Warum der Antisemitismus uns alle bedroht - Michael Blume - E-Book + Hörbuch

Warum der Antisemitismus uns alle bedroht E-Book und Hörbuch

Michael Blume

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Beschreibung

Nach jüdischer Überlieferung begründete Sem, Sohn Noahs, die Tradition der "semitischen" Schriftreligion, aus der u.a. das Judentum und Christentum sowie der Islam entstanden. Gegen diese weltverändernde Kraft der Schriftreligionen stemmten sich Gegenmythen, die den Zusammenhalt, die Bildungserfolge sowie den Kinderreichtum von Juden und anderen Semiten als bedrohliche Verschwörungen deuteten. Durch das Aufkommen von Medien wie Buchdruck, Radio, Film, Internet und Social Media entfaltet dieser Antisemitismus eine enorme Gegenbewegung, die imstande ist, die Grundlagen der Zivilisation zu erschüttern. Michael Blume legt in seinem neuen Buch dar, wie die Wechselwirkung aus Medien, Mythen und Demografie die menschliche Geschichte der letzten Jahrtausende prägte. Ferner, so Blume, wird der Kampf zwischen dem buchorientierten Semitismus und dem digital neu beflügelten Antisemitismus die kommenden Jahrzehnte bestimmen. Einige demokratische Rechtsstaaten sind bereits zu populistischen Autokratien zurückgefallen. Das mediale Ringen um die Zukunft der Menschheit und die Rolle der Religionen darin hat damit gerade erst begonnen. >> von Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg >> wie Gefühle die Geschichte bestimmen >> hochaktuell in Zeiten von "fake news"

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Sprecher:Michael Blume
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GewidmetMeinhard Mordechai Tenné Antoinette Brown Blackwell

Inhalt

Der gefährliche Weg zu den dunklen Seiten unseres HerzensAnnäherungen

Antisemitismus – Nur ein Thema der Vergangenheit?

Digitales Wiederaufblühen von Verschwörungsglauben

Arabischer Antisemitismus

Antisemitismus ohne Juden

Er ist wieder da

Sind wir zu spät?

1. Mythen und MissverständnisseKennzeichen des Antisemitismus

1.1 Antisemitismus als »Wahn« und »Weltbild«

Internet – wo Antisemitismus greifbar wird

1.2 Die große Versuchung: Relativierung

Durch Vergleiche relativieren

Antisemitismus und Rassismus – seit jeher verbunden

1.3 Verschwörungspyramiden

James Bonds glaubwürdigste Feinde

Mythen gelten, weil sie galten

Nichtreligiöser Antisemitismus

1.4 Antisemitismus und der kurze Weg zum Antiamerikanismus

1.5 Nicht Theorien, sondern Mythen

1.6 Semiten sind keine »Rasse«

1.7 Das Rätsel der jüdischen und israelischen Erfolge

Der Pharao als erster Antisemit

Die Wende im Buch Esther

Das Himmelfarb-Rätsel

Bildungserfolg

1.8 Die Wiederkehr des säkularen Rassismus

1.9 Antisemitismus und die Angst vor der Zukunft

2. Sems ErfolgsgeheimnisDas Alphabet

Warum sollten Medien so wichtig sein?

2.1 Die Alphabetschrift ist die Botschaft

Lineare Zukunft statt Kreislauf

Individuelle Ruhe statt sozialer Erregung

Gleichwertigkeit statt Sklaverei

2.2 Sem und Japheth – Die Macht der Alphabete

Die zyklische Zeit und die gefährliche Macht der Rede

Die lineare Zeit aus dem Geist der Schrift

2.3 Zwei Alphabete, zwei Religionen

Gott – nicht im Tempel, sondern in der Schrift

Vitalisierende Verschriftung

2.4 Der arabische Islam zwischen Semitismus und Antisemitismus

2.5 Buchdruck und Reform in der christlichen Welt

Martin Luther – Vom Reformator zum Antisemiten

2.6 Extensives Lesen und das Zeitalter der Ideologien

Noachidischer Friede

2.7 Lob der Mehrdeutigkeit:Einhörner, Superhelden und die Ringparabel

2.8 Die bessere Geschichte der Wissenschaft

3. Mythen, Medien, MächteEin Blick zurück nach vorn

3.1 Den Frauen eine Stimme

Menschenskinder, die Anthropodizee!

Götter und Menschen bei Gilgamesch und Noah

Margarete und Sulamith

Sems namenlose Frauen

3.2 Die Zukunft gestalten

Die Psycho-Logik des Antisemitismus

Die Macht von Medien und Rhetorik

Und was ist mit Israelkritik?

Trotz allem optimistisch

Glossar

Anmerkungen

ÜBER DEN AUTOR

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Der gefährliche Weg zu den dunklen Seiten unseres HerzensAnnäherungen

»Ich habe keine unumstößliche Theorie über die Anfänge des Antisemitismus. […] Alles, was ich mit fester Überzeugung sagen würde, ist, daß der Antisemitismus zum größeren Problem des Nationalismus gehört, das noch nicht ernsthaft untersucht worden ist, und daß der Jude offensichtlich als Sündenbock herhalten muß, obwohl wir noch nicht wissen, wofür.«

George Orwell (1945)1

»Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.«

Jean-Paul Sartre (1944)2

Vielleicht kommen Ihnen einige der folgenden Fragen bekannt vor: Warum geht es in Geschichtsschreibung und Politik eigentlich immer wieder so viel um Juden? Ist der Antisemitismus nicht auch nur eine Variante des Rassismus, wie es ihn auch gegenüber anderen Menschengruppen gibt? Warum heißt es eigentlich »Antisemitismus« und nicht einfach nur »Judenhass«? Wird jetzt auch jede Kritik an der Politik Israels zum Antisemitismus erklärt? Warum sollte das Phänomen des Antisemitismus auch noch im 21. Jahrhundert besonders relevant oder sogar gefährlich sein? Heißt es nicht schon seit Jahrzehnten in ständigem Alarmismus, der »Antisemitismus nehme besorgniserregend zu« und habe »die Mitte der Gesellschaft erreicht«? War er denn je woanders? Und warum wirken antisemitische Propagandastücke oft so faszinierend und eindrucksvoll, viele Reden und Gedenktermine gegen den Antisemitismus aber oft so unsäglich langweilig?

Als ich vor 20 Jahren gemeinsam mit Murat Aslanoĝlu das erste Mal durch die Sicherheitsschleuse der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs schritt, war ich noch ein junger, werdender Bankkaufmann und brachte viele dieser Fragen mit. Murat und ich waren die Vorsitzenden einer frisch gegründeten Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG), in der sich vor allem junge Menschen christlichen und islamischen Glaubens zum damals neuen Dialog in deutscher Sprache zusammengefunden hatten. Doch zu unserer Verblüffung gab es auch unter jungen Leuten einige muslimische und christliche Stimmen, die dafür plädierten, diesen christlich-islamischen Dialog »gegen die Juden« zu führen. Denn an allen Problemen zwischen den Religionen, an allen Kriegen seien doch am Ende »die« schuld.

Wir hatten persönlich noch keine bewussten Beziehungen zu Jüdinnen und Juden, fanden es aber intuitiv unfair, Menschen zu verurteilen, die dazu nicht einmal angehört worden waren. Und im Dialog zwischen Christen und Musliminnen hatten wir doch erfahren, dass nichts besser gegen Vorurteile half als direkte Begegnungen! Also riefen Murat und ich in jugendlichem Überschwang einfach bei der jüdischen Gemeinde an, stellten uns vor und fragten an, ob »jemand« dort Zeit für ein Gespräch mit uns finden würde.

Dieser Jemand empfing uns mit schlohweißem Haar und strahlenden Augen – der damalige Vorsitzende Meinhard Tenné freute sich enorm über das Interesse junger Christen und Muslime und nahm sich in der Bibliothek der Gemeinde für uns Zeit. Zwischen deutschen und hebräischen Schriften wurden wir Freunde und zogen bald gemeinsam als »die drei Ms« (Murat, Meinhard und Michael) brückenbauend durch Veranstaltungen und Gotteshäuser.

Der Holocaust-Überlebende Meinhard beschrieb und begründete in seiner Autobiografie »Aus meinem Leben« später unser jahrelanges gemeinsames Engagement. Meinhard hatte den Hass des Antisemitismus in vielfachen Formen erlebt und engste Angehörige verloren. Er war der Meinung, Angehörige von Judentum, Christentum und Islam müssten sich für »eine Entgiftung im Verhältnis der Religionen zueinander« engagieren.3 Gemeinsam mit immer mehr Freundinnen und Freunden aus den »abrahamitischen« Religionen und dem christlichen Stifterpaar Lisbeth und Karl-Hermann Blickle entstanden so in jahrelanger Arbeit auch bleibende Institutionen wie der Verein »Haus Abraham« und das Stuttgarter Lehrhaus.4

Die vielen guten Begegnungen und Gespräche jener Jahre mit jüdischen, islamischen, christlichen, anders- und nichtglaubenden Freundinnen und Freunden trugen dazu bei, dass ich mich schließlich von der Banklaufbahn verabschiedete und Religionswissenschaft studierte, darin aufblühte und promovierte. Meiner Frau Zehra – einer Deutschtürkin sunnitischer Konfession – bin ich bis heute unendlich dankbar, dass sie mich bei diesem Sprung ins auch beruflich Ungewisse ermutigt und unterstützt hat.5

Antisemitismus – Nur ein Thema der Vergangenheit?

Zunächst war ich unter Ministerpräsident Erwin Teufel für den Aufbau eines damals völlig neuen Regierungsdialoges mit Muslimen zuständig. 2005 übertrug mir Ministerpräsident Günther Oettinger die Moderation nach dem Fund eines Massengrabes jüdischer KZ-Opfer am inzwischen US-amerikanischen Militärflughafen in Stuttgart. Es war ein schwieriger und komplexer Verhandlungsprozess mit sehr unterschiedlichen Akteuren, aber am Ende war er erfolgreich. Zur würdevollen Wiederbestattung der 34 Mordopfer im Dezember 2005 kamen über 400 Menschen zusammen – christliche, jüdische, anders- und nichtreligiöse Bürgerinnen und Bürger, Politiker und Journalistinnen, Geistliche, US-Militärs und Polizistinnen sowie Angehörige der Ermordeten aus der ganzen Welt.

Nicht nur der ehemalige KZ-Häftling Benjamin Gelhorn hatte Tränen in den Augen, als er vom Rollstuhl aus das Totengebet für seine Kameraden sprach. Er hatte uns berichtet, dass die Gefangenen einander ein »ehrliches Begräbnis« versprochen hatten, falls irgendjemand das NS-Regime überleben würde. Und Gelhorn hatte sich Jahrzehnte später auch darum bemüht, sich aber nicht mehr an die genaue Lage des Gräberfeldes erinnern können und es nicht gewagt, die bewaffneten Soldaten anzusprechen. Nun konnten er und sein Mitüberlebender Eugen Stern das einstige Versprechen im hohen Alter doch noch erfüllen.

Die Grabrede hielt der einstige aschkenasische Oberrabbiner Israels, Meïr Lau, auch er ein KZ-Überlebender. Er rief dazu auf, die Schoah nie zu vergessen und allen neuen Formen des Antisemitismus zu widerstehen. So wünschte er, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad möge »diese Gräber sehen und verstehen!« Lau benannte die NS-Täter und die Taten, sprach aber auch von jenen wenigen Deutschen, die gegenüber den Verfolgten Barmherzigkeit geübt hatten. Und plötzlich wandte er sich uns Heutigen zu und rief: »Es gibt eine neue Generation und ein neues Denken, und wir sind zur alten Freundschaft zurückgekehrt.«6

Zu meinem Optimismus der folgenden Jahre trug sicher auch bei, dass mir nach dem erfolgreichen Abschluss der Vermittlung zur Zuständigkeit für den Dialog mit Muslimen auch jener für das Judentum und bald für weitere religiöse und ethnische Gruppen übertragen wurde. Ich durfte an den Verhandlungen für einen ersten Staatsvertrag des Landes Baden-Württemberg mit den jüdischen Gemeinden ebenso mitwirken wie dann auch an jenen mit dem Landesverband der Sinti und Roma. In Stuttgart konnte wieder eine jüdische Grundschule eröffnet, konnten handgeschriebene Torarollen angeschafft und durch jüdische und nichtjüdische Honoratioren vollendet werden.

Gemeinsam mit dem damaligen Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, durfte ich als Streitschlichter in der Repräsentanz der jüdischen Gemeinde zu Württemberg beim Wiederaufbau der Synagoge in Ulm wirken. Dass alle Jüdinnen und Juden immer unter einer Decke stecken würden, kann ich also aus eigener, intensivster Erfahrung mit Fug und Recht bestreiten – in Synagogen geht es ganz genauso zu wie in Kirchen und Moscheen! Und so wurde 2012 im Beisein von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Bundespräsident Joachim Gauck wieder eine Synagoge in der Geburtsstadt von Albert Einstein eröffnet! Ich war beseelt und voller Optimismus …

Digitales Wiederaufblühen von Verschwörungsglauben

Da ich als Religionswissenschaftler im Staatsministerium beruflich unabhängig war, konnte ich mich nach der Doktorarbeit zu Religion und Hirnforschung in meiner Freizeit auf die internationale Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen stürzen.7

Als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten arbeitete ich zudem viel zum Verschwörungsglauben, der durch das Internet neuen Auftrieb erhielt. In rasendem Tempo kapselten sich Menschen online in bizarren Mythenwelten ein, nach denen Regierungen »Chemtrail«-Gifte versprühen ließen, die Queen die Anführerin reptiloider Außerirdischer sei und sich im Kinofilm »Matrix« geheime Hinweise auf die finsteren Pläne der Illuminaten fänden. Damals fanden meine Studierenden und ich das noch eher faszinierend als bedrohlich.

Gern erinnere ich mich an ein Seminar an der Universität Jena. Auf ein kurzes Video über moderne Freimaurer-Verschwörungsmythen hatten die religiösen und nichtreligiösen Studierenden gemeinsam so interessiert reagiert, dass ich den restlichen Semesterplan kurzerhand umbaute und 2013 dann ein eBook zu »Freimaurern, Rosenkreuzern und Illuminaten« veröffentlichte. Ich fand: Wenn schon die Verschwörungsverkünder das Internet benutzten, so sollten wir Wissenschaftler ihnen eben auch genau dort die Stirn bieten. Aufklärung schien mir dringlich, aber machbar. Das Internet würde sich, so meinte ich, schon richten.

Den Antisemitismus nahm ich damals noch eher als eine Variante unter vielen wahr, beispielsweise im Aufblühen der bizarren »Germanischen Neuen Medizin« (GNM). Deren Begründer Ryke Geerd Hamer war ein deutscher Mediziner, der nach einer Reihe von Schicksalsschlägen immer tiefer in einen antisemitischen Verschwörungsglauben abgeglitten war und schon 1986 seine Zulassung als Arzt verloren hatte. Schließlich behauptete er, die »jüdische Schulmedizin« vergifte kranke Nichtjuden gezielt, während Jüdinnen und Juden selbst durch die Anwendung der GNM fast krankheitsfrei geworden seien. Das Internet ermöglichte ihm die massive Anwerbung neuer, auch zahlungsbereiter Anhängerinnen und Anhänger, beispielsweise seit 2008 durch das Propagieren einer falsch übersetzten israelischen Pressemitteilung.8

Wie Religionen generell häufig mit Heil- und Heiligungsverheißungen arbeiten, so boomt heute die Rechtsesoterik und »Reichsbürger«-Szene durch das Anbieten medizinischer Themen und das Propagieren von digitalem Antisemitismus. Dabei wird anfängliche Skepsis gegen Impfungen und Schulmediziner digital aufgegriffen und in Foren und Gruppen emotional und sozial verstärkt. Neben der politisch-weltanschaulichen Radikalisierung verdienen spezialisierte Anbieter dabei auch richtig Geld. Tobias Ginsburg beobachtete dazu treffend: »Erst ist da das Interesse für alternative Medizin, Homöopathie und glitzernde Steinchen, dann die Frage, wer einem diese wunderbaren Heilmethoden vorenthalten will.«9

Arabischer Antisemitismus

Und dann – fast auf den Tag zehn Jahre nach der würdigen Wiederbestattung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus in meiner Heimatstadt Filderstadt – stand ich im Norden des Irak wieder an kalten Massengräbern. Doch waren diese keine Jahrzehnte, sondern erst wenige Monate alt. Aus Sand und Erde ragten Knochen und Kleidungsstücke yezidischer Männer, Frauen und Kinder, die wieder unter dem Vorwurf ermordet worden waren, sie wären Verbündete des Teufels, der Amerikaner und der Juden.

Über uns flogen die Flugzeuge der Militärkoalition Angriffe gegen die widerwillig zurückweichenden Täter des »Islamischen Staates«. Kurdische Peschmerga sicherten das Areal, während die Schusswechsel von der nahen Front noch über die Ebenen hallten. Weil es meinen Team und mir im Rahmen eines humanitären Sonderkontingentes gelungen war, Hunderte von IS-Gewalt traumatisierte Frauen und Kinder nach Baden-Württemberg auszufliegen, hatten uns die dankbaren Verbündeten eingeladen, die gerade befreiten Gebiete als Zeugen zu besuchen. So sahen wir mit eigenen Augen, was von der Stadt Shingal und den umliegenden Dörfern geblieben war. Es war nicht viel.

Gemeinsam mit dem deutsch-yezidischen Menschenrechtler Mirza Dinnayi und einem Peschmerga-Bombenentschärfer kletterte ich in der völlig zerstörten Stadt durch einen IS-Tunnel, den yezidische Sklaven vor ihrer Ermordung hatten graben müssen. Die Terroristen waren leider nicht nur hirnlose Fanatiker, sondern von Saddam-Offizieren befehligte Einheiten, die Geiseln und Sklavinnen hielten, in Tunnelsystemen der US-Luftüberwachung auswichen und dabei sogar Licht und Lüfter installiert hatten.

Auf den Ruinen einer vom IS gesprengten Kirche aus der Römerzeit hatten die muslimischen und yezidischen Peschmerga ein schlichtes Holzkreuz aufgerichtet. Sie fragten mich hoffnungsvoll, ob ihre christlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger wohl eines Tages wiederkehren würden, und ich brachte keine Lüge über die Lippen. Vor uns lagen die Ruinen eines Zusammenlebens der Religionen, das Jahrtausende bestanden hatte.

Und es scheint zunächst kaum möglich, sich zwei weiter voneinander entfernte Weltanschauungen als den deutschen Nationalsozialismus und den arabischen Islamismus vorzustellen. Doch was diese beiden so unterschiedlichen Ideologien verband und bis heute verbindet, ist der Antisemitismus – der Glaube an eine jüdisch bestimmte Weltverschwörung, gegen die man sich mit Gewalt »verteidigen« müsse. Obwohl die Araber in der rassistischen Ideologie der Nazis selbst als »Semiten« galten (worauf sich viele von ihnen bis heute als vermeintliches Gegenargument zum Antisemitismus berufen), gelang dem NS-Regime der Schulterschluss mit dem Jerusalemer Großmufti Mohammed Amin Al-Husseini und die Anwerbung Abertausender muslimischer Mitkämpfer gegen die vermeintliche Weltverschwörung aus Juden, Briten und US-Amerikanern.

Angesichts der antisemitischen Mord- und Todeslust, die unser psychologischer Leiter Jan-Ilhan Kizilhan später in seinem Buch zur »Psychologie des IS«10 beschrieb, fühlte ich mich an Hannah Arendt erinnert. Sie hatte über die Gefahr des Antisemitismus geschrieben, wie er auch heutige Antisemiten sowohl rechts- und linksradikaler wie vor allem auch islamistischer Herkunft antreibt:

»Die Nazipropaganda verwandelte die Fabel einer jüdischen Weltverschwörung aus einer objektiv debattierbaren Lüge in das zentrale Element einer totalitären Wirklichkeit: Die Nazis handelten wirklich so, als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden.«11

Und so, wie die deutschen NS-Ideologen ihre Verschwörungsvorwürfe über die Juden hinaus auf weitere Gruppen wie die überwiegend christlichen Sinti und Roma ausgeweitet hatten, so beschuldigten die IS-Ideologen nun die Yeziden, muslimische Schiiten und andere Minderheiten der Mitverschwörerschaft und rechtfertigten damit ihre Massenmorde.

Ein bis heute oft unterschätzter Aspekt des globalen Antisemitismus lag dabei in der hochprofessionellen und emotionalen Anwendung neuer Medien. Die deutschen Nazis nutzten sehr gezielt und auf höchstem Propaganda-Niveau die damals neuen elektronischen Medien Radio und Film, um Anhänger an sich zu binden und sie aufzupeitschen. Ganz ebenso bediente – und bedient! – sich der »Islamische Staat« der digitalen Medien und schockierte die Welt mit brutalen propagandistischen Bildern, Videos und Online-Zeitschriften, gegen die die vernuschelten Tonbotschaften der einstigen Mutterorganisation Al-Qaida veraltet und hilflos wirkten.

Junge Frauen wie Nikki Marczak und Nadia Murad – eine der wenigen Überlebenden aus Kocho, die aus IS-Gefangenschaft fliehen und die wir mit dem Sonderkontingent nach Deutschland retten konnten – erfassten die tiefe Verwandtschaft dieser Menschenverachtung. Nachdem Nadia als UN-Sonderbotschafterin in Australien Nikkis Großmutter, eine Überlebende des Holocaust, gesprochen hatte, entschloss sich die junge Yezidin gegen erbitterte Proteste und Drohungen aus dem Iran und dem Irak zu einer Reise nach Israel und zu einem Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem. Ihre ebenso knappe wie tiefe Begründung dafür lautete, ihre bedrohte Glaubensgemeinschaft müsse »lernen, zu überleben«.12 Am 10. Dezember 2018 erhielt Nadia in Oslo gemeinsam mit dem Kongolesen Denis Mukwege den Friedensnobelpreis für ihr starkes und mutiges Engagement gegen sexualisierte Gewalt und die antisemitische Menschenverachtung des »Islamischen Staates«.

Im Irak, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Staaten der Region habe ich oft an Europa vor hundert Jahren denken müssen, denn der Antisemitismus war unter arabischen Sunniten und Schiiten, weniger unter Kurden mehrheitsfähig und beschränkte sich keineswegs auf extreme Ränder der Gesellschaft. Bei zahlreichen Gesprächen mit Stammes- und Religionsführern, mit Politikern, Akademikern wie auch mit Angehörigen verschiedenster Berufe waren mir immer wieder Aussagen vorgetragen worden wie: »Der türkische Präsident Erdogan ist doch ein heimlicher Jude. Den haben doch die Zionisten eingesetzt, um die Türkei zu zerstören!« – »Die Zionisten und Amerikaner vergiften unser Wasser, damit die Araber und Türken dumm bleiben und sich beherrschen lassen.« Oder noch häufiger: »Der IS besteht doch gar nicht aus Muslimen. Da steckt doch der israelische Geheimdienst Mossad dahinter. Der IS-Kalif Al-Baghdadi ist doch eigentlich ein jüdischer CIA-Agent namens Simon Elliot!« Zudem: »Auch der 11. September, der zur Zerstörung des Irak führte, war doch ein amerikanischer Inside-Job! Alle 4000 Juden hatten die Türme des World Trade Center vor dem Anschlag verlassen.«

Einige Verbündete kurdischer und fernöstlicher Herkunft ließen mich zudem wissen, dass sie doch »auch Arier« seien, wogegen die terroristische Gewalt von »den Semiten« – Arabern und Juden – ausgehe. Wie in Europa existiert der Antisemitismus im Nahen, Mittleren und Fernen Osten sowohl in religiösen wie auch in säkular-religionskritischen Varianten. Sehr viele Musliminnen und Muslime glauben an eine jüdische Weltverschwörung gegen den Islam. Aber mancher vermeintliche »Arier« hält auch den Propheten Muhammad selbst für einen Teil der semitischen Weltverschwörung.

Antisemitismus ohne Juden

Nun erlebte ich also in den arabisch geprägten Ländern hautnah das Phänomen des »Antisemitismus ohne Juden«. Nach der Staatsgründung Israels waren über 140.000 Jüdinnen und Juden aus dem Irak vertrieben und die ältesten jüdischen Gemeinden der Welt – die einst die Psalmen »an den Flüssen von Babel« (Psalm 137) und den babylonischen Talmud verschriftet hatten – ausgelöscht worden. Doch der Antisemitismus war danach nicht etwa befriedigt entschlafen, sondern weiter mutiert und eskaliert – wie nach der Vertreibung von Juden und Muslimen in Spanien ab dem 15. Jahrhundert! Wie damals Christen, Spanier und Portugiesen warfen sich nun Araber, Türken und Kurden, Sunniten und Schiiten, Säkulare und Religiöse mangels real existierender Juden gegenseitig vor, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein!

Besonders bedroht waren und sind dabei heute kleinere religiöse Minderheiten wie Yeziden, Drusen, Bahai, Kakai, Schabak und die sich in Erbil neu aus Ex-Muslimen formierenden Zoroastrier. Mit Vertreibungen und Gewalt bedrohen und zerstören die Antisemiten in und um die kurdisch besiedelten Regionen derzeit eines der letzten »Reservoire von Religionen«, in dem sich über Jahrtausende hinweg viele verschiedene ethnische und religiöse Gruppen bilden und halten konnten.13 Doch in der Logik des Antisemitismus kann es kein versöhntes Mit- oder Nebeneinander von Verschiedenen geben, müssen stattdessen immer neue Mitverschwörer identifiziert, beschuldigt und vernichtet werden.

Nun erst wurde mir völlig bewusst: Der Antisemitismus bedroht nicht nur jüdische und nichtjüdische Opfer, sondern sogar die Antisemiten und deren Nachfahren selbst. Jedes Volk, jede Kultur und jede Religion, in denen Verschwörungsmythen die Wahrnehmungen und Debatten prägen, verurteilt sich selbst zu Ignoranz, Gewalt und Armut. Der Bildungs- und Wirtschaftsaufstieg von Gesellschaften wie Südkorea, Taiwan, Japan oder China wäre durch Antisemiten an der Macht massiv behindert worden.

Zu Recht hat der syrisch-deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi dagegen bereits 1994 vor dem in der arabischen Welt verbreiteten Glauben an eine Weltverschwörung (arabisch: al-mu‘amarah) gewarnt, der als ein die Gesellschaft prägendes »Trauma« wirke: »Das Verschwörungsdenken spricht sich selbst von der Verantwortung frei, weil es Mißstände und Mißerfolge stets als Ergebnis einer gegen sich selbst gerichteten Aktion der anderen deutet, die für alles verantwortlich gemacht werden.«14

Der Kampf gegen den Antisemitismus dient also keineswegs nur dem Schutz von Jüdinnen und Juden, sondern dem Wohlergehen aller Menschen, Religionen und Weltanschauungen – und müsste gerade auch dort betrieben werden, wo gar keine Jüdinnen und Juden (mehr) leben!

Aber waren meine Eindrücke vielleicht durch Krieg und Terror sowie durch die auch emotional fordernde Evakuierung verfolgter Yezidinnen negativ verzerrt? War der antisemitische Verschwörungsglaube in der islamisch geprägten Welt vielleicht auch nur Ausdruck einer verzögerten Entwicklung und bereits auf dem Rückzug? Dieser letzte Versuch, meinen früheren Optimismus zu bewahren, zerschellte am Datenbefund.

2011, zum zehnten Jahrestag des Terroranschlags vom 11. September 2001 in New York, akzeptierte laut einer internationalen Befragung weltweit nur noch weniger als ein Drittel der erwachsenen Muslime, dass das Attentat von arabischen Terroristen verübt worden war. 2006 waren es noch deutlich mehr gewesen.

Eine nichtarabische Verschwörung behaupteten so absolute Mehrheiten von 57 Prozent in Pakistan über 64 Prozent in Jordanien bis zu 73 Prozent in der Türkei und 75 Prozent in Ägypten. Passend dazu äußerten 69 Prozent der Befragten aus Pakistan und der Türkei eine »negative« Haltung zum Judentum, ebenso wie 89 Prozent der Bewohner der Palästinensergebiete, 94 Prozent der Ägypter und 95 Prozent der Jordanier. Entsprechend sahen auch 53 Prozent der befragten Muslime weltweit die Probleme der islamischen Zivilisation durch die amerikanisch-westliche Politik verschuldet, nur 42 Prozent in fehlender Demokratie, nur 36 Prozent in fehlender Bildung und gar nur zwölf Prozent in islamischem Fundamentalismus.15

Während also Mehrheiten der Nichtmuslime von Muslimen eine Distanzierung von Terrorgruppen und kritische Reformen erwarteten, hatte sich in der islamischen und insbesondere der arabischen Welt ein antisemitischer Verschwörungsglaube ausgebreitet, nach dem alles Unheil von einer jüdisch-amerikanisch bestimmten Weltverschwörung ausgehe und Muslime selbst gar nicht Täter, sondern die »eigentlichen« Verschwörungsopfer seien! Und leider habe ich unter durchaus »Wohlmeinenden« im Westen nicht selten die Bereitschaft erlebt, diese Verschwörungserzählungen nachsichtig hinzunehmen oder gar zu übernehmen, anstatt Musliminnen und Muslime darin zu unterstützten, aus diesem antisemitischen Teufelskreis auszubrechen.

Islamistische Gruppen wie der arabische »Islamische Staat«, die afrikanische »Boko Haram« (wörtlich: »Westliche Bildung ist Sünde«), die afghanischen Taliban oder auch türkische Neo-Osmanisten bekämpfen dementsprechend Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, säkulare Bildung, Medizin und die Freiheit von Forschung und Lehre auch aufgrund ihres antisemitischen Verschwörungsglaubens. Damit aber verschärfen sie die Probleme, die dann wiederum als Ausfluss der angeblichen, jüdisch bestimmten Weltverschwörung gedeutet werden.

So nährt und radikalisiert sich der Antisemitismus immer weiter aus sich selbst und reißt die einstigen, islamisch geprägten Hochkulturen immer tiefer in den Abgrund. Und natürlich bringen auch Zuwanderer diesen Antisemitismus mit sich, wie es ein Prediger der türkisch-islamischen Zahid-Kotku-Moschee in Berlin am 23. Dezember 2016 traurig belegte. Statt Mitgefühl und Solidarität mit den Familien der Anschlagsopfer auszudrücken, die der IS-Terrorist Anis Amri kurz zuvor am nahen Breitscheidplatz ermordet hatte, predigte der Imam am Tag vor Heiligabend wiederum antisemitische Verschwörungsmythen. So sei der IS das Produkt »ausländischer« Mächte, wodurch Muslime »verleumdet« werden sollten; es bestehe eine »Gefahr von Weihnachten« und schon der Prophetengefährte Amr ibn-Abbas sei eigentlich »der große Jude, der Ungläubige« gewesen.16

Sehen wir den Tatsachen ins Auge: In vielen Moscheen auch mitten in Europa wird mehr Antisemitismus als Gottvertrauen gepredigt. Hinzu kommen antisemitische Botschaften arabischer, türkischer, iranischer, aber auch russischer, polnischer, ungarischer usw. Medien, die durch Satelliten und Internet heute weltweit empfangen werden. So werden religiöse und ethnische Identitäten durch Verschwörungsmythen negativ »politisiert«, indem vermeintliche jüdische und westliche Verschwörer als Urheber aller Probleme beschuldigt werden und die Fähigkeit zur Selbstkritik gelähmt wird. Nicht mehr säkulare Bildung und Integration erscheinen dann als geboten, sondern misstrauische Abschottung und antisemitische »Notwehr«. Mir wurde bewusst: Wer über Integrationsprobleme und die Verhinderung von Radikalisierungen spricht, kann zukünftig zum Zentralproblem des Antisemitismus nicht mehr schweigen.17

Und ich fand bestätigt, was der kanadische Holocaustforscher Charles Asher Small kurz zuvor so formuliert hatte:

»Sowohl historisch wie aktuell ist der Antisemitismus eine soziale Krankheit, die mit den Juden beginnt, aber nicht mit ihnen endet; die das jüdische Volk zum sprichwörtlichen Kanarienvogel im Bergwerk macht. Dieser tödliche Erregerstamm des Hasses wendet sich oft gegen andere Gruppen, etwa Frauen, Homosexuelle, moderate Muslime und andere Teile der Bevölkerung, die nicht als ideologisch rein angesehen werden, ebenso wie gegen demokratische Schlüsselelemente wie eine selbstbewusste Bürgerschaft, die Gleichheit vor dem Gesetz und religiöse Vielfalt. Antisemitismus ist folglich ein universelles Menschenrechtsthema, das allen wichtig sein sollte.«18

Er ist wieder da

Im Januar 2016 kehrte ich mit dem letzten Flugzeug des Sonderkontingents und über 150 yezidischen Frauen und Kindern aus dem Irak zurück, den Kopf voller Beobachtungen zur massiven Verbreitung und zu den Gefahren des Antisemitismus in der arabischen Welt. Doch nur zwei Monate später – im März 2016 – zog nach massiver Internetpropaganda erstmals auch die AfD in den baden-württembergischen Landtag ein. Dazu gehörte z. B. der aus Bayern stammende und nach eigenen Angaben früher linksextreme Dr. Wolfgang Gedeon, dessen dreibändiges Werk »Christlich-Europäische Leitkultur« von antisemitischen und rassistischen Mythen nur so strotzte.

Und schnell wurde klar: Gerade noch hatte ich über die gefährlich weite Verbreitung der Fälschung der »Protokolle der Weisen von Zion« in den islamisch geprägten und von Krieg und Krisen geschüttelten Ländern geschrieben und vorgetragen, da kehrte dieser Antisemitismus in das Parlament meines eigenen wohlhabenden und sicheren Bundeslandes zurück! Und damit auch ja kein Zweifel an der Reichweite der angeblichen jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung blieb, schrieb ihr Gedeon auch die Schuld an der »Islamisierung« Europas sowie der »Verjudung« der christlichen Kirchen zu. Auch bekräftigte der Mediziner den spät-rassistischen Antisemitismus, nach dem Juden nicht nur selbst zur »zionistischen« Weltverschwörung neigten, sondern angeblich auch ihre christlich getauften Nachfahren gezielt in Politik, Wirtschaft, Medien und Kirchen platzierten.19

Und Gedeon blieb kein Einzelfall. Der Fuldaer Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann war nach einer von antisemitischen Mythen durchtränkten Rede vom 3. Oktober 2003 von der CDU ausgeschlossen und in der folgenden Bundestagswahl vom neu nominierten CDU-Menschenrechtspolitiker Michael Brand geschlagen worden. Doch im September 2017 kehrte Hohmann über die Landesliste der AfD Hessen in den Bundestag zurück und erzielte mit 17,6 Prozent der Erstimmen auch den dritten Platz in seinem Wahlkreis. Dass Hohmann mit dem Werbebanner »Meine Nächsten sind nicht die jungen Männer aus Afrika« auch den Rassismus bediente, hatte zwar noch die Kirchenleitung, aber offensichtlich nicht mehr die 27.979 Wählerinnen und Wähler empört, die ihm ihre Erststimme gaben.20

Längst quoll der Antisemitismus weltweit aus den digitalen Medien ins echte Leben, und erste Alarmrufe erreichten die Politik. So wurde ich im März 2018 nach der Zustimmung aller Fraktionen des baden-württembergischen Landtags (außer der AfD) zum Landes-Beauftragten gegen Antisemitismus berufen. Der Bundeskollege Dr. Felix Klein folgte im Mai, und bis zum Jahresende hatte die erste Hälfte aller Bundesländer nachgezogen. Und praktisch unmittelbar mit dem Dienstantritt wurde jeder von uns mit Meldungen über zunehmenden Antisemitismus überflutet. Obwohl ich ein hervorragendes Team an meiner Seite habe, kämpfe ich bis heute damit, in Veranstaltungen überall im Land so etwas wie einen Damm gegen diese Fluten zu errichten.

Bestanden meine Aufgaben in den vergangenen Jahren vor allem im Aufbauen von Vertrauen, im Organisieren und Verhandeln, so trete ich jetzt rechtem, linkem und religiösem Antisemitismus direkt entgegen und löse damit natürlich auch Widerspruch und Empörung aus. In »friedensbewegten« Kreisen herrscht oft ein großer Widerwille, sich damit auseinanderzusetzen, dass deutsche 68er den rechten Antisemitismus nicht selten nur nach links gedreht haben. Rechtspopulisten und »Reichsbürger« stören aggressiv bei vielen Veranstaltungen.21 Und manche muslimischen Freundinnen und Freunde tun sich schwer damit, die verführerisch bequeme Rolle als Opfer von Verschwörungen aufzugeben und den Gefahren des Antisemitismus auch in den eigenen Gemeinden und Netzwerken entgegenzuwirken. Umso wichtiger sind gemeinsame Veranstaltungen wie »Sterne, Kreuze, Hakenkreuze« in Ulm, womit nach Anschlägen auf die Synagoge und eine Moschee sowie einer Hakenkreuzschmiererei im Ulmer Münster der gesamte »Rat der Religionen« sich gegen die Wiederkehr des Antisemitismus stellte.22

Inzwischen gibt es so viele Vorfälle, dass eine gefährliche Gewöhnung eingesetzt hat. So attackierte der Vizevorsitzende der baden-württembergischen AfD-Fraktion Emil Sänze im Sommer 2018 die gewählte Landtagspräsidentin Muhterem Aras, da sie eine Rundreise zu Holocaust-Gedenkstätten unternommen hatte. Dies stehe ihr, so Sänze, nicht zu, da ihre Vorfahren nicht »in unserem Land Steuern gezahlt« hätten und nicht »in den Kriegen dieses Landes fechten« mussten. Ihr gehe es doch nur darum, »den deutschen NS-Schuldkomplex wieder für ihre Migrantengesellschaft-Agenda zu instrumentalisieren«. Für Sänze hatten diese Anwürfe bisher keine politischen Folgen.23

Und als die »Schwäbische Zeitung« wenig später aufdeckte, dass der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Peter Stauch auf Facebook ein antisemitisches Video geteilt hatte, nach dem die jüdische Bankiersfamilie Rothschild eine Weltverschwörung und auch den Zweiten Weltkrieg betrieben habe, protestierten nur noch Uffa Jensen vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung und ich. Längst wird auch erklärter Antisemitismus in der deutschen Politik wieder rat- und hilflos hingenommen – es ist zu viel geworden, um sich dauernd zu empören.

Im Juni 2018 postete ich auf meinem Wissenschaftsblog »Natur des Glaubens« bei den »scilogs« einen Text über den antisemitischen Verschwörungsmythos des »Hooton-Plans«, nach dem eine jüdisch bestimmte Weltverschwörung angeblich aktiv die »Umvolkung« Europas durch arabische und afrikanische Zuwanderer betreibe.24

Doch selbst in meinen schlimmsten Szenarien hätte auch ich mir nicht ausmalen können, dass schon wenige Monate später der Vorwurf, der »Jude George Soros« betreibe als Superverschwörer hinter dem UN-Migrationspakt genau einen solchen Plan der Umvolkung, es sogar bis in den deutschen Bundestag, das Europaparlament und die Vereinten Nationen schaffen und zum Ausscheren mehrerer populistischer Regierungen führen würde.25 In Belgien kam es darüber sogar zu antisemitischen Ausschreitungen im Brüsseler Europaviertel sowie zum Zerbrechen einer Regierung! Auch in Spanien kehrte 40 Jahre nach der vorerst letzten, antisemitischen Diktatur mit »Vox« wieder eine rechtspopulistische Partei in die Parlamente zurück.26 In Frankreich, das von antisemitischen Mord- und Terroranschlägen aus islamischen Milieus bereits erschüttert worden war, beschimpften protestierende »Gelbwesten« den gewählten Präsidenten Macron als »Hure der Juden« und deuteten einen islamistischen Terroranschlag in Straßburg als Verschwörung staatlicher Geheimdienste. Aus Sorge vor gewalttätigen Ausschreitungen schlossen einige Pariser Synagogen zeitweilig ihre Pforten.27

Nach schweren antisemitischen Krawallen in Charlottesville (USA) hatte schon im November 2018, kurz vor dem 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, ein rechtsextremer Attentäter in Pittsburgh den Schabbatgottesdienst der »Tree of Life«-Synagoge gestürmt. Er ermordete elf Jüdinnen und Juden unter dem Vorwurf, Beteiligte an einer verschwörerischen »Invasion« von Flüchtlingen zu sein. Judah Sameth, ein Überlebender des KZ Bergen-Belsen, war vier Minuten zu spät zum Gottesdienst gekommen und wurde nahe der Synagoge Zeuge des Schusswechsels zwischen dem Attentäter und der Polizei. Der »USA today« fasste er seinen ersten Gedanken in der traurigen Aussage zusammen: »Es endet nie.«28

Wenig später sprach ich auf einer Tagung der Landesakademie in Bad Wildbad für Lehrerinnen und Lehrer mit Sara Atzmon. Die in Ungarn geborene Jüdin hatte als zwölfjähriges Kind das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt und später in Israel eine eigene Familie aufgebaut. Als Zeitzeugin und auch Künstlerin hatte sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Uri für die Erinnerung und auch den Dialog mit kommenden Generationen engagiert, ihre deutsche Sprache nie verloren.