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Dreißig Jahre nach dem Mauerfall ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Was genau lief im Osten ab, als er vom Westen übernommen wurde? Worin unterscheidet sich Ostdeutschland von anderen Regionen in der Bundesrepublik? Und weshalb sind Populisten und Extremisten hier so erfolgreich? Ohne Scheuklappen stellt der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch harte Fakten neben persönliche Erfahrungen - und liefert damit das politische Buch der Stunde.
Die Revolution in der DDR kam völlig überraschend. Als die Mauer fiel, hatte niemand damit gerechnet. Die Herstellung der deutschen Einheit erfolgte in einem rasanten Tempo. Fast nichts blieb im Osten so, wie es war. Die Menschen mussten ihren Alltag, ihr Leben von heute auf morgen komplett neu einrichten. Die sozialen Folgen waren enorm und sind im Westen bis heute meist unbekannt. Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt in seinem kurzweiligen Essay, wie sich die Umwandlung Ostdeutschlands vollzog, welche Gewinne und Verluste die Menschen dort verbuchten und wie die ostdeutsche Gegenwart mit der Vergangenheit von vor und nach 1989 zusammenhängt. Er entfaltet dabei ein breites politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Panorama - mit Ecken und Kanten, voller Überraschungen und Zuspitzungen. Eine kontroverse Debatte zum Jubiläum ist garantiert.
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Ilko-Sascha Kowalczuk
Die Übernahme
Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde
C.H.Beck
Die Revolution in der DDR kam völlig überraschend. Als die Mauer fiel, hatte niemand damit gerechnet. Die Herstellung der deutschen Einheit erfolgte in einem rasanten Tempo. Fast nichts blieb im Osten so, wie es war. Die Menschen mussten ihren Alltag, ihr Leben von heute auf morgen komplett neu einrichten. Die sozialen Folgen waren enorm und sind im Westen bis heute meist unbekannt. Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt in seinem kurzweiligen Essay, wie sich die Umwandlung Ostdeutschlands vollzog, welche Gewinne und Verluste die Menschen dort verbuchten und wie die ostdeutsche Gegenwart mit der Vergangenheit von vor und nach 1989 zusammenhängt. Er entfaltet dabei ein breites politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Panorama – mit Ecken und Kanten, voller Überraschungen und Zuspitzungen. Eine kontroverse Debatte zum Jubiläum ist garantiert.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker. Er hat zahlreiche Bücher zur DDR-Geschichte veröffentlicht.
2009 erschien bei C.H.Beck das in mehreren Auflagen vorliegende Standardwerk Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR.
1: Zwischen Aufbruch und Abbruch
Geschichten
Herausforderungen
Der Essay
2: 1989: die unvorstellbare Revolution
Von der Krise zum Aufbruch
Anfänge der Revolution
Der letzte Republikgeburtstag
Unmittelbare Folgen des Mauerfalls
Vom Runden Tisch zu freien Wahlen
3: 1990: das letzte, unglaubliche Jahr der DDR
Neue Erfahrung: Arbeitslosigkeit
Soziale Protestbereitschaft
Hoffnungen und Erwartungen
4: Der Beitritt: alternativlos?
Was wäre wenn …?
In was für einer Verfassung?
Das Vertragswerk und die Parlamente
5: Keine Ehe unter Gleichen: die Konstruktion «des Ostdeutschen»
Wer sind Ostdeutsche?
Ostdeutsche als «Andere»
Kein Abschied von der Bundesrepublik
Westdeutsche Selbstbilder im Spiegel ostdeutscher Konstruktionen
Die Forderung: «Anpassung»
Die Angepassten
Die Hauptstadtdebatte
6: Blühende Landschaften? Die wirtschaftliche Übernahme Ostdeutschlands und ihre Profiteure
Die harte Währung und ihre Gewinner
Stagnation
Die Treuhand
Das Kali-Drama und die bundesdeutsche Bergbaupolitik
Die Eigentumsfrage
Die Landwirtschaft
Der Abzug der sowjetischen Truppen als Wirtschaftsfaktor
Der ökonomische Kollaps als Kulturkampf
7: Tabula rasa: die soziale Katastrophe
Der Zusammenbruch der Arbeitsgesellschaft
Das Unverständnis für Ostdeutschland
Das Beschäftigungsproblem
Die kulturelle Ausgrenzung
Mobilität als Problem
Rentenprobleme
Gewinnerinnen oder Verliererinnen?
Gerechtigkeit und Freiheit
Neue Benachteiligungen
8: Kulturelle Hegemonie: der Elitenaustausch und die Entwertung ostdeutscher Kultur
«Aufbauhelfer» aus dem Westen
Der Elitenaustausch an den Universitäten
Ost-Eliten im vereinigten Deutschland
Die Folgen von fehlenden Ost-Eliten
Die Abwertung ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler
Die Demütigung von Stefan Heym
9: Das zweite Leben der Stasi: Vergangenheitsaufarbeitung und ihre Folgen
Die Aufarbeitung: die SED-Diktatur als Stasi-Staat
Gesellschaftspolitische Dimensionen der Aufarbeitung
Aufarbeitung und Wissenschaft
Die Zukunft der Aufarbeitung
Die Ostdeutschen und ihre Vergangenheit
10: Ungebrochene Traditionen: Bürden der Vergangenheit als Last der Gegenwart
Demokratie ohne Demokraten
Antisemitismus
Ausländerinnen und Ausländer
Illiberale Einstellungen
Nationalismus
Rassismus
11: Politisch ein anderes Land? Der unverstandene Osten
Medien in Ostdeutschland
Wahlen im Osten
Der neue Staat
Parteien im Osten
Sonderfall: SED – SED/PDS – PDS – Die Linke
Die ostdeutsche Zivilgesellschaft
12: Die Zukunft Ostdeutschlands in der Welt: Zusammenfassung und Ausblick
Zwischen 1989: Hoffnungslosigkeit und 1990: Hoffnungen
Zukunftsvisionen für Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre
Fehlende Anerkennung
Ostdeutschland als Labor der Globalisierung
Danksagung
Anmerkungen
1 | Zwischen Aufbruch und Abbruch
2 | 1989: die unvorstellbare Revolution
3 | 1990: das letzte, unglaubliche Jahr der DDR
4 | Der Beitritt: alternativlos?
5 | Keine Ehe unter Gleichen: die Konstruktion «des Ostdeutschen»
6 | Blühende Landschaften? Die wirtschaftliche Übernahme Ostdeutschlands und ihre Profiteure
7 | Tabula rasa: die soziale Katastrophe
8 | Kulturelle Hegemonie: der Elitenaustausch und die Entwertung ostdeutscher Kultur
9 | Das zweite Leben der Stasi: Vergangenheitsaufarbeitung und ihre Folgen
10 | Ungebrochene Traditionen: Bürden der Vergangenheit als Last der Gegenwart
11 | Politisch ein anderes Land? Der unverstandene Osten
12 | Die Zukunft Ostdeutschlands in der Welt: Zusammenfassung und Ausblick
Literaturhinweise
Personenregister
1
Dieter starb nur wenige Tage vor seinem 65. Geburtstag. Wir schreiben das Jahr 1998. Neun Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen, acht Jahre seit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands: Aufbrüche. Hoffnungen. Erwartungen. Enttäuschungen. Bitternis. Alles nacheinander und alles zugleich. Es war eine aufregende Zeit, auch für Dieter. Schließlich das ultimative Aus. Nicht einmal die Rente konnte er genießen. In der DDR kannte jeder den Witz: Ein guter Kommunist stirbt an seinem 65. Geburtstag, um die leeren Kassen des Staatshaushaltes nicht zu belasten – oder geht in den Westen, um dem Klassenfeind zu schaden. Dieter war nicht in den Westen gegangen. Dieser kam zu ihm. Gefreut hatte er sich, endlich im Osten den Westen zu haben.
Dieter hatte keine untypische Karriere hingelegt. Am Ende des letzten großen Krieges mit Brüdern und Mutter vertrieben, ging er nur kurz im Brandenburgischen zur Schule. Er musste Geld verdienen, die Familie mit ernähren. Dieter wurde Maurer – im Nachkriegsdeutschland ein nützlicher, gefragter, krisenfester Beruf. Er baute viel, auch nach Feierabend und am Wochenende. Rackern und Schuften von morgens bis abends. Bescheidener Wohlstand stellte sich ein. Er brauchte diesen nicht, aber seinen beiden Kindern sollte es an nichts fehlen, sollte es besser ergehen als ihren Eltern. Alsbald ging er abends nicht mehr auf den Bau, sondern in die Schule. Fortbildung. Weiterbildung. Vorbild wollte er seinen Kindern sein. Dieter war es. Seine Kinder studierten. Ihr Vater machte Karriere. Stück für Stück. Ohne Kompromisse ging es nicht. Er trat in die Partei, die SED, ein. Kommunist war er nicht, wurde er nie. Dankbar war Dieter für die Chancen, die ihm die Kommunisten boten. Er griff zu, machte mit, der Parteieintritt als notwendiges Übel. Er wurde schließlich Direktor eines kleinen Baubetriebes im ländlichen Raum, in der fruchtbaren Magdeburger Börde. Er ackerte und schuftete. Es war zum Verzweifeln. Immer fehlte etwas. Bauen im Sozialismus war fast so unmöglich wie der Aufbau des Sozialismus selbst. Dieter fluchte, ackerte, trank zuweilen aus Ärger und Frust einen zu viel. Alles ganz normal. DDR eben. Aber er schaffte es irgendwie immer wieder, alles hinzubekommen, irgendwie. Es ging seinen sozialistischen Gang.
Dann 1989: Erstmals darf er im Sommer mit seiner Frau in die Bundesrepublik fahren, seinen Bruder besuchen, der noch vor dem Mauerbau 1961 abgehauen war. Sein erster Weg führt ihn in einen Baumarkt. Dieter hat sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr unter Kontrolle: Er weint, ist fassungslos, obwohl er es doch wusste. Hier steht und liegt alles in Hülle und Fülle herum, Baustoffe wie Werkzeuge, denen er in seinem Arbeitsalltag ständig hinterherrennt. Was könnte er bauen, wenn er diese Beschaffungsprobleme nicht hätte! Was hätte er dann für wunderbare Probleme, lösbare!
Er fährt zurück ins Anhaltinische. Beeindruckt, ergriffen vom Westen, entsetzt, entmutigt vom Osten. Nur Wochen später fällt die Mauer. Getan hat er dafür nichts. Der Mauerfall kam über ihn. Dieter freut sich. Er ist 56 Jahre alt und schwört, nun noch einmal durchstarten zu wollen, da er nun endlich so bauen könne, wie er es schon immer wollte. Aus der Partei tritt er nebenbei aus, zahlt einfach keine Beiträge mehr. Im Frühjahr 1990 wird er Geschäftsführer einer gerade gegründeten GmbH, der sein Betrieb nun gehört. Wie genau das abgelaufen ist? Die Privatisierung im Osten wird auch Jahre später noch große Rätsel aufgeben. Dieter ist jetzt jedenfalls Geschäftsführer. Elan und Engagement zeichnen ihn aus. Was soll jetzt noch schiefgehen? Die Auftragsbücher sind voll. Die Baumärkte prächtig gefüllt. Es kann losgehen. Die paar Kredite zur Ankurbelung können doch kein Problem sein.
Der Nachbarbetrieb mit Grund und Boden und für schuldenfrei erklärt ist für eine symbolische Mark Mitte 1991 an einen schwäbischen Unternehmer verkauft worden. Grund und Boden für eine symbolische Mark! Dazu keine Schulden. Dieter kommt nicht aus Stuttgart oder Hamburg, aus Düsseldorf oder München, sondern aus Magdeburg. Ihm werden die «Altschulden» nicht erlassen. Er erfährt, sein Betrieb ist überschuldet wegen der «Schulden», die sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre angehäuft hätten. Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein! Habt Ihr gar keinen Durchblick? Altschulden aus der DDR-Zeit? Altschulden als Mitgift der DDR-Volkswirtschaft? Wisst Ihr gar nicht, wie das lief mit den Schulden in der DDR? Dass das nur Buchungstechnik in der Planwirtschaft war? Das ist doch nicht zu fassen! Und warum werden die Altschulden den neuen Besitzern aus dem Westen eigentlich erlassen?
Viele Fragen, keine Antworten. Dieter ist gezwungen, faule Kompromisse einzugehen. Die Arbeiter und Angestellten sind damit einverstanden, unter Tarif bezahlt zu werden, damit niemand entlassen werden muss. Der Chef selbst halbiert sein Gehalt. Dann wird gar keines mehr bezahlt. Alle sind damit einverstanden. Nun wird es brenzlig. Monatelang kann der Betrieb keine Sozialabgaben abführen. Die Firma nebenan ist sofort zugemacht worden, die neuen Besitzer dachten gar nicht daran, die Arbeitsplätze zu erhalten, für eine Mark Grund und Boden! Die lachen noch heute. Dieter kämpfte, für die Kollegen, für sich. Es nützte nichts. Niemand half. Keiner hatte Interesse daran, dass der einstige kleine DDR-Baubetrieb mit der neuen GmbH überlebt. Die Banken geben Dieter, dem Geschäftsführer, keine Termine mehr. Die Schulden häufen sich, obwohl die Auftragsbücher voll sind. Viele haben ähnliche Probleme, können Rechnungen nicht bezahlen oder nur nach monatelanger Verzögerung. Ein Teufelskreislauf, dem nur entrinnen kann, wer auf Rücklagen zurückgreifen kann. Die hat kein Ostler im Osten. Der Betrieb von Dieter hat viele Außenstände, aber niemand zahlt sie. Dieter haftet auch privat, ganz persönlich. Der Staatsanwalt schaltet sich ein. Dieter wird krank. Krebs. Unheilbar. Ganz schnell geht es. Das ultimative Aus. So optimistisch gestartet. So hart gelandet. Gerecht war das nicht. Er stirbt an dem Tag, an dem er ins Gericht zur ersten Verhandlung vorgeladen worden ist.
Diese Geschichte ist nicht ausgedacht, verdichtet, aus vielen Mosaiken zusammengefügt. Nein, ich habe nicht irgendeine Geschichte erzählt. Es ist das Leben des Vaters meiner Frau, meines Schwiegervaters. Ich lernte ihn 1990 kennen und habe das alles Stück für Stück mitbekommen. Die Hoffnungen, die Tragik, das Ende. Ganz ähnlich und doch ganz anders mein eigener Vater: Er arbeitete in den achtziger Jahren im «Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung» (ASMW), dem ostdeutschen Pendant zum «Deutschen Institut für Normung» (DIN). Auch mein Vater gehörte wie Dieter zu den Nachkriegsgewinnern: Sein Vater ist noch vor seiner Geburt ums Leben gekommen. Mit seiner Mutter 1946 aus Böhmen vertrieben, landet mein Vater in Gützkow in der Nähe von Wolgast. Er will Pastor werden. Das redet ihm sein Religionslehrer aus. In der DDR würden die Pastoren bald ans Kreuz genagelt. Harte Zeiten sind das, Anfang der fünfziger Jahre. Der Sportbegeisterte darf nicht Sport studieren, wird Finanzökonom. Auch er tritt in die SED ein, aber aus Überzeugung, am 12. April 1961, einem Datum, das fast allen älteren Ostdeutschen geläufig ist. Erst der Sputnik-Coup am 4. Oktober 1957, nun der Gagarin-Triumph, der Kommunismus hat gesiegt – vorerst nur im Weltraum. Der Katholik ist nun Kommunist mit einem Kruzifix auf dem Nachttisch. Mein Vater versucht sogar, Anfang der sechziger Jahre Mitarbeiter der Staatssicherheit zu werden. Er wird nicht genommen, weil er sich nicht traut, seiner tiefgläubigen Mutter zu sagen, dass er aus der Kirche ausgetreten ist. Seine versuchte Mitarbeit bei der Stasi bleibt eine unwesentliche Episode, über die auch wir Kinder in den siebziger Jahren aus seinen Erzählungen erfahren. So wie wir wissen, wer in unserer Familie die Kommunisten hasst, wer im Knast war, wer gegen die Kommunisten kämpfte, wer Kommunist ist. Verrückte Geschichten, wie in vielen, vielen anderen Familien alles auch in unserer gebündelt. Anpassung und Selbstbehauptung, Mitmachen und Widerspruch, Überzeugung und Verrat – immer wieder auch in einer Person, in einer Biographie. Mein Großvater väterlicherseits zum Tode verurteilt wegen seines Kampfes für eine freie, unabhängige Ukraine – und kurz vor der geplanten Hinrichtung befreit und außer Landes gebracht; der Bruder meines Großvaters mütterlicherseits erschießt sich als Leutnant der Wehrmacht auf Weihnachtsurlaub von der Ostfront 1943 aus Gram über die Verbrechen der Deutschen: «Der Herrgott wird Deutschland das nie vergeben können!» sollen seine letzten Worte gewesen sein. Meine Mutter absolviert am selben Tag 1956 Konfirmation und Jugendweihe, Letztere vor ihrem eigenen Vater, einem verbitterten Antikommunisten, verheimlicht. Und dann schleppt meine Mutter meinen Vater an, ein Kommunist am Küchentisch beim Antikommunisten. Schlimmer geht es nimmer. Am Ende seines einsamen Lebens redet der Kommunistenhasser nur noch mit meinem Vater. Viele sagen: «Wenn die Kommunisten alle so wären wie der Ilko» – mein Vater hieß so wie sein Vater, ich heiße fast so wie mein Vater – ja, dann würde es was werden mit dem Kommunismus in der DDR. Sie irren alle. Aber sie sagen eben auch, es gibt sie, denen wir es abnehmen, die keine Verbrecher sind. Mein Vater macht keine Karriere. Er geht an dem System, dem er sich verschrieben hat, fast kaputt. Aus seiner kurzen Mitarbeit für die Stasi in den frühen 1960er Jahren wird eine kleine Überprüfungsakte. Mein Vater ist kein Feind, er ist nicht einmal zu kritisch, er ist nur nicht bereit, alles und jedes mitzumachen. Er kommt nicht mehr klar. Sport ist seine wichtigste Ablenkung. Das hilft nicht, Alkohol auch nicht. Depressionen, Selbstmordgedanken, Psychiatrie. Nun endlich darf er das Industrieministerium, in dem er seit 1967 arbeitet, verlassen und kommt 1981 ins ASMW. Seine Spezialgebiete seit den sechziger Jahren: der industrielle Einsatz von Roboter- und Datenverarbeitungstechnik in der Metallurgie. Er ist ein Fachmann, der sich in Partei und Massenorganisationen freiwillig engagiert, er ist kein Funktionär, kein Apparatschik, aber überzeugt von der Sache.
1990 kommt mit der staatlichen Einheit das Aus. Das ASMW wird zum 3. Oktober 1990 aufgelöst, einige Dutzend Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wurden ins DIN übernommen. Mein Vater ist 56 Jahre alt und wird arbeitslos. Er jammert nicht. Nur einmal sagt er zu mir mit kritischem Unterton, am Tag der ersten freien Wahlen in der DDR, am 18. März 1990: «Hast du das alles so gewollt?» Ja, sage ich zu ihm, alles ist besser als das, was deine DDR je war. Mein Vater versucht anzukommen. Er arbeitet journalistisch für Stadtteilzeitungen, geht nach Charlottenburg, fährt nach Bonn, anderswohin, um zu sehen, wie man so etwas macht. Ich bewundere ihn, habe es ihm aber nie gesagt. 1992 kommt er meine Frau und mich in London, wo wir gerade leben, besuchen. Wir genießen die Freiheit, wie und wo es nur irgend geht. Freiheit ist, wenn ich sie mir nehme. Denke ich jedenfalls. Mein Vater trauert der DDR, wie sie war, nicht nach, wohl aber den verpatzten Chancen und seinen Erinnerungen. Wir können zum ersten Mal seit vielen Jahren – in London – wieder entspannt miteinander reden, offen und ohne politischen Groll aufeinander. Wir hatten uns fast verloren wegen des Systems, waren enttäuscht voneinander, der Vater vom Sohn, der Sohn vom System, für das der Vater steht. Ich lausche in einem Londoner Pub tief bewegt meinem Vater und beginne zu verstehen, warum ein kluger Mann wie er in der DDR mehr sah, als mir je einleuchten könnte. Wir nehmen ein Gespräch auf, das wir nie fortsetzen werden. Nur wenige Wochen später ist er tot, überfahren von einer fetten Limousine, wie sie jetzt überall auf ostdeutschen Straßen herumkurven. Wenn es nicht so billig wäre, würde ich sagen: überfahren von einem großen, teuren westdeutschen Auto auf einer kaputten ostdeutschen Straße mit vielen Schlaglöchern.
Jeder Ostler kann Geschichten von Hoffnung und Enttäuschung, Freude und Trauer, Aufbruch und Wut, Erfolg und Niederlage, Verrat und Beistand aus der DDR und aus den 1990er Jahren erzählen. Der Mensch ist systemunabhängig Mensch. Die Generation meines Vaters (geb. 1934) und meines Schwiegervaters (geb. 1935) gehört zu jenen, die von vielen Niederlagen und Misserfolgen berichten können, die in einem krassen Gegensatz zu ihren nachkriegsbedingten Aufsteigergeschichten stehen. Sie schied nach 1989 einfach aus dem Erwerbsleben aus. Erst die Frauen, dann die Männer. Sie tauchte nicht einmal in Statistiken über Arbeitslose, Kurzzeitarbeiter oder Sozialhilfeempfänger auf. Ganze Jahrgänge der über 50-Jährigen waren auf einmal Rentner und Rentnerinnen und nicht einmal mehr der Statistik der Arbeitssuchenden würdig genug. Bitter war das, noch bitterer, wenn man weiß, dass viele in der DDR mit 60 (Frauen) oder 65 (Männer) nur offiziell in Rente gingen, tatsächlich aber weiterarbeiteten. Die «Arbeitsgesellschaft DDR» brach 1990 über Nacht zusammen, ein Zusammenbruch, der sich in Statistiken abbilden, aber nicht erfassen lässt.
Ich lebte seit 1990 in meiner «Blase», ein Begriff, den es damals so noch nicht gab. Für mich zählte nur Freiheit, Freiheit, Freiheit. Endlich war sie da. Selbst errungen, nicht geschenkt bekommen. Es war das tiefste Glücksgefühl, das ich je hatte, die errungene Freiheit 1989/90. «Das wunderbare Jahr der Anarchie», wie ein Buchtitel das Lebensgefühl vieler, vor allem jüngerer Menschen auf den Punkt bringt.[1] Ich konnte endlich durchstarten, war jung, die Welt lag mir zu Füßen. Nichts schien unmöglich zu sein. Es war einfach nur herrlich – für mich und meine Freunde und Freundinnen, die wir in Ost-Berlin lebten. Mir schien es ganz natürlich zu sein, dass vom Alten nichts bleiben sollte. Wozu auch? Es taugte ja nichts. Und die Menschen? Dort, wo ich mich herumtrieb, ging es um die alten Eliten, die früheren oberen und mittleren Führungskräfte in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Und klar, die mussten verschwinden, weg, alle. Ich ließ in meinen öffentlichen Statements an der Universität und in Medien 1990 bis 1992 nicht den geringsten Zweifel daran, dass eine Tabula rasa für alle das Beste sei. Für alle? Nun ja, für die alten Eliten vielleicht nicht. Aber die kümmerten mich nicht. Meinesgleichen hatte sie früher auch nicht gekümmert. Ich fand, unserer ach so friedlichen Revolution würde ein bisschen Jakobinertum gut zu Gesicht stehen. Spätere Generationen, glaubte ich, würden uns fragen, warum wir so weich und nachgiebig gewesen seien. Es dauerte eine Weile, bis sich meine über viele Jahre hinweg angestaute Wut und der dadurch aufgestaute moralische Rigorismus abkühlten.
Warum ich nach 1989 fast nur Menschen um mich hatte, die nicht scheiterten, fragte ich mich damals nicht. Natürlich nahm ich wahr, was um mich herum in diesem Land geschah. Sehr genau sogar. Es schienen mir schmerzhafte Kollateralschäden zu sein, schlimm genug, die man kritisieren, abstellen musste, keine Frage. Aber eine Systematik dahinter zu vermuten, kam mir nicht in den Sinn. Ignoranz, Arroganz ja, aber «Siegermentalität», eiskalte Berechnung, Feldherrenmentalität? Nein, das schienen mir eher Projektionen postkommunistischer Ewiggestriger zu sein, die einer Zukunft hinterhertrauerten, die sie nie angestrebt hatten. Wer von «Kolonialismus» sprach, war besonders verdächtig. Denn welcher Kolonisierte hätte seine Kolonialherren schon mit freien demokratischen Wahlen selbst herbeigerufen? Doch abgesehen davon: Was auch immer in Ostdeutschland nach 1990 geschah, es mit den europäischen kolonialen Massenverbrechen begrifflich auf eine Stufe zu stellen, kommt mir auch heute nicht in den Sinn. Wer dies tut, verharmlost und relativiert den europäischen Kolonialismus mit Abermillionen Toten.
Ich hatte mich eingerichtet in der Freiheit und Demokratie, sehr gut sogar, wenn auch an ganz anderen Orten und in anderen Räumen, als ich es noch zu Beginn der 1990er Jahre erwartet und angestrebt hatte. Keinen meiner beruflichen Träume hatte ich verwirklichen können, jedenfalls nicht so wie erwartet. Aber ich war nicht unglücklich, keineswegs, ich jammerte auf hohem Niveau.
Die Finanz- und Bankenkrise ab 2007[2] veränderte meine Sicht. Ich bemerkte, dass das Vokabular, das sich durch meine Sozialisation in der DDR für immer und ewig kontaminiert anfühlte, das mir buchstäblich mit Panzerketten ausgetrieben worden war, immer nützlicher und treffender erschien. Begrifflichkeiten wie Kapitalismus, Imperialismus, Finanzkapital, «Heuschrecken», systembedingte soziale Ungerechtigkeit, Basis und Überbau, Klasse, Ausbeutung und Verelendung klangen plötzlich nicht mehr wie von gestern, wie Worthülsen, die nur den politischen Standort markieren sollten, sondern wieder wie nützliche Hilfsmittel, um die gesellschaftliche Gegenwart zu analysieren. Und nicht nur das. Sogar die Idee vom Sozialismus erfuhr eine unerwartete Renaissance, die Idee eines demokratischen Sozialismus.[3]
Doch die globale Finanzkrise und vor allem deren atemberaubende Bewältigung standen nur am Anfang. In dieser Krise sind auf einmal aus Gründen, die einem niemand, der nicht parteiisch wäre, erklären könnte, systemtragende Institutionen erfunden wurden, Einrichtungen, die bislang als gegen den modernen Sozialstaat gerichtet in Erscheinung getreten waren. Hunderte Milliarden Euro standen urplötzlich zur Verfügung. Und das ging nun Schlag auf Schlag so weiter. In der so genannten Diesel-Krise zeigte sich wie in einer üblen kommunistischen Dokumentation, dass die Regierung der größte Lobbyist der Wirtschaft ist. Unglaublich, aber wahr, die Lasten mussten die Verbraucher tragen. Die ökologische Krise wird verharmlost. Schon winzige Schritte wie etwa ein Tempolimit auf den Autobahnen werden mit aberwitzigen Argumenten abgelehnt. Wieder tritt die Regierung als Cheflobbyist der Wirtschaft auf. Exorbitante Abfindungen für Banker und Wirtschaftsmagnaten stehen im Gegensatz zu einer unfassbaren sozialen Ungerechtigkeit, zu einem Gerechtigkeitsgefälle, das kein Ethiker erklären könnte. Etwa 16 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gelten als arm und abhängig von Sozialleistungen. Im Osten sind es knapp 22 Prozent.[4] Die Zahlen sind umstritten. Die einen meinen, sie seien zu hoch, andere beharren darauf, sie seien zu niedrig. Niemand präsentiert Zahlen, die beruhigen könnten. Und das in einem der reichsten Länder der Welt. Doch nicht nur der krasse Gegensatz von einem gebeutelten Sozialstaat, der seine Renten-, Gesundheits-, Pflege- und Bildungs-, sprich: seine Zukunftsprobleme nicht gelöst bekommt, zu einer einmalig prosperierenden Volkswirtschaft und einer kleinen, davon enorm profitierenden Finanz- und Wirtschaftselite ließen mich immer kritischer auf meine bisherigen Einschätzungen und Beobachtungen zurückblicken. Ebenso stark verunsicherte mich, wie die Demokratie weltweit, in Europa, in Osteuropa, aber auch in Deutschland und insbesondere in Ostdeutschland in Bedrängnis geriet. Ich kann nicht erklären, warum es so kam. Wer könnte das schon? Wer könnte die USA, Brasilien, Mexiko, die Philippinen, Österreich, Frankreich, Kenia, Dänemark, Indien, China, Griechenland, Polen, Schweden, Ungarn, Spanien oder Deutschland gleichermaßen analysieren und daraus schussfolgernd erklären, warum die regionalen und lokalen Phänomene als globale Erscheinung auftreten?[5] Ich traue mir das nur für Ostdeutschland zu.
Ostdeutschland ist ein besonderer Raum, mit besonderen Erfahrungen. Die Freiheit war eine große Chance für die ostdeutsche Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft der Boden, auf dem sie zur Blüte finden sollte. Drei Jahrzehnte sind vergangen und fast jeder zweite Ostdeutsche fühlt sich immer noch als Bürger zweiter Klasse. Eliten und Führungskräfte in Ostdeutschland sind nur in Ausnahmefällen Ostdeutsche. Anfang 2019 waren Ostdeutsche in Spitzenpositionen von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur nur zu zwei bis vier Prozent vertreten, also weitaus weniger, als ihr Bevölkerungsanteil ausmachte.[6] An Gerichten in Ostdeutschland stammt nur etwa jeder zehnte Richter aus Ostdeutschland, in Behörden in Ostdeutschland sind wohl nicht einmal ein Viertel der Abteilungsleiter Ostdeutsche. Lediglich in der Politik konnten sich wenige Ostdeutsche auch in höchsten Ämtern durchsetzen. Aber in allen anderen Spitzenpositionen in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind Ostdeutsche sehr stark unterrepräsentiert. Was ist schiefgelaufen? 25 Jahre lang blieb das Wutpotential gebändigt, eine Wut, die sich dann aber umso stärker Ausdruck verschaffte. Nicht mehr nur, wie zuvor, mal dort, mal hier, sondern fast flächendeckend breiteten sich in Ostdeutschland öffentlich Wut, Ablehnung, Hass und Gewalt aus. «Pegida» und «AfD» sind Synonyme für eine rassistische, antidemokratische, nationalistische, autoritäre und antifreiheitliche Haltung, die weiter verbreitet ist, als es Wahlprognosen oder Wahlanalysen allein erfassen könnten.
Um das präzise zu erklären, bedarf es eingehender wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Forschungen dazu stehen noch am Anfang. Die öffentliche Diskussion kann aber nicht warten, bis die Wissenschaft so weit ist. Wir brauchen die Debatte jetzt, weil wir jetzt Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit und soziale Marktwirtschaft verteidigen müssen. Nein, wir leben nicht wie am Ende der Weimarer Republik. Geschichte wiederholt sich nicht, weder als Farce noch als Tragödie, nicht einmal als Komödie. Wir leben aber am Ende eines Zeitalters, das uns in den letzten Jahrzehnten prägte, sozialisierte, formte. Es gibt kein Zurück in die behagliche Bundesrepublik der 1970er oder 1980er Jahre, auch nicht in die DDR; wenn wir demnächst neue Diktaturen erleben müssten, würden die anders, womöglich sogar brutaler als das SED-Regime ausfallen. Beide deutsche Nachkriegsstaaten sind passé, auch wenn nicht alle das akzeptiert haben und vor allem mit dem alten bundesrepublikanischen Modell so manche Rückwärtsgewandten Politik zu machen suchen. Wir stehen vor dem Aufbruch in eine ungewisse Zukunft – das war in der Geschichte nie und nimmer anders. Zukunft ist das größte Geheimnis – mit nur einer Einschränkung: Ihre Endlichkeit ist gesetzt. Die Vergangenheit hingegen war nicht besser als unsere Gegenwart, überwiegend sogar schlechter, anstrengender, gewaltvoller.[7]
Auch wenn die «Übernahme» durch die Bundesrepublik eine spezifisch ostdeutsche Erfahrung ist, so sind die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahrzehnten auf dem früheren Staatsgebiet der DDR vollzogen, doch auch sehr eng mit globalen Prozessen verknüpft. Man könnte sogar sagen, dass sich diese hier wie unter einem Brennglas beobachten ließen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief 1992 «Das Ende der Geschichte» aus. Die liberale Demokratie sei weltweit auf dem Vormarsch und würde über kurz oder lang zum prägenden System der Welt werden, alle konkurrierenden Ideologien gehörten der Vergangenheit an. Ein Irrtum, den Fukuyama 25 Jahre später einräumte. Demokratie allein, so nun der Wissenschaftler und Politikberater, stifte keine Identität. Die «alte» Arbeiterklasse und die Mittelschichten hätten weltweit an Boden verloren und hegten Angst vor einer weiteren Deklassierung, vor einem weiteren Abstieg, vor einem Fall in die Armut. Ihnen rutsche förmlich der Boden unter den Füßen weg. Sie flüchteten in die Arme jener, die ihnen versprechen, diesen Prozess aufzuhalten. Der Aufstieg von Populismus, linkem wie rechtem, sei die Folge.[8]
Die Demokratie ist in Bedrängnis geraten, nicht nur in Gesellschaften, die noch relativ neu in der Gemeinschaft unabhängiger Demokratien sind. Auch die Veteranen in dieser Gemeinschaft sind ins Straucheln gekommen. Der Inder Pankaj Mishra zeigte in einem maßgeblichen Buch, wie eng Rationalität und Irrationalität in diesen weltumspannenden Prozessen zusammenhängen und dass niemand der Geschichte entkommt.[9] Der französische Soziologe Didier Eribon hat in seinem vieldiskutierten Buch «Rückkehr nach Reims» (2009) in einer Melange aus Erinnerungen und sozialwissenschaftlicher Analyse eindrücklich gezeigt, wie die moderne Gesellschaft «Abgehängte, Übersehene, Überflüssige» produziert. Die Arbeiter und Arbeiterinnen verloren nicht nur ihre Jobs, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung: Wer nicht arbeitet, kann kein Arbeiter, keine Arbeiterin sein. Die Leere schien nicht ersetzbar. Niemand interessiert sich für ihr Schicksal – außer den Populisten, die versprechen, es könne einen Weg zurück geben.[10] In allen westlichen Demokratien gewinnen sie mehr und mehr Einfluss, die Populistinnen von rechts und links. Sie versprechen viel, weil sie die Vergangenheit als behagliches, warmes Wohnzimmer aufrufen, einen Raum, der von «Anderen» aller Couleur – Kosmopolitinnen, Feministen, Grünen, «Sprachpolizist*innen», LGBTQ, Nicht-Christen, Zuwanderinnen, Veganern, Waffenverweigerinnen, Klimaschützern, Atomkraftgegnerinnen, Lesern von Printmedien, Hörerinnen und Zuschauern öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten usw. usf. – bedroht wird. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa entwickelte eine Theorie der sozialen Beschleunigung: Alles würde immer schneller und schneller geschehen, vor allem der Wandel. Es wäre unmöglich, dem Tempo immer und überall folgen zu können. Beschleunigung sei eine neue Form von Totalitarismus.[11] Entfremdung sei eine verbreitete Erscheinung. Rosa sieht die Beschleunigung sozialen Lebens als ein Produkt kapitalistischen Wettbewerbsdenkens.[12]
Globale Entwicklungen verdienen ihren Namen, weil sie sich auch regional und lokal vollziehen, dort, vor Ort, sich zeigen und Auswirkungen zeitigen. So sehr der Aufstieg und die Etablierung demokratiefeindlicher Kräfte auch zu beobachten sind, für den Einzelnen bleibt die Globalität abstrakt, konkret ist das, was sich in der eigenen Lebenswahrnehmung, im eigenen sozialen Raum vollzieht, was man selbst erlebt, erfährt, dort hört und sieht. Hier fallen lokale, regionale und globale Trends zusammen – oder auseinander. Ostdeutschland ist ein solcher sozialer Raum. In ihm spielen sich viele Entwicklungen ab, die sich weltweit beobachten lassen. Zugleich ist der ostdeutsche Raum, das frühere DDR-Territorium, von Spezifika geprägt, die ihn so besonders erscheinen lassen – so besonders freilich, wie es jeder andere soziale Raum auch ist.
Mit den Ereignissen von 1989/90 setzte kein Ende der Geschichte ein, sondern es begann, wie Ralf Dahrendorf beobachtete, ein «Wiederbeginn der Geschichte».[13] Die Zukunft war wieder offen. Damit meinte Dahrendorf, die Zukunft der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung im früheren Ostblock. Vielen Beobachtern schien die Zeit im Osten stillgestanden zu haben. War das nicht schon eine Fehlwahrnehmung? Und wenn es für Staat und Gesellschaft stimmen sollte, dann doch wohl nicht für die einzelnen Menschen?
Als mich der Verlag fragte, ob ich meine Beobachtungen und Reflexionen über die deutsche Einheit in einem kleinen Buch zusammenfassen möchte, zögerte ich nicht. Seit nunmehr fast drei Jahrzehnten befasse ich mich wissenschaftlich und publizistisch mit der Geschichte und den Folgen des Kommunismus in Deutschland und Europa. In den 1990er Jahren war ich als junger Mann sachverständiges Mitglied in einer jahrelang tagenden Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich genau mit solchen Fragen beschäftigte. Dabei hat sich der Bogen seither, ich möchte sagen dramatisch gespannt, das Verhältnis von Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
In den letzten Jahren sind die westlichen Vorstellungen von Demokratie und Freiheit erheblich unter Druck geraten. Und zwar nicht und nicht allein wegen vielfältiger Angriffe und Konkurrenzen mit anderen Modellen. Das ist nicht neu. Der Westen musste sich schon immer seiner äußeren Gegner erwehren. Gegner, die er sich zum Teil selbst erst durch seinen weltumspannenden Kolonialismus und Imperialismus systematisch geschaffen hatte. Nicht nur am deutschen Wesen sollte die Welt genesen. Im Westen geht es allen, so die unausgesprochene Devise, am besten – wenn andere dafür schuften und leiden. Nicht einmal der schärfste Kritiker des Westens, Karl Marx, fand das verwerflich. Ganz im Gegenteil: Erst wenn der Kapitalismus durchgesetzt und eine entsprechende Arbeiterklasse geschaffen sei, könne die von ihm prognostizierte befreiende proletarische Revolution erfolgen. Neu ist es also nicht, dass der Westen so viele Feinde hat. Wie sieht es aber mit den inneren Gegnern aus? Auch das ist nicht neu, wenn man an linke und rechte Extremisten in der Vergangenheit denkt. Militaristen, Faschisten, Nationalsozialisten, Kommunisten haben im 20. Jahrhundert fast in jedem Land Europas «den Westen» und seine Ideen zeitweilig erfolgreich bekämpft. Deutschland hat das zum schmachvollen Höhepunkt geführt.
Nach 1945 und dann vor allem nach den unverhofften, einen historischen Wimpernschlag so glücklich machenden Freiheitsrevolutionen von «1989/90» haben viele Menschen geglaubt, nun würden Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für immer unverrückbar sein. Jene, die mahnten, Demokratie und Freiheit seien nicht nur durch Institutionen abzusichern, sondern Lebensformen, für die jeder und jede einzutreten habe, wurden oft als Sonntagsrednerinnen belächelt. Heute zeigt ein auch nur flüchtiger Blick auf Deutschland, Europa und die Welt, dass sie Recht hatten. Im Osten Deutschlands ist das noch offenkundiger als im Westen. Warum das so ist, davon handelt dieser Essay. Er ist, im Sinne des Wortes «Essay», ein Versuch, zu zeigen, wie unsere Gegenwart historisch geworden ist. Es geht nicht um die unendlich vielen Details und Winkelzüge der Geschichte. Nein, es geht um große Linien und Fragen, die sich aufdrängen, wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen. Und das geht nun einmal besser, wenn man einen Blick zurückwirft.
Dieser Essay basiert auf wissenschaftlichen Untersuchungen und eigenen Beobachtungen und Reflexionen. Auch wenn ich immer wieder betone, Zahlen, demoskopische Untersuchungen sind anfechtbar und markieren nur Trends, gebe ich davon viele Beispiele an. Mir geht es mehr um die Folgen solcher Prozesse und Entwicklungen, die Zahlen veranschaulichen können. Zahlen spitzen zu und erfinden Realitäten. Wahlausgänge sagen nur wenig über das Drittel der Gesellschaft, das gar nicht wählt, und erst recht nichts über jene, die kein Wahlrecht besitzen. Meinungsumfragen sind grobe Annäherungen, keine exakten. Das Bruttonationaleinkommen (Bruttosozialprodukt) ist auch so ein Zahlenwert, der mehr vernebelt als erhellt.[14]
In diesem Essay spitze ich auch zu. Ich versuche, durch Pointierungen Probleme sichtbarer zu machen. Denn es geht nicht nur um harte Fakten. Die eigentlichen Probleme stellen weiche, zum Teil schwer fassbare, nur unzulänglich formulierbare, ja, wohl sogar unbekannte Phänomene dar. Wenn man zuspitzt, heißt das auch, es gibt viele Fragen, aber längst nicht auf alle Antworten. Ich denke, wir alle müssen es erlernen, Fragen zu stellen, ohne gleich immer Antworten parat zu haben. Das rasante Tempo unserer Gegenwart lässt oft nicht einmal Raum für Fragen, wie sollte es da schon immer gleich Antworten geben?
Zuspitzungen funktionieren nur, wenn ich bereit bin, auch Differenzierungen zuweilen nicht bis ins letzte Detail auszubreiten. Das macht angreifbar, keine Frage. Der Essay wertet nicht individuelle Leistungen, Opferbereitschaft, Arbeitswillen und ehrliches Engagement im Prozess der deutschen Einheit von wem auch immer ab. In diesem Essay geht es nicht um individuelle Erfahrungen in dem gigantischen Experiment: wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde.
Ich gebe gern zu, dass mir im Schreibprozess die Wucht der ganzen deutsch-deutschen Schieflagen selbst etwas übertrieben vorkam – ich kann sie nicht ändern, sie stellen eine Realität dar. Hinzu kommen Bürden und Herausforderungen, die weit über Ostdeutschland hinaus von Bedeutung sind: Lasten der Geschichte, unaufgearbeitete Vergangenheiten und Probleme, die sich aus der Globalisierung ergeben. Erst in diesem Kontext erscheint Ostdeutschland, die Grundthese dieses Essays, bei allen Besonderheiten und Spezifika als Laboratorium der Globalisierung: Der raschen nachholenden Modernisierung Anfang der 1990er Jahre mit ihren dramatischen sozialen und kulturellen Folgen folgte bald eine Entwicklung, die sozial, politisch und kulturell dem Westen nur einige Schritte voraus zu sein scheint, und das ist nicht unbedingt als Beruhigung gedacht.
2
Die Mauer fiel nicht einfach. Erst recht öffnete sie kein SED-Politbürokrat oder ein DDR-Grenzer. Die Gesellschaft schmiss am Abend des 9. November 1989 die Mauer um. Angefangen hatte es mit der mächtigen freien Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen. Am Anfang des Jahrzehnts gegründet, um Polen zu demokratisieren, bedeutete der Mauerfall am Ende des Dezenniums das symbolische Ende des europäischen Kommunismus, auch wenn es bis zum endgültigen Aus, dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, noch zwei weitere Jahre dauern sollte.
Die ganze Welt schaute atemlos nach Ostdeutschland, nach Ost-Berlin. Die meisten waren sich bewusst, Zeugen einer Revolution mit globalen Auswirkungen zu sein.[1] «Wahnsinn» war der allerorten meist gebrauchte Ausruf. Es begann eine Zeit, als die Realität fast täglich die Phantasie überholte – selbst in der Ikonographie. Die meisten berühmten Fotos von der Mauernacht zeigen – keine Ostler. Auf der Mauer in der Nacht der Nächte zum Beispiel, ein sehr berühmtes Foto von der Westseite des Brandenburger Tores, stehen, sitzen und tanzen ganz überwiegend Westler. Ein von der dpa weltweit verbreitetes Foto ist noch kurioser: Darauf geben sich taz-Redakteure als feiernde Ostler aus.[2]
Bis zum Herbst 1989 war kaum einem Zeitzeugen bewusst, dass er sich inmitten eines rasanten historischen Prozesses befand, der eine ungeheure Dynamik entwickelte und der die empfundene «Zeit» immer mehr beschleunigte.[3] Noch eben gerade, so schien es vielen, auf der Standspur verharrend, befanden sich auf einmal gleich mehrere Gesellschaften im Ostblock auf der Überholspur, und das noch mit überhöhtem Tempo. Die DDR stellt dafür ein eindrückliches Beispiel dar.
Die Inthronisierung Michail Gorbatschows im März 1985 als KPdSU-Chef und damit als Führer des Weltkommunismus stellte den Versuch dar, das Projekt des Kommunismus zu retten. Gorbatschow war nicht Reformator wider Willen, aber er wurde wider Willen zu einem Sargnagel des kommunistischen Systems. Dieses geschlossene System hatte durchaus seine Logik. Der geschlossene Deckel verhinderte die Explosion. Die leichte Öffnung des Deckels aber ließ den Dampf in alle Richtungen heraus, unkontrolliert, unbeabsichtigt und nicht mehr steuer- und kontrollierbar. Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber Glasnost und Perestroika von SED-Chef Erich Honecker, Nicolae Ceaușescu, dem Diktator in Rumänien, oder Miloš Jakeš, seit 1987 oberster Kommunist in der Tschechoslowakei, gerade nicht – wie von vielen damals beklagt – widersinnig, sondern systemlogisch. Offenbar war ihnen die Kesseltheorie eingeschrieben, nämlich dass eine leichte Öffnung unweigerlich zur Explosion führe. Sie hatten 1953, 1956 oder 1968 noch allzu gut in Erinnerung.
Zugleich aber entfachte Gorbatschows Reformpolitik Hoffnungen in der DDR. Die berühmte offizielle Losung «Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen» wurde über Nacht zur subversiven Waffe von auf Veränderungen Hoffenden. Wenn in Moskau Reformen möglich waren, so die Meinung vieler Menschen, so müsse sich doch auch in der DDR etwas verändern lassen. Jahrelang versprach die SED, morgen, in der Zukunft, würde alles «noch» besser werden. «Morgen» blieb in den Vorhersagen der Ideologiewächter nicht nur eigentümlicherweise stets weit weg von der Gegenwart, Mitte der achtziger Jahre entrückte die verheißungsvolle Zukunft immer stärker ins Nimmerland. Der gefühlte Abstand zum Westen und seinen offenkundigen Verheißungen, wie sie via TV allabendlich in Millionen ostdeutsche Wohnzimmer flimmerten, wurde immer größer. Gleichzeitig schwanden die Hoffnungen auf die Zukunft, je mehr sich die Crew um Honecker, seinen politischen Ziehsohn Egon Krenz, der in der SED für den gesamten Militär- und Sicherheitsapparat zuständig war, den Ost-Berliner SED-Chef Günter Schabowski, den Dresdner SED-Bezirksfürsten Hans Modrow, Stasi-Minister Erich Mielke und wie sie sonst noch hießen gegenüber der Reformpolitik von Gorbatschow hermetisch abschirmten. Sie regierten nicht nur gegen die Mehrheit der Bevölkerung, sie verloren auch immer mehr Terrain unter jenen, auf die sie sich bislang verlassen konnten: die 2,3 Millionen Mitglieder der SED und die nochmals knapp 500.000 Mitglieder der eng mit der SED verknüpften vier Blockparteien (CDU, LDPD, DBD, NDPD). Von etwa zwölf Millionen Erwachsenen in der DDR gehörten fast drei Millionen einer staatstragenden Partei an. Zur Diktaturwirklichkeit gehörte, dass Millionen Menschen das System aktiv unterstützten und mittrugen.
Die Revolution von 1989 lässt sich nicht monokausal erzählen oder erklären. Die DDR trug in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre viele Züge einer Zusammenbruchsgesellschaft. In den fünfziger Jahren kam in der DDR eine offizielle Parole auf, die jedes Kind kannte: «So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.» Das war frustrierend. Die Menschen schufteten und rackerten, aber erreichten nie das verheißene «morgen». Zwar hatte sich der Lebensstandard seit Ende der fünfziger Jahre erheblich verbessert. Der Alltag war einfacher geworden. Aber die Menschen wurden nicht zufriedener, weil der Abstand zum Westen zusehends wuchs. Honecker erfand 1971 eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die alte Parole aus den fünfziger Jahren auf den Kopf stellte. Denn im Kern war seine Politik nun von dem Gedanken getragen: «So, wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten.» Die Menschen sollten sozial befriedet, im besten Fall sogar befriedigt werden. Offiziell verband sich damit ein sozialpolitisches Programm, das einerseits die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und die entbehrungsreiche Nachkriegszeit beenden, das aber andererseits auf einer gesamtgesellschaftlichen modernen und effizienten Wirtschaft basieren sollte, die die großzügige Sozialpolitik wie im Selbstlauf finanzieren würde. Inoffiziell wurde «heute» Geld ausgegeben, das «morgen» erwirtschaftet werden würde. Das konnte nicht gut gehen. Honecker räumte ein knappes Jahr vor seiner Abdankung gegenüber FDJ-Funktionären ein: «Wir leben zum Teil über unsere Verhältnisse.»[4]
Die SED-Funktionäre verkündeten in den 1980er Jahren, lautstark von einigen westlichen Politikern und Ökonomen unterstützt, die DDR zähle zu den zehn stärksten Industrienationen der Welt. Wer auch immer das geglaubt haben mag, Menschen, die in der DDR in der Industrie, dem Handwerk oder der Landwirtschaft arbeiteten, wohl nicht. Sie sahen täglich, was los war bzw. was nicht los war. Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die DDR als Schwellenland einzustufen. Die Arbeitsproduktivität erreichte gegen Ende der achtziger Jahre nur noch rund ein Drittel von derjenigen der Bundesrepublik. Die internationale Verschuldung wuchs und führte die DDR an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Die Verschuldung betrug 1988/89 mehr als die Hälfte der Staatshaushaltsausgaben. Die Investitionsquote schrumpfte in den achtziger Jahren. Wichtige Säulen wie Kommunikationsnetze, Verkehrswesen oder Agrarwirtschaft wurden sträflich vernachlässigt. 18 Prozent des Straßennetzes galten als unbefahrbar, die Autobahnen waren in einem maroden Zustand. Das Eisenbahnnetz war veraltet, die Elektrifizierung kam kaum voran, und 17 Prozent des Streckennetzes konnten nur mit geringen Geschwindigkeiten befahren werden. Ein Fünftel des Gesamtnetzes galt als nicht befahrbar. Nur 16 Prozent aller privaten DDR-Haushalte verfügten 1988 über einen Telefonanschluss. Weit über eine Million Anträge auf einen Telefonanschluss galten Mitte 1989 als nicht realisierbar. Die Mikroelektronik erwies sich in der Rückschau geradezu als die größte Pleite. Die DDR hinkte dem internationalen Entwicklungsstandard acht bis zehn Jahre hinterher, ihre Produktionseffizienz betrug zehn Prozent von der westlicher Firmen.
Auch die Landwirtschaft war ein Sorgenkind der SED. Die Menschen wurden zwar satt, aber die Kosten dafür waren extrem. Die Subventionen für die Agrarproduktion stiegen, die Nahrungsmittelpreise aber blieben konstant. Die SED musste Lebensmittel importieren und dennoch gab es immer wieder «Engpässe» in der Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln. Mangel war ein Kennzeichen der Gesellschaft, eine alltägliche Erfahrung der Menschen.
Die SED-Sozialpolitik ist teuer erkauft worden. Für den Staat war sie teuer, weil viele Ressourcen, die dringend in Investitionen hätten umgeleitet werden müssen, für zukunftslose Subventionen und Sozialprogramme verschleudert wurden und so genau das Gegenteil des politisch-ideologischen Ziels – der Legitimierung des Systems – bewirkten. Die Menschen nahmen am Ende der achtziger Jahre die Sozialleistungen des SED-Staates als Selbstverständlichkeit hin, die Legitimationskraft war verbraucht. Die Kehrseite der Sozialpolitik stand vor aller Augen: Man wusste, dass billige Mieten zugleich eine heftig umstrittene Wohnungsbaupolitik als Schattenseite zur Folge hatten, weil für dringend gebotene Sanierungsarbeiten die Mittel fehlten. Die Menschen spöttelten: «Ruinen schaffen ohne Waffen». Günstige Fahrpreise konnten die zerrüttete Infrastruktur, billige Bücher oder Mediengleichschaltung die Zensur- und Verbotspraxis nicht kompensieren. Hunderttausende Menschen hatten zwar einen festen Arbeitsplatz, ohne aber einer sinnvollen Arbeit nachgehen zu können. Die Lebenserwartung nahm seit Beginn der achtziger Jahre entgegen einem internationalen Trend leicht ab.
Die Umwelt war ein besonderes Krisensymptom geworden. Die DDR zählte in den achtziger Jahren zu den größten Umweltsündern Europas. Das Abwassersystem war völlig marode, die Agrarflächen durch Dünger und Pestizide weitestgehend verseucht, Energie und Wasser standen nur in einem viel geringeren Maße zur Verfügung, als es im Weltdurchschnitt Industrie- und Schwellenländer besaßen.
Die SED-Führung stand diesen Entwicklungen hilflos gegenüber. Honecker brachte es 1988 auf den Punkt. Man habe bis 1990 die Lösung des Wohnungsproblems «als soziale Frage» versprochen, aber nicht, dass jede Familie ein Auto habe. Der Mann log nicht. Nur die Menschen orientierten ihre Bedürfnisse nicht an den SED-Versprechen, sondern an ihrem individuellen Verlangen und am bundesdeutschen Schaufenster. Auch dafür hatte die SED-Führung 1988 eine interne Parole ausgegeben: «Wer der gegnerischen Hetze und Demagogie erliegt, von dem trennen wir uns (als Parteimitglied – ISK). Er hat das Recht verwirkt, den Ehrennamen eines Kommunisten zu tragen. Das gleiche gilt auch für Meckerer und ewige Nörgler.»[5] Ein Jahr später war es genau andersherum: Die Menschen trennten sich von der Partei.
Aus der einstigen Hoffnung des Systems – der Jugend – war in den achtziger Jahren dessen größte Bedrohung geworden. Sie konnte mit dem Mythos vom schweren Beginn nichts mehr anfangen. Ihre Helden kamen nicht aus dem antifaschistischen Widerstand. Die Jugendkulturen orientierten sich an westlichen Vorbildern. Vielleicht haben Punks den Unterschied zum Westen am trefflichsten auf den Punkt gebracht. Aus dem westlichen «no future» machten sie «too much future».
Die Bundesrepublik wirkte als Schaufenster stets wie ein Pfahl im Fleische. Auch die Kirchen, insbesondere die evangelischen, erfüllten diese Funktion bereits durch ihr bloßes Vorhandensein. Sie waren die einzigen Großinstitutionen, die im Weltanschauungsstaat programmatisch gegen die kommunistische Ideologie standen. Die Kirchen mit ihren Synoden und Ökumenischen Versammlungen wurden zu Orten, wo demokratische Regeln und Verhaltensweisen eingeübt wurden. Es war kein Zufall, dass im Herbst 1989 so viele Pfarrer und Theologen zu den Wortführern der Bürgerrechtsbewegungen avancierten. Schließlich die Opposition: Sie war stets relativ klein und auf die urbanen Zentren beschränkt. Vor allem in Ost-Berlin begann nach 1985 ein politischer Ausdifferenzierungsprozess, in deren Ergebnis neu gebildete politische Oppositionsgruppen voneinander unterscheidbare Konturen annahmen.
Der Fall der Berliner Mauer begann am 2. Mai 1989 in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische Regierung an, die Grenzbefestigungen zwischen Österreich und Ungarn abzubauen. Der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock zerschnitten am 27. Juni symbolisch den ungarischen Stacheldrahtzaun an der Grenze in der Nähe von Sopron. Grenzkontrollen blieben bestehen, aber der symbolische Akt dokumentierte vor der Weltöffentlichkeit die Öffnung. In den Jahren und Monaten zuvor war die Zahl derjenigen, die aus der DDR flüchteten, einen Ausreiseantrag gestellt hatten oder «offiziell» ausreisen durften, ständig angewachsen. Noch bevor die Sommerferien Anfang Juli begannen, hatten bereits rund 100.000 Menschen dem Land für immer den Rücken gekehrt. Darunter waren vor allem junge, gut ausgebildete und sehr gut verdienende Männer und Frauen. Diese Zahl erinnert an die Krisenjahre 1953, als es zum Volksaufstand gegen den Kommunismus kam, und 1961, als die Kommunisten einem drohenden Volksaufstand mit dem Bau der Mauer zuvorkamen.
Im Mai 1989 feierte auch die Opposition ihren ersten großen Erfolg. Die SED veranstaltete am 7. Mai eine Wahlfarce wie in all den Jahrzehnten zuvor. Abends verkündete der oberste Wahlleiter, Politbüromitglied Egon Krenz, an den Wahlen hätten sich knapp 99 Prozent aller Berechtigten beteiligt, die mit rund 99 Prozent der Einheitsliste zugestimmt hätten. Erstmals konnten Oppositionsgruppen nachweisen, was ohnehin jeder wusste: Die Ergebnisse waren systematisch gefälscht worden. Realistisch scheint die Hochrechnung, dass von rund zwölf Millionen Wahlberechtigten etwa eine Million Menschen gar nicht wählte und eine weitere Million eine Gegenstimme abgab. Die Empörung über die plumpe Fälschung reichte bis weit in die SED-Reihen hinein und trug wesentlich dazu bei, dass auch innerhalb systemnaher Kreise die Zweifel an der SED-Politik wuchsen. Man kann das freilich auch umdrehen: Von den zwölf Millionen Wahlberechtigten haben etwa zehn Millionen immer noch die Wahlfarce unterstützt, also 83 bis 84 Prozent. Eine satte Mehrheit, die allein der SED-Führung nicht genug war.
Die verbreitete Empörung wuchs sich noch aus, als die DDR-Regierung, die SED-Führung und die Volkskammer als eine der wenigen weltweit die brutale militärische Niederschlagung der chinesischen Oppositionsbewegung Anfang Juni 1989 lautstark begrüßten. Die Menschen in der DDR verstanden die Botschaft: Auch ihnen könnte bei Massenprotesten und einem Aufstand die Niederschlagung mit Panzern und scharfer Munition drohen. Fortan war die Angst vor der «chinesischen Lösung» präsent.
Im Sommer verschärfte sich die lange angestaute Krise durch drei Faktoren. Die SED-Führung schien sich in den Urlaub verabschiedet zu haben. Bis Oktober waren keine neuen Töne vernehmbar. Zudem verabschiedeten sich Zehntausende Menschen für immer: Sie flüchteten über Ungarn und bundesdeutsche Botschaften in die Freiheit. Die kleine Opposition wiederum suchte nach neuen Handlungsformen. In rascher Folge kamen Gründungsaufrufe für die Sozialdemokratische Partei in der DDR, das Neue Forum, Demokratie Jetzt, den Demokratischen Aufbruch, die Vereinigte Linke und andere heraus. In der Öffentlichkeit sichtbar wurden diese ab Anfang September. Bislang hatten sich viele Menschen bloß gefragt, ob sie sich dem Flüchtlingsstrom anschließen sollten. Nun gab es eine neue Alternative, die nicht mehr nur Hierbleiben oder Weggehen, sondern nun auch Einmischen oder weiter Schweigen hieß. Und natürlich auch: weiterhin das Regime zu unterstützen. Die meisten verhielten sich, wie bei jeder Revolution, passiv, warteten ab, hofften im Stillen. Revolutionen sind immer Kämpfe von Minderheiten um die Mehrheit.
Die Opposition erschien mit ihren verschiedenen Aufrufen eigentümlich zersplittert. Aber im September erwies sich dies als ein kaum zu überschätzender Vorteil. Gerade weil die meisten Oppositionellen bis auf wenige Ausnahmen wie Bärbel Bohley oder Rainer Eppelmann in der Gesellschaft unbekannt waren, trug dieses Gründungsfieber erheblich zur Mobilisierung der Gesellschaft bei. Denn die rasch aufeinander folgenden Nachrichten von immer neuen Aufrufen erweckten in der Öffentlichkeit den Anschein, dass an vielen Orten ganz unterschiedliche Personen völlig unabhängig voneinander nicht mehr schweigend der Krise zuschauen wollten und andere Handlungsoptionen als die Flucht wählten. Das mobilisierte ungemein.
Die hohe Informationsdichte in den Westmedien trug entscheidend dazu bei, dass die Aufrufe bekannt wurden und sich bald jede befragen musste, wo sie eigentlich selbst stünde. Das hatte zur Folge, dass ab Mitte September die DDR von einer wochen-, ja monatelangen Flut von Aufrufen, Resolutionen, Offenen Briefen und bald auch immer wieder neuen Vereinsgründungen überzogen wurde. Mitte September begann «Zeit» in der DDR einen neuen Wert anzunehmen, was sich ab Mitte Oktober geradezu dramatisch verstärken sollte. «Zeit» war eine Sache, die es in der DDR zuhauf gab; die Zeit schien bis zum Sommer 1989 irgendwie stillgestanden zu haben. Nun auf einmal raste alles. Die Zeit überholte sich dauernd selbst, so schien es jedenfalls.
Die Gesellschaft war in Bewegung geraten, aber noch Mitte Oktober wagte sich nur eine kleine Minderheit auf die Straßen und in die Kirchen. Die Fernsehbilder aus Leipzig, Dresden und Ost-Berlin lügen nicht, aber sie suggerieren noch heute, alle seien «dabei» und «dafür» gewesen. So weit war es nicht, so weit kam es nie. Revolutionen sind niemals Angelegenheiten einer Mehrheit. Die Minderheit begehrt nicht nur gegen kleine Herrschaftscliquen, ihren Massenanhang und ihre Claqueure auf, sondern auch gegen die schweigende, passive Mehrheit. Wer sie für die eigene Angelegenheit mobilisieren kann, ist meistens siegreich.
Ab Anfang Oktober überschlugen sich die Entwicklungen. Kaum ein Tag verging, der nicht Unerhörtes, Ungewohntes, ja, Sensationelles zu vermelden hatte. Das halbe Land blickte seit 4. September montags nach Leipzig, am 25. September drängten sich 2000 bis 2500 Teilnehmer in die Nikolaikirche, die wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Pfarrer Christoph Wonneberger hielt eine Predigt über Gewaltlosigkeit. Erstmals zogen 4000 bis 8000 Menschen über einen Teil des Leipziger Rings. Sie riefen «Freiheit», sangen die «Internationale» und skandierten «Neues Forum».
Am 30. September eilten Bundesaußenminister Genscher und Kanzleramtsminister Seiters abends nach Prag, wo vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft der Bundesaußenminister seine berühmten Sätze zur bevorstehenden Ausreise sagte, die im Jubelgeschrei der Tausenden Flüchtlinge untergingen. Etwa 4700 Menschen verließen von Prag und rund 800 von Warschau aus die DDR.
Es ist viel darüber gerätselt worden, warum die SED-Spitze die Züge über DDR-Territorium fahren ließ. Zwei Gründe waren ausschlaggebend. Zum einen glaubte die SED, damit Stärke zu demonstrieren: DDR-Bürger werden aus der DDR-Staatsbürgerschaft in der DDR und nicht in einem Drittland entlassen. Wichtiger scheint der zweite, meist übersehene Aspekt: Weder SED noch MfS wussten genau, wer die insgesamt 5500 Menschen eigentlich waren. Deshalb versprachen sie, in der DDR förmliche Ausbürgerungsdokumente auszuteilen. Sie unterließen dies, sammelten aber alle Personaldokumente ein und konnten so die Ausgereisten genau identifizieren. Zugleich gestatteten sie nahen Familienangehörigen die unverzügliche Nachreise in die Bundesrepublik, um so Druck abzulassen und nicht eventuell Gruppenproteste dieser Personen zu provozieren.
Am Montag, den 2. Oktober, richteten sich die Augen der Öffentlichkeit wieder nach Leipzig. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn um 17.00 Uhr musste die Nikolaikirche wegen Überfüllung geschlossen werden. Erstmals öffnete eine zweite Kirche ihre Pforten. Tausende Menschen demonstrierten nach dem Gebet in der Innenstadt, die Angaben schwanken zwischen 8000 und 25.000. Am Abend des 3. Oktober hielten sich in der Prager Botschaft bereits wieder etwa 6000 und in der unmittelbaren Umgebung 2000 Menschen auf, außerdem waren 3000–4000 Menschen auf dem Weg nach Prag. Das SED-Politbüro entschied abermals, die Menschen in der Prager Botschaft über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Die Grenze zur ČSSR wurde zugleich für Individualreisende geschlossen. Die Stimmung war enorm aufgeheizt. Als sich die Nachricht verbreitete, am 4. Oktober kämen neue Sonderzüge mit Flüchtlingen aus Prag, fanden sich 20.000 Menschen am Dresdner Hauptbahnhof ein. Es kam zu stundenlangen Schlachten, Zerstörungen, zum Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas. SED-Bezirkschef Modrow forderte polizeilich ausgebildete Sondereinheiten der NVA, alles Freiwillige übrigens, an. Der Öffentlichkeit war nicht bekannt, dass am Anfang des Jahres fünfzehn Hundertschaften aus der NVA mit Freiwilligen ausgegliedert und auf Polizeieinsätze im Inneren des Landes zur Niederschlagung eventueller Aufstände vorbereitet worden waren.
Dresden kam nicht mehr zur Ruhe, auch in den nächsten Tagen fanden Demonstrationen mit jeweils Tausenden Teilnehmern und gewalttätigen Auseinandersetzungen statt. Die insgesamt 19 Sonderzüge aus Prag mit 8012 Menschen erreichten unterdessen am 5. Oktober nach nervenaufreibenden Verspätungen, bedingt durch Gleisbesetzungen und die Dresdner Unruhen, die Bundesrepublik. 643 kamen erneut aus Warschau hinzu. Die Bilder glücklicher Gesichter gingen um die Welt.
Wie sich die Lage am 7. Oktober, dem 40. Gründungstag der DDR, anfühlte, brachten chilenische Emigranten auf den Punkt: «Es werde die Auffassung vertreten, dass die Situation gefühlsmäßig so gespannt sei wie vor dem Putsch in Chile 1973.»[6] In der Millionenstadt Ost-Berlin kamen zu den täglichen Veranstaltungen in mehreren Kirchen insgesamt nur zwischen 3.000 und 5.000 Menschen. Die Bilder aus Dresden und Leipzig mit zehntausenden Protestierenden spiegelten die tatsächliche Aktionsbereitschaft im Land nicht. In den allermeisten Städten fand bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts statt. Am späten Nachmittag des 7. Oktober 1989 sammelten sich, beobachtet von zahlreichen westlichen Kamerateams und tausenden Sicherheitskräften, dutzende junge Männer und Frauen auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz, um wie an jedem 7. eines Monats – am 7. Mai hatten die Kommunalwahlen stattgefunden – gegen die Wahlfälschung zu protestieren. Gegen 17.20 Uhr zogen die Ersten in Richtung des nahe gelegenen «Palasts der Republik», wo sich die gesamte DDR-Führungsriege gerade zum Feiern aufhielt. Dem Demonstrationszug schlossen sich spontan Passanten an. Nach etwa einer Stunde drängten Einsatzkräfte die Menge in Richtung Prenzlauer Berg ab. Zur gleichen Zeit befanden sich dort in der Gethsemanekirche 2000 bis 3000 Menschen. Der Demonstrationszug mit insgesamt 6000 bis 7000 Menschen kam unterwegs mehrfach zum Stehen, immer wieder griffen Trupps in Uniform und Zivil Einzelne heraus. Währenddessen umstellten Polizisten, MfS-Kräfte und Kampfgruppen die Gethsemanekirche, bildeten mehrere Sperrketten und riegelten das Wohnquartier beinahe hermetisch ab. In den folgenden Stunden kam es zu zahlreichen Übergriffen auf Demonstranten wie Kirchenbesucher.
Im Gegensatz zu den Ereignissen in anderen Städten gingen die Fernsehbilder aus Ost-Berlin sofort um die Welt. Was hunderte Zugeführte nach ihrer Freilassung, meist innerhalb von 24 Stunden, berichteten, verschlug auch eifrigen SED-Anhängern die Sprache. Die physische und psychische Folter, die sie erlebten, ähnelte sich an den verschiedenen Zuführungspunkten so stark, dass kaum jemand an Zufälle glauben mochte. Auf die Frage, wohin sie gefahren werden, kam die Antwort der Polizisten: «Auf eine Müllkippe.»[7]
Ost-Berlin stand an diesem Tag im Mittelpunkt des Medieninteresses, oppositionelle Demonstrationen gab es aber auch in anderen Städten. Das eigentliche Erdbeben fand an diesem Tag in Plauen (76.000 Einwohner) statt. Hier beteiligten sich zwischen 10.000 und 20.000 Menschen an einer Gegendemonstration. Diese Stadt war im Oktober 1989 die erste, in der der Wille zur Revolution und zur deutschen Einheit schon am 7. Oktober massenhaft auf der Straße bekundet wurde. Hätte irgendein verantwortlicher Politiker in Ost oder West im Oktober auf Plauen geschaut und die Stadt als Abbild der DDR wahrgenommen, wäre er der Visionär gewesen, der gewusst hätte, wohin und wie schnell die Reise gehen würde. Plauen aber kam auf der politischen Landkarte nicht vor.