird nicht auf die Verbraucher beschränkt bleiben; sie ist ein Krebsgeschwür, das Politiker, Bürokraten, Manager, Busfahrer und auch das Wartungspersonal infizieren wird. Sie werden Provisionen, Kommissionen und Schmiergelder annehmen, damit sie minderwertige Teile und Dienstleistungen durchgehen lassen. Bald wird Ihr öffentlicher Personenverkehr so aussehen wie unserer: Häufige Ausfälle werden nicht nur das Transportsystem ausbremsen, sondern auch Ihre Straßen, Ihre Effizienz und Ihre Wirtschaft.»
Jedes Jahr im August veröffentlicht Transparency International (TI), eine nichtstaatliche Organisation in Deutschland, den Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index), in dem Länder in der Reihenfolge vom am wenigsten korrupten bis zum korruptesten aufgelistet werden. Kein Land ist völlig frei von Korruption, aber manche Länder sind so korrupt, dass TI in ihnen überhaupt keine Erhebungen vornehmen kann. Diese Länder werden von Mafia-Organisationen, Banden und Milizen beherrscht. Ihre chronische Armut beweist das, was schon Adam Smith, einer der Väter des Kapitalismus, wusste: Wirtschaftliche Verhältnisse hängen davon ab, was für eine Moral man hat, und das wiederum ergibt sich daraus, was für eine Philosophie man hat.
Warum zum Beispiel haben die Gesundheitskosten in Amerika ein so groteskes Ausmaß angenommen, dass sie jeder Kultur der Barmherzigkeit den Garaus machen? Versicherungen und Pharma-Unternehmen, die das Gesundheitswesen tragen, werden beschuldigt, nur weil die intellektuelle Elite nicht mehr in der Lage ist, sich die wirtschaftlichen Kosten einer akademischen Gottlosigkeit auszurechnen, die Ökonomie von moralischer Wahrheit separiert.
Transparency International ist eine säkulare Agentur, aber sie weiß, dass Korruption teuer zu stehen kommt. Ihre offizielle Website erzählt Geschichten wie diese:
Rund um den Globus wirkt sich Korruption in vielfältiger Weise auf das Leben der Menschen aus. In den schlimmsten Fällen kostet Korruption Menschenleben. In zahllosen anderen Fällen kostet sie die Menschen ihre Freiheit, ihre Gesundheit oder ihr Geld. …
Im Mai 2000 gab es 950 Verletzte und 22 Tote, als eine Fabrik für Feuerwerkskörper in Enschede in den Niederlanden in Flammen aufging. Das katastrophale Ausmaß der Explosion war nur deshalb möglich, weil die Aufsichtsbehörden gegenüber den schweren Sicherheitsmängeln bei der Lagerung der Sprengstoffe auf dem Fabrikgelände beide Augen zudrückten. Für ihr Schweigen sollen die Beamten jahrelang kostenlos mit Feuerwerkskörpern versorgt worden sein. Sogar eine illegale Erweiterung der Fabrik wurde von den Behörden im Nachhinein genehmigt.
Der Beamte, der in der Gegend für die Überwachung der Feuerwerkskörper-Fabriken verantwortlich war, gab zu, die konkreten Vorschriften für die Lagerung von Sprengstoffen überhaupt nicht zu kennen. Obwohl er als Experte galt, hatte er weder die relevante Literatur gelesen noch an irgendwelchen Schulungsseminaren teilgenommen. Er folgte lediglich den Anweisungen seiner Vorgesetzten, von denen einer vor zwei Jahren wegen Korruption verhaftet wurde.6
Wodurch entstand das vertrauenswürdige England, wie Mr. Singh es sah? Der moralische Wandel des modernen England begann mit John Wesley, dem Gründer des Methodismus. Wesley wäre sich mit Transparency International darüber einig gewesen, dass Sünde eine ernste Angelegenheit ist. Dabei sind die anfänglichen ökonomischen Kosten der Sünde banal im Vergleich zu dem, was sie uns am Ende kostet – das Leben.
John Wesley lernte aus der Bibel, dass Sünde nicht nur zum physischen Tod führt. Letztendlich ist ihre Folge der geistliche Tod oder die Trennung von Gott. Zunächst ist diese Trennung zeitlich und umkehrbar, aber wenn wir uns dagegen entscheiden, umzukehren und mit Gott ins Reine zu kommen, riskieren wir die ewige Trennung von ihm.
Wesley lehrte die englische Bevölkerung, dass der Gott, der uns liebt, die Sünde so ernst nimmt, dass er selbst Mensch wurde, um unsere Sünde und deren Folge – den Tod – auf sich zu nehmen. Er starb am Kreuz auf Golgatha, damit wir Vergebung und ewiges Leben finden können. Das war die Gute Nachricht – das Evangelium – laut der Bibel und John Wesley. Dieses Evangelium, das in den absoluten moralischen Maßstäben des Gesetzes Gottes wurzelt, erzeugte die Kultur der Vertrauenswürdigkeit, die den wirtschaftlichen Fortschritt in Europa möglich machte.
Warum stehlen die Leute in Holland nicht einfach die Milch und das Geld? Warum sind sie stattdessen in der Lage, die Entwicklung Indiens finanziell zu unterstützen?
In der Folge der Reformation im sechzehnten Jahrhundert spielte der Heidelberger Katechismus eine gewaltige Rolle dabei, die religiöse Kultur der Holländer zu prägen. Der Katechismus wurde 1563 in Deutschland verfasst und 1566 ins Holländische übersetzt. Zwischen 1568 und 1586 wurde der Katechismus von vier Synoden und endgültig von der Dordrechter Synode (1618–1619) verabschiedet, die ihn offiziell als die zweite ihrer «Drei Einheitsformeln» aufnahm und die Geistlichen verpflichtete, wöchentlich darüber zu predigen. Infolgedessen begannen die holländischen Kirchen, jeden Sonntag daraus zu lehren. Der Katechismus führt das Gebot «Du sollst nicht stehlen» in Form von zwei Fragen aus:
Frage 110: Was verbietet Gott im achten Gebot?
Gott verbietet nicht nur Diebstahl und Raub, die nach staatlichem Recht bestraft werden. Er nennt Diebstahl auch alle Schliche und betrügerischen Handlungen, womit wir versuchen, unseres Nächsten Gut an uns zu bringen, sei es mit Gewalt oder einem Schein des Rechts: mit falschem Gewicht und Maß, mit schlechter Ware, gefälschtem Geld und Wucher, oder mit irgendeinem Mittel, das von Gott verboten ist. Er verbietet auch allen Geiz und alle Verschwendung seiner Gaben.
Frage 111: Was gebietet dir aber Gott in diesem Gebot?
Ich soll das Wohl meines Nächsten fördern, wo ich nur kann, und an ihm so handeln, wie ich möchte, dass man an mir handelt. Auch soll ich gewissenhaft arbeiten, damit ich dem Bedürftigen in seiner Not helfen kann.
Warum interpretierte der Katechismus all diese zusätzlichen Dinge in ein schlichtes Gebot gegen das Stehlen hinein? Der Katechismus deutete keineswegs irgendetwas in die Zehn Gebote hinein, was von der Bibel her dort nichts zu suchen hätte. Gott selbst hatte gesagt, dass diejenigen in seinem Volk, die ihm den Zehnten verweigern, ihn dadurch berauben und betrügen (Maleachi 3,8). Die Menschen in den Niederlanden hatten Geld zu vergeben, weil eine Generation nach der anderen gelehrt worden war, hart zu arbeiten und den Zehnten an Gott abzugeben. Die Holländer verdienten genug Geld, um es an die Armen in Indien weiterzugeben, weil die Bibel lehrte: «Wer früher von Diebstahl lebte, der soll sich jetzt eine ehrliche Arbeit suchen, damit er auch noch Notleidenden helfen kann» (Epheser 4,28).
Nach dem Bruttonationaleinkommen (BNE) ist China die viertgrößte Wirtschaft der Welt. Indien steht an zwölfter Stelle, und Saudi-Arabien bei einer viel geringeren Bevölkerungszahl an fünfundzwanzigster. Aber diese aufblühenden Wirtschaften stehen nicht an der Spitze der «Spendernationen».7
Wirtschaftsexperten wissen, dass Korruption zu Armut führt, aber ihnen fehlen der intellektuelle Rahmen und die geistlichen Ressourcen, um korrupten Nationen dabei zu helfen, die schwierigen kulturellen Fragen zu stellen: Warum sind Holländer oder Engländer in der Lage, einander auf eine Weise zu vertrauen, wie es Inder oder Ägypter nicht können? Was macht manche Kulturen ehrlicher, weniger korrupt, vertrauenswürdiger und dadurch wohlhabender? Und warum ist der postmoderne Westen dabei, sein moralisches Erfolgsgeheimnis über Bord zu werfen?
Für mich liegt die Ironie darin, dass meine Kultur lehrt, jeder von uns sei Gott, während die Niederlande und England auf den biblischen Gedanken gegründet sind, dass alle Menschen Sünder sind, die vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Die religiöse Philosophie Indiens lehrte, da die menschliche Seele göttlich sei, könne sie nicht sündigen. Unsere strengste religiöse Philosophie lehrt sogar, alles sei Gott.8 Gott sei die einzige Wirklichkeit, die existiere, und deshalb gebe es letzten Endes keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht.
Swami Sivananda von der Divine Light Society fasste den klassischen Hinduismus so zusammen: «Die Welt ist weder gut noch schlecht. Der Verstand erzeugt das Gute und das Böse. Das Denken macht es so. Das Böse ist nicht in der Welt, es ist im Verstand. … Wenn du vollkommen [Gott] wirst, wird die Welt gut [vollkommen] erscheinen.»9
Acharya Rajneesh, auch Bhagwan und später Osho genannt, der dem tantrischen Gedanken der Erlösung durch Sex weltweite Publicity verschaffte, fasste die indische ebenso wie die postmoderne westliche Weltanschauung ähnlich zusammen: «Wir haben die Welt in das Gute und das Böse aufgeteilt. Diese Teilung existiert aber in der Welt nicht. Das Gute und das Böse sind unsere Bewertungen [nicht Gottes Gebote]. … Das Gute gibt es nicht; das Böse gibt es nicht. Dies sind zwei Aspekte einer einzigen Wirklichkeit.»10
Die Daten, die von Transparency International gesammelt wurden, zeigen, dass die am wenigsten korrupten Länder in überwältigender Mehrzahl diejenigen sind, deren Geisteshaltung durch die Bibel (nicht durch die «Kirche») geprägt wurde. Allerdings sahen sich viele Intellektuelle zu der Schlussfolgerung gezwungen, wenn Gott den Menschen keine moralischen Gebote gegeben habe und uns nicht richten werde, dann sei Moral nur ein künstliches kulturelles Konstrukt. Es gebe keine moralischen Normen, die für irgendjemanden bindend seien; Moral sei flexibel oder relativ und für verschiedene Menschen oder Gemeinschaften gälten verschiedene Normen.
Diese Experten machen Pläne für «Wirtschaftsentwicklung», aber sie haben die erste Lektion noch nicht verstanden, die Ruth und ich lernten, als wir anfingen, bei den Armen zu leben. Sie erinnern sich, dass wir auf einer Farm am Rande eines Dorfes wohnten. Das tat sonst niemand. Es war eine Einladung an Räuber, die sogenannten dacoits. Ein Blick genügte, um herauszufinden, dass ein Faktor hinter der Armut unserer Leute darin bestand, dass sie das Land, das sie hatten, nicht nutzen konnten. Wenn man nicht auf seinem Land lebt, kann man das Gemüse, das Obst oder das Vieh nicht schützen. Man baut kein Obst oder Gemüse an oder hält sich Hühner oder Kaninchen, weil sie einem doch nur gestohlen werden.
Eine Mango aus Indien verkauft sich in Amerika für bis zu drei Dollar. Allein durch den Anbau von Mangos oder Guaven könnten sich ganze Familien aus der Armut herausarbeiten. Aber wenn hart arbeitende Bauern Mangos und Guaven anbauten, würden die höheren Kasten kommen und sie ihnen wegnehmen. Würden die Bauern versuchen, ihre Früchte zu schützen, so würde man sie schlagen und ihre Frauen vergewaltigen.
Warum?
Weil es keinen Gott gibt, der gesagt hat: «Du sollst nicht begehren deines Nächsten [Mangos]», oder: «Du sollst nicht stehlen und nicht Ehebruch begehen.»
Ist es wirklich falsch, zu begehren, was einem nicht gehört, zu stehlen oder zu vergewaltigen?
Der postmoderne Relativismus sagt ebenso wie meine traditionelle Kultur: «Ja, es ist falsch, wenn du das tust, aber es ist nicht falsch für uns, denn wir machen die Regeln und haben die Macht, sie durchzusetzen. Moral ist lediglich eine Auswirkung kultureller Macht. Moralische Regeln sind relativ. Du hast nicht die Macht, uns deine Regeln aufzuzwingen; deshalb gelten sie nicht für uns.» Diese «Wahrheit» à la Nietzsche/Nazis/Arier wird heute an vielen Universitäten propagiert.
Unsere «oberen Kasten» praktizieren moralischen Relativismus (verschiedene moralische Normen für verschiedene Kasten) nicht etwa, weil sie böser wären als andere Menschen. Sie tun es, weil unser Pantheismus nichts von Moral weiß und unser Polytheismus korrupte Götter verehrt. Heute herrscht in unserem öffentlichen Leben in Indien die Korruption, weil auch die intellektuelle und kulturelle Elite des Westens uns moralischen Relativismus lehrt. Der Westen wird korrupt, weil er ebenso wie wir eine «neue Spiritualität» ohne Moral entwickelt. Diese neue Spiritualität ist nicht anders als unsere alte.
Der holländische Milchhof gab mir einen kleinen Einblick in die moralische Seele des Westens, aber er erklärte mir nicht, warum dort die Molkereien maschinell gereinigt wurden, während unsere Frauen mit bloßen Händen Kuhmist sammeln und auf ihren Köpfen nach Hause tragen mussten.
Einige Jahre nach meinen Besuchen in England und den Niederlanden wurde ich eingeladen, an einer Universität in Uganda über das Thema Dorfentwicklung zu unterrichten. Bis dahin war ich davon ausgegangen, Uganda sei deshalb arm, weil es eine ressourcenarme Wüste war. Auf dem Weg vom Flughafen Entebbe nach Jinja sah ich Hunderte von Frauen und Kindern Wasser auf ihren Köpfen tragen. Der Anblick erinnerte mich an zu Hause, denn in unseren Dörfern und Städten machen es die Frauen genauso. Das bestärkte mich in meinen Annahmen über die Armut Afrikas, obwohl ich allenthalben nur üppiges Grün sah. Schon am nächsten Tag fielen meine Annahmen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Ich fand heraus, dass ich am Ufer des Viktoriasees untergebracht war, einem der größten Süßwasserseen der Welt. Der mächtige Nil entsprang nur ein paar Meilen von meinem Gästezimmer entfernt. Schon an seiner Quelle hat der Strom eine solche Kraft, dass die Briten 1954 begannen, die Wasserkraft zur Elektrizitätsgewinnung zu nutzen. Uganda erzeugt mehr Energie, als es verbraucht. Ein Teil davon wird nach Kenia verkauft. Die Frage war, wenn es so viel Wasser und so viel Energie gab, warum mussten dann Menschen Wasser auf ihren Köpfen tragen?
Der Anblick der Frauen mit ihren Wasserkrügen auf den Köpfen war ein starkes Symbol für den Kontrast zwischen der westlichen Zivilisation und meiner nichtwestlichen Kultur. Warum sind Frauen in meinem Land gezwungen, Wasser, Kuhmist und Ziegelsteine auf den Köpfen zu transportieren, die Frauen im Westen aber nicht? Diese Frage stellte ich einigen Besuchern aus dem Westen, die auf der Suche nach Spiritualität nach Indien kamen.
Manche dieser Besucher kamen zu mir, weil sie von meinem Buch The World of Gurus gehört hatten, das im größten Verlag Asiens erschienen war. Sie wollten über Yoga, Tantra, Meditation, Reinkarnation oder Vegetarismus reden. Es war eine Überraschung für sie, dass ich von ihnen erfahren wollte, wie ich meine Nachbarn von der erniedrigenden Plackerei befreien könnte, die ihren Geist abstumpfen ließ und ihren Körper zugrunde richtete.
Diese westlichen Pilger in Indien hatten den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt in ihren Gesellschaften für selbstverständlich genommen. Manche sahen ihn eher kritisch. Sie erwähnten Bücher wie Das Tao der Physik von Fritjof Capra oder Die sanfte Verschwörung von Marilyn Ferguson. Diese Bücher verdammten die Bibel dafür, dass sie die Welt mit Wissenschaft und Technik infiltriert hatte. Ich fand das verwirrend, denn bis dahin hatte ich im Allgemeinen eher den Vorwurf gehört, das Christentum sei gegen Wissenschaft und Technik. Diese Bücher dagegen kritisierten die Bibel dafür, sie habe Wissenschaft und Technik geboren.
Die westlichen Kritiker des technischen Fortschritts sahen Frauen, die Wasser auf ihren Köpfen schleppen, als etwas Romantisches. Für mich hatte dieser Anblick nichts Beschauliches; er war eine Herausforderung. Ich brauchte nicht erst lange zu recherchieren, um zu wissen, dass diese Methode des Wassertransports bedeutete, dass in den Häusern nur begrenzt Wasser zur Verfügung stand. Leute konnten ihre Hände, ihr Geschirr, ihr Obst und ihren Salat nicht ordentlich waschen. Durch die Keime im Wasser bekamen sie Magenkrankheiten, die ihnen die Energie raubten und Behandlungen erforderlich machten, die sonst vermeidbar gewesen wären. Ich wollte wissen: Warum tun manche Kulturen mit ihrem Verstand Dinge, die wir anderen mit unseren Muskeln bewerkstelligen müssen?
Wenn Sie Ihren Verstand einsetzen, kommt das Wasser ganz von selbst zu Ihnen: Wasser produziert Elektrizität, und die Elektrizität pumpt das Wasser in Ihr Haus. Eine Hand voll Arbeiter, die ihren Verstand einsetzen, können mehr Wasser in jedes Haus und jede Fabrik pumpen als eine Million Frauen, die sich 365 Tage im Jahr morgens und abends damit abschleppen. Warum vergeuden Inder und Afrikaner Milliarden von Arbeitsstunden dafür, Wasser zu schleppen oder Kuhmist zu sammeln, wenn doch die Frauen in dieser Zeit lesen oder unterrichten oder Pflanzen setzen oder mit ihren Kindern spielen könnten?
Ist es vielleicht so, dass der Westen seinen Verstand gebraucht, weil die weiße Rasse intelligenter ist? Ich wusste bereits, dass die Leute, die an den Ufern des Nils leben, nicht dumm waren. Sie bauten Pyramiden, und das schon Jahrtausende, bevor der Westen lernte, wie man Paläste baut. Das Problem ist, dass die Kulturen, die die Pyramiden und den Taj Mahal erbauten, keine Schubkarren für ihre Sklaven machten. Warum nicht?
Die Antwort darauf fand ich in der Studie Medieval Religion and Technology des Historikers Lynn White Jr. Seine bahnbrechende Forschung über die Geschichte der Technik führte ihn zu dem Schluss, dass es die Bibel war, die den Westen im Mittelalter zur ersten Zivilisation der Geschichte machte, die sich nicht auf dem Rücken schwitzender Sklaven ausruhte.
Das erste Kapitel der Bibel stellt uns einen Gott vor, der ein Arbeiter ist, keiner, der sich der Meditation hingibt. Gott arbeitete sechs Tage lang – und das müssen wir auch! Arbeiten ist göttlich. Das dritte Kapitel der Bibel lehrt, dass die Mühsal als Fluch über Adams Sünde in die Welt kam. Die Menschen wurden die einzige Spezies, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen musste. Da Mühsal und Plage eine Folge der Sünde sind, beinhaltet das Heil die Befreiung von der Sünde wie auch von der Mühsal – von geistloser, eintöniger Arbeit, bei der man nichts zu entscheiden hat.
Warum also schleppen westliche Frauen kein Wasser und keinen Mist auf ihren Köpfen? Weil, während die Elite in anderen Kulturen die Technik für Macht und Vergnügen, Prestige und Folter nutzte, christliche Klöster begannen, Techniken zu entwickeln, die machtlose Menschen aus entmenschlichender Sklaverei befreiten. Mühsal entmenschlicht, weil sie einen Menschen dazu zwingt, zu tun, was auch ein Ochse, ein Pferd, der Wind, das Wasser oder ein paar Räder tun könnten.
Da ich den Hinduismus eingehend studiert habe, wusste ich bereits, dass hinduistische und buddhistische Mönche nicht weniger intelligent waren als christliche Mönche. Die Philosophien, die sie konstruierten, die Höhlen, die sie in den Stein schlugen, und die Tempel, die sie bauten, legen Zeugnis davon ab, dass sie an Fantasie, Einfallsreichtum, Architektur, Ingenieurskunst, Disziplin und Organisation niemandem unterlegen waren.
Die christlichen Mönche hatten mit den buddhistischen ein Problem gemeinsam: Sie hatten alle keine Frauen, die für sie Wasser schleppen, Weizen mahlen oder Brennstoff zum Brotbacken suchen konnten. Ein Unterschied war allerdings, dass der Buddha von seinen Mönchen verlangte, um ihr Essen zu betteln, während das Neue Testament sagte, dass jemand, der nicht arbeitet, auch nicht essen soll.
Christliche Mönche erfanden Maschinen, weil sie sich ihr Wasser selber holen, ihre Molkereien selber sauber machen, ihren Weizen selber mahlen und ihr Brot selber backen mussten. Christliche Klöster entwickelten Technologien, weil sich ihre religiöse Verpflichtung zur Arbeit verband mit
dem geistlichen Streben nach Errettung von der Sünde und ihren Konsequenzen, einschließlich der Mühsal;
einer theologischen Bindung an die Würde jedes Menschen – Mann oder Frau, vornehm oder gering; und
einer religiösen Verpflichtung, den menschlichen Verstand zu kultivieren.
Als religiöse Einrichtungen waren die christlichen Klöster einzigartig. Manche von ihnen entwickelten sich zu Universitäten, weil sie gegründet wurden, um den Verstand ebenso zu kultivieren wie den Charakter. Sie trafen eine Unterscheidung zwischen Mythos und Wahrheit und waren davon überzeugt, dass der menschliche Verstand die Wahrheit erkennen könne. Darum waren die Mönche gehalten, über die Bibel hinaus Logik, Philosophie, Rhetorik, Sprachen, Literatur, Recht, Mathematik, Musik, Landwirtschaft und Metallurgie zu studieren. Diese religiösen Institutionen wurden zur Kinderstube der rationalen Disziplinen wie Medizin und Musik, Recht und Technik, Astronomie und Botanik, Kapitalismus und Moral.
Die europäischen Klöster kultivierten das Denken, weil sie sich auf die Bibelauslegung des Augustinus stützten, der lehrte, der menschliche Verstand sei insofern anders als das Gehirn der Tiere, als er nach dem Bild Gottes erschaffen sei. Sie glaubten nicht, dass der Verstand ein Produkt des blinden Zufalls oder der Ur-Unwissenheit (avidya) sei. Stattdessen waren sie überzeugt, der menschliche Verstand könne Gott, das Gute und das Schöne erkennen; menschliche Worte könnten Wahrheit mitteilen, weil Gott unseren Verstand nach seinem Bild erschaffen habe; und Gott habe uns die Gabe der Sprache gegeben, damit er mit uns, seinen Kindern, kommunizieren konnte.
Diese Schulen der Frömmigkeit brachten einen einzigartig rationalen