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Walter Ulbricht war einer der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts. Ilko-Sascha Kowalczuks umfassende wissenschaftliche Biographie schöpft aus langjährigen Quellenrecherchen in Dutzenden Archiven im In- und Ausland. Sein monumentales Werk ist mehr als eine einfache Biographie. Es ist auch eine Geschichte des Kommunismus und des zerrissenen 20. Jahrhunderts. Der erste Band behandelt die Zeit bis 1945, als die "Gruppe Ulbricht" nach Berlin entsandt wurde, und enthält Ulbrichts Aufstige in der Arbeiterbewegung, den Kampf der KPD in der und gegen die Weimarer Republik, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Exilzeit in Prag, Paris und Moskau. Wer diese Hintergründe kennt, versteht sehr viel besser, was Ulbricht nach 1945 antrieb und warum die DDR zu dem wurde, was sie war. Über Konrad Adenauer, die Gründungsfigur der Bundesrepublik, gibt es zahlreiche Studien, auch eine berühmte zweibändige Biographie. Zu Adenauers Pendant im Osten existiert bislang nichts Vergleichbares. Dabei ist Walter Ulbricht für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eine kaum weniger prägende Figur. Ilko-Sascha Kowalczuk beschreibt den Aufstieg des um die Jahrhundertwende in Leipzig geborenen Sohnes eines Schneiders zum Führer der deutschen Kommunisten, der zum eigentlichen Gründer der DDR wurde und 1961 die Mauer errichten ließ. Dabei entdeckt er nicht nur den Funktionär Ulbricht neu, sondern beschreibt ihn auch als Menschen, wie es bislang nicht zu lesen war. Er erklärt Ulbricht aus seiner Zeit und schreibt nicht über ihn mit dem Wissen von später. Sein Buch ist eine Biographie, aber zugleich auch mehr als das. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen durch die Augen eines deutschen Kommunisten.
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Ilko-Sascha Kowalczuk
Walter Ulbricht
Der deutsche Kommunist (1893–1945)
C.H.Beck
Über Konrad Adenauer, die Gründungsfigur der Bundesrepublik, gibt es zahlreiche Studien, auch eine berühmte zweibändige Biographie. Zu Adenauers Pendant im Osten existiert bislang nichts Vergleichbares. Dabei ist Walter Ulbricht für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eine kaum weniger prägende Figur. Ilko-Sascha Kowalczuk schöpft aus langjährigen Quellenrecherchen in Dutzenden Archiven im In- und Ausland und beschreibt den Aufstieg des um die Jahrhundertwende in Leipzig geborenen Sohnes eines Schneiders zum Führer der deutschen Kommunisten, der zum eigentlichen Gründer der DDR wurde und 1961 die Mauer errichten ließ. Dabei entdeckt er nicht nur den Funktionär Ulbricht neu, sondern beschreibt ihn auch als Menschen, wie es bislang nicht zu lesen war. Er erklärt Ulbricht aus seiner Zeit und schreibt nicht über ihn mit dem Wissen von später. Sein monumentales Werk ist eine Biographie, aber zugleich auch mehr als das. Es ist die Geschichte des zerrissenen 20. Jahrhunderts gesehen durch die Augen eines deutschen Kommunisten.
Der erste Band behandelt die Zeit bis 1945, als die «Gruppe Ulbricht» nach Berlin entsandt wurde, und enthält Ulbrichts Aufstieg in der Arbeiterbewegung, den Kampf der KPD in der und gegen die Weimarer Republik, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Exilzeit in Prag, Paris und Moskau. Wer diese Hintergründe kennt, versteht sehr viel besser, was Ulbricht nach 1945 antrieb, und warum die DDR zu dem wurde, was sie war.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK ist Historiker und Publizist sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaften und Kultur. Er ist einer der renommiertesten deutschen Experten für die Geschichte der DDR und des Kommunismus. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: «101 Fragen: DDR» (2009), «Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR» (2015), «17. Juni 1953» (2013), «Stasi konkret» (2013), «Die Übernahme» (62019)
Vom Schreiben einer Biographie. Einleitung
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
Nachwort zur Einleitung
1. Kindheit und Jugend (1893–1914)
Leipzigs Aufstieg zur sächsischen Metropole
Ulbrichts Herkunft
Leipzig: Gottschedstraße
Eine ganz normale Schulzeit
Alltägliches Familienleben
Von Marx zum Marxismus: Die Sozialdemokratie
Zeitungsmeldungen an Ulbrichts Geburtstag
Der Zukunftsstaat und Hegels Reisegepäck
Dissident von Hause aus
Erste politische Wahrnehmungen
Tischlerlehre
Abstinenz und Sport: Gesunde Lebensweise
Politisches Erweckungserlebnis
Streikerfahrung
Auf der Walz
Zurück in der Leipziger Arbeiterbewegung und der Arbeiterjugendbewegung
Der Kampf um Herz und Geist: Arbeiterbildung und Bücher
«Das Glück»
2. Erster Weltkrieg und Revolution (1914–1918)
Die Urkatastrophe
Die Sozialdemokratie bei Kriegsbeginn
Die Linke in Leipzig
Einberufung in den Krieg
Kriegsüberlebender
Desillusionierung und die Wurzeln des Berufsrevolutionärs
Balkan als Kulturerfahrung
Die erste Publikation
Russland 1917
Kriegsende
Revolution in Leipzig
Soldatenrat
Die deutsche Revolution als Initialzündung
Revolutionsprägung und Kaderpartei
3. Die neue Partei: KPD (1919–1920)
KPD-Gründungsparteitag
Die Utopie organisieren
KPD-Gründung in Leipzig
USPD und KPD
Ulbrichts Programm im März 1919
Am Anfang stand Gewalt
Nie vergeben? Luxemburg und Liebknecht
Der erste Berlinbesuch
Unruhen in Leipzig
Erstmals im Untergrund
Der 2. KPD-Parteitag und die Bolschewisierung
Verhaftung
Die erste Ehe
Bildung, Propaganda und Sprache
Gefahr von Rechts: Kapp-Lüttwitz-Putsch
4. Die Geburt des Parteifunktionärs (1920–1923)
Der II. Weltkongress der Komintern
Vereinigung von KPD und USPD
Bezahlter Parteifunktionär
Aufstandsversuch
Revolution als Organisationsaufgabe
KPD-Chef in Groß-Thüringen
«Eiserne Disziplin»
Organisationsaufbau
Staatsfeind und Bürokratie
Parteibürokratie: Oligarchie
Parteiarbeiter
Parteitag in Jena
Politischer Mord: Matthias Erzberger
Realpolitik vs. Umsturzplänen
Alltag des Parteibürokraten
Bezirksparteitag und Kampf gegen die Sozialdemokratie
Der Eisenbahnerstreik
«Geheimratsdiktatur»: Forderung nach Säuberungen
Einheitsfrontpolitik in Thüringen
Wohnungsnot und Lebensmittelteuerung
Politischer Mord: Walther Rathenau
Bildungsaufstieg
Wahlkampf und Untergrund
Vereinigung von USPD und MSPD
Sehnsuchtsort Moskau und «Generalstab der Weltrevolution»: Weltkongress der Komintern
Auswertung des Weltkongresses
Turbulenter Reichsparteitag in Leipzig
5. Aufstandsversuch im Oktober (1923–1924)
«Schlageter»-Kurs: Faschismus, Nationalsozialismus und KPD
«Den ganzen Laden umkrempeln.» Chaos in der Zentrale
«Das Haus der Partei brennt»
Genosse Kartothek/Genosse Zelle
Betriebszellen
Feind, Todfeind, Parteifreund
Revolutionsvorbereitung
Der Oktoberputsch
Nach der Niederlage
In der Illegalität
«Linke», «Rechte» und «Zentristen» («Versöhnler»)
Lenins Tod
6. Auf dem Parkett der Weltrevolution (1924–1926)
Führungskrise
Bolschewisierung
Vertrauensmann von Ossip Pjatnizki
Macht und Hass
Reichsparteitag 1924
Informant Pjatnizkis
Reichstagswahlen 1924
Illegale Arbeitsmethoden in der Legalität
An den Rand gedrängt
Mission in Wien
Haft in Wien
Zwischenstation Prag
In der Zentrale im kommunistischen Weltzentrum
«Hotel Lux»
Moskau als Arbeits- und Lebensmittelpunkt
Fiasko Reichspräsidentenwahlen
Neue Machtkämpfe und Abspaltungen: Fischer tritt von der KPD-Bühne ab
Machtzuwachs
Rosa Michel: Eine neue Frau an seiner Seite
7. Als Moskauer in Berlin (1926–1928)
Die KPD als Sekte
Der Sachse
Agit.Prop.Chef in der Zentrale
Zetkins Abrechnung
Der Sturz Sinowjews
Aufstieg ins Zentrum der Partei: der XI. Reichsparteitag
Das Sozialantlitz der KPD
Muttermale der Geburt?
Arbeiterkämpfe
Hauptfeind Sozialdemokratie
Reichstagsabgeordneter
Ausschluss aus der Gewerkschaft
Sozialfaschismusthese: Weltkongress in Moskau
Aufstieg in den Wächterrat der Weltrevolution
Erholung in der Sowjetunion
Die Thälmann-Affäre
8. Im Zentrum der Weltrevolution (1928–1929)
Walter Benjamins Moskau
Abrechnung
Stalinisierung?
«Der Arbeiter» und «Kritik und Selbstkritik»
Gewerkschaftsopposition
Funktionär für alles
Clara Zetkin
Im Reich
«Blutmai» und «Roter Wedding»: Der Untergang beginnt
XII. Reichsparteitag im Wedding
Abkommandierung nach Berlin
9. Der Aufstieg in die erste Reihe (1929–1932)
Die Krise
«Faschistische Republik»
Diktatur des Proletariats
Das irdische Paradies und «Stalinist» Ulbricht
Chef des größten KPD-Bezirks
Gegen die Gewerkschaften
Präsidialkabinett Brüning
Wahldebakel der Republikaner und Kulturkritik als Hefe
September 1930: Ulbrichts Wahlanalyse
Neue Anklage
Privates Glück als Feldwebel?
Metallarbeiterstreik
«Volksrevolution»
Nationalsozialisten und Kommunisten im Straßenkampf
«Zwillingsbrüder»: In die Versammlungen des Gegners gehen
Antikapitalismus und Antisemitismus
Redeschlacht mit Goebbels: «Saalbau Friedrichshain»
Schlagabtausch im Reichstag
Volksentscheid zur Auflösung des Preußischen Landtags
Mord am Bülowplatz
Die Erwerbslosenfrage
Münzenberg-Propaganda
Reichspräsidentenwahlkampf
Reichstagswahlen und Gewaltexzesse
Der letzte Auftritt Clara Zetkins
Machtkämpfe: Krisensitzungen in Moskau
Der Verkehrsarbeiterstreik
Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten
Schmähungen Ulbrichts
Vorbereitung auf die Illegalität
10. Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur (1933)
Familie und Illegalität
Keine Niederlage
Reichstagsbrand
KPD-Tagung in Ziegenhals
Probleme in der Illegalität
Dimitroff-Prozess
Thälmanns Verhaftung
Nachfolgekämpfe
Thälmanns Haft
Chef der Thälmann-Kuriere
Befreiungsversuche
Prozessvorbereitungen
Verräter und Spitzel
In der Illegalität
Kampflose Aufgabe
Inlandsleitung
Der Weg in die Emigration
11. «Volksfrontpolitik» in der Emigration (1933–1937)
Emigrationsprobleme
Die KPD-Führung im Exil. Oder: Wer verkörpert die Partei?
Plebiszit für die NS-Diktatur
Orientierungslos in Moskau und Paris
Vertrauensratswahlen 1934
Machtkämpfe im Polbüro
«Röhm-Putsch»
Saarfrage
Zurück in Moskau
Zurück in Paris
«Revolutionäre Sozialisten»
Macht- und Hasskämpfe im Polbüro
Stalin soll eingreifen
Abstecher Saarbrücken
Kirow-Mord und KPD: Entscheidungen in Moskau
Saarabstimmung
Rosa Michel
Lotte Kühn
Private Briefe
Zwei Gesichter: Das Verschwinden hinter einer Fassade
Zurück im Westen
Vertrauensrätewahlen 1935 und die Illusion freier Gewerkschaften
Neue und alte Konflikte
Unzufrieden und erfolglos
Erste Ansätze zur deutschen Volksfrontidee
Polbüro-Sitzungen in Moskau
Der letzte Weltkongress
Die Parteikonferenz
Hauptziel Volksfront
Jahresausklang im Riesengebirge
«Hotel Lutetia»: Das Jahr der Volksfront
Ulbrichts Machtzuwachs
Ulbricht stellt sich hinter Münzenberg
Die KPD nach den Wahlen in Frankreich
Die doppelte KPD
Der Sinn des Terrors I
Versöhnungsangebote an alle
Bürgerkrieg in Spanien
Auflösung des Polbüros
Kein Familienleben
Höfische Kämpfe mit Münzenberg I
Fellow Traveller: Heinrich Mann
Höfische Kämpfe mit Münzenberg II
Tarnschriften
Höfische Kämpfe mit Münzenberg III
Das Scheitern der Volksfront und von Heinrich Mann
Höfische Kämpfe mit Münzenberg IV
12. Aufstieg zum deutschen Führer der KPD (1938–1944)
Fünf Jahre NS-Diktatur
Ulbrichts Lageeinschätzung
Untersuchung gegen Ulbricht
Letzter Akt im Hofkampf mit Münzenberg
Ulbricht vor der Internationalen Kontrollkommission
Abschied von Paris ohne Abschiednahme
Heimat Moskau
Wieder im «Hotel Lux»
Der Sinn des Terrors II
Fellow Traveller: Sydney und Beatrice Webb
Der Reisende: André Gide
Fellow Traveller: Lion Feuchtwanger
Apologie der kommunistischen Verbrechen als ein globaler Zeitgeist
Johannes R. Becher
Julius Hay
«A» sagen und die Späne beim Hobeln
Verfolgung der KPD-Emigranten
Die Rolle Ulbrichts im Terror
Hugo Eberlein
Interventionsversuche
KPD-Vertreter beim EKKI
Herbert Wehner
Bedeutungsverlust
Radio Moskau
Die deutsche demokratische Republik
Appeasement-Politik als Dolchstoß
Reichspogromnacht
Einheitspartei
Berner Parteikonferenz
Realisierung der deutschen demokratischen Republik
Parteitag der Überlebenden
Kurzer Lehrgang
Lotte Kühn vor der Internationalen Kontrollkommission
Ermittlungen gegen Ulbricht
Der Hitler-Stalin-Pakt
Linke Reaktionen auf den Pakt
Die Kommunisten und der Pakt
Unfreiwillig gegen den Pakt
Das Ende der KPD-Auslandsleitung in Paris
Auslieferungen an den Paktpartner
Hauptfeinde England und Frankreich
Neue Grundlage für die Einheitspartei
Eine Gesamtpartei für das Großdeutsche Reich
Politische Plattform Ende 1939
Zentrum für Sabotage
Die Hilferding-Kontroverse
1940: Viel Zeit für Privates
KPD-Geschichte
20. April 1941
22. Juni 1941
Radiopropaganda
Arbeit in Kriegsgefangenenlagern
Evakuierungen und Deportationen
Kader für die deutsche demokratische Republik
Mythisches Weihnachten 1941
Hoffnungen
Rückkehr nach Moskau
Kaderarbeit
Hoffnungen auf den Aufstand
Umerziehung
Stalingrad
Wirkungen der Frontarbeit
Einflussreichster deutscher Kommunist
Die Auflösung der Komintern
Antifaschistische Komitees Freies Deutschland
Das Nationalkomitee Freies Deutschland
Antifa-Schulen
In der Erinnerung Umerzogener
20. Juli 1944
Tragödien
13. Ausblick: Planungen zur Machtübernahme (1944–1945)
Nachkriegspläne der Großen Drei
Die Volksfront als Block
Arbeitskommission
Ulbrichts Grundsatzaussagen
Die letzten Konkurrenten
Kaderprobleme
Das Aktionsprogramm vom Oktober 1944
Legende vom deutschen Sozialismus
Wer die Macht hat
Teilung Deutschlands
Die drei KPD-Initiativgruppen
Die Ulbricht-Gruppe in Deutschland
Anmerkungen
Vom Schreiben einer Biographie. Einleitung
1. Kindheit und Jugend (1893–1914)
2. Erster Weltkrieg und Revolution (1914–1918)
3. Die neue Partei: KPD (1919–1920)
4. Die Geburt des Parteifunktionärs (1920–1923)
5. Aufstandsversuch im Oktober (1923–1924)
6. Auf dem Parkett der Weltrevolution (1924–1926)
7. Als Moskauer in Berlin (1926–1928)
8. Im Zentrum der Weltrevolution (1928/29)
9. Der Aufstieg in die erste Reihe (1929–1932)
10. Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur (1933)
11. «Volksfrontpolitik» in der Emigration (1933–1937)
12. Aufstieg zum deutschen Führer der KPD (1938–1944)
13. Ausblick: Planungen zur Machtübernahme (1944/45)
Abkürzungsverzeichnis
Periodika sind kursiv gekennzeichnet.
Personen- und Ortsregister
Dieses Werk widme ich in tiefer Liebe meinem Lebensfreund, meinem Herzensbruder Uwe Lehmann (1966–2023), der sich so auf die Lektüre dieser Biographie gefreut hatte, obwohl er sie wahrscheinlich nie gelesen hätte. Fünfzig Jahre gingen wir zusammen durchs Leben, nicht immer Seit’ an Seit’, aber immer Schulter an Schulter. Die Leere in meinem Leben ist immens und unausfüllbar. Das werde ich Dir nie verzeihen. Vergessen werde ich Dich sowieso nie.
«Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle.»[1]
Walter Ulbricht war mir immer fremd. Er ist mir auch beim Schreiben dieser Biographie nicht zu nahe geworden. Das ist keine nebensächliche Bemerkung. Kann ich denn über eine Persönlichkeit eine Biographie schreiben, die mir selbst in ihren menschlichsten Regungen fremd bleibt? Das ist eine methodische Frage, die in der Geschichtswissenschaft von Gewicht ist. Es geht um Nähe und Distanz. Bei Ulbricht brauchte ich nie Sorge zu haben, dass mir Distanz fehle. Aber wie steht es um Nähe? Würde es ganz ohne Empathie, ohne Sympathie gehen, jahrelang an einer Biographie zu arbeiten, mit deren Hauptprotagonisten ich mich nicht unbedingt in meiner Freizeit zum Abendessen verabreden wollen würde?
Ulbricht ist tot, schon 50 Jahre, da stellt sich die Frage nicht. Aber heimlich eben doch. Ich muss gestehen, ich musste an mir arbeiten – es gab mehr an Ulbricht, an dem Mann vor 1945, vor 1933, vor 1918, das mich faszinierte, interessierte, aufhorchen und staunen ließ, das mich beeindruckte, mehr, als ich vermutet hätte. Zuweilen musste ich mich zwicken am Schreibtisch und mir in der fröhlichen Einsamkeit zurufen: Ey, das ist Ulbricht, bleib cool, der darf dir nicht sympathisch sein, du darfst dich mit ihm nicht gemein machen. Ich musste mir vergegenwärtigen: Eine Biographie, egal von wem, ist keine lineare Entwicklungsgeschichte, bei der sich eines aus dem anderen wie von selbst, logisch, wie einem Gesetz folgend ergibt. Allen, die glauben, dass es so ist, möchte ich zurufen: Schau auf deine eigene Biographie. Und zwar nicht auf die, mit der du dich irgendwo bewirbst und alle so lange zu täuschen versuchst, bis du selbst an deinen stringenten Weg glaubst – nein, schau auf deinen echten Lebensweg. Niemand wird da jene Linearität entdecken (höchstens konstruieren), die zuweilen bekannten Menschen der Geschichte untergeschoben wird.
Ich entdeckte einen Ulbricht, den ich bislang nicht kannte – immer wieder und nicht nur in seinem Leben vor 1945, auch in den folgenden Jahrzehnten, als er mächtig wie nur ein anderer in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts war. Das stellte mich vor ein Problem, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hatte: Ulbricht war mir eben nicht grundsätzlich und immer unsympathisch. Ich merkte auf einmal, wie ich anfing, ihn innerlich in Schutz zu nehmen, wie ich so manches Urteil, so manche Beschreibung als unfair empfand. Er wurde unter der Hand zu «meinem Ulbricht». Eine nicht ganz untypische Berufsdelle. Das ging für mich persönlich ganz und gar nicht. Ulbricht war der Mauerbauer, derjenige, der Todesstrafen anordnete, der seine Ziele mit fast allen Mitteln zu erreichen gedachte – was soll da meine Sympathie, weil er einen freundlichen Brief schrieb, nett zur Tochter war, seine Frau liebte, mit den verflossenen Frauen höchst respektabel umging, sich aus einem prekären sozialen Milieu herausarbeitete, sich als Autodidakt eine beachtliche Bildung aneignete, klug und schlau, gewitzt und auch witzig war, gern auf einem Berg saß und in die Weite schaute?
Solche Zwickmühlen sind für Biographen nicht ungewöhnlich. Sucht man sich keinen Bösewicht der Geschichte aus, sondern eine Lichtgestalt, steht man übrigens vor der gleichen Herausforderung. Denn auch sie ist nicht immer eine lichte Gestalt, wie der Bösewicht nicht als solcher zur Welt kam. Das wirft die älteste aller Fragen, wenn es um Biographien geht, auf: Was genau bezweckt die Biographie eigentlich?
Ich hatte mir dieses Buch ganz und gar anders vorgestellt. Vor allem knapper und pointierter.[2] Aber auch prosaischer. Das alles überlasse ich anderen. Es ist eine ganz und gar konventionelle Biographie geworden, die von den Leser*innen keine aktuellen Theoriekenntnisse abverlangt. Beim Schreiben zielte ich auf kein besonderes Publikum. Mir war allein wichtig, mich beim Schreiben und Lesen nicht zu langweilen. Nun ist Langeweile etwas sehr Subjektives. Vieles, was andere langweilt, finde ich höchst aufregend. Und umgekehrt. Ich jedenfalls habe mich beim Lesen meines Manuskriptes nicht gelangweilt. Einen kritischeren Leser hätte ich nicht finden können. Es ist mein Text, der mir nun nicht mehr gehört.
Was ich zu Beginn der Arbeit an diesem Buch nicht ahnte, aber dann mit großer Begeisterung betrieb: Um über Walter Ulbricht, einen der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts, in einer Reihe stehend mit Konrad Adenauer, Willy Brandt, Friedrich Ebert, Helmut Kohl oder Adolf Hitler, zu schreiben, bedurfte es einer Grundlagenforschung größeren Ausmaßes. Die Biographie ist ein Geschichtsbuch, in dem sich Zeiten, Strukturen, Ereignisse und Person miteinander vermischen. Ulbricht ist ein Kind seiner Zeit, der seiner Umgebung und bald sogar seiner Zeit seinen Stempel aufdrückte. Und doch bedurfte es immer Stempelfarbe, um das sichtbar werden zu lassen. Die meisten von uns verfügen nicht über die Möglichkeit, den eigenen Stempel mit Farbe so zu benetzen, dass Abdrücke für andere deutlich werden. Ulbricht gehörte zu dieser Minderheit, deren Spuren irgendwann nicht mehr zu verwischen waren.
Hier aber lauert eine nächste Falle: Es gibt nicht diese Stringenz, die wir anderen und womöglich unserer eigenen Biographie gern andichten. Es bleibt nur die Möglichkeit, eine Biographie mit ihren Brüchen zu erzählen.[3] Hier kommt Biographen eine fast unlösbare Aufgabe zu: Wie soll ein Leben erzählt werden, dessen größte Kohärenz und Stringenz womöglich der Eigenname als andauernde Kontinuität ausdrückt?[4] Biographien sind durch Zufälle gekennzeichnet, die wir in der Regel nicht einmal kennen. Wie aber lässt sich etwas beschreiben, was gar nicht bekannt ist? Biograph*innen müssen sich an dieser Stelle entscheiden: wissenschaftliche Geschichtsschreibung oder prosaisches Kunstwerk?
Ich habe mein ganzes Leben lang immer und immer wieder Biographien und Autobiographien gelesen, seit meiner ausgehenden Kindheit. Kaum andere Bücher haben mich so begeistert. Biographien etwa von Stefan Zweig, aber auch von Ralph Dutli über Mandelstam (2003), Stephen Greenblatt über Shakespeare (2004), Andreas Guski über Dostojewski (2018) oder Golo Mann über Wallenstein (1971) haben mich tief beeindruckt – ich könnte viele hinzufügen. Ich habe sie alle als «prosaische Kunstwerke» gelesen. Begeistert. Sie erreichten nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz. Das gelang den Autoren, weil sie viele Fragen hatten. Aber auch einige Antworten. Sie wussten zuweilen sogar, was ihr Held dachte, fühlte, wollte. Keine Ahnung, woher eigentlich.
Ich bin kein prosaisch veranlagter Künstler. Meine Richtschnur sind die mir bekannten Quellen. Auch wenn ich davon zuhauf fand, erst in diesen Papierbergen konnte ich erkennen, dass mir die wichtigsten fehlten, immer fehlen würden. Sie kannte nicht einmal mein Protagonist. Bei mir ist kaum etwas von Gefühlen des Helden zu lesen. Woher sollte ich diese kennen? Ich weiß nicht, was sich in seinem Kopf zutrug. Ich weiß nicht, was er dachte, fühlte, woran er wirklich glaubte, was er wirklich wollte. In seinen Kopf konnte ich begrenzt, in sein Herz bis auf ganz wenige Ausnahmen gar nicht hineinblicken. Ich behaupte also nicht, was ich nicht wissen kann. In dieser Biographie kommt nur vor, was ich glaube beweisen zu können.
«Es ist natürlich ein Irrglaube, dass eine Dokumentation grundsätzlich wahrhaftiger, authentischer ist als eine Fiktion. Jede Ordnung, jede Weglassung, jeder Kommentar können eine Nachricht entstellen oder verdrehen, selbst wenn dem die besten Absichten zugrunde liegen. Auch der Verfasser einer Dokumentation hat seine Vorurteile, auch er hat Vorstellungen und Thesen im Kopf, die sich oft genug durch die Art des Zugriffs bestätigen.»[5]
Ist diese Biographie eine objektive Darstellung? Nein, nein und nochmals nein. Ich glaube nicht an die Objektivität geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktionen und Erzählungen. Ich glaube überhaupt nicht an Objektivität. Keine Versuchsanordnung ist frei von Subjektivität, was auch immer Wissenschaftsgläubige erzählen mögen. Ulbricht war übrigens so ein Wissenschaftsgläubiger, immer dem 19. Jahrhundert verhaftet geblieben, in vielerlei Hinsicht. Eine Geschichtenerzählerin, eine Biographin, eine Historikerin wählt aus, ordnet, strukturiert. Sie stellt die Vergangenheit in ihrer eigenen Perspektive zur Geschichte zusammen. «Der Historiker gehört selbst zu der Geschichte, mit der er sich beschäftigt.»[6] Das geschichtswissenschaftliche Bemühen sollte die Verifizierbarkeit der Quellen zur Grundlage haben.[7] Jede Biographie hängt vom Biographen ab.[8]
Der Historiker Edward H. Carr definierte vor Jahrzehnten: «Das Studium der Geschichte ist ein Studium der Ursachen.»[9] Die Aufklärung und der deutsche Idealismus verbreiteten die Idee, «Geschichte» als Selbstverwirklichungsprozess des Menschen, also als gesellschaftliche Entwicklung, sei gestaltbar. Geschichte ist an sich nur Rekonstruktion, das Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur Historiker*innen versuchen, der Vergangenheit – «Die Weltgeschichte hat keinen Sinn»[10] – einen Sinn zu geben. Viele begreifen sich als wissenschaftliche Aufklärer, die ihre Standortgebundenheit zu rationalisieren suchen. «Gegenwart» ist für Historiker ein Zustand, der durch die Vergangenheit definiert ist. «Gegenwart» hat «allenfalls die Breite eines Rasiermessers, dessen Klinge unaufhörlich Teilstücke der Zukunft abschneidet und der Vergangenheit zuweist».[11] Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen Quellen. Historiker glauben an die Vetomacht der Quellen, für viele ein Axiom, das andere Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften als etwas lächerlich, als längst überwundenen Historismus des 19. Jahrhunderts abtun. Dieses Spannungsfeld zwischen Theorie und Empirie ist weder theoretisch noch empirisch aufzulösen. Historiker glauben an Fakten, wenn sie sie belegen können. Zugleich wissen sie, dass sie ihre Fakten als einen Sinnzusammenhang konstruieren, der ihnen selbst womöglich als objektiv, ihren Lesern und Kritikern aber durchaus als Fiktion erscheinen mag. Um so wenig fiktiv wie nötig zu erscheinen, bewegen sie sich in einer großen Quellenvielfalt und -breite – für Nichthistoriker*innen kommen daher die Fußnoten- bzw. Anmerkungsapparate oft einigermaßen überbordend daher.[12] Debatten in der Geschichtswissenschaft mögen theoretische und methodische Ursachen und Ziele haben, im Kern geht es jedoch fast immer um Quellen: um die «richtigen», um «fehlende», um «übersehene», zuweilen sogar um «falsche», v.a. jedoch um die Interpretation von Quellen. Diese folgt Theorien, Annahmen, einer unübersehbaren Standortgebundenheit, dem Gespräch zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart. Und da diese hauchdünn ist und sich unentwegt verändert, sind Historiker aus professionellen Gründen zu Langsamkeit, Bedächtigkeit, Behäbigkeit geradezu gezwungen. Warum? Weil sie nicht in der Zeit (Gegenwart), sondern mit Abstand zur jeweiligen Gegenwart deren «Zeit» rekonstruieren und interpretieren. Mit anderen Worten: Historiker*innen benötigen zeitlichen Abstand. Es gibt sogar die Auffassung, alle Geschichte ist Zeitgeschichte. Man mag darüber streiten, ob das Frühe Mittelalter wirklich als Zeitgeschichte angesehen werden kann, aber die Interpretation und Rekonstruktion heute geschieht aus unserer Zeit heraus.
Die wissenschaftliche Zeitgeschichtsschreibung befindet sich nicht nur im Spannungsfeld zugänglicher respektive nicht erreichbarer Quellen. Sie wird auch herausgefordert durch «die» Zeitzeugen.[13] Deren Kennzeichen ist nicht nur ihre unmittelbare Teilhabe am Zurückliegenden, sondern auch ihr Drang, ihre Sicht auf die Dinge zu eigenen Lebzeiten der Öffentlichkeit kundzutun.[14] Sonst kennten wir sie nicht als Zeitzeug*innen. Für Historiker sind das wichtige Quellen. Keine andere Wissenschaft ist diesem Druck der Zeitzeugen so ausgesetzt wie die Geschichtswissenschaft.
Ich schreibe immer standortgebunden. Meine Fragen verändern sich ständig. Einige meiner Antworten verschieben sich. Ich mache keinen Hehl daraus, dass für mich Kolonialismus, Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus mörderische, verbrecherische Dystopien, Sehnsüchte und reale Ereignisse darstellten, denen ich weder etwas Positives abgewinnen kann noch will. Niemand wird mir unterstellen können, dass ich mich als Historiker an meinen Schreibtisch setze und nicht wüsste, wie das Ende aussieht.
Und obwohl ich standortgebunden argumentiere, obwohl ich politische und moralische Grundüberzeugungen vertrete, so verhindert das nicht, die Rekonstruktion von Geschichte und Biographie als einen weitgehend wertfreien Prozess zu begreifen und zu realisieren. Das ermöglicht es mir, Walter Ulbricht im Jahr 1903, 1923, 1933 oder 1943 nicht aus der Perspektive des Jahres 1953 oder 1961, 1973 oder 2023 zu betrachten, sondern ihn in seiner Zeit anzuschauen. Bilde ich mir jedenfalls ein.
Das hört sich banaler an, als es zu sein scheint. Immer wieder werde ich zeigen, wie es über Jahrzehnte über zum «guten Ton» gehörte, Ulbrichts Biographie rückwirkend Dinge anzudichten, weil sie ihm zugetraut wurden, weil sie sein Bild noch mehr verdüsterten, weil es dem Zeitgeist entsprach. Ich erfinde keinen neuen Ulbricht. Aber sehr wohl konstruiere ich eine Biographie, die in ihrer jeweiligen Zeit bleibt und nicht mit Wissen hantiert, das es zu dem Zeitpunkt nicht gab. Daher dekonstruiere ich auch immer wieder gewohnte Ulbricht-Bilder. Ich arbeite mich an Ulbricht nicht ab. Ich will nur verstehen. Und nebenbei eine Lücke füllen: die erste vollständig aus den Quellen erarbeitete Ulbricht-Biographie vorlegen, die keine geschichtspolitischen, kommerziellen oder andere vor- und nichtwissenschaftliche Motive hegt. Meine Motive waren Interesse, Neugier, Wissen, Erkenntnis. Und ich fühlte mich trotz meiner Standortgebundenheit als Langweiler berufen genug, gleichmütigen historischen Abstand aufzuweisen, der mich zu nichts anderen als meinen genannten Motiven verleitet.
Die Biographie stellt keine akademische Qualifizierungsschrift dar. Daher habe ich fast durchweg darauf verzichtet, die wissenschaftliche Literatur «vorzuführen» und immer wieder zu zeigen, wo und wie sich Irrtümer einschlichen, wie viel schlauer ich als andere bin. Das hat mich auch nicht sonderlich interessiert, wenngleich ich ziemlich staunte, ja immer noch staune, wie sich einzelne Fehler und Annahmen durch die Literatur ziehen, zum Teil seit vielen Jahrzehnten. Da wurde abgeschrieben und abgeschrieben, und nur wenige nahmen mal die Quellen zur Hand, um zu prüfen, ob das überhaupt stimmt. Wissenschaft funktioniert nur mit Grundvertrauen. Mir kam das ein bisschen abhanden.
Wenn es um die Literatur für eine solche Biographie geht, steht auch die reichhaltige Erinnerungsliteratur zur Debatte. Deren Bedeutung ist für eine Ulbricht-Biographie kaum hoch genug zu veranschlagen. Und das allein schon deswegen, weil fast alle Legenden, Irrtümer, Unwahrheiten, Anekdoten und was auch immer aus dieser Art Literatur stammen. Aber auch Alltägliches ist kaum anderswo zu erfahren. Tatsächlich ist sie nicht anders zu behandeln als jede andere Quelle. Bezogen auf Ulbricht jedoch, hat das bislang kaum jemand kritisch getan. Insbesondere die Memoiren und Darstellungen von Renegaten werden fast sakrosankt behandelt. Oftmals waren das Eintrittsbücher in die westliche Gesellschaft, die die nun richtige Gesinnung unter Beweis stellen sollten. Hannah Arendt schrieb 1953, die meisten Ex-Kommunisten schafften es nie, ehemalige Kommunisten zu werden. Sie blieben einem dualistischen, einfachen Weltbild verpflichtet. Arendt bezeichnete sie gar als «umgekehrte Kommunisten», die mit den Kommunisten gemein hätten, allein im Besitz der Wahrheit zu sein. Sie glaubten ebenso, sie allein könnten mit ihrem Spezialwissen den nunmehrigen «Feind», die Kommunisten, wirkungsvoll bekämpfen, weil nur sie die inneren Abläufe kannten. Mit der gleichen Verachtungsintensität, die sie früher ihren antikommunistischen Feinden entgegengebracht hatten, begegneten sie nun den Kommunisten. Arendt spitzte das in einer historisch wie aktuell gültigen Beobachtung noch zu: «Die Kommunisten wie Nazis haben immer nur ihre Feinde, nie aber ihre Freunde respektiert.»[15]
Darauf komme ich immer wieder zurück. Interessant dürfte sein, warum die Bücher zum Beispiel von Wolfgang Leonhard, Margarete Buber-Neumann, Carola Stern, Gustav Regler, Ruth Fischer, Erich Gniffke, Alfred Kantorowicz, Erich Wollenberg und anderen einen so hohen Stellenwert bekamen. Es waren alles Kommunisten, die der heiligen Lehre abgeschworen hatten und nun in der westlichen Welt als authentische Zeitzeugen berichteten. Das war verdienstvoll. Weniger rühmlich war die ihnen oftmals entgegengebrachte Kritiklosigkeit. Zum Teil hält sie bis heute an.
Eine Biographie eines anderen Überlebenden des Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, zumal Ulbricht, der einen kommunistischen deutschen Staat repräsentierte, was alle ursprünglich angestrebt hatten, kommt gar nicht umhin, deren Darstellungen in ein kritisches Verhältnis zum Hauptprotagonisten zu setzen.
Christoph Martin Wieland hat vor über zweihundert Jahren in einer berühmten Einleitung zu Briefen von Horaz vieles auf den Punkt gebracht, was Biographen ebenso umtreibt wie Autobiographien zu häufig kennzeichnet:
«Ich weiß nicht, ob die Geschichte in ihrem ganzen Umfang einen Sterblichen aufzuweisen hat, dessen Charakter zweydeutiger, räthselhafter, und schwerer unter einen Hauptbegriff zu fassen wäre, als eben dieser Augustus (…) Wer, der die Begebenheiten der funfzehn Jahre seines Triumvirats, unter dem Nahmen Octavianus, und die Geschichte der übrigen zwey und vierzig Jahre seiner Regierung, in einem andern Buche unter dem Nahmen Augusts gelesen hätte, könnte sich vorstellen, daß er das Leben einer und eben derselben Person gelesen habe? Daß der feigherzige, undankbare, treulose, kaltblütiggrausame junge Bösewicht, dem keine Bande der Natur, keine Gesetze der menschlichen Gesellschaft, keine Verhältnisse des Lebens, mit Einem Wort, dem nichts Göttliches noch Menschliches heilig (…) – eben derjenige sey, der unter dem Nahmen August eine den Römern von jeher so verhaßte Autokratie durch eine Mäßigung, eine Klugheit, eine Aufmerksamkeit und Thätigkeit für das allgemeine Beste, die fast ohne Beyspiel ist, belibt und zu einer Wohlthat für die Welt gemacht; (…) Es scheint unbegreiflich, und doch ist nicht gewisser, als daß der nemliche Mann in verschiedenen Positionen seines Lebens beydes war. (…) so groß wird die mit der Zeit vermehrte Kraft der Gewohnheit, daß er zuletzt selbst den künstlichen Charakter, den er so lange nur als Maske getragen hatte, wenigsten in gewissen Momenten, mit seinem eignen verwechselte, und wahre Thränen weinte, als ihm, an dem schönsten Tage seines Lebens, der glorreich Nahme Vater des Vaterlandes, von einem Volke, das sich wirklich glücklich durch ihn fühlte, mit schwärmerischer Liebe aufgedrungen wurde.»[16]
Wieland war Dichter und konnte es sich leisten, Annahmen auszuschmücken. Niemand könnte behaupten, er irrte. Aber es könnte auch niemand zustimmen, ja genau, so war es. Gleichwohl, das von ihm angesprochene Grundproblem steht vor allen, die sich mit Biographien befassen, die eine schreiben wollen – und niemand könnte es aufheben.
Walter Ulbrichts Bild in der Öffentlichkeit ist bis heute eine Konstruktion entweder seiner Gegner oder seiner Anhänger. In der Wissenschaft sieht es etwas differenzierter aus. Aber auch dort tritt Ulbricht eher als Schablone, als Vollstrecker, als Unsympath, befrachtet mit den üblichen Vorurteilen, auf. Als Biograph musste ich mir die Frage stellen, wie würden wir heute Ulbricht sehen, wäre er 1917 gefallen, 1928 aus der KPD ausgeschlossen oder 1937 erschossen worden? Nichts von dem lag außerhalb realer Möglichkeiten. Das allgemeine Bild von ihm wäre um einiges günstiger. Gerade die aus der KPD Ausgeschlossenen und die Abtrünnigen werden öffentlich wie wissenschaftlich nicht selten als Alternativen konstruiert. Und die in der Sowjetunion Hingerichteten gelten oft als die besseren Kommunisten. Ihr Tod war dabei so zufällig wie das Überleben fast aller Davongekommenen. Und wie würden wir über Ulbricht denken, wäre er 1952 verhaftet, 1953 entmachtet oder 1956/57 gestürzt worden? Auch hier braucht es keiner rückwärtsgewandten Propheten, um anhand anderer Beispiele festzustellen: Das Ulbricht-Bild wäre ein ganz und gar anderes, ein weitaus günstigeres.
Meine Aufgabe sah ich aber nicht darin, Ulbricht günstig oder weniger günstig erscheinen zu lassen. Mir ist egal, wie er «rüberkommt». Ich habe die Biographie von Ulbricht zeithistorisch rekonstruiert: die Person in der Vergangenheit und die Geschichte in der Person. Es ging mir nicht einmal darum zu «klären», wer wem seinen Stempel aufdrückte. Das war und ist immer ein Geflecht – die Zeit sucht sich ihre Personen, und die Personen nehmen sich die Zeit. Die Person nur als eine Ableitung ihrer Umwelt anzusehen, erscheint mir nicht umfassend genug. Um mich nicht zu verheddern, wählte ich den Königsweg, wie ich finde: eine Geschichte der Zeit mit der Person, ohne sie zum Gradmesser zu machen. Herauskommen sollte eine deutsche Geschichte in ihrer Verflechtung mit der europäischen, gespiegelt in der Geschichte des Kommunismus und dargestellt anhand eines ihrer bedeutsamsten, einflussreichsten und erfolgreichsten Vertreter.
Walter Ulbricht war der erfolgreichste Kommunist in der deutschen Geschichte. Er überlebte und begründete den kommunistischen deutschen Staat, und als er starb, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Staat am Ende des nächsten Jahrzehnts weitaus geräuschloser von der Weltbühne abtreten würde, als er sie betreten hatte. Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert als eine Geschichte zu begreifen, deren Zäsuren in der Historiographie nur Hilfsmittel sind, um Darstellungen plausibel und übersichtlich erscheinen zu lassen, hört sich banaler an, als es in der Umsetzung ist. So hat sich auch eine professionelle Arbeitsteilung eingestellt. Die deutsche Geschichte wird immer noch geteilt in eine Zeit vor und eine nach 1945. Dafür gibt es viele gute Gründe. In einer Biographie wie der von Ulbricht lässt sich logischerweise keiner mehr finden. Nun erweist sich auch die Zusammengehörigkeit des Jahrhunderts als so zentral, dass es erstaunt, wie zementiert die Zäsur immer noch ist. Die DDR-Geschichte, insbesondere die Ulbricht-Ära, ist ohne eine Berücksichtigung der Entwicklungen bis 1945 nicht zu verstehen, auch nicht zu erzählen.
Mit anderen Worten: Ulbrichts Lebensweg verlangt nach einer historischen Einbettung, die mehr als Handbuch- und Überblickswissen benötigt. Dafür bedarf es keiner besonderen Fähigkeiten, aber sehr wohl Zeit, viel Zeit. Und den Mut, Terrain zu betreten, das andere als Expert*innen weitaus intensiver und länger bearbeitet haben.
Eine Biographie, von wem auch immer, überfordert alle Biograph*innen. Sie verlangt eine Antwort auf die Frage von Jean-Paul Sartre: Was wissen wir heute von einem Menschen, und warum soll man überhaupt etwas über einen Menschen wissen?[17] Da ich Popper folge und auch nicht glaube, dass die Weltgeschichte einen Sinn hat – was für einen Sinn hat dann eine Biographie? Stimmt es womöglich, dass Geschichte einen vagen Sinn nur «mit dem individuellen Menschen» überhaupt erhalten kann?[18]
Sartre und Popper hatten wenig gemein, aber hier treffen sie sich dann doch: Die Sinnlosigkeit verführt dazu, nichts wissen zu können, weil nichts gewusst werden kann. Kopf und Herz bleiben verschlossen, egal, wie viele Quellen sprechen, stöhnen, weinen, jammern, schlagen, schreien mögen. Wenn wo auch immer, im Tagebuch, im Brief, in anderen Quellen oder eben in einer Biographie, zu lesen ist, jemand weinte, heißt das noch lange nicht, diese Person weinte wirklich.
Der große marxistische Historiker Franz Mehring schrieb 1918, der «Zweck jeder Biographie» bestehe darin, «den Menschen, den sie schildert – soweit es mit den Mitteln literarischer Darstellung möglich ist –, der Nachwelt wieder so lebendig zu machen, wie er sich ehedem unter seinen Zeitgenossen bewegt hat».[19] Man mag das belächeln angesichts der Unmöglichkeit, einen solchen Anspruch auch nur ansatzweise einlösen zu können. Mehring hat das in seiner großen Marx-Biographie (1918) selbstverständlich auch nicht geschafft. Aber auch hier taucht der Anspruch auf, den Menschen in seiner Zeit zu belassen. Woher aber soll ich wissen, wie diese oder jene «Zeit» war? Historiker*innen schreiben fast immer über Räume und Zeiten, die sie nicht kennen und in ihrer Verschränkung schon gar nicht. Mehring hat «einen» Zeitgenossen vor Augen, dabei gibt es unendlich viele, die selbst – ich drehe mich im Kreis – nicht nur einen Blick, sondern ganz viele Blicke auf ihre Zeit und sich selbst hatten.
Bleiben Memoiren, Erinnerungen. Aber unterliegen sie nicht genau diesen Tücken?
Autobiographien bringt die Leser*innenschaft großen Respekt entgegen. Das Lebenswerk nötigt ihn ab, keine Frage. Sie beruhen, wenn auch nicht immer ausschließlich, auf Erinnerungen.[20] Biographien über Personen des 19./20. Jahrhunderts stehen vor anderen Methoden- und Quellenprobleme als solche, die weiter zurückliegende Epochen in den Blick nehmen. Sie müssen sich weitaus mehr noch auf Erinnerungen berufen.[21] Wie zuverlässig aber sind Memoiren, ob nun von 1523, 1744, 1953 oder 2023?
Das ist eine gar nicht einfach zu beantwortende Frage, weil die wenigsten Autobiographien ihre Quellen offenlegen. Über Erinnerungslücken sind ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden. Historiker wie Soziologinnen, Psychologen wie Essayistinnen haben darüber viel Kluges gesagt. Ich stehe Erinnerungen, sosehr ich sie mag, ziemlich skeptisch gegenüber. Wenn ich Menschen begegne, die mir noch Wochen oder Jahre später Dialoge mit Punkt und Komma «ganz genau» wiedergeben können, zweifle ich meist. Vielleicht liegt das aber auch nur an mir, weil ich meist einen Tag später kaum noch sagen kann, was ich am vorgestrigen Tag zu Mittag aß? Ich erinnere mich meist mehr an das, was ich gestern erinnerte und laut verkündete, denn an das, was vorgestern wirklich geschah. Ein Solitär bin ich damit aber keineswegs. Überhaupt erhält unser Leben durch unsere Erzählung erst jene Logik und Stringenz, die ihm üblicherweise fehlt. Ganz zu schweigen von gelegentlichen Dramatisierungen, Ausschmückungen, begleitet von Schlagfertigkeit, Witz, Mut und Schnelligkeit, die oft davon zeugen, was wir gern alles wären, aber nicht selten in der eigentlichen Situation nun gerade alles nicht waren. Das gilt übrigens ganz ähnlich für das berühmte Understatement.
Jürgen Kuczynski brachte als treuer Leninist etwas fertig, was unter Leninisten nicht eben üblich war: Er langweilte nicht, war unterhaltsam, schriftlich wie mündlich. Der berühmteste in der DDR lebende Gesellschaftswissenschaftler hat mehrere Autobiographien publiziert. Ich schätze, es waren etwa zehn in Buchform. Hinzu kamen Dutzende, wenn nicht Hunderte autobiographische Artikel. Kein Wunder, dass er sich Gedanken über Erinnerung und ihre Tücken machte. Er machte öffentlich, was andere als peinlich empfunden hätten: 1937 traf er in Paris Egon Erwin Kisch. Kuczynski fiel eine Rezension von 1930 ein, als er ein Buch von Kisch kritisch und überheblich besprochen hatte. Er versprach, wenn der Freund siebzig Jahre alt werde (1955), schreibe er eine bessere, reifere Rezension. Der rasende Reporter nahm es ihm nicht übel. Als sie sich Monate später das nächste Mal in Paris trafen, schenkte der ihm sein neuestes Buch mit der Widmung: «Meinem Freund Jürgen sehr herzlich und mit der Bitte, hier noch mehr Einwände zu machen, als er zu meinem Amerika-Buch machte». Kisch starb bereits 1948. Es kam eine Gedenkschrift heraus, und Kuczynski publizierte darin den versprochenen Beitrag: «Die zweite Rezension von ‹Paradies Amerika›». Er hatte sein Versprechen erfüllt. 1985 jährte sich Kischs Geburtstag zum hundertsten Mal, und Kuczynski wollte «aus selbsterzieherischen Gründen» die «alte überhebliche Rezension von 1930» lesen, derer er sich so geschämt hatte, «und stellte fest, daß ich damals überhaupt kein Buch von Kisch besprochen hatte, sondern Emil Ludwigs Buch über Lincoln.»[22]
Nun, nicht jede Erinnerung ist so kurios wie die Irrungen der beiden berühmten Männer. Aber jeder erinnert sich zuweilen so. Erinnerungen sind Quellen. Nicht mehr, nicht weniger, die es ebenso kritisch zu betrachten und einzuordnen gilt wie jede andere.
«Immerhin hält der Biograph von Koryphäen, die in aller Munde sind, einen Vorsprung, insofern er beim Großteil der Konsumenten etliches voraussetzen darf, ohne deshalb des geistigen Hochmuts geziehen zu werden. Insbesondere bedarf es nicht vieler guter Worte, sie von der Notwendigkeit des abgehandelten Gegenstandes zu überzeugen. Sie unterliegen ohnehin einer eher umgekehrten optischen Täuschung durch die Höhe des Postaments, auf welches die grell angestrahlte Respektsperson – einmal hoch verdient, ein andermal weit weniger – von der Tradition in Wort und Bild gehievt wurde. (…) Die Gefahr einer Verzeichnung ist einzugestehen. Versuche zu Schönfärberei oder Karikatur lauerte auf allen Wegen. (…) Es genügt, sich der Lektüre von quellenmäßig einwandfrei abgesicherten Schilderungen aus zweiter Hand von Begebenheiten zu erinnern, bei denen man selbst zugegen war: Liegt ihre teilweise Nichtübereinstimmung mit dem überlebenden Tatzeugen immer nur an dessen Gedächtnisschwund oder Froschperspektive? Wie oft läßt sich der Verfasser – sogar sine ira et studio – von seiner Titelgestalt, dem treuen Begleiter langer Arbeitsjahre, am Ende doch gefangennehmen, ja überrumpeln? Wahrt er die Proportionen, macht er aus Mücken Elefanten und aus Elefanten Mücken?»[23]
Wie schaffen es die Biographen von Hitler oder Stalin, Pol Pot oder Mao, Idi Amin oder Putin, Lukaschenka oder Timur Lenk, Iwan dem Schrecklichen oder Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi oder Caesar, Robespierre oder Leopold II., Franco oder Lenin, Pinochet oder Trujillo, Castro oder Ceauseşcu, Suharto oder Marcos, Mussolini oder Kim Il-sung, sich vorurteilsfrei ans Werk zu machen? Da hilft nur die kühle Distanz eiskalter Geschichtswissenschaft, die sich um das vergossene Blut, die ungezählten Tränen, die Schmerzen, die Pein, die Folter nicht mehr kümmert als um Zahlen, Anweisungen, Befehle, Richtlinien. Stimmt das? Nein, natürlich nicht. Das gibt es natürlich, so wie es die empathische Historiographie schon immer gab, die sich für die Opfer nicht nur interessiert, sondern Anteil nimmt. Geschichtswissenschaft kann das eine wie das andere, wenn sie denn nur will. Ihr spezifischer Ansatz besteht darin, die einzelne Person, und seien es Hitler oder Stalin, im Geschichtsprozess einzuordnen, sie nicht über diesen zu stellen, sondern sie als Ausdruck desselben zu begreifen.[24]
Stimmt es, dass zwei Seelen in unserer Brust wohnen, wie Goethe seinen Faust jammern lässt? Nein, natürlich nicht! Wir sind zerrissen nicht nur zwischen «0» und «1», sondern vielfach mehr. Ich könnte nicht sagen, wie viele «Seelen in meiner Brust» wohnen. Das ändert sich nach Ort, Zeit und den Umständen, so wie die sich ständig ändern. Das hat nichts mit Unstetigkeit zu tun. Der Mensch ist vielfach zerrissen. Das macht das Genre Biographie so anspruchsvoll. Wie könnte ich mir anmaßen, einen Fremden ein ganzes Leben lang verstehen zu wollen, da es mir nicht einmal mit mir selbst gelingt? Als Hilfsmittel haben so manche empfohlen, psychoanalytische und andere Methoden der Psychologie zu verwenden. Womöglich hat das dem einen oder der anderen geholfen beim Schreiben einer Biographie, noch mehr wahrscheinlich beim Verfassen einer Autobiographie. Kurzum: Ich halte nichts von Ferndiagnosen – weder heute am TV-Gerät noch projiziert in die Vergangenheit, die auch nur das Material bereithält, das ich in der Hand halte. Daher bleibe ich dabei: Ich bin als Biograph nicht der allwissende Erzähler. Meine Fragen kann ich nicht alle beantworten und selten eine erschöpfend. Eine Biographie bleibt ein Rätsel auch nach der Biographie.
Das Nichtwissen bleibt Bestandteil der Biographie. Das hängt auch damit zusammen, dass die Unmengen an Quellenbergen, die ich im Laufe der Jahre bearbeitete und die kaum kleiner zu werden schienen, dass ebendiese Berge sehr viele Lücken enthalten. Es gibt zu ganz vielen Fragen gar nichts von Belang. Dem Übermaß an Quellen steht eine Quellenleere gegenüber, die das Übermaß umso erdrückender, die Leere umso ratloser macht. Und das, was vorhanden ist, muss decodiert, entziffert, kontextualisiert, muss verstanden werden. Woher soll ich wissen, ob mir das gelang? Denn über eines sollte sich der Biograph auch im Klaren sein: Quellen sind auch zu befragen auf das, was sie nicht zeigen, nicht sagen, nicht beinhalten. Warum, warum, warum! Mein Buch nennt sich Biographie. Es trägt zusammen, stellt in Kontexte, was ich in jahrelanger Sammelarbeit am Wegesrand aufgelesen habe. Nun könnte die prosaische Kunst meine Biographie nehmen und ans Werk gehen.
Ich wünschte, es käme ein neuer Dieter Kühn und würde nun einen «U» schreiben. In «N.» (1970) ließ er einen Napoleon erstehen, dessen Biographie die engen Grenzen zwischen Möglichkeiten, Realitäten, Zufällen, Notwendigkeiten aufhob. Das war nur möglich, weil es eine elaborierte Napoleon-Forschung gab. Die ernstzunehmende prosaische Biographie fußt auf wissenschaftlicher Forschung, die das Material bereitstellt, um prosaische Kunstwerke entstehen lassen zu können. Ich verstehe mich als Kärrner.
Die Kunst der Biographie kennt viele Wege und Möglichkeiten. Die ungewöhnlichste, originellste und lehrreichste legte vielleicht der französische Historiker Alain Corbin vor. Er ging ins Archiv und teilte den verdutzten Archivar*innen mit, dass er noch nicht wisse, was er suche. Im Standesamtsregister suchte er wahllos einen Namen heraus. Der Mann, für den er sich entschied, war einer der unzähligen Vergessenen. Er hinterließ keine schriftlichen Zeugnisse. Corbin aber begab sich in dessen Spuren, er entriss diesen Niemand dem Vergessen und rekonstruierte eine Biographie über einen Mann, einen Holzschuhmacher, den niemand kennt. Der letzte Satz dieser erstaunlichen und unterhaltsamen Entdeckungsreise lautet: «Was würde er wohl über dieses Buch denken, das er in jedem Fall nicht hätte lesen können?»[25]
Eine solche Frage sollte sich ein Biograph, wenn es um eine tote Persönlichkeit geht, nicht stellen, denke ich. Fremd- und Selbstbilder sind selten kongruent. Biographien haben nicht die Aufgabe, die Porträtierten so darzustellen, wie sie es selbst tun würden. Autobiographien haftet das Heroische an, zwangsläufig schon dadurch, dass es überhaupt für nötig erachtet wird, das eigene Leben zwischen zwei Buchdeckel gepresst der Zukunft zu hinterlassen. Biograph*innen glauben daran, dass die Porträtierten nicht vergessen werden sollten, dürfen, warum auch immer, aber wahrscheinlich selten aus ähnlichen Gründen, wie sie ihre Helden selbst benennen würden. Bei Walter Ulbricht und mir könnte wahrscheinlich die Differenz solcher Annahmen kaum größer sein.
Im Januar 1998 und im Februar 1999 bekam Lotte Ulbricht Post aus München. Wahrscheinlich hat sie häufiger solche Briefe seit 1991 erhalten, überliefert sind nur diese beiden.[26] Absender war die VG Wort, über deren Post sich Autor*innen fast immer freuen. Lotte Ulbrichts Reaktionen sind nicht überliefert, geantwortet hat sie auf den Brief der Verwertungsgesellschaft jedenfalls nicht. Was sollte sie auch tun? Informierte sie doch die VG Wort darüber, dass in einem Geschichtsschullehrbuch ein Zitat ihres 1973 verstorbenen Ehemannes abgedruckt werden sollte und sie dafür eine «angemessene Vergütung» zu erwarten habe. Bei diesem Zitat handelte es sich um das drittbekannteste Zitat Ulbrichts: «Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.»[27] Überliefert hat es Wolfgang Leonhard in seinem berühmten Buch «Die Revolution entläßt ihre Kinder», das er 1955 veröffentlichte.
Für die VG Wort stand zweifelsfrei fest, dass zwei Anführungszeichen am Anfang und Ende Beleg genug seien, um den Urheber dingfest machen zu können. Wie authentisch sind eigentlich Sätze, Aufsätze, Vorträge, Quellen, die den Namen von Walter Ulbricht tragen? Das ist eine einfache Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt – für die Jahre etwa ab 1928/29. Denn Ulbricht war mittlerweile so hoch in der KPD-Hierarchie angekommen, dass längst nicht mehr alles, was seinen Namen trug, auch originär von ihm stammte. Das nahm nach 1945 noch andere Dimensionen an, als er faktischer Alleinherrscher von Partei und Staat geworden war. Obwohl Ulbricht ein Workaholic war, der nicht selten 16, 18 Stunden konzentriert arbeitete – das Pensum, das er zu bewältigen hatte, war nur mit einem großen Apparat und vielen engagierten Zuarbeiter*innen halbwegs zu schaffen. Mit anderen Worten: Je höher Ulbricht stieg, je einsamer es in luftiger Höhe um ihn herum wurde, umso mehr war der Alleinherrscher in seinem Arbeitsalltag abhängig von vielen anderen. Es ist kaum noch zu unterscheiden, was Ulbrichts Überlegungen und was denen seiner Mitarbeiter*innen entsprang. Das zu decodieren, ist eine Aufgabe. Diese entbindet nicht davon, Ulbricht als Teil eines Ganzen darzustellen. Die Biographie muss daher auch eine Gesellschaftsgeschichte der Zeit sein, in der Ulbricht wirkte. Das ist der Erklärungsansatz, der für einen Diktator noch mehr zu gelten hat als für Persönlichkeiten, die in der Demokratie ein Amt auf Zeit geliehen bekommen. In der Diktatur ist der Diktator von weitaus mehr Menschen abhängig als der gewählte Präsident oder Kanzler in der Demokratie. Das hängt mit dem Anspruch eines Diktators zusammen, für alles und jedes mit der immer passenden Antwort aufwarten zu können.
Das eine ist nachzuspüren, was wäre gewesen, wenn Ulbricht nicht das, sondern jenes 1912 oder 1918 oder 1922 oder 1929 gesagt und getan hätte. Wie hätte sich sein Lebensweg verändert? Von solchen Wegscheiden gab es viele, sichtbar werden sie nur an Punkten, an denen sich Änderungen im Leben einstellten. Keine einzige davon war zwangsläufig. Aber zählte er zu den unersetzlichen Personen, zu jenen wenigen, «die es eben doch sind» und daher «groß» sind?[28] Diese Frage müsste sich ebenso kontrafaktisch stellen: Was wäre ohne Ulbricht wann und wo im Geschichtsverlauf anders verlaufen? Hätte es keine Mauer, keinen Volksaufstand, keine Zwangsvereinigung, keine gescheiterte Volksfrontpolitik gegeben? Oder könnten wir, so gefragt, nicht jede Persönlichkeit aus der Geschichte herausschreiben?
«Ich glaube, … (es) wird eine Auffassung deutlich, in der die Geschichte als zufällig und vielleicht zyklisch erscheint, menschliches Verhalten als ein ständiger Strom durch endlose Felder wechselnder Umstände, wobei Gut und Böse immer zusammen vorkommen und sowohl in bestimmten Perioden als auch in den Menschen unentwirrbar miteinander vermischt sind, und gewöhnlich sind auch die verschiedensten Gegenströmungen vorhanden, die im Widerspruch zu allzu einfachen Verallgemeinerungen stehen. Was die Behandlung des Stoffes betrifft, so glaube ich, daß das Material der These vorangehen muß, daß die chronologische Erzählung Rückgrat und Blutbahn der Geschichtsschreibung zugleich ist.»[29]
Die große US-amerikanische Geschichtserzählerin Barbara Tuchman sah in der Biographie «eine Form …, um darin Geschichte einzukapseln.» Sie hatte eine Leserschaft im Blick, wenn sie am Schreibtisch arbeitete: «Als ein Prisma der Geschichte erregt und fesselt die Biographie das Interesse des Lesers am großen Thema.»[30] Im Prinzip geht es darum, auch einmal am Frühstückstisch der Mächtigen zu Gast sein zu können. Das macht Bestseller aus, wie sie auch Tuchman schrieb. Sie hatte gute Gründe, ihre Arbeit als Kunstwerke anzusehen.[31] Solche Biographien werden geliebt, gekauft und zuweilen sogar gelesen. Und hier kann der quellengebändigte Historiker nicht mithalten, es sei denn, er hat mehr als Phantasie zur Verfügung, um zu wissen, wie es am Frühstückstisch, um bei diesem Bild zu bleiben, wirklich zuging. Alle Biograph*innen müssen sich Seite für Seite entscheiden, was sie wollen: Geschichte im Prisma zu schildern oder Gefühle und Gedanken zu erfinden, die kaum die Porträtierten rekonstruieren könnten. Beides geht nicht.
Biographien werden geschrieben, um gelesen zu werden. Soviel ich mich auch mühte, eine andere Überzeugung zu gewinnen, es gelang mir nicht. Aber das letzte Wort haben die Leser*innen nicht.
Ich habe an dieser Biographie viele, viele Jahre gearbeitet, fast mein ganzes Leben. Wie es dazu kam und wem ich was warum zu verdanken habe, werde ich in dem Band «Walter Ulbricht – Der kommunistische Diktator» (2024) schildern. Der wird dann auch einige Anlagen enthalten, die vielleicht jetzt mancher vermisst. Auch eine Erläuterung zum Umgang mit Quellen folgt. Bedanken aber möchte ich mich jetzt ausdrücklich vorab bereits bei der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur. Ich bin Jan Philipp Reemtsma und seinem Mitarbeiter Matthias Kamm unendlich dankbar. Die Stiftung ermöglichte mir die mit Abstand besten Jahre meines Arbeits- und Forschungslebens. Ohne ihre Förderung und Unterstützung wäre ich nie und nimmer auch nur in die Nähe eines druckfertigen Manuskriptes gelangt.
Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin/Bayreuth, den 30. Juni 2022
1.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, nur noch eine halbe Stunde sollte dieser 30. Juni 1893 dauern. Mit Hilfe einer herbeigerufenen Hebamme gebar die 24-jährige Pauline Ida Ulbricht, eine geborene Rothe, ihr erstes Kind. Heftige Gewitter und Niederschläge hatten diesen Spätfrühlingstag kühl in Sachsen ausklingen lassen. Tagsüber erreichte das Thermometer keine 20 Grad Celsius. Eine halbe Stunde vor Mitternacht erblickt Walter Ernst Paul Ulbricht das Licht der Welt.[1] Der zweite Vorname war der Vatersname. Ernst August Ulbricht der Vater, ein 29-jähriger Schneider. Paul erinnert an den Vornamen der Mutter Pauline.
Niemand kann erahnen, dass in dieser Mitternachtsstunde der wirkmächtigste Leipziger Sohn geboren worden ist. Nicht der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der Komponist Richard Wagner oder der KPD-Mitbegründer Karl Liebknecht, nein, Walter Ulbricht ist der einflussreichste und in der Geschichte politisch mächtigste gebürtige Leipziger. Und anders als bei Leibniz und Wagner, erst recht bei jenen, die in Leipzig mindestens einige Jahre wirkten und lebten wie die Komponisten Johann Sebastian Bach oder Felix Mendelssohn Bartholdy, der Oberbürgermeister und Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler, die Schriftsteller Uwe Johnson, Erich Loest oder Erich Kästner, die Maler Bernhard Heisig, Neo Rauch oder Wolfgang Mattheuer, die Pädagogin Henriette Goldschmidt, der Physiker Werner Heisenberg, der Historiker Walter Markov, der Philosoph Ernst Bloch, die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters oder die Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie August Bebel und Wilhelm Liebknecht, gehört Walter Ulbricht nicht zu jenen, auf die die Stadt Leipzig stolz wäre. Am liebsten wäre ihr wohl, dass er aus der Geschichte so lautlos verschwinden könnte, wie es mit der ihm 1958 zugesprochenen Ehrenbürgerwürde der Stadt am 20. Dezember 1990 geschah: Sie wurde ihm posthum gemeinsam mit Adolf Hitler und Paul von Hindenburg abgesprochen. Auch die 1969 an Ulbrichts Geburtshaus in der Gottschedstraße 25 (1893: Nr. 4) angebrachte Erinnerungstafel ist – von einem Einzeltäter – in den 1990er Jahren einfach abmontiert und Ulbricht damit symbolisch entsorgt worden.
Die Gottschedstraße – der Aufklärer Johann Christoph Gottsched hatte seit 1724 in Leipzig als Schriftsteller, Sprachforscher und Professor an der Alma Mater Lipsiensis gewirkt – befand sich in der Inneren Westvorstadt Leipzigs. Seit Jahrzehnten ist in Darstellungen über Walter Ulbrichts Leben zu lesen, dass er in einem «berüchtigten» Viertel, umgeben von Prostituierten, in schmalen, schmutzigen Gassen aufwuchs, die alle, die es irgendwie konnten, strikt mieden. Dies habe dazu beigetragen, dass sich Ulbricht von frühester Kindheit an als Außenseiter gefühlt und sich gegenüber seiner Umwelt sehr verschlossen und abgekapselt habe.[2] Ulbrichts Geburtshaus lag tatsächlich in einem bürgerlichen Wohnviertel, in dem repräsentative Mietshäuser dominierten. Industriebetriebe gab es nur wenige, dafür viele kleine Geschäfte und Gewerbebetriebe. Obwohl die Familie Ulbricht mehrfach umzog, blieb sie immer in diesem Stadtteil, denn auch das in der Literatur oft als besonders berüchtigt genannte Naundörfchen lag hier, nur wenige Gehminuten von der Gottschedstraße entfernt. Den bereits 1489 eingemeindeten Vorort haben viele Leipziger von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre hinein romantisch verklärt «als beinahe ehrwürdiges Ueberbleibsel des alten Leipzig».[3] Es war ein kleines Dorf am Rande der Innenstadt, in dem ärmere Menschen lebten. Doch dorthin zog die Familie erst inmitten des Ersten Weltkrieges.
Leipzig als sächsisches Zentrum ist berühmt als Messestadt, als Mittelpunkt von Musik und Verlagen, als industrielles Zentrum und Universitätsstadt, hier ist der Deutsche Fußball-Bund – Fußball galt in Deutschland noch nicht als Arbeitersportart – gegründet worden, und hier stand die «Wiege der deutschen Arbeiterbewegung». Leipzig wurde auch «zweite Hauptstadt» Sachsens genannt. Das Antlitz war prächtig: große Gärten, beeindruckende Repräsentativbauten, eine moderne Infrastruktur zeugten von der angebrochenen Moderne im ausgehenden Jahrhundert. Die einsetzende Industrialisierung prägte die neuere Geschichte. Die Entwicklung der Einwohnerzahlen verdeutlicht das. Am Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in der Stadt etwa 32.000 Menschen. 1830 listete die Statistik 40.946 Einwohner auf, im Jahr der Reichsgründung 1871 hatte sich die Zahl mit 106.925 mehr als verdoppelt, obwohl die Stadtfläche gleich groß geblieben war. Die Landeshauptstadt Dresden wies noch deutlich mehr Einwohner auf (177.089). Kurz vor Ulbrichts Geburt verzeichnete die Statistik 1891 bereits 359.502 Einwohner, zwei Jahre nach seiner Geburt 399.995. Leipzig hatte um 1890 nicht nur Dresden den Rang als größte sächsische Metropole abgelaufen. Hinter Berlin und Hamburg war die mitteldeutsche Stadt auf Platz 4 der größten deutschen Städte vorgerückt, nur wenige Einwohner hinter dem drittplatzierten München. Das rasante Wachstum hielt an: Anfang des 20. Jahrhunderts lebte eine halbe Million Menschen in Leipzig, am Vorabend des Ersten Weltkrieges über 600.000.
Das rasante Wachstum Leipzigs beruhte nicht allein auf der Industrialisierung. Da die Stadt auch ein Verwaltungs- und Handelszentrum war, arbeitete ein großer Teil der Menschen im öffentlichen Dienst, im Handel, im Verkehrswesen, im Handwerk und im Dienstleistungsbereich. Leipzig verzeichnete kontinuierlich einen Geburtenüberschuss, und die attraktive Stadt zog Arbeitskräfte aus nah und fern an. Davon zeugt auch, dass 1890 nur zwei Drittel der in Leipzig Wohnenden Sachsen waren. Die Zuwanderer kamen zu etwa zwei Dritteln aus Preußen. Die Industrie entfaltete sich immer stärker aufgrund knapper und daher teurer Platzressourcen an den Rändern und in den Vororten Leipzigs, was dazu führte, dass auch diese Vororte zunehmend aus allen Nähten platzten. Es kam 1889 bis 1892 zu insgesamt 17 Eingemeindungen und zur Verdoppelung der Einwohnerzahlen. Es war «die Geburtsstunde Groß-Leipzigs».[4] Zwischen 1875 und 1907 stieg die Zahl der Betriebe mit Motorkraft von 123 auf 1378, die Zahl der Betriebe mit über 50 Beschäftigten von 62 auf 498. 1882 gab es noch keine Fabrik mit mehr als 1000 Arbeitnehmern, 1907 wies Leipzig sieben auf. Die Stadt prägten mittlere und kleine Firmen. Das polygraphische Gewerbe als Leipzigs ältester und bis dahin wichtigster Industriezweig ist nach 1875 von der Maschinenindustrie auf den zweiten Platz verwiesen worden. Aber auch die Textilindustrie, das Baugewerbe, chemische, elektrotechnische und feinmechanische Betriebe, der Musikinstrumentenbau, Pelzverarbeitungs- und Veredelungsbetriebe oder die Holzverarbeitungsindustrie prägten die Wirtschaft. Befördert wurde dies noch durch die zentrale Lage Leipzigs und den Ausbau als Eisenbahnknotenpunkt. Innerhalb weniger Jahre war aus dem bürgerlichen Leipzig eine proletarische Stadt geworden. Expansion und Wachstum zeitigten, dass die Lebenshaltungskosten anzogen, sichtbar vor allem an den Mietpreisen: Wohnraum war knapp. Allerdings zählten die Mietkosten in Leipzig zu den günstigeren in Deutschland. In Berlin, der teuersten Stadt Deutschlands, mussten die Mieter für gleiche Wohnungen doppelt so viel begleichen wie in Leipzig.
Die junge Familie Ulbricht gehörte 1893 zu den zugewanderten Bürgern aus Sachsen. Ulbrichts Ahnentafel lässt sich väterlicherseits sechs Generationen zurückverfolgen. Christoph Ulbricht, geboren 1705, heiratete am 11. Juni 1732 die ein Jahr ältere Anna Sophia. Die Ururururgroßeltern von Walter waren Müller und Bäcker. Sie betrieben mindestens seit 1760 die Tannmühle bei Leubsdorf, die südlich zwischen Freiberg und Chemnitz, etwa 120 Kilometer von Leipzig entfernt lag. Das Ehepaar hatte mindestens acht Kinder. Zwei Söhne traten in die Fußstapfen des Vaters als Müller. Der Älteste erhielt 1760 die Mühle, die Eltern verbrachten dort bei freier Kost und Logis ihren Lebensabend. Ein Jahr nach dem Tod der Mutter wurde die Mühle 1776 verkauft. Die Müllertradition in der Familie Ulbricht starb aus. Der sechste überlebende Sohn von Christoph und Anna Sophia, Johann Traugott, kam im Mai 1743 zur Welt. Er heiratete 1765 in Brand-Erbisdorf die ebenfalls in Leubsdorf geborene Anna Rosine Otto, Tochter eines Kleinhüfners. Beide verkauften ihrem jüngsten Sohn, Johann August, 1793 ihren Hof. Auch er war Bauer und konnte offenbar den Hof beträchtlich erweitern. Mit seiner ebenfalls aus Leubsdorf stammenden Ehefrau, Johanna Dorothea Klemm, hatte er zehn Kinder. Eines davon war Walter Ulbrichts Urgroßvater, der ebenfalls noch in Leubsdorf geborene Carl August. Er war als Bergschmiedemeister tätig. 1822 heiratete er die zweite Tochter eines Bauern aus Hohentanne, Johanna Rosina Ranft. Sie wohnten in Reichenbach, Hohentanne und später in Sand bei Halsbrücke, allesamt Dörfer wenige Kilometer nördlich von Freiberg, etwa 30, 35 Kilometer von Leubsdorf entfernt. Die Familie war näher an Leipzig gerückt, das keine 100 Kilometer entfernt lag.
Obwohl es auch Bauern in der Ahnenreihe von Walter Ulbricht gab, es dominierten Handwerker, angefangen bei dem ersten nachweisbaren Ulbricht dieser Linie Anfang des 18. Jahrhunderts. Da der Nachname «Ulbricht» – eine ostmitteldeutsche Ableitung von «Albrecht» – auf keine Berufsbezeichnung bei den Vorfahren verweist, können wir so «nur» bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts die Familienbiographie Ulbrichts zurückverfolgen. Dass auch die Eltern und weitere Vorfahren von Christoph Ulbricht (geb. 1705) bereits Müller waren, liegt nahe wegen der Gepflogenheiten und Erbschaftsregelungen. Es gelang Ulbrichts Vorfahren jedenfalls, aus einer Pachtmüllerei genügend Profit zu erwirtschaften, was keinesfalls selbstverständlich war, um eine eigene Mühle zu erwerben, die vererbt werden konnte. Warum diese nach wenigen Jahren verkauft wurde, liegt nicht offen. Walter Ulbrichts direkter Vorfahre aus der Müller-Dynastie, Johann Traugott Ulbricht, war bereits als Bauer mit eigenem Land tätig. Insgesamt gehörte die Familie Ulbricht im Lauf der Jahre nicht zu den armen, sondern zu den ausreichend bis gut begüterten Mitgliedern ihrer Dorfgesellschaft. Davon zeugt auch noch Walters Großvater, Heinrich Ferdinand Ulbricht.
Heinrich Ferdinand wurde 1832 in Sand bei Halsbrücke geboren. Er übte den Beruf eines Bergschmieds aus, der die für den Bergbau erforderlichen Geräte aus Eisen fertigte. Meist war damit das Privileg einer Schankgenehmigung für Berg- und Fuhrleute verbunden. Die Region um Freiberg gehört zur Montanregion Erzgebirge. Hier wurden seit Mitte des 12. Jahrhunderts Erze, in und um Freiberg vor allem Silber abgebaut. Heinrich Ferdinand heiratete Emilie Augusta Küttner. Mit 27 Jahren zog Heinrich 1859 in das nur etwa drei Kilometer entfernte Krummenhennersdorf. Emilie starb 1870 mit nur 35 Jahren. Heinrich, der über Grund und Boden verfügte, zog vier minderjährige Kinder auf. Erstmals in der Familienchronik begegnet uns ein über das berufliche Maß hinaus gesellschaftlich aktives Gemeindemitglied. Heinrich wurde 1871 nach dem Tod seiner Ehefrau Gemeinderats- und Schulvorstandsmitglied. Die Dorfgemeinschaft wies zu diesem Zeitpunkt 874 Mitglieder auf. Beide Ehrenämter übte er bis zu seinem Tode 1887 aus. Von seinen vier Kindern wurde mindestens ein Sohn Bauer.
Ein anderer Sohn, Ernst August, wurde am 28. März 1864 in Krummenhennersdorf geboren und ging dort zur Schule. Am 3. März 1879 verließ er sein Heimatdorf, um in dem wenige Kilometer entfernten Dorf Reinsberg bei Nossen eine Schneiderlehre zu absolvieren. Die dauerte drei Jahre. Anschließend ging er wie schon andere Vorfahren auf Wanderschaft. Sie dauerte vier Jahre. Am 2. April 1887 rückte er als Ökonomiehandwerker in die 5. Kompanie des 7. Königlichen Sächsischen Infanterie-Regiments «Prinz Georg» Nr. 106 ein und diente seine Militärpflicht ab. Er war in Möckern stationiert, im Norden Leipzigs, im 19. Jahrhundert außerhalb der Messestadt gelegen. Die Eingemeindung erfolgte 1910. Ernst August blieb hier bis zum 28. September 1889, ehe er in die Reserve versetzt wurde. Seine Armeezeit fiel in die Schlussphase des Sozialistengesetzes. Ob er bereits auf seiner mehrjährigen Wanderschaft mit der Sozialdemokratie in Berührung gekommen war, liegt ebenso im Dunkeln, wie nicht bekannt ist, ob ihn die antisozialdemokratische Propaganda und Hetze beim Militär beeinflussten. Seine Hinwendung zur Sozialdemokratie, die für die 1890er Jahre belegt ist,[5] könnte gerade in den Jahren des Sozialistengesetzes erfolgt sein. Das wäre nicht ungewöhnlich gewesen. Denn die Repressionen haben das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigten, bewirkt: «Bismarck hat den Sozialisten nicht den Weg versperrt, er ist vielmehr ihr Bahnbrecher gewesen.»[6]
Ernst August Ulbricht ging nach Wanderschaft und Militärzeit nicht mehr zurück nach Krummenhennersdorf. Zunächst lebte er in Alt-Leipzig. Er könnte als Untermieter eine Schlafstelle in einer überbelegten Wohnung genutzt haben, immer wieder auf der Suche nach der nächsten günstigen Gelegenheit. Ernst August Ulbricht zahlte ab 1890 Steuern, hatte also nun ein Auskommen, ging einer Tätigkeit nach, vielleicht sogar mit einer Anstellung. Im Vergleich mit anderen Leipziger Handwerkern wie Bäckern, Fleischern, Schlossern, Klempnern oder Tischlern verdienten Schneider und Schuhmacher mit Abstand am wenigsten. Sie waren viele Jahrhunderte lang gesellschaftlich schlecht angesehen. Das populäre Märchen «Das tapfere Schneiderlein» zeugt davon: Er ist arm und größenwahnsinnig – er erschlägt sieben Fliegen auf einen Streich und stickt sich die Botschaft wie eine Trophäe auf einen Gürtel, sodass andere fast zwangsläufig an seine überragende Kriegskunst glauben müssen. Sprichwörtlich wird er zum «Aufschneider». Zugleich aber ist er gewitzt, intelligent und gerissen. Märchen verknappen «Volkswissen», nicht zuletzt die gesammelten Vorurteile. August Bebel, ein gelernter Drechsler, berichtete, dass er «im Äußeren der Vorstellung» eines Schneiders entsprach und ihn auf seiner Wanderung mehrere Meister ansprachen, ob er bei ihnen arbeiten wolle. Als sie hörten, er sei gar kein Schneider, «entschuldigten sie sich, daß sie mich für einen solchen gehalten» hatten, «weil ich ganz wie ein Schneider aussähe».[7]
Das Handwerk galt als unmännlich, ausgeführt von schwächlichen Männern, oft mit körperlichen Beeinträchtigungen geschlagen. Der sprichwörtliche Schneidersitz zeugte davon. Im Skat symbolisiert «Schneider» oder gar «Schneider schwarz» hoffnungsloses Abgehängtsein. Schneider arbeiteten, wie über die Hälfte aller Handwerksmeister, am Ende des Jahrhunderts überwiegend als Alleinmeister.
Die offizielle Familiengründung erfolgte am 6. Februar 1892. An diesem Tage heirateten Ernst August Ulbricht und Pauline Ida Rothe in der Kirche St. Matthai, die bis zu ihrer Zerstörung bei einem Bombenangriff am 4. Dezember 1943 in der Leipziger Innenstadt stand. Der Straßenname Matthäikirchhof erinnert noch heute an sie. Die evangelisch-lutherische Matthäikirche, die ihren Namen erst seit 1876 trug, wurde 1879/80 und 1892/94 saniert, umgebaut und erweitert. Die Familie von Ernst August hing der Glaubensrichtung schon mindestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts an. Von der Familie der Mutter ist das nicht zu bestimmen. Mitte der 1920er Jahre waren in ihrer Geburtsstadt 98 Prozent aller Einwohner Protestanten. Die Einwohnerzahl unterlag seit Paulines Geburt nur geringfügigen Schwankungen, auch die Konfessionszugehörigkeit veränderte sich in diesem Zeitraum kaum. Da interkonfessionelle Hochzeiten von katholischer Seite untersagt waren, wird auch die Familie von Ulbrichts Mutter, sie ohnehin, protestantisch gewesen sein.
Pauline Ida wurde am 26. Oktober 1868 in Schildau geboren. Sie war viereinhalb Jahre jünger als ihr Ehemann. 1871 zählte Schildau 1489 Einwohner. Das Städtchen liegt etwa 50 Kilometer östlich von Leipzig, 15 Kilometer südlich von Torgau. Seit dem Spätmittelalter (1349) mit Stadtrechten versehen, ist das berühmteste Kind der Kleinstadt August Neidhardt von Gneisenau, der spätere preußische Generalfeldmarschall und Heeresreformer. In einer Selbstdarstellung heißt es nüchtern: «Das 19. Jahrhundert, das für die Entwicklung fast aller Städte infolge der Industrialisierung von entscheidender Bedeutung war, scheint allerdings an Schildau spurlos vorübergegangen zu sein. Die Lage der Stadt, weitab von den großen Verkehrsadern, und der Mangel an Rohstoffvorkommen ließen kaum Unternehmergeist aufkommen. Schildau behielt seinen ländlichen Charakter, den es auch heute noch hat.»[8] Vieles deutet darauf hin, dass die berühmten «Schildbürger» den Verhältnissen in Schildau entlehnt worden sind.
Pauline Idas Eltern, Ernst Karl Rothe und Johanna Pauline, geb. Burkhardt (deren Vater Gottlob war Leinewebermeister), heirateten vermutlich 1856. Sie hatten mindestens eine weitere, ältere Tochter. Wie aus Gerichtsakten der Stadt ersichtlich ist, gab es 1797/98 eine «Klage gegen Johann Traugott Rothe, Bürger, wegen strafbarer Alleinhütung seiner Kühe» und 1803/04 eine «Untersuchung wegen unerlaubten Aufenthalts und verübter Exzesse von Johann Traugott Rothe, Bürger und Hausbesitzer in Mühlberg».[9