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Die Zeit der ersten Wiederentdeckung Walter Benjamins ist vorüber. Was oft unkritisch begrüßt worden war, erscheint im Licht dieser Biographie weitaus komplizierter und weniger eindimensional. Mit Hilfe des Literaturwissenschaftlers Werner Fuld hat der Leser die Möglichkeit, ein eigenes Bild jenes berühmten Autors zu gewinnen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 528
Werner Fuld
Walter Benjamin
Eine Biographie
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Als Kind erlebte Walter Benjamin das große Berlin, das in der Prosperität der Gründerjahre zur Weltstadt erwacht war. Er verließ die Stadt 1912, als er und sie erwachsen waren. Walter Benjamin ist kein Berliner gewesen, obwohl er dort am 15. Juli 1892 geboren wurde und, mit Unterbrechungen, dort aufwuchs und auch bis zum Exil zeitweilig noch in Berlin lebte. Was ihm diese Stadt vermittelte, war nicht die noch heute gerühmte Vitalität, mit der seit je, kulminierend in den zwanziger Jahren, die weltpolitischen und privaten Krisen genossen wurden, sondern es war die Erfahrung des Besitzes, die er dieser spekulationswütigen Stadt und seinem großbürgerlichen Elternhaus verdankt, und die er auch in den schwierigsten Situationen des Exils, als er fast nichts mehr besaß, nicht vergaß. Noch etwas schaute er dem Leben der Großstadt ab: Die Möglichkeit einer Einsamkeit des Einzelnen in der Masse. Es wird später davon zu reden sein.
Der Genuß des Besitzes, das Umgebensein mit der «Aura» der Dinge, das war wohl das Wichtigste, was er in seiner Kindheit erfuhr. Das reflektierende Auskosten solcher Aura lernte er erst später, als der Besitz nicht mehr selbstverständlich war. Walter Benjamin schrieb Erinnerungen an seine wohlbehütete Kindheit nieder, als die Atmosphäre solch begüterter Geborgenheit für ihn ins unabsehbar Ferne gerückt war. Er wußte, daß nicht allein er von der sich anbahnenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzung betroffen sein würde; die «Berliner Kindheit um 1900» ist seinem Sohn Stefan gewidmet und erhält dadurch einen fast didaktischen Charakter: so war es, und es wird nie mehr so sein – nimm und lies.
Entstanden sind die einzelnen Stücke, die wie Monolithe des Gedenkens um das Heiligtum einer Jugend stehen, zuerst als eine «Folge von Aufzeichnungen …, die frühe Erinnerungen betreffen»[1] unter dem Titel «Berliner Chronik» im Frühjahr 1932. Bereits im Dezember dieses Jahres hat die Sammlung den endgültigen Titel gefunden,[2] ohne daß sie ihre redaktionell letzte Gestaltung schon erfahren hätte. Benjamin arbeitete lange daran. Sechs Jahre nach Beginn war das Projekt noch nicht abgeschlossen, obwohl schon einiges davon vor 1933 in Deutschland veröffentlicht worden war. Je diffuser und unsicherer seine Lage in den Jahren 1933 bis 1938 sich gestaltete, desto präziser entwarf Benjamin in dieser Zeit das Bild seiner Kindheit. Dessen seltsame Form ist aufs Engste mit dem Schicksal des Erwachsenen verknüpft, aber es wäre bedenkenlos oberflächlich zu sagen, Benjamin sei vor den Schrecken des Faschismus in eine selbstgeschaffene Idylle geflüchtet. Alles ursprünglich nur Anekdotenhafte wird mit fortschreitender Isolierung des Exilanten getilgt; am Ende steht ein Werk, das in seiner esoterischen Klarheit nicht allein das Insulare der Benjaminschen Kindheit, sondern auch die Einsamkeit des sich Erinnernden verzeichnet. Der Zusammenhang von Esoterik und Didaktik wirft gerade bei diesem Text, da man nichts von beidem vermutet, ein Licht auf alle anderen; dazu aber muß der für Benjamin so wichtige Begriff «Esoterik» erklärt werden. Er meint nicht einen derart nach innen gewendeten Stil, daß er nur noch dem Verfasser und einigen Eingeweihten verständlich wäre, eine Privatsprache also, wie sie die Alchemisten verwandten, um sich vor Repressionen der Hochkirche zu schützen. Gleichwohl ist es eine ganz eigene Sprache, deren Entstehung sich auch dadurch begründet, daß Benjamin nie einen wirklich bedeutenden Lehrer hatte. Weder die Universität Berlin noch die in Freiburg oder Bern vermittelten ihm die Autorität eines großen Philosophen, deshalb war er nie einer «Schule» zuzurechnen, schrieb auch nie im philosophischen Hochschuljargon. Seine Sprache mußte er sich ohne Anlehnung an einen Lehrer selbst suchen und erfinden. Es ist eine philosophische, die keinem System zugeordnet werden kann, und deren System keineswegs allein in ihrer poetischen Hermetik liegt, obwohl Polgar von Benjamin gesagt hatte, daß er «sogar die deutschen Worte so anwende als seien es Fremdwörter» (GS, VI, 418). Was an Benjamins Sprache esoterisch erscheint, das ist gerade ihre der Didaktik und damit auch einem Leser zugeneigte Seite. «Esoterisch» ist kein ästhetischer Parallelbegriff zum psychologischen «egozentrisch» – im Gegenteil. Benjamins Esoterik ist von der Art, daß zwar seine Sprache sich in ihr Innerstes zurückzieht, aber nur, um es rein nach außen vermitteln zu können. Die Ablösung vom Ego ist dazu wesentliche Bedingung. Es wird dem Leser vielleicht auffallen, wie selten Benjamin in seinen Arbeiten das Wort «ich» gebraucht; auch darin gleichen sich seine Texte an didaktische an. Benjamin wußte sehr genau von dieser stilistischen Eigenart: «Wenn ich ein besseres Deutsch schreibe als die meisten Schriftsteller meiner Generation, so verdanke ich das zum guten Teil der zwanzigjährigen Beobachtung einer einzigen kleinen Regel. Sie lautet: das Wort ‹ich› nie zu gebrauchen, außer in den Briefen. Die Ausnahmen, die ich mir von dieser Vorschrift gestattet habe, ließen sich zählen.»[3] Zu diesen Ausnahmen gehören einige Stücke der «Berliner Kindheit», aber auch hier ist die subjektive Form des Ich-Erzählens nicht als nur private gemeint, sondern «als Vorkehrung des Subjekts, das von seinem ‹ich› vertreten, nicht verkauft zu werden, fordern darf».[4] Das «Ich» vertritt hier ein Subjekt, das sich nicht in der erzählenden Person erschöpft, sonst würde die Erzählform jenes «verkaufen», d.h. auf dem Wege literarischer Objektivierung veräußern, wie es das Prinzip modischer Autobiographien geworden ist. Nichts weniger wollte Walter Benjamin: Seine «Berliner Kindheit» sollte kein nur autobiographisches Zeugnis sein, das von seiner Person nicht ablösbar wäre, sondern es sollte etwas unvergänglich Typisches entstehen. Nicht sich selbst bot er damit dem Leser an, sondern das Erlebnis einer Kindheit in Berlin, die so nie mehr gelebt werden würde. Vor allem nicht in der unangetasteten Geborgenheit, in deren erinnernder Vergegenwärtigung durch den eigentumslosen Exilanten einst tägliche Dinge den Zauber des einzigartigen Besitzes gewinnen.
Walter Benjamin ist in einer großbürgerlichen Atmosphäre aufgewachsen, die man durchaus mit der Kindheit von Marcel Proust, dessen Hauptwerk er später mitübersetzte, vergleichen kann. Hier wie dort gibt es die Parks, in denen das Kind sich unter der Aufsicht eines «Fräuleins» bewegen darf. Die Spaziergänge führten meist zum Park des nahen Tiergartens. Dem Kind, das sich einzig an den Statuen von Friedrich Wilhelm und seiner Königin Luise orientieren konnte, schien das Terrain gleich einem Labyrinth. «Hier nämlich oder unweit muß ihr Lager jene Ariadne abgehalten haben, in deren Nähe ich zum ersten Male, und um es nie mehr zu vergessen, das begriff, was mir als Wort erst später zufiel: Liebe. Doch gleich an seiner Quelle taucht das ‹Fräulein› auf, das sich als kalter Schatten auf sie legte.»[5] Die Episode bei Proust, in der im Park der Erzähler einer kindlichen Gilberte sein erstes erotisches Erlebnis verdankt, gibt hierzu eine reizvolle Parallele.
Es waren nicht die Eltern, die über das Kind wachten – Benjamin erzählt darum sehr selten von ihnen –, sondern ein Kindermädchen zunächst und später eine Gouvernante.
Der Vater Emil Benjamin war aktiver Teilhaber des damals in der Kochstraße gelegenen Lepkeschen Auktionshauses, zugleich Aufsichtsratsmitglied und Aktionär einiger anderer Berliner Firmen, kurioserweise auch Anteilseigner am «Eispalast», der später legendären Berliner Scala. Einmal nahm der Vater seinen Sohn dorthin mit in eine Rangloge, von der aus dieser die manchmal seltsamen Gestalten ungestört betrachten konnte. «Unter ihnen aber befand sich jene Hure in einem weißen sehr eng anliegenden Matrosenanzug, die … meine erotischen Phantasien auf viele Jahre bestimmte.»[6]
Als der Vater um 1918 dann seine Teilhaberschaft am Auktionshaus aufgab, scheint er fortan nur noch Aktiengeschäfte getätigt zu haben; Benjamin spricht von «spekulativen Anlagen seiner Gelder».[7] Genaueres weiß er nicht, da der Vater die Kenntnisse seiner Geschäfte patriarchalisch der Familie vorenthielt. «Die ökonomische Basis, auf der die Wirtschaft meiner Eltern beruhte, war lange über meine Kindheit und Jugend hinaus von tiefstem Geheimnis um(geben). Wahrscheinlich nicht für mich … allein, sondern fast genauso für meine Mutter.»[8] Zuweilen gab der Vater als Beruf «Rentier» an, d.h. er konnte von seinem in Aktien angelegten Vermögen leben.
Die Familie Benjamin war sehr wohlhabend, der Handel mit Teppichen und Antiquitäten florierte, und der Vater fuhr jedes Jahr nach Paris, um dort einzukaufen. Er war ein sehr lebenslustiger Mann, ganz den diesseitigen Genüssen ergeben, führte ein offenes Haus, und seine Kenntnis guter Weine war ebenso bekannt wie sein untrügliches Urteil über die Echtheit und Qualität eines alten Orientteppichs. Das tägliche Problem des Antiquitätenhändlers, was echt oder nur nachgeahmt ist, erscheint bei seinem Sohn in dessen Reproduktions-Aufsatz; marxistisch gewendet geht es dort um den Verfall des Echtheitsbegriffs im Zeitalter technischer Reproduktion.
Es gibt in der Familie einen berühmten Verwandten: Heinrich Heine. Zur Familiensaga gehört die Anekdote, daß Walter Benjamins Urgroßmutter Eulalia, eine geborene van Geldern, noch auf dem Schoß Heines geschaukelt worden sei, dessen Mutter ja Elisabeth van Geldern war. Walter Benjamin schwieg sich über diese Verwandtschaft lieber aus; die Bedeutung Heines erkannte er nicht und teilte wohl stets das vernichtende Urteil von Karl Kraus über den Dichter.
Merkwürdigerweise erwähnt Benjamin auch nie Friderike Benjamin, die Schwester seines Vaters. Sie war mit sechzehn Jahren an den Bankier Josephy verheiratet worden und gebar ihm acht Kinder, die alle je einhunderttausend Goldmark als Taufgeschenk vom Vater erhielten. Diese sehr schöne und sehr kluge Frau war die Lieblingstante Walters. Von ihr soll er früh mit Graphologie vertraut gemacht worden sein. Sie las sehr viel, war für die damaligen Verhältnisse gewiß eine «Intellektuelle», und sie war es auch, die Walters große Begabung als erste erkannte. Unter dem Eindruck von Nietzsches Übermenschenideal, dem sie nicht zu genügen können glaubte, vergiftete sie sich im Jahr 1916. Auch von der Mutter, Paula B., geborene Schönflies, ist durch den Sohn nichts überliefert; wie gut kennt man statt dessen aus dem Werk und den Briefen die Eltern Marcel Prousts. Paula (oder Pauline) Schönflies war die Tochter eines aus Landsberg an der Warthe stammenden Kaufmannes, der mit seiner Übersiedlung nach Berlin zu einigem Vermögen und einer unabhängigen Stellung kam. Als sie im Jahre 1891 heiratete, war Emil Benjamin 35 Jahre alt, sie 22 Jahre.
Gemeinsam ist diesen Kindern – Proust wie Benjamin – ihre Anfälligkeit fürs Kranksein. Nicht nur, daß Benjamin schon früh wegen seiner Kurzsichtigkeit eine Brille bekam – er war häufig unpäßlich und mußte in einem Schuljahr einmal 173 Stunden dem Unterricht wegen Krankheit fernbleiben.[9] Beiden ist diese Schwäche auch lebenslang geblieben, und nur der Zwang zum Schreiben hat sie immer wieder, als sie schon Männer waren und noch nicht alt, am Leben erhalten. Noch etwas verbindet ihn lebenslang mit dem bewunderten Vivisekteur einer Epoche: die exzentrische Hilflosigkeit. In seinem Aufsatz über Proust zitiert Benjamin dessen Freund Riviere mit viel Verständnis: «Er ist gestorben aus Weltfremdheit, und weil er seine Lebensbedingungen, die für ihn vernichtend geworden waren, nicht zu ändern verstand. Er ist gestorben, weil er nicht wußte, wie man Feuer macht, wie man ein Fenster öffnet.»[10] Benjamin, in seinem vierzigsten Lebensjahr, bekannte, «daß ich noch heute mir keine Tasse Kaffee kochen kann».[11]
Für Proust sorgte später, als er nur noch im abgedunkelten und korkgetäfelten Zimmer schreiben konnte, seine Haushälterin Céleste; bei Benjamin war es die jüngere Schwester Dora (geb. 30. April 1901), die mit ihm die kargen Pariser Zimmer teilte. Ein ebenfalls jüngerer Bruder Georg (geb. 10. Sept. 1895), verheiratet mit der späteren Justizministerin der DDR, der als überzeugter Kommunist im Berliner Arbeiterviertel als Arzt praktizierte, starb in einem deutschen KZ. Benjamin hat nicht darüber gesprochen. Die Existenz seiner seit 1935 an der Bechterewschen Krankheit, einem chronischen Wirbelsäulenrheumatismus leidenden Schwester, die ihm die Manuskripte abschrieb, hat er vor Bekannten in Paris sogar verheimlicht. Werner Kraft erinnert sich, daß Benjamin nebenher einmal sagte, «er wohne hier nicht allein, so daß man annehmen mußte, er wohne mit einer Frau zusammen. Zufällig habe ich viele Jahre später erfahren, daß diese Frau seine Schwester war.»[12] Der Grund für solche Heimlichkeit lag hier in Benjamins Empfindlichkeit, niemanden von seiner wahren pekuniären Not wissen oder nur ahnen zu lassen. Aus Geldmangel nämlich wohnte er mit ihr in einer kleinen Wohnung in der Villa Robert Lindet 7, bevor er ein eigenes Zimmer in der Rue Dombasle 10 mieten konnte. Der Schwester gelang nach 1939 die Flucht aus Paris; sie starb an den Folgen ihrer Krankheit Anfang 1946 in einem Zürcher Hospital.
Auch die Kindheitserinnerungen erzählen vom Einzelkind Walter Benjamin, das keine Geschwister oder Freunde, auch nur Spielgefährten zu kennen scheint. Von gemeinschaftlichen Streichen ist nicht die Rede; man geht mit der Aufsichtsperson in den Park. Unfrei in ihren Möglichkeiten, aber gesichert in den Verhältnissen, verläuft solch eine Kindheit um 1900. «In meiner Kindheit war ich ein Gefangener des alten und neuen Westens. Mein Clan bewohnte diese beiden Viertel damals in einer Haltung, die gemischt war aus Verbissenheit und Selbstgefühl … In dies Quartier Besitzender blieb ich geschlossen, ohne um ein anderes zu wissen. Die Armen – für die reichen Kinder meines Alters gab es sie nur als Bettler.»[13] Nur wenn in der Vorweihnachtszeit den Handwerkern und Heimarbeitern erlaubt wurde, die Weihnachtsmärkte der Villenviertel mit dem selbstgebastelten Spielzeug, den Rauschgoldengeln und bronzierten Nüssen zu beschicken, hätte das Kind dunkel ahnen können, daß es noch eine andere Welt als die seiner Klasse gab. Doch solches Ahnen wurde überblendet vom billigen Glanz der begehrten Waren, die sich dem Bürgerkind anpriesen, indem sie in ihrer Aufmachung seinem Wesen zu entsprechen versuchten, und die im Bewußtsein des Kindes kraft ihrer Pracht und goldenen Herrlichkeit auch ihre Verkäufer notwendig zu seinesgleichen machen mußten.
Eine wirkliche Verunsicherung erfolgte höchstens durch ungebetene Eindringlinge; Benjamins Eltern waren reich genug, um bestohlen zu werden. Mindestens einmal wurde in eine der Sommerwohnungen der Familie eingebrochen.[14] Das Dienstmädchen wurde verdächtigt, den entscheidenden Hinweis gegeben zu haben. Häufig waren weibliche Angestellte großbürgerlicher Häuser Opfer von Kriminellen, denen sie freiwillig – aus Liebe – oder erpreßt Details aus dem Haushalt preisgaben – wann jemand abwesend oder wo der geeignete Zugang zu finden sei. Es galt als Privileg der Begüterten, den Sommer nicht in der Großstadt verbringen zu müssen. Die Theater- und Ballsaison ging im Mai zu Ende; bei Fontane heißt es an einer Stelle: «Von Juni an schläft dann alles ein, und die heruntergelassenen Rouleaus verkünden einem schon auf hundert Schritt ‹Alles ausgeflogen›; ob wahr oder nicht, macht keinen Unterschied.» Benjamins Erinnerungen verzeichnen zwei solcher Refugien vor der Hitze der Steinwüste Berlin: eine Sommerwohnung befand sich am Brauhausberg bei Potsdam, die andre in Babelsberg.[15] Das Kind erlebt dort Natur in domestizierter Form; im großen Garten darf es mit seiner Heurekapistole auf hölzerne Vögel schießen, die vom Aufprall der leichten Gummibolzen willig umfallen. Ansonsten geht es mit der Botanisiertrommel umher, sammelt Schmetterlinge oder ordnet an Regentagen die Briefmarkensammlung oder das Päckchen gesammelter Ansichtskarten.[16] An der Husarenuniform samt Säbel wird es ebensoviel Spaß gehabt haben wie seine Eltern, die ihren Buben vielleicht auf solche Art gern dem preußisch-christlichen Staat assimiliert sahen. In einer autobiographischen Notiz vom 13. August 1933 heißt es: «Als ich geboren wurde, kam meinen Eltern der Gedanke, ich könnte vielleicht Schriftsteller werden. Dann sei es gut, wenn nicht gleich jeder merke, daß ich Jude sei.»[17] Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese präzise subjektive Aussage zutrifft. Reflektiert wird hiermit aber auch ein spezifisch jüdisches Generationsproblem. Der jahrhundertelange Zwang zu materiellen Berufen, der spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur beherrschenden Stellung reich gewordener Juden im mitteleuropäischen Bankwesen geführt hatte, wurde nach der Judenemanzipation vielfach als Makel empfunden. Daher schickten nun mehr und mehr jüdische Besitzbürger ihre Söhne auf Universitäten, damit sie dort einen geistigen Beruf lernen sollten. Nur zu diesem Zweck einer intellektuellen Ausbildung der Nachkommen, so sagten die Väter, hatten sie ihren Reichtum eigentlich gesammelt. Der Kunstenthusiasmus vieler Juden spiegelt so die emotionale Abkehr vom bloßen Gelderwerb und mag auch als Verdrängung eines schlechten Gewissens verstanden werden. Es muß aber auch gesagt werden, daß Benjamins Vater später die allem materiellen Gewinn entsagende Lebensform seines Sohnes keineswegs unterstützte.
Die erwähnte autobiographische Notiz aber ist noch nicht vollständig zitiert. Veröffentlicht wurde sie in ihren zwei Fassungen jeweils mit der Überschrift «Agesilaus Santander» zuerst im Zusammenhang eines deutenden Aufsatzes von Scholem.[18] Das Eingangszitat lautet in der ersten Fassung vollständig: «Als ich geboren wurde, kam meinen Eltern der Gedanke, ich könnte vielleicht Schriftsteller werden. Dann sei es gut, wenn nicht gleich jeder merke, daß ich Jude sei: darum gaben sie mir außer dem Rufnamen noch zwei sehr ungewöhnliche. Ich will sie nicht verraten.»[19] In der zweiten, endgültigen Version erscheint der letzte Teil etwas verändert: «Darum gaben sie mir außer meinem Rufnamen noch zwei weitere, ausgefallene, an denen man weder sehen konnte, daß ein Jude sie trug, noch daß sie ihm als Vornamen gehörten.»[20]
Nun geht Scholem in seiner weitreichenden Deutung des Textes davon aus, daß die sonderbare Namenskoppelung des Spartanerkönigs Agesilaus mit der spanischen Stadt Santander eben jene zwei Namen gewesen seien, die Benjamin hier fiktiv als geheime eigene einsetzte. Gewiß ergibt «Agesilaus Santander» bis auf einen überzähligen Buchstaben ein Anagramm, aus dem man «der Angelus Satans» herauslesen kann, und sicherlich hatte Klees Bild «Angelus Novus» eine tiefe Wirkung auf Benjamin, doch ist es wissenschaftlich zunächst falsch, den Worten Benjamins in ihrem nüchtern sachlichen Bericht nicht zu glauben und den ganzen Text von vornherein für ein «Produkt einer Fieberphantasie» zu halten.[21] In dem Irrtum befangen, die Überschrift «Agesilaus Santander» beziehe sich auf jene zwei geheimen Namen, nicht vertrauend auf den Satz Benjamins «Ich will sie nicht verraten», der dieser Hypothese entgegensteht, breitet nun Scholem seine Kenntnis aus, um zu einer Deutung zu kommen. Ausdrücklich heißt es: «Benjamin geht von der Fiktion aus, seine Eltern hätten ihm bei der Geburt noch zwei weitere durchaus sonderbare Namen gegeben, damit er sie gegebenfalls als literarisches Pseudonym verwenden könne, ohne als Jude unmittelbar erkannt zu werden, wie es beim Gebrauch des Namens Walter Benjamin unumgänglich war.»[22] Da Scholem von einer vielleicht durch einen fiebrigen Malariaanfall verursachten «Fiktion» Benjamins ausgeht und jene Namen nur auf die Namen der Überschrift, die jenes Anagramm «Der Angelus Satanas» ergeben, beziehen will, muß er fortfahren: «Freilich drückten die Eltern damit, daß sie gleichsam – wenn auch nur in Benjamins Imagination – auf seine Beziehung zu seinem Engel vorgriffen, mehr aus, als sie ahnen konnten.»[23] Es gibt vielleicht einige Gründe, warum Scholem glauben konnte, daß es sich bei Benjamins Worten über zwei geheime Namen, die als Pseudonym dienen mochten, um eine Fiktion handele: der einfachste ist, daß er als bester Freund es nicht besser wußte. Zum zweiten hatte Benjamin, wenn er unter Pseudonym schrieb, gern das Anagramm des eigenen Namens «Anni M. Bie» gebraucht. Unter dem gänzlich unverdächtigen Pseudonym «Detlef Holz» veröffentlichte er die Briefsammlung «Deutsche Menschen» 1936 in einem Schweizer Verlag. Scholem hätte jedoch wissen müssen, daß er den Worten des Freundes vertrauen kann; in jener Notiz heißt es, daß er die Namen, die eigentlich zum öffentlichen Gebrauch bestimmt waren, geheim hielt, weil er sie vor «Unberufenen» zu schützen gedachte. Der Freund konnte und wollte nicht in Erwägung ziehen, daß auch er zu jenen zählen könne; deshalb blieb er an jenes «Agesilaus Santander» fixiert und knüpfte daran eine weitreichend theologische Interpretation, die gewiß manches Richtige enthält, deren Ausgangspunkt jedoch falsch ist.
Wie Benjamin schreibt, waren seine Eltern so weitblickend gewesen, ihm zu seinem Rufnamen zwei weitere hinzuzufügen, denen man nicht so leicht das Judentum angesehen hätte. Daß er diese Namen nie verwandte, lag in seiner Verantwortung. Er hielt sie jedenfalls so geheim, daß auch sein engster Freund von ihrer Existenz nichts wußte. Sein Bruder Georg und die Schwester Dora bekamen keine weiteren Vornamen.
Tatsächlich bekam Benjamin folgende Namen: Walter Benedix Schönflies Benjamin. Walter war der Rufname, Benjamin der Vatername. Als weitere Vornamen wurden Benedix und der Geburtsname der Mutter: Schönflies eingetragen. Nach dem Willen der Eltern hätte das Pseudonym des künftigen Schriftstellers also «Benedix Schönflies» lauten müssen. Deren wohlmeinende Intention wurde vom Sohn ignoriert und jener «geheime» Name auch geheim bewahrt. «Anstatt die beiden vorsorglichen Namen mit seinen Schriften öffentlich zu machen, schloß er sie in sich ein. Er wachte über sie wie einst die Juden überm geheimen Namen, den sie jedem von ihren Kindern gaben»[24] schreibt Benjamin dazu. Es mag makaber scheinen, wenn jenes «Geheimnis» gerade durch ein Papier der nationalsozialistischen Gestapo nun an den Tag kommt. Scholem hätte gut daran getan, die Worte seines Freundes nicht als fiebrige Imagination zu lesen, sondern ihrem sachlichen Inhalt zu vertrauen; seine Interpretation ist wohlmeinend, aber alle herangezogene Faktizität der Wissenschaft vom «Angelus» und vom «Satanas» verbirgt nicht den Unglauben an den einfachen Worten des Freundes, der selbst nur niederschrieb, was seine Eltern dem Kind auf den Weg als vermeintliche Hilfe mitgaben. Ein Rätsel jedenfalls, das Scholem daraus macht, weil er die kabbalistische Lösung zu kennen glaubt, sollte es nicht sein, im Gegenteil. Dazu kannten sie wohl ihre eigne Historie zu gut und wollten sie auf das Kind nicht übertragen, sondern es davon befreien.
Die Eltern übten auf das Kind zunächst keinerlei Zwang aus, auch nicht religiösen. Die Erinnerungen berichten nichts von orthodoxem Ritual oder von jüdischen Eigentümlichkeiten familiärer Lebensführung. Gefeiert wurden sowohl das christliche Weihnachtsfest als auch die hohen jüdischen Festtage. Vielleicht war dafür der reformistische Einschlag der Mutter verantwortlich, wahrscheinlich aber ist, daß man in jener Zeit sich weniger als Jude, denn als Humanist und Europäer zu fühlen gewohnt war. Ein Bekannter Benjamins, der spätere Arzt Martin Gumpert, hat in der Autobiographie «Hölle im Paradies» sein ganz ähnliches Elternhaus beschrieben. Das Judentum des Vaters entsprang einer romantischen Tradition zum kosmopolitischen Humanismus. Wohl stand die jüdische Ethik in Ehren, aber sie wurde von der aristotelischen und christlichen ergänzt. Einen Antisemitismus konnte man schon deshalb nicht ernst nehmen, weil er von scheinbar lächerlichen, proletarisch anmutenden Gestalten verkündet wurde, denen die Familie, der Clan, als sichtbarstes Argument leicht ihre finanzielle Überlegenheit beweisen konnte.[25] Das wichtigste Indiz dafür, daß Benjamin nicht konsequent als Jude erzogen wurde, ist von einem späteren Zeitpunkt seines Lebens aus das am meisten einleuchtende: als er Gerhard Scholem kennenlernt, einen überzeugten Juden, der sich in seinem Studium zunächst der Mathematik, später aber immer mehr der Erhellung jüdischer Spezifika, besonders der Kabbala widmete, konnte er nicht mitreden. Scholem schreibt: «Da Benjamin kein Experte für Hebräisch war, konnten wir über solche Dinge nicht direkt verhandeln»;[26] es ist dies eine freundschaftliche Untertreibung: Benjamin konnte überhaupt kein Hebräisch und seine nicht wenigen Vorsätze, es zu lernen, endeten alle negativ.
Das Kind wurde, im zeitgenössischen Verständnis, durchaus liberal erzogen; auch seine ungestüme Lesewut wird von den Eltern nicht gebremst. Als Benjamin 1902 auf die reformierte Kaiser-Friedrich-Schule kommt, macht er sogleich von der Schülerbibliothek Gebrauch. Er las, wenn es auch paradox klingen mag, wahllos aber gezielt. Die Bände «Aus vaterländischer Vergangenheit» verabscheute er mit Recht; er ließ sich nicht gern langweilen und suchte «Schmöker» mit exotischfremden Stoffen. Der letzte Mohikaner oder Pompejis letzte Tage waren ihm Entschädigung für «das ganze Elend des öden Schulbetriebs».[27] Zwar liest er auch «Soll und Haben» oder «Zwei Städte», doch geheimnisvolle Spukgeschichten werden bevorzugt. Zeitlebens hält er «Das Phantom der Oper» für ein bedeutendes Buch. Auch E.T.A. Hoffmann erregt ihn; wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Eltern ihm die Lektüre des «Gespensterhoffmann» ausnahmsweise verbieten.[28] Der Bücherschrank ist als einziger im elterlichen Hause nie abgeschlossen, also liest er den «Gespensterhoffmann» doch, heimlich und in kleinen Raten. Später wird er sich für die differenziertere Art des Unheimlichen entscheiden und Jean Paul den Vorzug geben.
Die Tatsache, daß alle anderen Schränke verschlossen waren, und die Mutter stets ihren Schlüsselkorb – aus Skepsis gegen die Dienstmädchen und gleichzeitig zum Nachweis ihrer Rolle als Herrin des Hauses – bei sich trug, erhöhte das Geheimnis um den Inhalt der Schubladen und Regale.[29] Wenn eine Abendgesellschaft erwartet wurde, erschloß sich das Rätsel den Kinderaugen und blieb doch stets ein Rätsel, wie es ein gefundener Schatz aufgibt. Der Erinnerung Benjamins ist jene Faszination vom versteckten Besitz noch ablesbar. Er spricht von «langen, langen Reihen von Mokkalöffeln oder Messerbänkchen, Obstmessern oder Austergabeln»;[30] Gegenstände die er wohl kannte, aber durch deren Anhäufung er sich faszinieren ließ. Das Büfett ließ ihn «in seinen Schächten, die mit Samt wie mit graugrünem Moos bezogen waren, den Silberhort des Hauses sehen … Was aber dort auch lag, das war nicht zehnfach, nein zwanzig- oder dreißigfach vorhanden.»[31] Der Besitz, das selbstverständliche und unaufdringliche Vorhandensein der Dinge, über deren Wert er wußte, bannte ihn. Auch die Stadt lernte er in frühester Zeit nur kennen unterm Aspekt des Geldes und der Waren: wenn seine Mutter zu Einkäufen ihn mitnahm. Er sah, «wie uns das väterliche Geld eine Gasse zwischen den Ladentischen und den Verkäufern und den Spiegeln und den Blicken meiner Mutter bahnte».[32] Geld blieb ihm so allemal ein Faszinosum. Max Rychner überliefert eine charakterisierende Anekdote aus dem Jahr 1931: Benjamin hatte ihn in Berlin zum Essen eingeladen. Als es ans Bezahlen ging, zog er die Brieftasche, die, wie Rychner staunend bemerkte, prall gefüllt mit Banknoten war. «Nun lag die Brieftasche vor ihm, vor der Kassiererin, und ich als Kiebitz schaute auch hinein und sah dann, wie er träumerisch wurde und in den Anblick versank und zu vergessen schien, was vor ihm lag und was er zu tun hatte. Er blätterte plötzlich ganz sanft nach vorn, nach hinten, wie wenn er ein Buch vor sich hätte …»[33] Der Vergleich ist nicht schlecht gewählt. Benjamin konnte sich nie mehr von jener kindlichen Erfahrung lösen, obgleich er es auf differenzierte Art versuchte. Doch wenn er vom Gefühl spricht, seiner Klasse der Besitzenden den Abschied gegeben zu haben, nennt er es ehrlich «ein trügerisches leider».[34] Sicherlich gehört zu den Methoden, sich seines Besitzes zu entledigen und dennoch gleichzeitig als Besitzender erkannt zu sein, Benjamins große Leidenschaft des Schenkens. Er beschenkte Freunde nicht mit Dingen, die nur teuer waren, sondern als treibe ihn das schlechte Gewissen dessen, der mehr hat als der Beschenkte (was in den seltensten Fällen zutraf), trug seine Gabe den Ausweis geistigen Anspruchs, ohne aber ihren materiellen Wert verleugnen zu können: Der Büchersammler Benjamin schenkte vorzugsweise Erstausgaben. Werner Kraft, ein Jugendfreund, der Benjamin später im Pariser Exil wiedertraf, erinnert sich, daß er vor dem Krieg von ihm Friedrich Schlegels Gedichte in der Ausgabe von 1809 bekam, und: «Einmal fand ich beim Abendessen in meine Serviette eingewickelt die Originalausgabe von Grillparzers ‹Der Traum ein Leben›».[35] Erreicht hat Benjamin damit vielleicht, was er später als Maxime festhielt: «Gaben müssen den Beschenkten so tief betreffen, daß er erschrickt»[36].
Wie jeder Bücherkenner, der an der Grenze zum Bibliomanen sich bewegt, hatte Benjamin ein durchaus erotisches Verhältnis zu Büchern. In seinem Buch versammelter Reflexionen, das er der Freundin Asja Lacis widmete und «Einbahnstraße» nannte, gibt es dreizehn Sätze über die Gemeinsamkeiten von Büchern und Dirnen. Der erste Satz lautet: «Bücher und Dirnen kann man ins Bett nehmen», der letzte: «Bücher und Dirnen – Fußnoten sind bei den einen, was bei den andern Geldscheine im Strumpf.»[37] Benjamins Verhältnis zu Büchern geht in Wahrheit ebensoweit über solche Sätze hinaus wie seines zu Frauen. Mit der Freudschen Bestimmung vom Verhalten des Kleinkindes, das sein Spielzeug nicht deswegen wegwirft, weil es sich von ihm befreien, sondern weil es dieses zurück erhalten will, läßt sich von Benjamins Schenklust sagen, daß er wertvolle Bücher aus seiner Bibliothek weggab, um sie irgendwann lustvoll in einem Antiquariat wieder zu finden. Er gab den Dingen ihre Freiheit, zu ihm zurückzukehren, wie lange er auch warten müßte. Benjamin selbst hat solche Gedanken in jener schon zitierten autobiographischen Notiz vom 13. August 1933 auf Frauen und Geschenke bezogen: «Wo dieser Mann auf eine Frau stieß, die ihn bannte, war er unversehens entschlossen, auf ihrem Lebensweg sich auf die Lauer zu legen und zu warten, bis sie krank, gealtert, in zerschlissenen Kleidern ihm in die Hände fiele. Kurz, mit nichts war die Geduld des Mannes zu entkräften.»[38] Was diese Geduld beflügelt, schreibt Benjamin weiter, das ähnele allem, wovon er sich 1933 habe trennen müssen, den Menschen und vor allem den Dingen. Der Engel der Geduld wohnt in den Dingen, die Benjamin nicht mehr besitzt und erscheint hinter jedem, dem sie zugedacht sind. «Darum bin ich von niemandem im Schenken zu übertreffen.»[39] Benjamin schenkte mit der geduldigen Hoffnung auf Rückgewinn, und sein Engel der Geduld verkörpert eben jenes Glück, das im «Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt»,[40] einzig für ihn zu finden ist. Verständlich wird so der Vergleich von Büchern und Frauen, die man unter der Bedingung geduldigster Aufmerksamkeit immer wieder als neue und schon erkannte finden kann. In einer Rezension aus dem Jahr 1928 heißt es in diesem Sinn: «Wir wissen, daß sie (die Wiederholung, W.F.) dem Kind die Seele des Spiels ist; daß nichts es mehr beglückt, als ‹noch einmal›. Der dunkle Drang nach Wiederholung ist hier im Spiel kaum minder gewaltig, kaum minder durchtrieben am Werke als in der Liebe der Geschlechtstrieb. Und nicht umsonst hat Freud ein ‹Jenseits des Lustprinzips› in ihm zu entdecken geglaubt. In der Tat: jedwede tiefste Erfahrung will unersättlich, will bis ans Ende aller Dinge Wiederholung und Wiederkehr, Wiederherstellung einer Ursituation, von der sie den Ausgang nahm.»[41]
Bücher gehören vorzugsweise als selbstverständliches Requisit zur Kindheit und Jugend Benjamins; Dirnen bleiben als notwendiges der Jugend. In Stefan Zweigs gewiß nicht unrepräsentativen Memoiren vollziehen sich frühe sexuelle Erfahrungen großbürgerlicher Jugend zumeist am weiblichen Dienstpersonal. Benjamin verzeichnet nichts dergleichen. Es ist zwar eine kurze Novelle aus dem Jahr 1913 mit dem Titel «Der Tod des Vaters» erhalten,[42] deren Inhalt in einem Brief beschrieben ist: «Ein junger Mann verführt bald nach dem Tode seines Vaters das Dienstmädchen. Wie dann diese beiden Ereignisse zusammenfließen und eine Schwere die andere (Schwangerschaft des Mädchens) in der Waage hält.»[43] Die Anregung stammt jedoch nicht aus eigenem Erleben, sondern aus der Erzählung eines Bekannten. Benjamin aber hatte die mehr als zahlreichen Dirnen Berlins früh genug entdeckt und dies unter seltsamen Bedingungen. Einmal sollte er am jüdischen Neujahrstag an einer Feier in der Synagoge teilnehmen, wohin ihn weder Vater noch Mutter begleiteten. Er erhielt die Anschrift eines entfernten Verwandten, der ihn mit sich nehmen sollte. Ob er die Adresse vergaß oder sich in den Straßen verirrte – jedenfalls fand die Feier ohne ihn statt. Im ziellosen Umhergehen aber lernte er die Straßen kennen und ihre eindeutige Versuchung, die, wie er schreibt, «mich hier zuerst die Dienste ahnen ließ, welche sie den erwachenden Trieben leisten sollten«.[44] Benjamin erfuhr intensiv den jugendlichen Anreiz, «auf offener Straße eine Hure anzusprechen».[45] Dieser Anreiz bestand zunächst darin, daß im offiziellen großbürgerlichen Weltbild, wie es sich am Familientisch ausprägte, solche Wesen gar nicht existierten. Entsprechend schwierig gestaltete sich für einen Jugendlichen dieser Klasse die Unternehmung: «Stunden konnte es dauern, bis es dahin kam. Das Grauen, das ich dabei fühlte, war das gleiche, mit dem mich ein Automat erfüllt hätte, den in Betrieb zu setzen, es an einer Frage genug gewesen wäre. Und so warf ich denn meine Stimme durch den Schlitz. Dann sauste das Blut in meinen Ohren und ich war nicht fähig, die Worte, die da vor mir aus dem stark geschminkten Munde fielen, aufzulesen. Ich lief davon, um in der gleichen Nacht – wie häufig noch – den tollkühnen Versuch zu wiederholen. Wenn ich dann, manchesmal schon gegen Morgen, in einer Toreinfahrt innehielt, hatte ich mich in die asphaltenen Bänder der Straße hoffnungslos verstrickt, und die saubersten Hände waren es nicht, die mich freimachten.»[46]
Natürlich gab es auch Wege zum schönen Geschlecht, die näher lagen, besonders die des zoologischen Gartens. Hier flanierten die Berliner zwischen «den Sandplätzen der Gnus und Zebras, den kahlen Bäumen und Riffen, wo die Aasgeier und die Condore nisteten, den stinkenden Wolfsgattern und den Brutplätzen der Pelikane und Reiher … Das war die Luft, in der zum ersten Male der Blick des Knaben einer Vorübergehenden sich anzudrängen suchte, während um so eifriger er zu seinem Freund sprach.»[47] Der seit seiner Kindheit fast tägliche Gang durch den Zoo wurde durch die Aktienanteile des Vaters an der Berliner-Zoo-AG ermöglicht, da die Aktionäre und ihre Familienangehörigen nicht das obligate Eintrittsgeld zu entrichten hatten, das die weniger begüterten Berliner von solch regelmäßigen Vergnügen ausschloß. Wiederum liegt der Vergleich zur Akazienallee Prousts nahe, aber auch der späteren großen Bedeutung des Blicks im Vorübergehen, so in Benjamins Interpretation von «A une passante», sei schon hier gedacht.
Mit seinem privaten «Dirnenproblem» teilt Benjamin ein vieldiskutiertes Thema der Zeit. Bereits 1846 hatte der radikal-demokratische Schriftsteller Ernst Dronke in seinem wegen der argumentativen Schärfe und der präzisen Physiognomik einer Großstadt überaus lesenswerten Buch «Berlin»[48] von der heuchlerischen Moral des Besitzbürgertums und vom Elend des Proletariats geschrieben. «Der Begriff der Moral ist der des Reichtums, der Begriff des Unmoralischen ist der der Armut; der Reichtum selbst ist die Moral und Sittlichkeit.»[49] Die Herrschaftsmoral läßt sich in der Klasse der Besitzenden ständig in dem Maße erweitern, als sie sich für die ärmeren Klassen verengt. Der Kampf um die Existenz, der bei den Besitzenden versteckt und unter immer skrupelloserer Ausnutzung scheinbar legaler Methoden wie z.B. der der Spekulation geführt wird, äußert sich beim Proletariat in der «rohesten Form»: «Bei den Armen besteht er in der Prostitution und im Verbrechen. Die Prostitution ist in Berlin namentlich zu einer Ausdehnung gekommen, welche beweist, wie ungeheuer die Zahl derjenigen ist, welche durch äußere Verhältnisse der Existenz und der Erziehung in einen offenen Kampf gegen die Moralgesetze getrieben werden.»[50] Dronke gibt für das noch längst nicht zur Großstadt erwachte Berlin von 1845 die Zahl von rund 10000 Prostituierten bei 170000 weiblichen Einwohnern an. Stefan Zweig schreibt in seinen Memoiren über die Vorkriegssituation: «Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferdewagen auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden.»[51]
Wie in allen Großstädten blieb dieser Erwerbszweig nicht auf ein bestimmtes Viertel begrenzt, sondern breitete sich in mannigfachen Formen über die ganze Stadt aus. Wenn die auf «Moral» bedachte preußische Regierung nicht per Gesetz die kontrollierbaren Bordelle verboten hätte, hätte die Entwicklung vielleicht einen anderen Verlauf genommen; so aber wurden die meisten Prostituierten auf die Straße gezwungen und erweiterten erfinderisch ihren Liebesmarkt bis in scheinbar seriöseste Etablissements. Da sie gehalten waren, sich nicht auffällig zu kleiden, gingen sie in der Masse auf und waren doch dem Aufmerksamen jederzeit verfügbar. Es ist ein frommer Selbstbetrug, wenn Georg Zivier in seinem kleinen Buch über das Café des Westens und das spätere Romanische Café, dem Treffpunkt der Berliner intellektuellen Bohème nach der Jahrhundertwende, einerseits von Mädchen schreibt, «die sich wie heimatlos zwischen den Tischen hin und herschlängelten, mit diesem und jenem oder dieser und jener ein kurzes Gespräch führten, da und dort Platz nahmen und bald wieder unrastig weiterpendelten», andererseits aber bieder behauptet: «die Prostitution bleibt vor der Tür des Cafés des Westens.»[52] Der Selbstbetrug liegt darin, daß unter Prostitution hier nur die Straßenprostitution verstanden wird, die sicher die zahlenmäßig stärkste, aber auch schon 1846 für Dronke die ärmlichste Form darstellte. Eine nur wenig bessere war die der Caféhauskurtisanen, die nebenbei noch ein geistiges Hobby betrieben, und nur wenn die Konversation ihnen genehm war, ihren eigentlichen Beruf verrieten. Dies soll nicht heißen, daß alle, die sich im Café des Westens als Künstlerinnen ausgaben, durch Prostitution sich ernährt hätten, aber – wie Zivier selbst sagen muß – viele waren «Lyrikerinnen oder Malmädchen mit zweifelhaften Geldquellen».[53]
Auch wenn Benjamin nicht, wie er es selten genug tat, seinen Kaffee im «Romanischen» genommen hätte – es genügte, daß er im Tiergarten flanierte oder nur den Kurfürstendamm betrat. Die Damen waren überall. Als die Expressionisten sich um 1912 aufmachten, die Großstadt zu entdecken, da organisierten sie sich sorgsam deutsch in kleinen Expeditionstrupps, als gelte es, ein fernes Land zu erkunden. Viele Großstadtgedichte Georg Heyms sind solchen Ausflügen in die großstädtische Realität unter Führung Kurt Hillers und anderer zu verdanken. Daß mit der so neu gewonnenen Form der Großstadtpoesie auch die Hure ins Bewußtsein trat, ist nur konsequent. Die Impressionisten konnten sie noch als bindungslos freies Individuum darstellen, die Symbolisten sie im verführerischen Dämon Weib charakterisiert finden, für die Expressionisten ist die Hure nicht mehr und nicht weniger als ein Opfer der bürgerlichen Moral und des Kapitals, das solche Moral garantiert. Ihren ohnmächtigen Protest gegen die nicht zuletzt durch die Auseinandersetzungen um die Lex Heinze pervertierte Kultur des Wilhelminischen Deutschland gründeten die Expressionisten auf eine Solidarität mit den Prostituierten. Der berüchtigte Prozeß gegen den Zuhälter Heinze und seine als Prostituierte tätige Frau begann 1891 und lenkte die Aufmerksamkeit der Bürger für fast zehn Jahre mit heuchlerischem Blick auf diesen «Abschaum der Menschheit».[54] Die poetische Avantgarde der Expressionisten war es, die das Wagnis unternahm, sich der Herrschaftsmoral entgegenzustellen und auch Prostituierte als Menschen ihresgleichen – und überhaupt als Menschen – anzusehen. Daß die in einem solchen Anlauf enthaltene Kritik am bestehenden Kulturbild sich rasch in eine allgemeine «Mensch o Mensch»-Verbrüderung verflüchtigte, daß einzig das «Menschliche» an der Hure erkannt wurde, und kaum noch die soziologischen Bedingungen der Existenz, was notwendig zu einer Politisierung der Aussagen hätte führen müssen, sei nur am Rande erwähnt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die zeitgenössische Situation Berlins, in die Walter Benjamin hineinwuchs und von der er auch berichtete. Es ist nach allem kein Zufall oder nur von privatem Belang, wenn er in einem frühen Brief auf das Problem der Prostitution eingeht. Den Zeilen ist zu entnehmen, daß er seinem ehemaligen Mitschüler auf dem Kaiser-Friedrich-Gymnasium, Herbert Belmore, mit dem er auch als Student noch einige Jahre in Verbindung blieb, und ebenso dem Freunde Franz Sachs, eigene kritische Gedanken über jenes Problem mitteilte, nachdem Belmore sich in traditionell ästhetisierender Weise dazu geäußert hatte. Die Briefe Belmores sind zwar nicht erhalten, aber Benjamins eingehender Brief vom 23. 6. 1913 ermöglicht solche Rekonstruktion. Es heißt dort: «Wir für uns – nicht wahr – nehmen Sittlichkeit und Personenwürde in Anspruch. Aber wir sollen es wagen uns vor die Dirne zu stellen und nennen sie Priesterinnen, Tempelgeräte, Königinnen und Symbol. Du mußt wissen, daß mich das so sehr empört, wie Franzens ‹Mitleid›. Noch viel mehr. Denn mit diesem Mitleid, (das immer noch elend genug bleibt für den der mit ihr schläft – aber es kann wenigstens ehrlich sein) ist die Dirne doch noch sittlicher Mensch … Irgend ein schönes Ding ist Dir die Dirne. Du achtest sie wie die Mona Lisa … Aber du denkst Dir nichts dabei, tausende von Frauen zu entseelen und sie in die Galerie der Kunstwerke hinüber zu schieben. Als ob wir gar so kunstwerksam mit ihnen verführen! Sind wir ehrlich, wenn wir die Prostitution ‹poetisch› nennen. Ich protestiere im Namen der Poesie … Ich möchte, Du sähest den schalen Ästhetizismus in dem was Du schreibst. Du selber willst nicht auf Menschlichkeit verzichten. Aber doch soll es Menschen geben, die Sachen sind. Du privilegierst Dir die Menschenwürde. Das andere sind schöne Dinge. Und warum? Damit wir eine edle Geste für unedle Taten haben.
Wenn wir selber sittlich sein wollen, wenn wir zugleich die Prostitution anerkennen wollen, so gibt es nur die Frage: Welchen sittlichen Sinn hat das Leben der Dirne? – Indem es ein sittlicher ist, kann es kein andrer sein, als der unsres eignen Lebens. Denn Du fragst noch zu schüchtern: ‹Entweder sind alle Frauen Prostituierte oder keine?› Nun, antworte wie Du willst. Ich aber sage: wir alle sind es. Oder sollen es sein. Wir sollen Ding und Sache sein vor der Kultur … Wenn wir selbst all unsere Menschlichkeit als ein Preisgeben vor dem Geist empfinden und kein privates Gemüt, keinen privaten Willen und Geist dulden – so werden wir die Dirne ehren. Sie wird sein was wir sind.»[55]
Daß der Adressat Herbert Belmore dies alles nicht verstand und den Worten Benjamins das Postulat einer desintellektualisierten Versachlichung der Beziehung zur Dirne entnahm, läßt sich Benjamins Entgegnung vom 3. Juli 1913 entnehmen: «Daß Du mir aber das zutraust: der Mann soll sich bei der Dirne befriedigen, damit er frisch gestärkt (und friedlich-heiter) an seine Arbeit geht!»[56] Benjamin vertröstet Belmore auf eine Novelle, die er zu diesem Thema gerade schreibt; vielleicht sei aus ihr seine Meinung leichter verständlich. Ob sie beendet wurde, ist nicht bekannt; es ist kein Manuskript erhalten. Noch einmal nimmt er 1914 in einer kleinen Notiz, die unter seinem Pseudonym «Ardor» in der «Aktion» erschien, zu diesem Thema Stellung.[57]
Über den ephemeren Anlaß hinaus ist Benjamins Brief an Belmore von grundsätzlicher Bedeutung, da schon hier das vielleicht wichtigste Prinzip der späteren Arbeiten sichtbar ist. Der Satz: «Wir sollen Ding und Sache sein vor der Kultur» kommentiert nicht allein die schon erwähnte Verweigerung der Ich-Form in Benjamins Stil, sondern hat mit dieser zusammen eine weitreichende Konsequenz in der später zu besprechenden Sprachtheorie.
Doch zunächst soll die Darstellung sich der Ausbildung und damit einer der wesentlichsten Erfahrungen des jungen Benjamin zuwenden.
Der stets kränkliche Knabe wurde 1905 vom reformierten Kaiser-Friedrich-Gymnasium in das thüringische Landerziehungsheim Haubinda geschickt und blieb dort fast zwei Jahre, bis er wieder nach Berlin zurückkehrte und dort 1912 sein Abitur ablegte. Diese zwei Jahre aber waren von entscheidender Bedeutung. Benjamin lernte in Haubinda eine Schulform kennen, die sich vom üblichen eintönigen Drill strikt unterschied. Er machte Bekanntschaft mit den pädagogischen Ideen Gustav Wynekens, und dieses Erlebnis bestimmte sein Denken nahezu ein Jahrzehnt. Aus dem kränklichen Knaben wurde ein selbstbewußter Schüler, aus dem bewußtseinslosen Kind ein Verfechter eigenwilliger Jugend und ein Protagonist der «entschiedenen Jugendbewegung». Deren Keimzelle war die «Freie Schulgemeinde», die Wyneken 1906 in Wickersdorf gründete.
Wyneken hatte im Sommer 1900 die kurz zuvor von Herrmann Lietz gegründeten «Landerziehungsheime» kennengelernt. Er wurde, zunächst in Ilsenburg, dessen Assistent. Als Wyneken aus der Kirche austritt und als Erzieher den vorgeschriebenen Religionsunterricht nicht als Geschichte der Offenbarung, sondern als Religionshistorie erteilt, verlangt die Schulbehörde sein Ausscheiden aus dem Amt. Daraufhin wird er von Lietz 1903 als Lehrer in Haubinda eingesetzt. Benjamin erlebte ihn dort noch ein Jahr lang als Erzieher. Aber 1906 mußte er auch dieses Haus verlassen und gründete seine eigene «freie Schulgemeinde». Sie war unabhängig von den nach 1900 zahlreich aufkommenden reformpädagogischen Ideen (Ellen Key hatte das 20. Jahrhundert zu dem des Kindes proklamiert), sie war auch unabhängig von der Wandervogel-Bewegung, die schließlich in Hans Blüher ihren kompetenten Psychographen fand. Dennoch ist sie mit dieser verbunden im von Blüher geweckten Bewußtsein, daß «Jugend» ein eigenständiger Wert sei und nicht nur eine Entwicklungsstufe vom Kind zum Erwachsenen. Zudem hatte gerade Blüher den emanzipatorischen Anspruch einer Jugendbewegung als Protest gegen die erstarrte Kultur der Väter zum wesentlichsten Indiz für diese neue Jugend ernannt. Leider sind die Tagebücher und theoretischen Aufzeichnungen Benjamins, in denen er sich in Haubinda mit den Ideen Wynekens auseinandersetzte, nicht erhalten, so daß man zur Kenntnis seiner Position auf Aufsätze und Berichte aus der ersten Zeitschrift jener Jugendbewegung, des «Anfang», angewiesen ist. Der «Anfang» wurde von Georges Barbizon gegründet, einem Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, der eigentlich Georg Gretor hieß. Die ersten Nummern von 1910/11 waren diffus und in ihren Beiträgen unbedeutend, da sie noch nicht die kritische Schärfe der nachfolgenden Jahre erreichten. Unter dem Pseudonym «Ardor» veröffentlichte Benjamin hier einige Gedichte und einen kleinen Aufsatz über die Schulgemeinde. Erst als Barbizon zusammen mit Siegfried Bernfeld nach einem Jahr der Unterbrechung die Zeitschrift im Mai 1913 neu gründete und auch bis zur letzten Vorkriegsnummer vom Juli 1914 als deren Herausgeber zeichnete, wurde sie wirklich zu dem bestimmenden Organ der «entschiedenen Jugendbewegung». Da Barbizon noch nicht volljährig war, mußte Gustav Wyneken selbst formell als Chefredakteur auftreten. Er hat jedoch auf die redaktionelle Gestaltung des Blattes kaum Einfluß genommen. Den Verlag übernahm Franz Pfemfert, der mit seiner «Aktion» zur links von der Sozialdemokratie stehenden Opposition gehörte. Er hat sich der Sorgen und Anfechtungen, die der «Anfang» von konservativer Seite erleben mußte, in der «Aktion» auch immer verteidigend angenommen.
Zu den Mitbegründern des «Anfang» gehörte auch Martin Gumpert, ein unter dem Pseudonym «Grünling» publizierender junger Freund Benjamins, der in seiner im Exil erschienenen und heute vergessenen Autobiographie schreibt: «Verlassen von unseren Eltern, von denen wir wußten, daß ihre Harmlosigkeit uns ins Unglück jagen würde, versuchten wir, uns gegen unser Schicksal zu sträuben, und glaubten an eine Welt, die die Stimme der Jugend hören würde. Führertum und Gefolgschaft spielten einen bedeutsame Rolle. Wir lasen Stefan George und die strengen Epen des Schweizer Dichters Carl Spitteler.»[58] Tatsächlich organisierte sich die Jugendbewegung unter dem Leitprinzip des «Führers», dessen Rolle zeitweise der überragende Gustav Wyneken übernahm. Auch Benjamin war das Vokabular von Führer und Gefolgschaft durchaus geläufig, ohne daß es jedoch Anklänge an den späteren Mißbrauch des Inhalts dieser Begriffe gegeben hätte. Wyneken war eine durchaus sokratische Persönlichkeit und damit eigentlich nie autoritär, aber auch nie demokratisch. Hans Blüher hat richtig geschrieben, daß die Grundlage der Schulgemeinde der antike Eros war,[59] d.h. es wurde ein Prinzip verwirklicht, das den Erzieher zum beschützenden Kritiker seiner Schüler machte, wie eben Sokrates seinen Schülern alle Geborgenheit einer Gemeinschaft zu vermitteln bereit war und doch die geistigen Kompromisse, wie sie familiär auftreten müssen, strikt vermied. Der Begriff des Eros, den die Zeitgenossen nach Lektüre der Wandervogel-Monographie Blühers als bloße Homosexualität mißverstanden, bedeutet zunächst nichts anderes und nichts weniger, als daß jeder ein Gefühl für die eigene Person entwickeln sollte, dessen Differenzierungen sich dann als Hilfe oder Mitleiden, als Zuwendung und Erleben in der Gemeinschaft bewähren sollten. Die Diffamierung männlicher Begegnung schadete der Jugendbewegung ebensosehr wie – auf anderer Ebene – dem diffamierenden Kreis konservativer Erwachsener, da dieser sich hiermit unfähig zu einem adäquaten Verständnis dieses jugendlichen Denkens zeigte. Es sei aber auch nicht verschwiegen, daß Wyneken 1920 wegen seiner homoerotischen Neigung vor Gericht kam. Etwas später, ab 1925, war übrigens Peter Suhrkamp, der spätere Verleger Benjamins, Lehrer und Pädagogischer Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf.
Wyneken war, wenngleich als Führer apostrophiert, immer im antiken Begriff primus inter pares. Aus dem damals noch unverbrauchten Wort vom «Führer» aber ließ sich recht bald ein Indiz gegen die Jugendbewegung gewinnen. Martin Gumpert schreibt, daß die geistige Atmosphäre jener frühen Reden und Aufsätze über Führer und Gefolgschaft eine «mystische Mitschuld am Nationalsozialismus» enthalte: «Wenn ich diese alten Aufsätze heute lese, in denen vom ‹Einsatz für die Sache›, vom ‹Aufhören des Einzelnen›, vom ‹neuen Glauben›, die Rede ist, so frage ich mich entsetzt, was aus diesen Formeln unseres Pathos geworden ist. Mit diesem Ruf sind meine Freunde als Freiwillige in den Krieg gezogen, mit diesem Ruf auf den Lippen gestorben. Das Echo dieses Schreies ist in der Luft geblieben, vom falschen Messias erbeutet und entstellt klingt es heute in den Ohren einer neuen Jugend, die neuem Elend entgegentaumelt.»[60] Man kann solch verständig anklagenden Sätzen nicht widersprechen, vor allem nicht, wenn man weiß, daß Wyneken 1914 die deutsche Jugend zum Krieg begeistern wollte, weshalb Benjamin mit ihm brach. Es wäre absurd, wollte man Walter Benjamin für die Entstehung des Nationalsozialismus mitverantwortlich machen, und doch war er Teil jener Jugend, aus der Hitler später seine Anhänger gewinnen konnte und hatte bereits ihr Vokabular mitgeformt. Nur seine rechtzeitige Distanzierung von Wyneken rettet ihn vor der apologetisch vernichtenden Phrase einer «idealistisch mißbrauchten Jugend».
Es war der emphatische Begriff der «Jugend», der nach 1900 zur Gemeinschaft verpflichtet und alle, später um so krasser hervortretenden, Differenzen überdeckte. Hans Blüher, der eng an die männerbündische und z.T. schon antisemitische Wandervogel-Bewegung attachiert war, konnte sich im Namen einer überparteilichen Jugendbewegung durchaus von Gustav Wyneken begeistern lassen. Am Anfang ihrer Bekanntschaft stand 1912 eine Zeitungsnotiz, derzufolge es Wyneken verboten worden war, weiterhin Schüler auszubilden. «Dieser Wyneken, so hieß es, baue sein pädagogisches System auf der Überzeugung auf, daß Spitteler im Vergleich zu Goethe der größere Dichter sei und also in der Erziehung dominieren müsse.»[61] Es liest sich dies zunächst etwas kurios. Man muß aber bedenken, daß Goethe von der Vätergeneration als Vollender der Dichtkunst und der poetischen Kultur ausgegeben wurde; nicht wenige Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts folgten Gervinus, der seine Geschichte der deutschen Nationalliteratur mit einer Würdigung Goethes und der Weimarer Klassik als dem Höhepunkt erreichbarer Kunst beschlossen hatte. Eine Opposition gegen den zwar wenig gelesenen, aber kritiklos verteidigten Goethe mußte zu jener Zeit notwendig eine Opposition gegen die erstarrten Bildungsnormen und deren Vertreter – Lehrer wie Väter – bedeuten. Der Vorzug, der Carl Spitteler vor Goethe gegeben wurde, ist so dubios wie nebensächlich; wesentlich ist in historischer Perspektive allein der Protest gegen eine überlieferte Kulturtradition im Namen der Jugend. Auf dieser Basis fanden sich heterogenste Geister zusammen, so auch Hans Blüher und Gustav Wyneken. In seiner Autobiographie schreibt Blüher: «Er überzeugte mich davon, daß, wenn die Schule einen ernsthaften Sinn haben sollte, sie ihn nur dadurch bekommen könnte, daß sie allein dem Geiste diente – ‹scholae, non vitae discimus›. Er verwies auf das Mittelalter, da ein Stand von homines religiosi der Verwahrer der geistigen Güter war und diese ad majorem Dei gloriam verwaltete und lehrte. Von solcher Art sei seine Gründung in Wickersdorf.»[62]
Blüher war damals dermaßen von Wynekens Vorstellungen eingenommen, daß er in einer Schrift «Führer und Volk in der Jugendbewegung» die gesamte deutsche Jugend auf den «Führer» Wyneken verpflichten wollte. Wenn er sich schon nicht 1914 von Wyneken distanzierte, so spätestens 1919, denn Blüher war und blieb Monarchist, Wyneken dagegen näherte sich Kurt Hillers «geistigen Arbeitern» an. Das mitgeteilte Zitat aber offenbart besser als alle Selbstzeugnisse Wynekens den Kern seiner Lehre, durch die sich Benjamin lange – und in Details lebenslang – beeinflussen ließ. Es enthält eine scharfe Absage an Schule und Universität als bloße Ausbildungsstätten; Benjamin wird dies in einem Vortrag 1914 bekräftigen. Es enthält ferner eine Definition der Religiosität, wie sie in Benjamins Frühschriften so häufig erscheint. Es seien «homines religiosi» gewesen, welche die geistigen Güter verwalteten ad maiorem Dei gloriam. Nicht für sich individuell und zu einem naheliegenden Zweck dient also das Erfahren des Geistigen, sondern es ist Verstehen der Sache selbst aus ihrem eigentlichen Ursprung. Die homines religiosi haben die Sache erkannt und werden durch ihre Erkenntnis zu Lehrenden, nicht für sich selbst, sondern «für die Sache», die in ihrem Wert identisch ist mit ihrem Ursprung und nicht etwa mit ihrem Erfolg oder Nutzen. Diese Einsicht ist bei Benjamin Voraussetzung für die «Sittlichkeit» des Menschen. Er übernimmt vollkommen die kantianische Argumentationsweise Wynekens, wenn er vom sittlichen Willen sagt, dieser müsse «motivfrei» sein: «Eine Berufung auf den Ausgang hat mit sittlicher Motivation nicht das geringste zu tun. Die Grundstimmung des Sittlichen ist Abkehr, nicht Motivierung durch den eigenen, noch überhaupt einen Nutzen.»[63]
Es wird deutlich, wie mißverständlich solche Argumentation werden konnte; «für die Sache» war nach Wagner zu einer prototypisch deutschen Phrase geworden. Dennoch hat Benjamin eben dies Prinzip lebenslang beibehalten, um es allerdings gravierend zu verändern. Sich versenkend ins Gegenständliche, um es zu verstehen: das ist bereits der Kernsatz des Briefes über die Prostitution: «Wir sollen Ding und Sache sein vor der Kultur.» Martin Gumpert zitiert aus dem Vokabular der Zeit vom «Einsatz für die Sache» und vom «Aufhören des Einzelnen»; diese Phrasen waren einst für Benjamin inhaltsschwer gewesen und bargen noch keine Gefahr in sich. Daß Benjamin immer über alles Gemeinsame hinaus einen eigenen Weg suchte, sieht man allein daran, daß er Wynekens Urteil, Spitteler sei höher zu schätzen als Goethe, nie annehmen wollte – im Gegenteil. Schon sehr früh zitiert er Goethe in seinen Briefen und Aufsätzen. Die Werke Spittelers dagegen ließ er sich zwar zum Geburtstag schenken, las sie auch, zeigte sich aber von ihnen nicht lange beeindruckt. Kunst war es für ihn kaum, aber pädagogisch verwertbar: gerade das hatte Wyneken nicht gewollt. Vielleicht ist es nicht unrichtig, wenn man vermutet, daß für Benjamin der entscheidende Fehler Wynekens eben jenes nur scheinbar ästhetische Fehlurteil war. Vielleicht auch ist Benjamins frühe und intensive Beschäftigung mit Goethe eine nie eingestandene geheime Abrechnung mit seinem Lehrer gewesen. Kein Schüler verzeiht einem verehrten Lehrer einen solchen Fehler.
Nach dem Abitur verläßt Benjamin Berlin und läßt sich zum Sommersemester 1912 in Freiburg als Student der Philosophie einschreiben. Gustav Wyneken hatte ihn gebeten, die Leitung der Abteilung «Schulreform» in der Freiburger «Freien Studentenschaft» zu übernehmen. Benjamin, der mit Recht fürchtet, daß sein Studium unter organisatorischen Belastungen leiden würde, sagt unter der Bedingung zu, daß er eine intakte Organisation bereits vorfinden müsse. Es stellt sich aber rasch heraus, daß die Freiburger Studentenschaft völlig arbeitsunfähig ist, und daß von ihr keinerlei Initiativen ausgehen. «Man sieht hier keine Anschläge am Schwarzen Brett, keine Abteilungen – keine Vorträge.»[64] Benjamin zeigt sich nicht entschlossen, seine Studienzeit dem Aufbau einer intakten Studentenorganisation zu opfern, schreibt aber einen kleinen Artikel über das Problem der Schulreform.[65]
Die Semesterferien verbringt er im Sommer 1912 zusammen mit dem ehemaligen Klassenkameraden Franz Sachs in Stolpmünde. Er lernt dort den Oberprimaner Kurt Tuchler kennen, der ihn mit den Ideen des Zionismus vertraut macht. Benjamin schreibt in einem Brief vom 12. August 1912: «Einen ernsten Einfluß kann Stolpmünde auf mich vielleicht noch ausüben. Hier zum ersten Male ist Zionismus und zionistisches Wirken als Möglichkeit und damit vielleicht als Verpflichtung mir entgegengetreten.»[66] Franz Tuchler erinnerte sich später: «Während dieser ganzen Ferien war ich täglich, um nicht zu sagen stündlich, mit Benjamin zusammen, und wir hatten einen unerschöpflichen Gesprächsstoff. Ich versuchte, ihn in meinen zionistischen Vorstellungskreis einzuführen. Er versuchte seinerseits, mich in seinen Gedankenkreis zu ziehen. Wir setzten unseren Gedankenaustausch brieflich mit großer Intensität fort.»[67] Leider ist dieser Briefwechsel nicht erhalten. Immer wieder im Laufe seines Lebens ist Benjamin mit Zionisten zusammengetroffen, von denen Gerhard Scholem sein engster und vielleicht einziger Freund wurde. Auch er aber konnte Benjamin letztlich nicht zu einer Übersiedelung nach Palästina überreden, wiewohl dieser später zuweilen mit solchen Gedanken umging. Auch in mehreren Briefen an Ludwig Strauß begründet Benjamin ausführlich seine Stellung zum Zionismus und seine Verbundenheit mit den Ideen Wynekens. Diese wichtigsten biographischen Zeugnisse sind in den Gesammelten Schriften (Bd. II, 3, 836ff.) veröffentlicht worden.
Aufschlußreich sind vor allem einige Sätze aus dem letzten Brief an Strauß vom Januar 1913, in denen Benjamin seine Position klar absteckt: «… ich kann nicht den Zionismus zu meinem politischen Element machen. (Und deshalb werde ich ihn in radikaler Politik allerdings bekämpfen müssen.) Im tiefsten Sinne ist Politik die Wahl des kleinsten Übels. Niemals erscheint in ihr die Idee, stets die Partei … – wir wenden uns dahin, wo wir noch am ehesten unterkommen können. Der Zionismus aber ist für mich nicht dieser Ort, der Zionismus, so wie er existiert und allein existieren kann: mit dem Nationalismus als letztem Wert … Ob ich mein politisches Unterkommen im linken Liberalismus oder auf einem sozialdemokratischen Flügel finden werde, weiß ich noch nicht bestimmt. Im ganzen Komplex meiner Gesinnungen, die ja im Politischen in bestimmter Richtung zusammenzuziehen sind, spielt das Jüdische nur eine Teilrolle. Und eben nicht sowohl das National-Jüdische der zionistischen Propaganda ist mir wichtig, als der heutige, intellektuelle Literaten-Jude …»
Benjamins frühe Hoffnung auf die politische Linke wird enttäuscht werden; am Ende wäre es doch der ihm so fremde realpolitische Zionismus gewesen, wo er noch am ehesten hätte unterkommen können, und nicht die alleingeistige und zudem stets gefährdete «Heimat» des Instituts für Sozialforschung.
In Freiburg fand Benjamin schwer Kontakt und pflegte brieflich seine Verbindung zu den Bekannten in Berlin um so intensiver. Erst als er 1913 Philipp Keller kennenlernt, der gerade an einem Roman «Gemischte Gefühle», schreibt, und durch ihn in den Kreis des «Akademikerheimes» eingeführt wird, löst er sich aus seiner Zurückgezogenheit. Dieses von der «Freien Studentenschaft» unabhängige «Akademikerheim» wurde nun an jedem Dienstagabend der Treffpunkt von Benjamin und sechs oder sieben Bekannten, die hier eigene Gedichte oder Aufsätze vortrugen. Auch der junge Dichter Friedrich Heinle, den Benjamin zum Mitarbeiter für die «entschiedene Jugendbewegung» gewinnt, gehört zu diesem Kreis, der anfangs von Philipp Keller dominiert wird. Immer häufiger aber kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen ihm und Benjamin, die mit dem Rückzug Kellers enden. Von diesem Zeitpunkt an versucht Benjamin, Wynekens Ideen an den Kreis heranzutragen. Er diskutiert über Spitteler oder liest Aufsätze seines Lehrers vor.
Über Pfingsten, vom 9. bis 22. Mai fährt Benjamin mit Kurt Tuchler und Siegfried Lehmann, ebenfalls einem Zionisten, der später das Berliner jüdische Volksheim gründete, nach Paris. Die Stadt wird ihm zu einem unvergeßlichen Erlebnis, das er in einem Brief rekapituliert. Er habe 14 Tage mit so intensivem, wachem Bewußtsein gelebt, wie man nur als Kind leben könne. «Ich war den ganzen Tag unterwegs, ging fast nie vor 2 Uhr zu Bett. Die Vormittage im Louvre, in Versailles, Fontainebleau oder im Bois du Boulogne, nachmittags in den Straßen, in einer Kirche – im Café. Abends mit Bekannten oder in irgendeinem Theater: vor allem dann jeden Abend auf dem Grand Boulevard, das man ein wenig mit den Linden vergleichen könnte, wenn es nicht weniger breit (gemütlicher!) wäre und wenn nicht durch die ganze innere Stadt diese Straße sich ziehen würde, deren Häuser nicht zum Wohnen zu sein scheinen, sondern steinerne Coulissen zwischen denen man geht. Im Louvre und im Grand Boulevard bin ich fast heimischer geworden als im Kaiser-Friedrich-Museum oder in Berliner Straßen.»[68]
Es ist kein Zweifel: Benjamin hatte sich in Paris verliebt, wie man sich nur in eine Stadt verlieben kann. Dieser erste kurze Besuch wurde bestimmend für sein Leben. Er gab den Anstoß zur Beschäftigung mit Baudelaire, dem Dichter der Großstadt, und später zur Wahl der Stadt als Heimat im Exil. Nirgends, so schreibt Martin Gumpert, «kann man so tröstlichtraurig einsam sein als in dieser Stadt».[69]
Kurz nach seiner Rückkehr erscheint das erste Heft des neuen «Anfang». Der Herausgeber Barbizon hatte es in der «Aktion» vom 14. 5. 1913 folgendermaßen programmatisch angekündigt: «Diese neue Zeitschrift der Schuljugend hat inhaltlich wenig mehr zu tun mit ihren Vorgängerinnen gleichen Namens … Aus zagen, schüchternen Versuchen, ‹den betreffenden Kreisen (nämlich den pädagogischen …) auch einmal die Auffassung der Jugend› zu Gehör zu bringen, ist eine selbstbewußte Zeitschrift entstanden mit dem Programm: ‹durch die Jugend, für die Jugend!› ‹Der Anfang› soll eine Tribüne sein, von der aus mit lebensfroher Stimme die Forderungen der modernen Jugend erhoben werden, von der aus sie ihren Kampf um Achtung, um Recht der Persönlichkeit, um Freiheit der Überzeugung, um eine neue Lebensgestaltung führen und sich zum ersten Male selbst finden und zum Bewußtsein ihres Wesens und ihrer gemeinsamen Interessen gelangen kann … Die moderne Jugend hat das krampfhafte Wettrüsten untereinander, um ja nur einem (sic) möglichst breiten Platz am gedeckten Tisch des Lebens zu erobern, unter Verzicht auf eigene innere Bildung, unter Verzicht auf tiefere Erkenntnis, unter Preisgabe ihrer Jugendlichkeit und all ihrer Ideale gründlich satt. Der Popanz ‹Ernst des Lebens› macht keinen Eindruck mehr auf uns …»
Dies sollte nicht nur, im vielleicht jugendlichen Überschwang geschrieben, die Absage an eine erstarrte Form schulischer und familiärer Erziehung sein, es war deutlich und unüberhörbar die Kampfansage einer sich organisierenden Jugend an die ganze Generation der Väter und Lehrer. Zugleich mit dem ersten Heft des «Anfang» mußte es darüber zum Eklat kommen. Nochmals sei ausführlich der Herausgeber Barbizon zitiert, der in der «Aktion» vom 11. 6. 1913 auf den durch das vorgelegte Programm entstandenen Entrüstungssturm der Älteren mit scharfen Worten reagierte: «Die Jugend hat endlich erkannt, wie wichtig es für sie ist, sich zu organisieren, damit sie in der ernüchterten Welt ihrer Väter ihren Willen zum Fortschritt und zur Kultur behaupten kann. Sie hat das Mittel erkannt, die sich stets wiederholende Tragödie der Generationen – ihre vorzeitige Vergreisung und Lähmung – von sich abzuwenden … Unser erstes grünes Heft war noch nicht eine Woche in die Welt hinausgesandt, als sich schon ein Sturm panischen Schreckens in der konservativen Presse erhob.» Barbizon zitiert nun einige Pressestimmen, voran die «Kreuz-Zeitung», die von den Vätern «mittelalterliche Strenge» verlangte, «um die Keime solcher Verkommenheit bei ihren Söhnen zu vernichten», Die «Norddeutsche Allgemeine» war der Meinung, daß die Jugend sich lieber ihrer wahren Kultur «auf Turn-, Spiel- und Sportplätzen» widmen sollte, «in Gottes freier Natur und am Familientische». Sie beläßt es jedoch nicht bei dieser Ermahnung, sondern wendet sich an die Eltern, ihren Kindern jede Teilnahme an der Jugendbewegung zu verbieten, andernfalls sie ihre Jungen «eines von den Schulgesetzen mit Recht streng verbotenen Unfugs wegen von der Schule nehmen müßten».
Deutlicher konnte die Reaktion der Erwachsenen kaum ausfallen; mit derart ignoranten und bösartig nötigenden Kommentaren aber gab sie der Jugendbewegung eine eindringliche Bestätigung ihrer historischen Notwendigkeit und Wichtigkeit; die Unversöhnlichkeit, die hier gezeigt wurde, wird manchem noch zögernden Jugendlichen den Weg zur Jugendbewegung geebnet haben. Die jugendliche Initiative blieb nicht allein auf die Zeitschrift beschränkt. Im Gefolge des neuen «Anfang» wurde eine von Walter Benjamin und einigen Freunden schon 1912 in Berlin gegründete Einrichtung wieder aktiviert: die sogenannten «Sprechsäle». Hier konnten sich die Jugendlichen treffen und ihre Probleme diskutieren. In den Jahren 1913 und 1914