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Paul Pausch war einen großen Teil seines Lebens in Haft. Nicht weil er zur Gewalt oder zum Verbrechen an sich neigte, sondern weil er im Drang zu seiner persönlichen Freiheit stets mit den Gesetzen erst der DDR, dann der BRD kollidierte.
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Seitenzahl: 77
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1. Teil – Kindheit
Wo finden wir Kohle!
Die Mutter
Der Vater
Der Postraub
Auf nach Dessau
2. Teil - Dessau
Auf nach Dessau im Grotewohl-Express
Tagesablauf in Dessau.
Mit dem Verbot, Berlin zu verlassen
3. Teil – Nach der Wende
Die 90-er
Mitte der 90-er
Bitte komm nicht in meinen Laden
Die Sache mit dem offenen Fenster
Einmalige Ausrede
Paul kann nicht aus seiner Haut.
Paul, der Schläger?
Privatdozent Dr. med. habil Werner Platz
4. Teil
5. Teil - Die Krankheit
Und zum Abschluss
Kein Mensch ist ausschließlich gut; kein Mensch ist ausschließlich böse.
PD Dr. med. habil Werner E. Platz
Paul Pausch war von Geburt an ein Abenteurer und ein hartnäckiger wie bedingungsloser Kämpfer für seine persönliche Freiheit. Da war er ganz sein Vater. Mag dieser Drang auch oft im Widerspruch dazu gestanden haben, welche Freiheit er anderen dabei gelassen hatte. Er aber kämpfte stets um seine eigene. Und die Unruhe in ihm, gerade weil er immer tun musste, was ihm sein instinktiver Wille zu absoluter Unabhängigkeit befahl, ohne auf jede Art und Weise der vernünftigen Bewusstheit zu hören, ließ ihn voller Unrast durch sein Leben toben, auch ohne Rücksicht auf sich selbst; denn so rücksichtslos das Leben zu ihm war von Anfang an, so rücksichtslos war er zum Leben.
War er ungerecht? In seiner Motivation nicht, in seinen Handlungen für den ein oder anderen ja - aber sein Gefühl für Gerechtigkeit hat früh zu viel Gewalt gegen sich erfahren, um Handlungen zu finden, die andere Menschen in bestimmten Situationen für angemessener gehalten hätten. Paul lebte unangepasst und deshalb unangemessen. Aber er lebte frei, soweit das möglich war. Dieses Gefühl zum Gleichgewicht zwischen Verstand und Vernunft schlummerte jedoch stets in ihm, auch wenn es oft so wirkte, als besäße er sowas nicht. Das können nur
Menschen behaupten, die selbst keine Ahnung von diesem Gleichgewicht haben und die Paul nicht wirklich kennen. Bei ihm aber hat es von Anfang an unter ungerechtfertigter Gewalt und Gefühlskälte gegen ihn gelitten. Diese Ungerechtigkeit gegen ihn hat ihn geprägt: „Werde ich verletzt, verletze ich zurück und zwar so, wie ich es gelernt habe, damit ich nicht wieder verletzt werden kann.“
Diese Handlungsweise war normales Leben für ihn, da von Kindheit an gewohnt; und vielleicht war die auch gerechtfertigt, aber jeder empfindet das Leben anders. Doch wenn jeder den andern leben ließe, wie der leben wolle, und der wiederum mit gleichem Respekt zum Leben des gegenüber leben würde, also ohne jemanden unterdrücken zu wollen, weil ihm was am Leben des andern nicht passe – wenn jeder also leben würde im Respekt zur Freiheit des andern und der andere im Respekt zur Freiheit des gegenüber – gäbe es da noch Streit, Schlägereien und Kriege? Auch Paul wäre ein anderer Paul geworden – nach außen hin. Doch viele Menschen reden von Respekt und verwechseln das mit Angst. Paul nicht. Er respektiert alles. Doch wer ihm keinen Respekt entgegenbringt, dem muss er zeigen, was Respekt wirklich bedeutet.
Und wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.
Was sollte aus einem Kind anderes werden, dass in ein Spannungsfeld aus Egoismus und Eifersucht und Alkohol und Gewalt hineingeboren wurde, als ein reiner Kämpfer für sein Überleben und für das Überleben seiner persönlichen Freiheit? Ausgestattet mit dem harten Wesen von Paul, dass er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte? Andere, weichere, sensiblerer Wesen wären daran zerbrochen. Er nicht. Er steckte ein und teilte aus, weil er es anders nicht kannte. Und von seinem Vater hatte er gelernt, dass der Mensch in seiner tatsächlichen Freiheit nur überleben kann, wenn er sich mit allem, was er hat, gegen jeden Versuch, ihm seine Freiheit zu nehmen, wehrt.
Natürlich wird nicht jedes Kind zwangsläufig zu dem, worin es aufgewachsen ist. Der Schreiber dieser Biografie weiß das aus eigener Erfahrung. Er ist auch unter Alkohol und psychischer wie physischer Gewalt aufgewachsen, aber sein Wesen ist ein völlig anderes als das von Paul. Es hat sich versteckt, als es vergewaltigt und vernichtet werden sollte. Es hat sich im Verstecken geschützt, um später leben zu können, wie es sich fühlte – anders als das, was ihm zugestoßen war. Dennoch war es ebenso nicht zerstörbar und absolut freiheitsliebend und zu allem entschlossen, sich und seine Freiheit gegen alles zu schützen und zu verteidigen, wenn es notwendig wird, was es auch mindestens einmal wurde. Ähnlich dem kompromisslosen Wesen von Paul, aber eben anders in seiner Art und Weise zu leben.
Doch aus Paul ist eben dieser Paul geworden. Ein Ebenbild seines Vaters. Natürlich nicht gleich der Vater, aber die Richtung stimmte. Denn was der Vater mit seiner Urkraft schaffte – einen 1600 Pkw LADA der Deutschen Volkspolizei allein auf den Rücken zu legen, nachdem er die Lichter vom Dach mit einem Armschwung abrasiert hatte – das schaffte Paul nicht ganz, doch er konnte sechs Polizeibeamte im Jahr 2007 in einer Berliner Kneipe akkurat auf dem Boden ablegen, als sie ihn aus der Kneipe abholen wollten. Das zeigt, was er vererbt bekommen hatte – mit mir macht niemand, was ich nicht will; mich fasst keiner an, wenn ich das nicht will; ich beuge mich niemandem, wenn ich das nicht will; sollte jemand das versuchen, mich zu unterdrücken, egal wie, dann werde ich handeln, um frei zu bleiben. Also bringt genug Leute mit.
Paul lebte mit dem gleichen Gerechtigkeitssinn wie sein Vater – Scheiß niemand an, weder Freund noch Feind; sei immer gerade; bleib sauber, aber sei immer bereit, dich mit allem zu verteidigen, wenn du angeschissen wirst. Denn ist einer scheiße zu dir, dann ist er scheiße und gehört in seine eigene Scheiße getaucht.
„Ich bin nicht wie die anderen Zauberkünstler, die kommen und was wollen von mir und dabei vor mir andere anscheißen, um sich einzuschleimen, weil sie von mir was wollen.
Ich rufe auch nicht die Bullen, wenn ich ein Problem habe. Das löse ich auf meine Art. Und wenn das einer nicht allein kann, dann helfe ich ihm, wenn er vorher nicht scheiße zu mir war.“
Die Gerechtigkeit der Straße. Sorgst du für die Straße, sorgt die Straße für dich.
Dieser Gerechtigkeitssinn und sein unbändiger Drang nach Freiheit aber haben ihn oft in den Knast gebracht. Denn kein Staat duldet einfach so Menschen, die machen, was sie wollen. Oder wer kennt einen Staat ohne Gesetze? Das müsste einer sein, in dem nur die Verfassung gilt und auch diese Verfassung völlig ausreichend ist. Doch stets ist eine sogenannte Verfassung nur das Cover für dicke Bücher aller Arten und Formen von Gesetzen, ob nun Strafrecht oder Mietrecht oder wie auch immer das genannt wird. Und wer so lebte wie Paul, allein im Drang nach seiner persönlichen Freiheit, der eckte in jeder Gesellschaft an, ob erst im Osten oder später im Westen Deutschlands.
Habe ich Gesetze als Mittel der Unterdrückung meiner Freiheit erkannt, tue ich alles dagegen, um in mir selbst frei zu bleiben und keine Hure der Angst davor zu werden, nur weil ein Staat mir Angst machen will mit Knast, wenn ich mich nicht an die Gesetze halte.
Gesetze sind für Schafe da und deren Schäferhunde, aber nicht für Wölfe. Die leben nach ihren eigenen. Und Wölfe werden keine zahmen und hörigen Haustiere, nur weil man sie mal einsperrt.
So lernte Paul das System im Osten und das im Westen kennen und kapierte schnell, dass es im Westen das Gleiche war, nur etwas ziviler für die Öffentlichkeit hergerichtet, weil der Westen ja ein guter Osten sein wollte. Knast aber blieb Knast. Und der im Osten wartete schon früh auf Paul.
Die Mutter war das Gegenteil des Vaters. Sie hasste den Jungen, weil sie den Vater hasste. Das ließ sie Paul spüren mit harter grober Gewalt gegen ihn, auch mit Knüppel und Pfanne. Vor allem wenn er grinste oder lachte. Denn Lachen war bei seiner Mutter verboten. Wenn sein Vater nicht da war. War der Alte zugegen, hatte Paul seine Ruhe vor der Mutter. Der Vater selbst aber schlug die Frau nicht. Das erledigten andere Männer bei ihr. Bei ihm war sie lammfromm. Er hob sie nur hoch, sodass sie sich Auge in Auge sahen, und sagte ihr, dass sie den Jungen in Ruhe lassen solle, solange er da sei. Sei er eingefahren, könne er nichts tun, aber nun sei er da und sie solle den Paule in Ruhe lassen.
Der Vater schlug die Typen, die sich an seinem Eigentum vergriffen, wenn er im Knast war.
So ist es zu verstehen, warum Paul als Kind oft im Keller schlief und sich lange auf der Straße herumtrieb. Dort fand er immer einen Weg, sich etwas Geld zu verdienen, ob als Hilfe im Kohlenhandel, wo der Vater arbeitete, oder als Ausfahrer von Telegrammen für die Post, oder auf nicht ganz legalen Wegen wie bei kleinen Diebstählen oder Einbrüchen. Dumm war er keineswegs. Ein schlauer Kopf, der straßenklug werden wollte und so lebte, als habe er als Kind schon gewusst, dass er niemals einer festen Arbeit nachgehen würde. Wozu auch, sieh dir allein seinen Vater an. Der war frei. Und das wollte auch Paul sein.