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1989/90 erlitt Ostdeutschland einen «Freiheitsschock», das ist die Grundthese dieses Buches. Ilko-Sascha Kowalczuk erzählt die Geschichte Ostdeutschlands seit 1990 als Kampf um die Freiheit – ein Kampf, dessen Ausgang richtungsweisend ist für die Zukunft ganz Deutschlands. Er will aufrütteln: zu mehr aktiver Eigenverantwortung, zu einer Abkehr von der eigenen Opferrolle und zu einem Blick auf die Geschichte, bei dem die DDR nicht immer schöner wird, je länger sie her ist. Die Diktatur bleibt in diesem Buch eine Diktatur und die Einheit eine Freiheitserfolgsgeschichte: eine Intervention gegen die antifreiheitlichen Strömungen von einem der profiliertesten ostdeutschen Intellektuellen. Die AfD ist ein gesamtdeutsches Phänomen, aber in Ostdeutschland ist sie besonders erfolgreich. Wie ist das zu erklären? Wieso wird die liberale Demokratie gerade dort in Frage gestellt, wo die erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden stattfand? Über Ostdeutschland wird gerade intensiv diskutiert, und Ilko-Sascha Kowalczuk ist eine der markantesten Stimmen dieser Debatte. Der Kampf um die Freiheit ist sein Lebensthema. Selbst in der SED-Diktatur groß geworden, hat er Standardwerke zur Geschichte der DDR und des Kommunismus vorgelegt, aber auch zur Revolution von 1989 und den Folgen der «Übernahme» der DDR durch die Bundesrepublik. Kowalczuk will die Ostdeutschen aus ihrer Opferrolle herausholen. Der Westen mag sich seinen Osten «erfunden» haben. Doch auch der Osten erfand und erfindet sich seinen Westen. In der DDR war der Westen für viele ein Sehnsuchtsort, doch auch die antiwestliche Propaganda der SED hatte weit zurück reichende Wurzeln. Sie wurden durch die Frustrationen des Vereinigungsprozesses verstärkt. Und sie hindern jetzt viele Ostdeutsche daran, sich die liberale Demokratie der Bundesrepublik zueigen zu machen.
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Seitenzahl: 361
Ilko-Sascha Kowalczuk
FREIHEITSSCHOCK
Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Widmung
PROLOG: Menschheitsdilemma Freiheit?
1. Warum ich dieses Buch schrieb
2. Mein Freiheitsverständnis
3. Von der Diktatur zu Freiheit und Einheit. Eine Skizze
I. Uwe Johnsons Kinder: Prägungen und Vorstellungen
4. Der Westen im Osten bis 1989
5. Folgen der Massenflucht
6. Legenden von der
DDR
7. Wirkt die Diktatur nach?
II. Ankommen, wo man nicht hinwollte
8. Westblicke
9. Erwartungen Ost vs. West
10. Wer ist ostdeutsch?
11. Transformationsschock?
12. Demokratie in Ostdeutschland
13. Infantilisierung: Ostalgie
III. Im Westen gegen den Westen
14. SED-PDS-Linkspartei
15. Das Prinzip Wagenknecht
16. Keine demokratische Alternative: Die AfD
17. Die AfD und die Ostdeutschen
18. Ostdeutschland und Russland
19. Für Antiutopismus und die Offene Gesellschaft: Garanten für Freiheit und Frieden
20. Resümee
Nachbemerkung
Anmerkungen
Register
Zum Buch
Vita
Impressum
Dieses Buch widme ich meinem Freund Gerd «Poppoff» Poppe. Mitten im Zweiten Weltkrieg an der Ostseeküste geboren, studierte er Physik und war seit 1968 eine der prägenden Persönlichkeiten in der antikommunistischen Opposition gegen die SED-Diktatur. Sein Lebensthema war und blieb – FREIHEIT. Er gehörte 1985/86 zu den Gründern der «Initiative Frieden und Menschenrechte» (IFM). Der Grundsatz dieser profiliertesten Ostberliner Oppositionsgruppe lautete, wer keinen inneren Frieden garantiere, könne auch keinen äußeren Frieden sichern – beides gehöre zusammen. Wie aktuell das ist, zeigt ein Blick nach Russland. Poppoff wirkte in seiner Oppositionsarbeit trotz jahrelanger Reiseverbote und einer intensiven Bearbeitung durch die Stasi immer grenzüberschreitend und hielt Kontakte sowohl mit bundesdeutschen und westeuropäischen Politiker*innen und Menschenrechtlern als auch mit ostmitteleuropäischen Oppositionellen und Dissident*innen aufrecht. Er gehörte zu den Vordenkern der Freiheitsrevolution von 1989. In dieser Zeit war er an dann vielen Schauplätzen aktiv – etwa als IFM-Vertreter am Zentralen Runden Tisch ab Dezember 1989 oder als Minister ohne Geschäftsbereich in der Modrow-Regierung ab Februar 1990. Am 18. März 1990 gewann er für die IFM mit dem Bündnis 90 ein Mandat in der ersten demokratisch gewählten DDR-Volkskammer. Ein Lebenstraum von ihm ging in Erfüllung: freie und demokratische Wahlen – dafür hatte er wie nur wenige andere sein Leben lang gekämpft. Von 1990 bis 1998 war er dann Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Gruppe bzw. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Er engagierte sich für die Menschenrechte weltweit und war in Ländern mit früheren oder aktuellen Diktaturen aktiv. Außerdem engagierte er sich für die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur. Von 1992 bis 1998 war er Obmann in den beiden Enquete-Kommissionen, die sich im Deutschen Bundestag mit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur befassten. Ehrenamtlich wirkte Poppoff von 1998 bis 2021 als Vorstandsmitglied der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag war er von 1998 bis 2003 der erste Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, angesiedelt im Auswärtigen Amt. Damit schloss sich ein Lebenskreis, der immer Menschenrechte und Freiheit im Zentrum hatte.
Gerd «Poppoff» Poppe ist nicht nur immer ein Freiheitskämpfer gewesen. Für mich war und ist er immer Vorbild und Inspirator, Kritiker und Richtschnur – und einer meiner wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Ratgeber seit Jahrzehnten. Er hat in der Diktatur freiheitlich gelebt und entscheidend zum Sturz der kommunistischen Diktatur beigetragen. Ich bin stolz darauf, ihn meinen Freund nennen zu dürfen. Ihm mein Freiheitsbuch überhaupt widmen zu können, ist nicht zuletzt seinem Kampf für Freiheit zu verdanken.
PROLOG:
«1 Von Elim brachen sie auf, und die ganze Gemeinde der Israeliten kam in die Wüste Sin, die zwischen Elim und Sinai liegt, am fünfzehnten Tage des zweiten Monats, nachdem sie von Ägypten ausgezogen waren. 2 Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. 3 Und die Israeliten sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des Herrn Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst.»
(2. Mose 16/1–3, Luther 2017)
Willi Kufalt sitzt im Gefängnis. Er kommt frei. Er möchte es jetzt schaffen. Er schafft es nicht. Am Ende des Romans «Wer einmal aus dem Blechnapf frißt» (1934) von Hans Fallada landet er wieder im Knast: «Der erste aufregende Tag mit seinem Hin und Her, mit Vorführung, Einkleidung, Zuteilung ist vorüber, Einschluß ist gewesen, und Kufalt sitzt allein in seiner Zelle 207 auf dem Bett.
Durch das Gefängnis gehen noch die üblichen, altgewohnten Abendgeräusche: Ein Bett schlägt polternd auf den Fußboden, jemand pfeift in seiner Zelle selbstvergessen vor sich hin, und der Nachbar protestiert mit Gebrüll, zweie unterhalten sich ein Stockwerk tiefer von Fenster zu Fenster, ein Kübeldeckel klappert, ein Wachhund jault auf dem Hof.
Kufalt ist in Ordnung, Kufalt ist zufrieden. Er hat eine schöne Zelle gekriegt, Material alles tadellos, die Bürsten noch so gut wie neu …. Zu Anfang darf man nicht zu pampig sein im Bau, mit der Zeit lernt man das schon, wo man was riskieren kann …. Aber besser ist es hier als draußen …. Kufalt hat die Decke schön hoch über die Schultern gezogen, im Kittchen ist es angenehm still, er wird großartig schlafen.
Fein, wenn man wieder so zu Hause ist. Keine Sorgen mehr. Fast, wie wenn man früher nach Hause kam, mit Vater zur Mutter.
Fast?
Eigentlich noch besser. Hier hat man ganz seine Ruhe. Hier quatscht keiner auf einen los. Hier braucht man nichts zu beschließen, hier hat man sich nicht so zusammenzunehmen.
Schön, so ’ne Ordnung. Wirklich ganz zu Haus.
Und Willi Kufalt schläft sachte, friedlich lächelnd ein.»[1]
Die Geschichte existiert auch umgekehrt. In dem berühmten Spielfilm «Die Verurteilten» von Frank Darabont mit Tim Robbins und Morgan Freeman in den Hauptrollen. In dem Gefängnisdrama von 1994 gibt es einen zu langer Haft verurteilten alten Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Er nimmt eine Arbeit als Hilfskraft in einem Supermarkt an. Sein zugewiesenes Zimmer könnte an Tristesse kaum zu überbieten sein. Er ist einsam, versteht die Welt nicht mehr, sehnt sich nach den gewohnten Knastmauern und dem geregelten, wenn auch beschwerlichen und nicht immer gewaltfreien Alltag zurück, kommt mit seiner Freiheit nicht klar und bringt sich nach einem halben Jahr um.
Die Grundthese dieses Buches lautet: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft erlitt ab dem Herbst 1989 einen Freiheitsschock. Freiheit bedeutet, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen und sich das Recht herauszunehmen, mitreden, mitgestalten, mitentscheiden zu wollen. Freiheit ist keine Voraussetzung, um freiheitlich zu leben. Freiheitlich kann man auch – vielfach mit entsprechenden Konsequenzen – in der Unfreiheit leben. In der Freiheit zu leben, setzt aber ein Staatsgebilde voraus, das die Rahmenbedingungen dafür bietet. In diesem Buch geht es darum, nachzuspüren, warum so viele Ostdeutsche (und nicht nur sie) so große Probleme haben, Freiheit und Offene Gesellschaft nicht nur als Zumutung, sondern als eine Chance zu sehen, die ihnen die Möglichkeit bietet, sich zu entfalten. Tatsächlich hat ein größerer Teil der Ostdeutschen einen «Freiheitsschock» erlitten, als es darum ging, nun das Heft des Handelns und die Gestaltung eigener Wege in die Hände zu nehmen. Die meisten Ostdeutschen waren es nicht gewohnt und nicht darauf vorbereitet. Niemand erklärte ihnen, wie es geht. Sie selbst glaubten sogar, es zu können. Tatsächlich verwechselten die meisten materiellen Wohlstand mit Freiheit – ein Zusammenhang, den viele behaupten, den es aber tatsächlich in einer Offenen Gesellschaft, wie Karl Raimund Popper sie 1945 im neuseeländischen Exil entwarf, nicht gibt. Materieller Wohlstand macht vieles einfacher, er macht aber weder freier noch ist er eine Voraussetzung für Freiheit. Der «Freiheitsschock» vieler Ostdeutscher rührte daher, Freiheit als eine Folge materiellen Wohlstands, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzusehen. Die «Ideen von 1989» waren Freiheitsideen – solche waren in der Geschichte zu selten mehrheitsfähig. Freiheit ist nichts, was einmal gegeben für immer existiert. Jede Generation muss den Umgang mit ihr, so ihr die Rahmenbedingungen gegeben sind, in Freiheit und Demokratie zu leben, neu erlernen. Viele Ostdeutsche haben den Sprung in die Freiheit nicht als Befreiung erlebt, nicht gefühlt. Ich nenne das Freiheitsschock.
1.
Freiheit versus Unfreiheit. Demokratie versus Diktatur. Um nichts Geringeres geht es in den Kämpfen unserer Zeit. Um nichts anderes geht es auch in diesem Buch. «Ostdeutschland» ist für mich längst zu einer Chiffre für diesen Kampf geworden. Ja, es ist ein Kampf, der droht, in Gewalt umzukippen. In dem Vernichtungsfeldzug der russländischen Föderation gegen die freie Ukraine geht es um Freiheit und Demokratie, die der Kreml fürchtet, weil sie seinen diktatorischen und imperialen Gelüsten zuwiderlaufen. Alexei Nawalny wurde von dem Putin-Regime totgemacht, weil sie in ihm zu Recht ein Symbol für Freiheit und Widerstand gegen die Diktatur sahen. Die Ukraine will sich die Kremldiktatur nicht wegen irgendwelcher Bedrohungen durch den Westen einverleiben, an die man auch in Moskau in Wahrheit nicht glaubt, oder wegen der NATO-Osterweiterung, die der Kreml jahrelang hinnahm, oder wegen Gefahren für Russen und Russinnen in der Ukraine, die auch Moskau nicht zu belegen vermag, oder wegen «Faschisten» in der Ukraine, die dort nicht über größeren Einfluss verfügen als in vielen Staaten Westeuropas oder in Russland selbst. Nein, die Ukraine soll erledigt werden wegen ihres Drangs zu Freiheit und Demokratie.
In «Ostdeutschland» spielen sich all die Kontroversen und Auseinandersetzungen im Kleinen ab, die es im Großen in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt zu beobachten gibt. Noch ist dieser Kampf um Freiheit «nur» ein Krieg des flächenmäßig größten Landes der Welt, Russland, gegen das flächenmäßig größte Land in Europa, die Ukraine. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, worum es dabei geht. Gerade in Ostdeutschland sehen viele nicht, dass es ihr Leben in Freiheit und Demokratie ist, das ihre andauernde Kritik, ihre Ablehnung und ihren Protest überhaupt nur ermöglicht. Viele wähnen sich in einer neuen Diktatur lebend und verzeichnen zugleich die Realitäten einer echten Diktatur, wie sie etwa in Russland längst wieder existiert oder wie es sie in der DDR gab.
In Deutschland tobt eine Deutungsschlacht um Demokratie, Diktatur, Krieg, Frieden. Fast täglich werden neue Zahlen, neue Umfrageergebnisse präsentiert und diskutiert. Der öffentliche Raum wird davon beherrscht – Demoskopie ist ein Wirtschaftsfaktor. Kaum jemand wagt noch zu fragen, worin der tiefere Sinn all dieser Umfragen eigentlich liegen könnte, Umfragen mit Ergebnissen, die selten länger aktuell bleiben als die Tageszeitung. Und weitaus aufwendigeren wissenschaftlichen Erhebungen und Auswertungen, wie sie etwa Sozialwissenschaftlerinnen oder Politologen präsentieren, haftet nicht selten der Charme des Gestrigen an. Die vieldiskutierten und aufwendigen Leipziger Autoritarismus-Studien oder der Bestseller «Triggerpunkte» lahmen ihrer Zeit jeweils hinterher – sie stellen interessante Momentaufnahmen dar, deren Zahlenmaterial zum Zeitpunkt der Veröffentlichung für Historiker hochinteressant ist, aber weniger von diesen, sondern sehr stark von Journalisten, Politikerinnen und anderen Sozialwissenschaftlern als Gegenwartsanalysen hergenommen werden.[2] Ihnen ist fast immer gemein, dass sie ein enormes Beruhigungspotential besitzen und entsprechend rezipiert werden. Merkwürdigerweise kontrastieren sie die Alltagserfahrungen landauf, landab. Nun hat Wissenschaft nicht die Aufgabe, die Alltagserfahrungen zu bestätigen. Aber etwas Unruhe darf schon aufkommen angesichts des Umstands, dass sich die jahrzehntelang so treffsicheren Wahlvorhersagen in letzter Zeit in den Wahlergebnissen nicht immer spiegeln. Hinzu kommt, dass sich nach der Finanzkrise 2008, der Migrationskrise 2015/16, der Coronakrise 2020/22 und dem ausgeweiteten Krieg der russländischen Föderation gegen die freie Ukraine seit 2022 die Gesellschaft wie in einer Dauererregungsschleife befindet, die gar keine verlässlichen Prognosen mehr zulässt. Die Neigung der meisten Politiker*innen, sich an demoskopischen Erhebungen zu orientieren, ist nicht nur demokratieunterhöhlend, sondern auch kurzsichtig. Denn wie glaubhaft ist eine solche Politik eigentlich? «Glaubhaftigkeit», «Vertrauen» sind wesentliche Pfeiler demokratischer Politik, aber nicht an den Launen des Tages gemessen, sondern an der Zukunft. In den letzten Jahren geriet das politische System zunehmend unter Druck, weil sich ein Teil der Gesellschaft sichtbar radikalisierte und zunehmend dem bisherigen «Modell Bundesrepublik» den Rücken zukehrte. Aktuell können sich in Ostdeutschland zwei Drittel der Menschen vorstellen, einer gegen das Grundgesetz und gegen die bundesdeutsche Demokratie ausgerichteten Kraft ihre Stimme zu geben. Viele würden sagen, nein, nicht gegen das Grundgesetz, sondern gegen die konkrete Praxis: Sie fühlen sich nicht gehört, nicht ernst genommen, besäßen keinen Einfluss auf die Politik, die meisten Politiker*innen seien abgehoben und mit den eigentlichen Problemen nicht vertraut. Das müsse sich ändern. Merkwürdigerweise glauben diese zwei Drittel (auch im Westen wächst die Zahl derer, die so denken), dass sich ihre konkrete Lebenssituation und vor allem die bundesdeutsche Demokratie verbessern ließe, wenn extrem autoritäre, auf einen starken Staat setzende Kräfte an die Macht kämen. Und zwar von links wie rechts.
Diese Tendenzen können nicht allein mit Zahlen und Umfragen erklärt werden. Natürlich, es lassen sich Langzeitvergleiche anstellen und man kann signifikante Veränderungen (oder auch nicht) feststellen. Solche Versuche gibt es zuhauf. Auch in den Debatten um die deutsche Einheit sind seit 1990 unentwegt Zahlen von der einen wie der anderen Seite ins Feld geführt worden. Drei Jahrzehnte lang blieben die Standpunkte zementiert – immer mit Zahlen belegt. Erst als sich vor einigen Jahren der Blick weitete und neben den etatistischen immer stärker auch gesellschaftsgeschichtliche, soziologische und kulturelle Perspektiven einbezogen wurden, setzte sich öffentlich die Erkenntnis durch, dass die deutsche Einheit und ihre Folgen nicht allein ein finanzielles, ökonomisches und infrastrukturelles Problem war. Auch die aktuellen Debatten um die Spaltung der Gesellschaft, um die so genannte «Mitte der Gesellschaft», um die Radikalisierung größerer Teile der Gesellschaft sind keine, die sich allein mit Zahlen und Erhebungen führen ließen. Sie erklären das Gewordensein zu wenig oder gar nicht. So versteht sich mein Essay als ein Angebot, jenseits von schwer verstehbaren aktuellen Zahlen, die teilweise auch auf einer problematischen, nicht mehr zeitgemäßen Methode basieren (was freilich von allen heftig abgestritten wird, die damit arbeiten – ich sage nur mal als Beispiel: Telefonumfragen im digitalen Zeitalter), nachzufragen, ob die Spaltung der Gesellschaft in Ostdeutschland überhaupt ein neues Phänomen ist und welche Gründe es für Phänomene wie Antiamerikanismus, Nähe zum Kreml, zu Wagenknecht, zur AfD oder den ungezügelten Hass in den Sozialen Medien und auf Demonstrationen geben könnte. Bei all dem geht es um Freiheit und Demokratie, und warum sie so umstritten sind. Mein Blick richtet sich auf Ostdeutschland, weil hier besonders deutlich und immer etwas früher als im Rest von Deutschland hervortritt, wie bedroht die Demokratie ist.
Dieses Buch geht der Frage nach, warum das eigentlich so ist. Warum werden Freiheit und Demokratie so geringschätzig betrachtet, warum zugleich Diktaturen wie die in Russland so verherrlicht? Natürlich, die meisten jener, die so denken, antworten sofort, aber in Deutschland gibt es doch gar keine Freiheit, keine Demokratie. Sie selbst würden sich doch für die «wahre», die «echte» Demokratie einsetzen, für die «echte» Freiheit. So argumentieren vor allem rechte Extremisten und haben dafür Resonanzräume in Ostdeutschland. Sie behaupten, wenn die deutsche Gesellschaft erst wieder «rein» und «gesäubert», durch «Remigration» völkisch gestärkt und die «links-grüne-woke Basis» eingegrenzt sei, würden Freiheit und Demokratie wieder vollumfänglich möglich sein. Daher zählt das Wort «Freiheit» zum Grundreservoir rechter Extremisten, von Faschisten und ihres politischen Arms in den Parlamenten, der «Alternative für Deutschland» (AfD).[3] Ich jedenfalls bin nicht bereit, ihnen diesen Begriff und noch viel weniger den Inhalt zu überlassen. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als Freiheit. Ohne Freiheit ist alles andere nichts wert. Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit.
Aber auch linke Extremisten argumentieren, wenn auch unter anderen Vorzeichen, sie strebten die «wahre» und «echte» Demokratie und Freiheit an. Anders als rechte Extremisten können sie sich dabei auf theoretische Arbeiten und einige Klassiker der Revolte stützen, die ihnen in ihrer Annahme, nur soziale Gerechtigkeit, womöglich sogar soziale Gleichheit garantiere «echte» Demokratie, garantiere Partizipation für alle und damit «echte» Freiheit, zur Seite stehen. Die linke Idealisierung sozialer Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen droht stets in extremistische Annahmen und Forderungen zu kippen – und in der historischen Realität tat sie es jedenfalls überall dort, wo Kommunisten an die Macht kamen (und sie nirgends demokratisch, sprich durch freie Wahlen wieder abgaben). Linke reden ungern über Freiheit, ohne sie zu relativieren.[4]
Die historische Realität spricht überall dort, wo sie an die Macht kamen, gegen die linken und rechten Extremisten: Ihre totalen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen führten regelmäßig zu totalitär verfassten Systemen, in denen systemlogisch kein Platz für jene war, die sich dem herrschenden Dogma nicht zu unterwerfen bereit zeigten oder die aus «objektiven» Gründen (Herkunft) zu Feinden erklärt und entsprechend ausgemerzt, vertrieben, unterdrückt wurden.
Daher hat sich die Verteidigung von Freiheit auch immer gegen jene zu wenden, die Freiheit für ihre totalitären und extremistischen Ziele zu instrumentalisieren versuchen. Ich werde in diesem Essay keine ausufernde Debatte um den Begriff Freiheit und Demokratie führen. Beides ist im Grundgesetz definiert. Es sind niemals Endzustände, sondern Idealzustände, die in ihrer denkbaren Vollkommenheit nie zu erreichen sind. Aber Staaten, die sich diesen Prinzipien, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben worden sind, verpflichtet fühlen, garantieren einen Rahmen, in dem Freiheit und Demokratie theoretisch und praktisch immer weiter entwickelt und zugleich in ihrer Realität verteidigt werden können. Aber natürlich komme ich nicht umhin, zu Beginn zu skizzieren, was ich unter Freiheit verstehe.
Sodann schließt sich eine kurze Skizze an, die den ostdeutschen Weg von der Diktatur zur Einheit mit Blick auf das Buchthema umreißt. Diese Skizze ist von dem Grundgedanken getragen: Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen. Woran das liegt? Genau darum geht es in diesem Buch. Freiheit ist eine Angelegenheit, die nur funktionieren kann, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt. Genau das wird einem in der Diktatur mit allen Mitteln abgenommen, abtrainiert, brutal weggenommen. Die Diktatur hasst das Individuum und strebt an, alles im Kollektiv aufgehen zu lassen. Je länger eine Diktatur währt, um so weniger ist das ihren Insassen bewusst, weil sie als Teil des Maschinenraums zunehmend den Blick für das Ganze verlieren. Auch das ist ein Diktaturziel. In der Diktatur kostet es nicht nur Mut, sondern auch erhebliche Anstrengung, um sich über das Ganze zu erheben und die Unmenschlichkeit und Brutalität zu erkennen. Hinzu kommt die enorme Energieleistung, die vonnöten ist, wenn die Diktatur gefallen ist, um zu erkennen, was war. Keine Diktatur geht im Zuge einer Revolution unter, an der sich eine Mehrheit beteiligt hätte. Revolutionen sind Angelegenheiten von Minderheiten – auch die von 1989! –, die sich gegen die Diktatur stellen. Die Masse, die übergroße Mehrheit, wartet ab und schlägt sich dann siegestrunken auf die Seite der Sieger. Das war bislang noch in jeder Revolution so und wird auch künftig so sein. So weit, so banal. Problematischer sind die Nachwirkungen, zumal, wenn es sich wie im Falle der kommunistischen Diktaturen auch um Weltanschauungssysteme handelt (das ist nicht bei jeder Diktatur der Fall). Die Kommunisten haben enorme Ressourcen in die Ideologieerziehung gelenkt. Von der Wiege bis zur Bahre sollte nicht nur alles stramm organisiert und uniformiert vonstattengehen. Nein, nicht nur das Sein, auch das Bewusstsein der Untertanen sollte gelenkt und einheitlich, nach militärähnlichen Normen ausgerichtet werden. Bis auf ein paar Hunderttausend besonders stramme Fanatiker der Staatspartei SED haben alle anderen diese ewigen Politschulungen und diese omnipräsente Ideologiedauerbeschallung an jedem Ort und jeder Ecke (nur nicht auf den Kirchengeländen) abgelehnt, haben sich darüber lustig gemacht, waren aber gezwungen mitzumachen, weil kein Berufsabschluss, kein Studium, keine Promotion, keine Funktionsstelle von Relevanz ohne ein wenigstens formales Bekenntnis zum menschenfeindlichen Marxismus-Leninismus (die Betonung liegt auf Letzterem) mit dazugehöriger Schulung und Prüfung möglich war. Jeder Mensch hatte das zu erdulden. Die meisten glauben bis heute, das hätte ihnen nichts ausgemacht, bei ihnen wäre nichts hängengeblieben. Was für ein grandioser Irrtum! Warum? Dafür muss niemand Psychologe sein, um zu wissen, dass jahrzehntelange Dauerpropaganda natürlich Folgen zeitigt – in allen möglichen Erscheinungsformen, nicht zuletzt solchen: Denen glaube ich nicht mal den Wetterbericht!
Die kommunistische Ideologie machte viele Menschen diskursunfähig, diskussionsunfähig und verleitete sie zu einer dichotomischen Wahrnehmung nicht nur der Welt, sondern von allem und jedem. Natürlich kann man sich der Folgen der omnipräsenten Dauerbeschallung von der Wiege bis zur Bahre entledigen, aber nicht nur durch Passivität, durch Schweigen, durch Ignoranz. Nein, das funktioniert nur, wenn sich jeder Einzelne individuell bemüht, sich der ideologischen Eintrichterungen gewahr zu werden, und diesen aktiv entgegenarbeitet. Mit anderen Worten: Um das zu überwinden, bedarf es harter individueller Arbeit. Ich weiß natürlich, dass dazu nur wenige bereit und in der Lage sind. Das kostet nämlich nicht nur Zeit, sondern auch Mut, stellt man sich doch durch solcherart Erinnerungsarbeit auch selbst in Frage: Was, diesen Quatsch habe ich geglaubt, habe nicht widersprochen? Was, das ist gar nicht so, wie ich seit 20, 30, 60 Jahren annehme? Ach, dieser Begriff hat diese Bedeutung, diese Geschichte? Im Prinzip geht es dabei darum, anzuerkennen, dass die eigene Wahrnehmung, die der eigenen Gruppe und des eigenen Milieus weder unumstößlich noch unhinterfragbar ist. Es geht darum, die Einzigartigkeit der eigenen Weltanschauung und die Annahme, sie sei folgerichtig, logisch und vor allem vollkommen richtig, in Frage zu stellen. Ja, es geht darum, die Dichotomie als Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen und zugunsten einer gelebten Pluralität aufzulösen, eine Möglichkeit, die nach heutigem und historischem Kenntnisstand ausschließlich im Rahmen staatlicher und gesellschaftlicher Demokratie und Freiheit möglich sind.
Dieses Buch ist – bis auf den Rahmenüberblick von der Revolution zur Einheit – getragen von kleineren, aufeinander aufbauenden, zugespitzt formulierten Kapiteln. Sie bieten keine vollständige, sondern eine problemorientierte Geschichte Ostdeutschlands seit 1989 und stellt in vielerlei Hinsicht eine Ergänzung zu meinem Buch «Die Übernahme» (2019) dar. Das Grundthema ist der Kampf um die Freiheit, und warum es so weit kommen konnte. Wie weit? Wir stehen an einer Wegscheide. Dieses Buch möchte wachrütteln. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden später einmal Widerständler im Untergrund konstatieren müssen: Unsere Zeit war die Zeit, als Demokratie und Freiheit preisgegeben wurden, als eine immer größer werdende Gruppe ihre Unzufriedenheit, ihre durchaus nachvollziehbare und zum Teil berechtigte Unzufriedenheit nicht mehr anders aufzulösen wusste, als Demokratie und Freiheit zugunsten autoritärer, diktatorischer, antidemokratischer, unfreiheitlicher und schlussendlich antihumaner Staats- und Gesellschaftsvorstellungen zu opfern. Die Lage ist weitaus ernster, als sie aussieht und von manchem gezeichnet wird.[5] Mir jedenfalls ist in diesen Zeiten ein Gedicht von Bertolt Brecht als Mahnung sehr nah.
Der Kälbermarsch (Bertolt Brecht, 1942)
Hinter der Trommel her Trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Sie heben die Hände hoch Sie zeigen sie her Sie sind schon blutbefleckt Und sind noch leer.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Sie tragen ein Kreuz voran Auf blutroten Flaggen Das hat für den armen Mann Einen großen Haken.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.[6]
Mein Buch ist natürlich sinnlos. Diejenigen, die es verstehen sollten, nehmen es nicht zur Hand. Und diejenigen, die es zur Hand nehmen, wissen alles, was ich schreibe. Denn es ist längst alles gesagt. Gleichwohl war es mir wichtig, es zu wiederholen. Ich bin nämlich wütend, verdammt wütend. So wie man hungrig nicht einkaufen gehen sollte, so sollte man auch wütend kein Buch schreiben. Mir sind diese Prinzipien ebenso egal wie viele andere. Hätte ich mich immer an «die Regeln» gehalten, wäre ich womöglich heute zufriedener, glücklicher, harmoniesüchtiger, als ich es bin. Ich wäre wohl auch beruflich dort, wo ich immer hinwollte. Aber es braucht auch die Kanalarbeiter, sie tragen ihren Teil zum großen Ganzen, zum Funktionieren bei. Erst wenn sie ihre Arbeit einstellen, merken alle anderen, wie nötig, wie reinigend ihre Arbeit war, die sie immer wieder aufs Neue wütend macht.
Aber ich bin nicht so wütend, um den letzten Saisonhit eines bis dahin ostdeutsche Themen strikt meidenden Leipziger Literaturprofessors zu toppen. Er machte seine Wut zum Programm und behauptete, alle Ostdeutschen seien so wütend wie er. Nun, das stimmte schon deswegen nicht, weil er zu einer ganz kleinen Elite im Osten zählt, die eine erstaunliche Karriere hinlegen konnte, indem sie ihr Ostdeutschsein radikal leugnete. Über dieses Privileg, das Dirk Oschmann sich erarbeitet hatte, verfügten weder der Rostocker Werftarbeiter noch die Kalikumpel in Bischofferode noch die NARVA-Mitarbeiterin in Berlin-Friedrichshain oder die Ingenieurin in Riesa. Aber auch ein Historiker wie ich, der sich seit 1990 mit Zeitgeschichte befasst, konnte sich einen solchen Verleugnungsluxus nicht leisten. Ein Leben mit der Lüge ist nur im Luxus möglich. Aber das muss ein sehr ungemütliches Leben gewesen sein. Denn die Wut, die Oschmann programmatisch geradezu auskotzte, galt in einem hohen Maße offenbar ihm selbst. Er scheint unzufrieden gewesen zu sein, wie er sich «verkaufte», in seinen Worten wohl eher «anbiederte». Es ist ehrenwert, dies revidieren zu wollen. Aber ist es auch ehrenwert, dafür gleich eine ganze Gesellschaft (Ostdeutschland) zum handlungsunfähigen Objekt zu deklarieren und alles, was geschah, einem ominösen Feind namens «Westen» zuzuschreiben?[7] In diesem Buch möchte ich zeigen, dass Oschmanns Grundthese, der Westen habe mit dem Osten gemacht, was ihm beliebte, zu einfach und kaum mit historischen Realitäten in Übereinstimmung zu bringen ist. Damit knüpfe ich natürlich auch an mein eigenes Buch «Die Übernahme» an, das laut Oschmann für ihn wiederum neben Steffen Maus Buch «Lütten Klein» eine Art Augenöffner war.[8] Oschmann macht aus Ostdeutschland ganz bewusst, was er dem Westen vorwirft: ein seelenloses und willenloses, nicht handlungsfähiges Objekt.
Oschmanns Buch harmoniert mit einem vollmundig vom Verlag als völlig neue Perspektiven bietend angekündigten Buch der ostdeutschen Historikerin Katja Hoyer. Auch hier rieben sich alle Fachleute verwundert die Augen. Neu war gar nichts. Solcherart Geschichtsschreibung blüht im Umfeld der SED/PDS/Linkspartei und alter Stasi-Seilschaften seit über drei Jahrzehnten. Die empirische Quellenarbeit der Autorin fiel überschaubar aus, die Wahrnehmung der Forschungsliteratur erschien eklektisch.[9] Kein einziger Experte und keine einzige Expertin, die oder der es rezensierte, konnte mit dem Buch etwas anfangen. Die Weichzeichnung der SED-Diktatur hat ein neues Niveau erreicht. Und dies vor allem deswegen, weil Oschmann und Hoyer monatelang Bestsellerlisten und Debatten beherrschten.
Das wirft die Frage auf, was diese beiden so merkwürdigen Bücher, die beide mit geschichtspolitischen Absichten daherkommen und beide ihre Wut über bisherige Debattenverläufe und Geschichtsbilder nicht einmal ansatzweise zu verbergen suchen, eint und warum sie auf eine so überwältigend positive Resonanz in Ostdeutschland stießen. Ich schätze, die Frage wird künftige Forscher*innen noch stärker beschäftigen als gegenwärtig. Meine These dazu lautet: Weil in beiden Büchern das Freiheitsproblem gar nicht vorkommt bzw. so verzeichnet wird, dass die DDR-Geschichte immer mehr wie eine ganz normale Staatsgeschichte angenommen wird, deren diktatorische und antifreiheitliche Grundierung zunehmend nur noch ein Aspekt unter vielen anderen, zum Beispiel Pittiplatsch oder Halloren-Kugeln, darstellt.
Leider sind das keine Randerscheinungen im akademischen Betrieb Deutschlands. In Thüringen ist eine Dissertation befeiert und in Cambridge gedruckt worden, die kurzerhand in der DDR einen offiziellen Menschenrechtsdiskurs «rekonstruiert» und die DDR allen Ernstes «Menschenrechtsdiktatur» nennt.[10] Das passiert alles in einem akademischen Umfeld, in dem die DDR längst zu einer «Normalität» erklärt worden ist, eine Diktatur, in der ein «ganz normales Leben» möglich gewesen sei.[11] Nein, niemand muss selbst in einer Diktatur gelebt haben, um begreifen zu können, dass auch der Alltag – ja, gerade der Alltag! – von der Diktatur geprägt, also auch das Verhalten der Menschen von ihr entscheidend beeinflusst wird. Dieses Wissen geht eigentümlicherweise bezogen auf die DDR offenbar immer mehr zurück. Vielleicht hilft da die Oral-History-Methode auch nicht wirklich weiter, denn wie hinlänglich bekannt ist, verändern sich Erinnerungen und sagen wenig über die Vergangenheit, aber dafür sehr viel über Wahrnehmung in der jeweiligen Gegenwart aus.
Doch eigentlich geht es nicht um Wissen, sondern um Vorannahmen, die theoretisch und lebenspraktisch grundiert sind. Es geht um: Freiheit versus Unfreiheit. Demokratie versus Diktatur. Das sind und bleiben die großen Gegensätze. Der Kampf wird heftiger geführt, als es nach 1989/91 in Europa und Deutschland auch nur ansatzweise üblich war. Doch seit einigen Jahren tobt Krieg im eigentlichen Sinne (Russland geht dagegen im Inneren wie im Äußeren brutal und mit totalitärer Absicht vor) und im Kampf der Meinungen im übertragenen Sinne auch in Deutschland. Die AfD oder das Bündnis von Sahra Wagenknecht stehen für politische Strömungen, die die Prinzipien des Grundgesetzes abschaffen wollen. Inmitten dieser innerdeutschen Kämpfe geht es immer auch um die DDR und Ostdeutschland. Je weiter die DDR zurückliegt, desto kuschliger, wärmer, harmonischer wird in der Erinnerung der mörderische Mauerstaat mit seinen totalitären Ansprüchen. Für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse wurde im Februar 2024 ein Buch auf die Shortlist gesetzt, das ebenfalls allseits gefeiert wird, und im Juni sogar als «Deutsches Sachbuch» des Jahres ausgezeichnet wurde. Die Warum-Frage drängt sich auf. Weil das Buch so grandios ist und überzeugt oder weil es die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie, Freiheit und Unfreiheit verwischt und die Menschen aus der DDR am Ende sogar zu den besseren Demokrat*innen erklärt? Das Buch stammt von keiner akademischen Außenseiterin, sondern von der ersten (und einzigen) Ostdeutschen, die in Deutschland einen Lehrstuhl für Neueste Geschichte erhielt (Bielefeld), die in rasanter Geschwindigkeit in jedes halbwegs wichtige Gremium und Herausgeberkollektiv der deutschen Geschichtswissenschaft aufrückte und nun noch die Co-Leitung eines der wichtigsten Institute für Zeitgeschichte, des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, angetragen bekam. Christina Morina ist eine sehr engagierte Historikerin, die keineswegs im Elfenbeinturm still an ihrer Karriere bastelte. Sie ergreift zuweilen das Wort in der Öffentlichkeit, nie thesenstark oder gar ihr Wissenschaftsmilieu auch nur ansatzweise hinterfragend – sie weiß schon, was sie darf und was nicht, um anzukommen, aber sie ist immer anregend. Sie hat zudem großartige Bücher über die Erinnerung an «Stalingrad» in Deutschland sowie über die «Erfindung des Marxismus» geschrieben.[12] In ihrem neuen Buch bringt sie es fertig, Demokratie und Diktatur, Freiheit und Unfreiheit in Deutschland auf einen Begriff zu bringen: «Demokratieanspruchsgeschichten» seien die DDR und die Bundesrepublik. Ihr scheint entgangen zu sein, dass die SED diesen Anspruch so nicht hatte. Als «Partei neuen Typus» befehligte sie nach den Prinzipien des «demokratischen Zentralismus» die «Diktatur des Proletariats».[13] Nicht einmal die SED selbst hat den Diktaturcharakter ihres Regimes verschleiert. Dass sie dabei von einer höheren Form der Demokratie sprach und das allen Insassen mit ihrer omnipräsenten ideologischen Dauerbeschallung beizubringen versuchte, sollten doch Wissenschaftler*innen dekonstruieren können. Christina Morina schafft das nicht und übernimmt eine unzutreffende Selbstdarstellung des Regimes. Stattdessen parallelisiert sie Bundesrepublik, DDR und vereintes Deutschland und nivelliert den Unterschied zwischen Eingaben in der DDR, Bürgerbriefen in der DDR 1989/90 und Briefen von Bundesbürgern an den Bundespräsidenten vor und nach 1989. Was also soll man von einem Buch halten, in dem es um Demokratie vs. Diktatur, Freiheit vs. Unfreiheit (solche Begriffe benutzt die Autorin nicht) geht und in dem zugleich beide Systeme unter dem Begriff «Demokratieanspruchsgeschichten» subsumiert werden?[14]
Es gibt wirklich genügend Gründe, um zu verzweifeln. Bücher wie die von Oschmann, Hoyer oder Morina sind da noch die geringsten. Aber das ist nun einmal meine Welt: Bücher und Wissenschaft. Daher widerspreche ich. Polemisch, scharf, kompromisslos. Freiheit ist keine Kompromissformel, nichts, was sich relativieren ließe. Ganz oder gar nicht. Demokratie hingegen ist eine Aushandlungsarena, das aber heißt nicht, dass der Konsens der Schlüssel für jede Lösung ist. In der Wissenschaft gleich gar nicht. Dieses Buch ist kompromisslos insofern, als ich Freiheit weder relativiere noch abschwäche, sondern als das Zentrum setze, um das alles kreist. Ich suche durchaus nach Kompromissen, aber nicht um jeden Preis. Hat unsere Gesellschaft womöglich ein Problem damit? Ich glaube, die Gesellschaft muss neu lernen, Konflikte auszutragen und zu lösen. Wir brauchen keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft – das ist das Wesen von Demokratie und Freiheit.
Wenn ich nun genauso wütend schreiben würde wie Oschmann über den Westen, dann würde mir der halbe Osten – wie so häufig – «Verrat» und «Unsachlichkeit» vorwerfen. Es gibt Ostecken, die kennt kein Westler, da kann er noch so lange im Osten gewohnt haben. Da wird jede Kritik am Osten, der DDR, an einzelnen Gestalten zurückgewiesen, voller Hass, als hätte man auf einer runden Geburtstagsparty im Kreise der engsten Familienmitglieder den Jubilar bezichtigt, vor Jahren etwas Unanständiges gemacht zu haben. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Auf Facebook feiern Tag für Tag Hunderttausende eine DDR, die es nie gab und die immer besser wird. Es ist frustrierend, das zu beobachten.
Natürlich bin ich für viele dieser DDR-Freunde ein Verräter. Keine Ahnung, was ich verraten haben soll. Mich jedenfalls nicht. Ich bin irgendwie Ostler, aber ich fühle das nicht. Ich fühlte mich auch nicht als DDR-Mensch. Bis heute weiß ich nicht, was sie meinen, wenn sie von Solidarität im Alltag und all diesen anderen angeblichen Vorzügen der DDR reden. Offenbar habe ich das anders erlebt oder, was wohl den Kern trifft, in meinem Alltag änderte sich nach 1989 nichts diesbezüglich. Meine Freunde blieben meine Freunde, es kamen nur noch welche hinzu. Natürlich weiß ich, dass viele Ostler über die solidarische Nähe in der DDR reden und etwas ganz anderes meinen. Darüber habe ich ausführlich in meinem Buch «Die Übernahme» geschrieben – der Arbeitsplatz war weitaus mehr als nur ein Platz zum Arbeiten, hier wurde auch alles andere gemacht bzw. alles andere war damit verbunden.[15] Nicht nur ich, auch viele meiner Freunde standen ganz bewusst dieser Kollektivierung des Lebens in der DDR skeptisch und ablehnend gegenüber. Ich fühlte mich keinem offiziellen Kollektiv zugehörig und zwar absichtsvoll. Das änderte sich nach 1989 nicht. Ich wusste doch, wie eine Gesellschaft unter Druck geraten agiert. Und warum sollte ich eigentlich annehmen, dass diese Gesellschaft nun ganz anders geworden sei, von einem historischen Augenblick zum nächsten, nur weil eine Mauer durchbrochen worden ist? Die Verzeichnung der gesamten ostdeutschen Gesellschaft zu einer revolutionären war im Übrigen das Werk westdeutscher Sonntagsredner und sich an sich selbst berauschender Feuilletonisten. Aber gut. Jedenfalls überrascht mich wohl weitaus weniger, was sich im Osten zuträgt, als jene, die die ostdeutsche Gesellschaft jahre-, ja, jahrzehntelang als heroisch und mutig und aufopferungsvoll zeichneten, also verzeichneten. Das konnte nur Dazugekommenen unterlaufen. Natürlich gab es auch prominente Ostler, die den Osten vernebelten, aber damit wollten sie in aller Regel nur sich selbst um so klarer und hellsichtiger erscheinen lassen. Und oftmals wollten sie ihren «Widerstand» gegen den Westen mit historischen Erfahrungen begründen. Auch das eine Form der Verzeichnung.
Nein, ich habe keine besondere Beziehung zu Ostdeutschland. Warum sollte ich auch. Ich bin Berliner – nicht einmal alle Ecken Berlins, nicht einmal alle Ecken Ost-Berlins sind mir so vertraut, dass ich mich dort heimisch, aufgehoben, sicher, einfach nur gut fühle. Ich kann mit diesen Zuschreibungen ostdeutsch, deutsch, europäisch immer weniger anfangen. Früher dachte ich, ich bin Europäer und gut ist. Ja, eine reine Kopfgeburt des Willens, so zu sein, zu denken, zu fühlen. Ich wollte das sein, weil ich es politisch richtig fand, richtig finde. Allein, ich fühle es nicht. Bei jedem Grenzübergang, den ich seit 1990 mache, pocht mein Herz, wird mein Kopf unruhig wegen eventueller Schikanen oder Schlimmerem, suchen meine Augen das Neue, das Andere, das Fremde. Die Mauer ist mir eingemeißelt worden. Dafür kann ich nichts. Die werde ich auch nicht mehr los. Ja, ich bin diktaturgeschädigt. Das sind alle, die aus einer Diktatur kommen, den wenigsten jedoch ist das bewusst. Aber ich kann mit der Mauer umgehen, weil ich sie nicht mag, weil ich sie ablehne, weil ich sie Tag für Tag überwinde. Das aber bringt mich nicht dazu, etwas zu fühlen, was nicht da ist. Deutschland ist mir deswegen so nah, weil es mir so vertraut ist. Das macht mich sicher. Ich weiß, wie es hier für mich läuft. Das weiß ich woanders nicht. Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, ist das für mich kein Deut anders als in Bayern oder Schleswig-Holstein. Es gibt überall Menschen, die ich mag, die mir imponieren, von denen ich lernen kann. Und überall gibt es Kotzbrocken, Honks und Leute, zu denen mir gar nichts einfällt. Ich wüsste einfach nicht, was mich zu einem Ostdeutschen machen sollte. Und das ist deshalb paradox, weil ich ja weiß, dass ich ganz unabhängig von meinem Gefühl und meinem Wollen ein Zoni, ein Ostdeutscher bin und auch immer bleiben werde. Na und! Das gibt mir gar nichts, es ist mir egal, weil diese Zuschreibung mit mir nichts zu tun hat. Und wem es wichtig ist, dem ist es eben wichtig. Mir nicht.
Natürlich schreibe ich nicht aus Distanz. Revolution, Wiedervereinigung, Einheit und Europa – all das hat mich geprägt, all das ist meins. Aber all das hätte es auch ohne mich nicht gegeben. Verstehen Sie? Das ist eine Akteurs-Perspektive, die der von Oschmann so ungefähr entgegensteht wie Feuer und Wasser. Mit mir ist nichts gemacht worden, ich habe gemacht. Das Wenigste hat sich erfüllt. Kaum etwas erreichte ich, was ich mir vornahm. Ich war vor 1990 nicht, was ich nach 1990 gern behauptet hätte. Und ich wurde nach 1990 nicht, was ich mir vor 1990 ersehnt hatte. Na und! Aber ich tat, ich machte, ich scheiterte seit 1990 – aber selbst mein Scheitern verdanke ich mir und darüber bin ich verdammt froh. Die Oschmänner und Oschfrauen jammern, klagen, fluchen – nie über sich, immer nur über andere, am liebsten über übermächtige Feinde und Gegner, denen sie ausgeliefert seien. Das ist wunderbar einfach, denn um so größer der Gegner, um so geringer die Möglichkeiten, selbst etwas auszurichten. Weil der Gegner so mächtig ist, bleibt gar nichts weiter, als ohnmächtig sich einem Schicksal zu ergeben, das – ja, was eigentlich ist? Die Transformation in Ostdeutschland war so hart und schnell und radikal wie in keinem anderen postkommunistischen Gebiet. Zugleich war die sozial-materielle Landung so weich und süß wie in keinem anderen postkommunistischen Gebiet. Die harten Bruchstellen waren immer kultureller, nur im geringeren Maße sozial-materieller Art. Hierfür gibt es keine Messlatten, keine Vergleichswerte, hier scheitern selbst Soziologen mit ihren Daten und Analysen. Seit Jahren und Jahrzehnten wissen wir, dass viele Menschen in Ost-(Deutschland) sagen, dass es ihnen persönlich sozial-materiell gut bis sehr gut gehe. Und die gleichen sagen, befragt nach dem Zustand Ost-(Deutschlands), allen zusammengenommen gehe es schlecht bis sehr schlecht. Zwei Drittel bis 80 Prozent sagen das eine wie das andere. Natürlich gibt es in unserem reichen Land eine unfassbare soziale Ungerechtigkeit. Vieles haut nicht hin, von der Situation in den Bildungsinstitutionen, Sozialeinrichtungen und dem Gesundheitswesen über die Infrastruktur hin zur Digitalisierung oder dem Zustand der Umwelt. Und doch berührt das nur eine Minderheit und wird gern von der Mehrheit vorgeschoben. Die Wahlergebnisse sprechen ganz klar eine andere Sprache. Auch die öffentlichen Debatten in Deutschland sagen etwas anderes. Im Kern geht es nicht um soziale Fragen, fast nie, sondern um kulturelle und politische Komplexe, die eng miteinander zusammenhängen. Die erwähnten Großbaustellen werden höchstens als Alibi instrumentalisiert, sind aber nicht Gegenstand lösungsorientierter Debatten. Und das am allerwenigsten bei jener Partei, die sich demagogisch als Alternative für unser Land preist. Sie baut allein auf einer Feindideologie auf, auf einem dichotomischen Weltbild, auf einer Ideologie, die anschlussfähig an den Leninismus ist. Totalitäre Ideologien bauen auf Freund-Feind-Gegensätze ohne jeden Zwischenraum. Entweder – oder! Nichts anderes zählt. Und weil die Alternative so tickt, im Kern faschistisch in ihren Verlautbarungen, ihrem Funktionärskorps, ihrer Mitgliedschaft und auch einem großen Teil ihrer Wählerschaft, deshalb kommt sie auch im Osten so gut an. Das ist anschlussfähig. Das ist etwas, was viele kennen und schon längst an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben – am Abendbrottisch, der wichtigsten Sozialisations- und Bildungsinstanz, die eine jede Gesellschaft hat. Hier vererben sich bei jenen Diktatursozialisierungserfahrungen, die nicht aktiv dagegen angehen.
Von niemandem in Deutschland geht eine solche Gefahr für Demokratie und Freiheit aus wie von Extremisten. Für die meisten Leser, die bis hierher gekommen sind, verbindet sich damit automatisch die AfD. Ja, von hier geht die größte Gefahr aus, gerade auch weil die AfD kein nationales Phänomen ist, sondern unter verschiedenen Parteinamen in ganz Europa grassiert. Aber für mich gehen auch von Linksextremisten große Gefahren aus. Auch sie wollen wichtige Prinzipien im Grundgesetz abschaffen. Sie agieren zuweilen etwas zurückhaltender, etwas vorsichtiger. Die Linkspartei will zwar immer noch das System überwinden, aber längst nicht mehr revolutionär. Diese Rolle hat nun allein die Truppe um Wagenknecht (BSW) übernommen. Kaum jemand will wahrhaben, was Wagenknecht im Schilde führt. Sie ist eine Leninistin, die lange Zeit öffentlich Stalin und Ulbricht verehrte und die keinerlei Scheu zeigt, Kremldiktator Putin nach dem Munde zu reden. Es geht gar nicht darum, was sie genau sagt, sondern vielmehr darum, was sie alles nicht sagt. Ihren Hass auf die Prinzipien des Grundgesetzes könnte nichts deutlicher untermauern als ihre Pro-Putin-Haltung vor und nach dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die russländische Föderation ihren Krieg gegen die Ukraine auf das ganze Land ausweitete. Wagenknecht agiert de facto, vielleicht sogar gegen die eigene Absicht (angeblich traut sie Putin auch gar nicht), wie ein außenpolitisches Sprachrohr des Kreml. Natürlich formuliert sie nicht alles genau so, wie es aus dem Kreml tönt. Nein, natürlich nicht. Doch sie verbreitet Verunsicherung, lenkt die Aufmerksamkeit von Russland auf die USA, diffamiert die Ukraine und bezichtigt den Westen der Kriegslüsternheit. Wagenknecht tut dies Tag für Tag und in ihrem Schlepptau nicht nur willige Medien, sondern vor allem Hunderttausende Gefolgsleute, die in den Sozialen Medien die Propaganda, die Lügen, den Hass multiplizieren.
Auch das funktioniert in Ostdeutschland weitaus besser als anderswo in Deutschland. Denn der Antiamerikanismus und allgemein die Ablehnung des Westens sind dem Osten eingeimpft, tagtäglich über Jahrzehnte hinweg eingepflanzt worden. Ja, ich sehe hier durchaus einen späten, nicht einmal intendierten Sieg des Leninismus, weil dagegen nicht angegangen worden ist, weil die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur letztlich scheiterte: Sie erfolgte über die Köpfe der Menschen hinweg, nahm sie nicht mit, setzte zu lange einseitig auf eine verkürzte Diktaturwahrnehmung und scheute sich, über die Diktatur im Alltag zu reden, nicht zuletzt befeuert von fast durchweg westlichen Geschichtspolitikern wie einem langjährigen Direktor einer Opfer-Gedenkstätte im Osten oder Leuten aus dem SED-Forschungsverbund der FU Berlin, dabei sekundiert von einigen jede Differenzierung ablehnenden Fanatikern aus dem Osten, die ihre Anpassung ans System nun mit nachholendem Geiferertum biographisch zu kompensieren suchen.
Diese Passage zeigt exemplarisch: Wer heute über Ostdeutschland redet oder schreibt, befindet sich automatisch in einem kaum überschaubaren Gewirr von Feindseligkeiten, Hass, gegenseitigen Anschuldigungen und Unterstellungen. Und klar, der Autor ist mittenmang. Ich bin seit 1990 dabei, habe ausgeteilt, eingesteckt, habe verletzt und bin verletzt worden. Ich war öfters unsachlich, als ich mich erinnern kann. Viele Jahre habe ich jede Differenzierung abgelehnt. Dann habe ich viele Jahre viele wegen undifferenzierten Haltungen attackiert. Nun bringen mich Oschmann, Hoyer und Morina als Abbilder eines Gesellschaftszustandes dazu, wieder stärker gegen die Differenzierung zu argumentieren, weil sie sich zu schnell in ungenießbare Relativierung verwandelt. Um relativieren zu können, muss man zunächst wissen, wovon eigentlich! Das habe ich bereits vor 30 Jahren in einem Gespräch betont, als mir zu große Undifferenziertheit nachgesagt worden ist.[16] Ich wurde Ende der 2000er Jahre ruhiger, legte mein Jakobinertum ab. Heute stelle ich fest, es war wohl zu früh. Viele «differenzieren», haben aber das Ganze nie verstanden, nicht erkannt, wissen bis heute nicht, was das Wesen einer Diktatur ist. Daran wird auch dieses Buch nichts ändern. Aber wenn es doch ein paar motiviert, über Diktatur und Demokratie, Freiheit und Unfreiheit vor und nach 1989 in Deutschland und Europa nachzudenken und von unsinnigen Gleichsetzungen abzukommen, dann haben sich meine Arbeit und dieses Buch jedenfalls für mich gelohnt.