Ahmad Milad Karimi
Warum es Gott nicht gibt und er doch ist
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
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ISBN E-Book 978-3-451-81268-2
ISBN Print 978-3-451-31310-3
Für
Markus Gabriel
in Verehrung und Freundschaft
Jeder, den ich kenne, fragt, ob ich verrückt bin,
und allmählich frage ich mich das selbst.
Pernell Harris (Ron Perlman) in »Hand of God«
Jeder Mensch ist über sich hinaus, das heißt: verrückt.
Martin Heidegger
Ihr sagt, er scheint verrückt zu sein –
Das kommt daher, weil die Musik,
zu der er tanzt,
für eure Ohren nicht geschaffen ist.
Rumi
Inhalt
Vorspann: Warum es Gott nicht gibt
I. Was heißt es, ein Muslim zu sein – heute?
1. Der Ort des Religiösen
2. Religion ist Atempause
3. Nach Gott fragen?
II. Wer sind die Truthähne Gottes?
1. Gott als Supergötze
2. Die verkehrte Religion
III. Warum wir nicht erlöst sind?
1. Erlösung und Aporie
2. Der Islam als Religion der Liebenden oder: »All alone is all we are«?
IV. Verklärte Aufklärung
1. Was mit der Aufklärung anfangen?
2. Der ästhetische Weg des Islams
V. Wohin mit dem unheimlichsten aller Gäste?
1. Der engagierte Atheismus und der Glaube an den Gott des Fleisches
2. Der indifferente Atheismus
3. Negation als der andere Anfang
VI. Warum der Koran?
1. Negativität und Gegenwart
2. Die Unruhe zu Gott
3. Offenbarung und Offenheit
VII. Wo ist Gott, wenn es ihn nicht gibt?
1. Von der Wiederkehr und Verblendung der Religion
2. Der wilde Glaube
3. Gott ist Sehnsucht oder: Was ist der Realtheismus?
VIII. Renaissance des Islams
1. Gott und die Krise
2. Reformislam als Phantasma?
3. Mehr Islam wagen
Abspann: Warum Gott da ist
Dank
Liste der zitierten Serien und Filme
Textnachweise
Über den Autor
Vorspann
Warum es Gott nicht gibt
Leiden beredt werden zu lassen,
ist die Bedingung aller Wahrheit.
Theodor W. Adorno
Gott scheint in Verruf geraten zu sein. Oder ist vielleicht eher die Weise, wie wir von ihm sprechen, wie wir ihn nennen und bekennen, unglaubwürdig geworden? Vielleicht zu Recht, aber vielleicht ertragen wir es auch nicht mehr, gestehen zu müssen: Gott ist da. Ist das nie endende Leid in der Welt, das andere Gesicht des Menschen, der Schritt für Schritt seine Stellung im Kosmos verliert, nicht Grund genug zu sagen: Es gibt keinen Gott? Und wenn es ihn doch gibt, dann leugnen wir ihn erst recht. Ist das Mantra der Wiederkehr der Religion nicht in Wahrheit eine Verblendung, weil wir in die Leere, die wir selbst erschaffen haben, nicht hineinblicken können? Ist das Unheil, das im Namen der Religion geschieht, nicht Anlass für den endgültigen Abschied, den Abschied von der Religion und vor allem den Abschied von Gott?
Die Politisierung der Religion wird immer dort negativ wirksam, wo sich daraus Herrschaftsformen bilden. Wer die Religion zweckentfremdet, der sammelt Religion, um, als Religionskapitalist, mit immer mehr Religion auch immer mehr herrschen zu können. Sie tun alles, was sie tun, mit der Religion, aber nicht aus der Religion. Dieser feine Unterschied ist höchst bedeutsam, weil er aufzeigt, worin sich religiöser Akt und religiös-motivierter Aktionismus unterscheiden. Wer mit der Religion etwas tut, der ist in gewisser Weise mit der Religion fertig, aber wer aus der Religion heraus sein Tun erhält, der kann sich religiös nennen. So streiten am Anfang der zweiten Staffel der US-amerikanischen SerieThe Wire der Gewerkschaftsführer Frank Sobotka und der Polizeimajor Stan Valchek darüber, wer der Kirchengemeinde ein neues Fenster spendieren darf, wobei es sich aber in Wahrheit um Geldwäsche handelt – durch und mit der Kirche. Im Kern geht es hier also nicht um die Religion, sondern um Macht und Einflussnahme. Was damit manifestiert wird, ist nicht die Religion, sondern allein die Ohnmacht der Religion, die sich gegen Missbrauch nicht wehren kann, weil ihre Subjekte, die »religiösen« Menschen, den Tausch zwischen der Religion und Macht vollzogen haben.
Oder sollen wir auf Rainer Maria Rilke hören, der anregt: »Es lohnt sich immerhin, Gott von Mohammed her gefühlt zu haben.« Aber ist uns das nicht zuwider? Wer ist dieser Gott? Wohin gehört der Islam? Ins Mittelalter? In die Aufklärung? Oder ist alles vielleicht anders. Können populäre TV-Serien wieBreaking Bad,Mad MenoderHomelanduns dabei helfen, uns selbst und die Weise, wie wir unser Leben entwerfen, besser zu verstehen? Diese Serien sind nicht nur höchst intellektuell und gesellschaftskritisch, sondern auch ein Produkt all der Phantasien, die unsere Konsumkultur auszeichnen. Vielleicht lässt sich im »privilegierten Ort der alltäglichen ideologischen Erfahrung«1, also im Fernsehen, eine Textur entdecken, die offenlegt, wofür unser Blick sonst verstellt ist.
Allem Terror, der in ihrem Namen verübt wird, zum Trotz: Die Religion gehört ganz elementar zum modernen Menschen – entgegen der Prophezeiung, dass wachsende Aufklärung zu schwindender Religiosität führen wird. Der Islam ist eine Religion der Liebenden. Der Glaube ist wild und nicht disziplinierbar. Der Koran ist schön als ein lebendiges Liebesereignis. Und Gott erhebt den Menschen zum Schönen. So erblickt der Prophet Muhammad Gott im Schönen, dem er verschrieben war. Was heißt es aber heute, ein Muslim zu sein? Ist mein Weg zu Gott nicht doch verstellt? Die Krise des islamischen Geistes ist womöglich kein Randphänomen, sondern die Krise der Muslime insgesamt. Was ist zu tun? Wohin mit dem Islam? Benötigen wir eine radikale Reform, brauchen wir endlich eine islamische Aufklärung? Oder ist alles ganz anders? Wir sollten mehr Islam wagen, weil wir den Islam dort entdecken, wo wir ihn nicht vermutet hätten. Religion ist Atempause. Und was ist mit Gott? Gott ist Sehnsucht oder: Gott bleibt eine Frage, vielleichtdie Frage des Menschen. Was tun wir, wenn wir glauben? Wir hadern mit Gott – unaufhörlich. Denn diese Hingabe zu Gott befreit uns als Menschen. Und wenn es Gott nicht gibt?
I.
Was heißt es, ein Muslim zu sein – heute?
Don Draper: Was Sie unter Liebe verstehen, wurde von Leuten wie mir erfunden, um Nylon-Strümpfe zu verkaufen.
Rachel Katz: Ist das wirklich wahr?
Don Draper: Aber natürlich. Man wird allein geboren und stirbt allein. Die Welt drückt einem viele Regeln auf, damit man es vergisst. Aber ich vergesse das nie. Ich lebe, als gäbe es kein Morgen. Denn es gibt keins.
Mad Men
1. Der Ort des Religiösen
Ich zittere, wenn ich sage:
Ich bin ein Muslim.
Muhammad Iqbal
Die letzten Worte, die Tony Soprano vor der letzten Stille hört, dringen aus einer Musikbox und stammen von Journey: »Don’t stop« – das Wort »Believin’« ist nicht mehr zu hören.
Dabei verstärkt die Musik nicht etwa die ohnehin inszenierte Atmosphäre, sie interpretiert vielmehr die Fragilität des Lebens, die Leichtigkeit eines Augenblicks, der gerade in seiner Vergänglichkeit so bedeutsam ist und zugleich so bedroht. Mit derselben Idee finden wir uns in der Musik der US-amerikanischen ErfolgsserieHomelandgefangen. Es ist Jazz, der hier erklingt, die Kunst des polnischen Jazzmusikers Tomasz Stańko (Terminal 7). Die Musik trägt die innere Landschaft der Charaktere und legt sie offen. Und wir können sie nicht fassen, sie nicht erklären. Sie ist verstörend, rau, zerrissen. Oder gibt sie einfach überlagerte Stimmungen wieder, die Uneindeutigkeit des Lebens, nebulös, die Verstrickung in Schuld? Die Musik scheint das einzufangen, was nicht gesagt, was nicht gespielt werden kann, aber konstitutiv zu dieser Wirklichkeit gehört. Die Wirklichkeit selbstist. Sie ist dieser »dunkle Rest«, von dem der deutsche Philosoph Schelling sprach. Die Hauptprotagonistin der Serie Carrie Mathison (Claire Danes) hört nicht nur Jazz, sie verkörpert den Jazz. Jazz als Inbegriff der Improvisation, als das Musikgenre, das schlicht Grenzüberschreitung zum Erklingen bringt. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der SeriePreacher Gott für den Jazz in die Welt kommt.
Die SerieHomeland zeigt aber auch einen anderen zentralen Charakter, der ebenfalls grenzüberschreitend inszeniert ist. Es ist Nacht. Alles Leben ruht. So scheint es. Ein Mann wird von Unruhe ergriffen. Er betritt leise die dunkle Garage. Hinter ihm herrscht Dunkelheit. Er kehrt den Boden, versucht eine Lampe zum Leuchten zu bringen, vergeblich. Kein künstliches Licht erhellt den Raum. So lässt er aus einer Nische des Garagentores Licht hineindringen in die Finsternis, die ihn umgreift. Wasser fließt über seine Hände, die einander berühren, als wollten sie eine Lotusblume versinnbildlichen. Er legt dann ein Stück Teppich auf den Boden, stellt sich voller Anmut aufrecht und eröffnet mit klarer Stimme das Gebet. Es ist die erste Sure des Korans, die erklingt. Und der Atem steht still.
Die Rede ist von Nicholas Brody. Er spielt eine tragende Rolle. Seine Person ist zugleich ein Motiv für die ganze Serie. Seine Anwesenheit ist unglaubwürdig. Es darf ihn nicht geben, denn was er verkörpert, ist die Unruhe. Er ist die Unruhe in Person. Als US-amerikanischer Soldat kehrt Nicholas Brody nach Jahren in der Gefangenschaft von al-Qaida aus dem Irak zurück. Doch nach einem eher uneindeutigen Hinweis, den eine CIA-Agentin, Carrie Mathison, bekommen hat, soll ein amerikanischer Soldat, der sich in Gefangenschaft befand, »umgedreht« worden sein. Ist dieser Soldat womöglich Nicholas Brody? Die Serie, eine kreative Adaption der SerieHatufim des israelischen Regisseurs Gideon Raff, dreht sich also um eine ganz dezidierte Frage: Ist alles so, wie es scheint, oder ist hinter jeder Erscheinung eine subtile Andersheit zu erwarten, die alles Scheinbare in sein Gegenteil umschlagen lässt? Dass Carrie nicht glaubt und akzeptiert, was der Schein von Brody suggeriert, ist das, was Jacques Lacan als »Nichtbegehren« beschrieben hat. »Nichtbegehren« bezeichnet ein ambivalentes Moment unseres Verhaltens. Denn Carrie widersteht ihm. Sie begehrt ihn nicht. Was Carrie anzieht, ist im Grunde nicht das Reale ihres Begehrens, sondern die Abart des Begehrens: das Widerliche.
Dass Brody seine religiöse Identität, seine Heimat im Islam nicht öffentlich demonstriert, sondern im Stillen, indem er in der Nacht, wenn alles ruht, das Gebet vollzieht, zeigt dem Zuschauer zwar, dass Brody tatsächlich Muslim geworden ist. Aber was bedeutet das genau? Kann es eine politisch unabhängige Religiosität geben? Bedeutet es, dass Brody zwar die Religion der Terroristen angenommen hat, aber nicht deren Ideologie? Die Frage ist deshalb so virulent, weil die rechtspopulistischen Parteien Europas, vom Front National, Fidesz und FPÖ bis hin zur AfD, eine solche Differenzierung kaum sehen. Und genau diese offene Frage wird inszeniert. Nicholas Brody verschweigt seine Religion. In dieser Verschwiegenheit sind aber Schuld und Entschuldigung versammelt. Was heißt es heute, ein Muslim zu sein? Was genau wird missbraucht, wenn eine Religion missbraucht wird? Und was macht das mit dem religiösen Menschen? Anders gewendet: Kann es ein Moment der Wahrheit auch im Wirken des Terrors geben? Die Frage zielt nicht auf eine wie auch immer geartete Rechtfertigung eines terroristischen Aktes. Was in Frage steht, ist die Möglichkeit einer Leerstelle im Selbstbewusstsein des Friedens. Und wo ist der Ort des Religiösen? Warum soll es noch einen Sinn ergeben, ein Muslim zu sein? Oder ist heute die Religiosität der Muslime derart verfärbt und befleckt, dass Muslime allein aus dem Bewusstsein des Realpolitischen heraus ihren Weg zu Gott erobern müssen? Insofern gehörtHomeland zu einer der intelligentesten Serien unserer Generation, die vor allem die Geschehnisse des 11. September 2001 vielschichtig und konsequent weiterdenkt, weiterverfolgt, nach innen wendet.
Indessen symbolisiert Carrie Mathison als CIA-Agentin mit bipolarem Charakter, der für sie Schmerz und Zerstörung, aber auch Kreativität und Selbstüberschreitung bedeutet, die amerikanisch-westliche Gesellschaft, wenn man es einmal so pauschal ausdrücken will. Ihre Innenwelt ist präsent. Sie ist ganz und gar vom Terror erfasst. Terror als Möglichkeit des Unmöglichen, als Möglichkeit, dass immer und überall Gefahr lauert. Dass wir nicht über den Terror verfügen, weil ihm nichts heilig ist. Und das Einzige, was ihm heilig wäre, wird als Quelle alles Terroristischen gedeutet.
Die ganze Serie wird von der einzigen Idee getragen, dieUnentschiedenheitheißt. Unentschieden bleiben wir bis zum letzten Atemzug von Nicholas Brody über die Frage, was oder besser: wer er eigentlich ist und wofür er in Wahrheit steht. Die Inszenierung ist derart gelungen, dass es den Anschein hat, als wüsste Brody selbst nicht, ob er das oder das Gegenteil von dem ist, was er tut oder nicht tut. Und das ist das eigentlich Unheimliche. Die Frage der Religion wird uns dabei subtil gestellt, nahezu geräuschlos.Homeland zeigt weiterhin: Die Welt lässt sich heute ohne einen Sinn, ohne eine Musikalität für die Religion kaum verstehen. Und der Islam spielt hier eine herausragende Rolle. Dabei sind sowohl die Vertreter des Islams wie seine Kritiker als ein klares Spiegelbild unserer Gesellschaft stets prototypisch inszeniert, eindimensional in ihrer Argumentation.
Gegen die Serie sind kritische Stimmen erhoben worden, die beklagten, dass Muslime stereotypisch dargestellt werden. Doch sogar diese Kritik, die berechtigt ist, hätte Teil der Serie selbst sein können. So ist es auch Graffiti-Künstlern in der fünften Staffel der Serie gelungen, Schriftzüge auf Arabisch an die Wände anzubringen, die sich ironisch über die Serie äußern. Dass man bei der SerieHomelandselbst lesen kann, zugegeben auf Arabisch, »Homeland (arab.:waṭan) ist keine Serie«, erinnert an jene internalisierte Selbstdistanzierung, die Hegel als die doppelte Negation beschrieben hat, aber dazu später mehr. Jedenfalls ist eines unbestritten: Die Aussage, dassHomelandnicht bloß eine Serie ist, ist Teil der Serie. Das Reale, was es zu beschreiben gilt, wird als Kritik ein Moment des Visuellen, indem es sich gegen das Visuelle wendet. So kann sich auch die Religion nicht außerhalb des Ganzen realisieren, wenn sie nicht verschwinden will.
Indessen wird die Religion in ihrer Binnenstruktur, in ihrer existenziellen Bedeutsamkeit, in ihrer überwältigenden Ästhetik allein bei dem Mann demonstriert, der am wenigsten vom Islam spricht: bei Nicholas Brody. Ansonsten werden in der Serie Muslime entweder als Opfer oder als Täter gezeigt. Wenn eine moderate Stimme wie die von Fara Sherazi (Nazanin Boniadi) erklingt, dann ist sie so blass, wie auch sonst moderate Stimmen eine solch farblose Note besitzen, sodass man sie nicht als eine dezidierte Position wahrnimmt. Die überzeichneten und in einem deutlichen Kontrast voneinander abgehobenen Gesichter erscheinen hingegen nie als ein Produkt der Religion; vielmehr werden sie als Ergebnis ihrer sozio-politischen Kultur dargestellt, worin der Islam additiv als Möglichkeit zum Widerstand funktioniert.
Carrie Mathisons Besessenheit von Nicholas Brody – obwohl zunächst alle Indizien dagegen sprechen, dass er ein Terrorist ist – läuft nicht ins Leere. Die strukturellen Orte der beiden Figuren, ihre getrennten, distinkten Wirkungsstätten können nicht neutral bleiben. Brody ist ein Muslim, und er hadert mit der Welt, mit Gott und mit sich selbst. Ist das nicht der zutiefst islamische Habitus, den Glaubensvollzug als Hadern und Zweifeln, als Herausforderung und Verantwortung zu sehen? Die Notwendigkeit, den Glauben ernst zu nehmen, bedeutet vor allem, seinen Glauben authentisch zu vollziehen. Das Hadern mit Gott wird im islamischen Selbstverständnis nicht außerhalb der Religion situiert. Wenn ʿOmar Chayyām oder Farīd ad-Dīn ʿAṭṭār Gott anklagen, dann nicht deshalb, weil sie Atheisten geworden sind, sondern weil sie an ihn glauben. Diese innere, der Religion immanente Kritik ist höchst bedeutsam, weil sie die Gläubigen als echte und mündige Subjekte ernst nimmt und zugleich Gott, um ihn anklagen zu dürfen, mit größtmöglicher Würde anerkennt.
Wenn Menschen als Muslime angesprochen sind, dann geht es um ihre religiöse Verantwortung, eine Verantwortung, die endlos ist, weil im Gefüge des Glaubens alles versammelt ist, was der Fall ist. Damit wäre der adäquate Ort, sich heute als Muslim zu erfahren, gerade die Suche danach, was es heißt, ein Muslim zu sein; in diesem Ringen mit buchstäblich allem. So scheint auch Carrie von Brodys Unschuld überzeugt zu sein, zumindest immer wieder. Brody redet nicht viel, aber wenn, dann mit der Bestimmtheit eines gebrochenen Mannes, der zugleich ein Held ist. Das ist einfach nur sexy. Und Carrie verliebt sich in Brody, nicht plötzlich, sondern in einer kreativen Form der Übersetzung, in der die Werte umgewertet werden. Begehren und Trieb bilden eine Spannung, die durch verschiedene Szenarien angezeigt und intensiviert wird. Carries Liebe ist ein Symbol für die Brechung eines visuell generierten Kontrasts. Denn gegensätzlicher können sie nicht sein. Carrie eine leidenschaftliche CIA-Agentin und Brody ein mutmaßlicher Terrorist. Die Liebe sprengt jedoch die kontrollierte Distanz der beiden. Ist das auf ihre Krankheit zurückzuführen, wie in der Serie von allen suggeriert wird? Doch es ist erstaunlich, zu beobachten, wie Carries brüchige psychische Spaltung im Begehren verortet wird. Und genau das wird im Jazz widergespiegelt, wenn wieder einmal Carrie im Auto Thelonious MonksStraight, No Chaserhört. In derselben Geste wird inHomelandgerade in der Person von Carrie Mathison die Würdigung des Religiösen, des Islams, angedeutet, bevor der Jazz alles Vergängliche umgreift, wenn sie einen Menschen, der sich im letzten Augenblick, als er schon im Sterben liegt, gegen einen Terrorakt entscheidet, in ihre Arme nimmt und nachdem er gestorben ist, ihm auf Arabisch aus dem Koran (2,156) rezitiert: »Wir sind Gottes und zu Ihm kehren wir zurück.«
2. Religion ist Atempause
Im Gedenken Gottes ruhen die Herzen.
Koran 13,22
Unsere Zeit ist geprägt vom Islam. Nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und theologischen Debatten ringen um den Islam, sondern auch die Popkultur. Allen voran sind es die modernen (vornehmlich US-amerikanischen) Qualitätsserien, die mit unterschiedlichen Akzentuierungen den Islam problematisieren. Dabei sindHomeland,South Park, Orange is the New Blackund24nur die markantesten Beispiele dafür. Diese Qualitätsserien sind aber zugleich selbst höchst religiös. Ihre Religiosität besteht weniger in ihrer inhaltlichen Prägung, wenn man vonBig Love,Game of Thrones,Hand of God,The PathundPreacherabsieht, als vielmehr in ihrer Darstellungsform. Das Religiöse zeigt sich in der Wiederkehr, der Serialität selbst, in der Ritualität, in einer figurativen Bindung, darin, dass die Protagonisten keine flüchtigen Filmdarsteller sind, sondern bleibende Personen, die sich sakralisieren, ja ihren Tod überdauern, wie es sich am deutlichsten in der SerieGame of Thrones zeigt, in der eine der Figuren, John Schnee (orig.: John Snow), in der Serie selbst vom Tode aufersteht. Auch andere Protagonisten werden unmittelbar nach ihrem Tod in der Serie durch ihre Fans bei Twitter wieder zum Leben erweckt. Es gleicht der Auferweckung der Religion selbst, die lange Zeit für tot erklärt wurde, ihrer Wiederkehr im Weltlichen, im Profanen.
Die Religion ist dabei ein ambivalentes und subversives Phänomen. Spätestens seit dem 11. September 2001 dürfte uns auf höchst drastische Weise klar geworden sein, dass wir ohne ein Verständnis der Religion die Welt und damit uns selbst nicht adäquat verstehen können. Das Religiöse aber drängt erst dann nach Verständnis, wenn es öffentlich schockiert. Mit dem Lärm der Kirchenglocken mag mancher sich nicht anfreunden können, aber von großem öffentlichem Interesse scheint das nicht zu sein. Warum interessiert man sich jedoch für die Regensburger Domspatzen oder die Lebensweise eines Bischofs in Limburg? Warum ist die religiöse Identität eines jüdischen Mannes erst dann interessant, wenn es um die Beschneidung geht? Warum muss man den Unterschied zwischen Burka und Niqab, Scharia und Fiqh oder Sunna und Schia kennen? Welche Sexualmoral die katholische Kirche hat und nach welchen Kriterien sie ihre Finanzen regelt, welche Bedeutung die Beschneidung im Selbstverständnis des Judentums hat und ob es doch nicht schlicht Geschlechtsverstümmelung ist, sind genuin religiöse Fragen, die die Öffentlichkeit bewegen. Doch diese Fragen entstehen nicht in einer kontextlosen Wirklichkeit. Das Frauenbild im Islam, der Stellenwert der Gewalt im Islam und ob der Prophet des Islams ein Kinderschänder und Warlord gewesen ist oder »eine Barmherzigkeit für die Welten«, wie sich der Koran ausdrückt, sind virulente Fragen unserer Zeit, weil wir gerade mit diesen schockierenden Erscheinungen des Religiösen oder vermeintlich Religiösen konfrontiert sind. Und gerade diese fundamentale Frage können wir nicht beantworten, weil wir nicht zu unterscheiden vermögen, was religiös und was inszenierte Religiosität ist.
In der brillanten SerieOrange is the New Blackbringt uns die Figur der Alex Vause (Laura Prepon) in diese Verlegenheit, weil wir sie mehr als einmal mit dem Koran in der Hand betrachten dürfen und dabei nicht wirklich entscheiden können, welche Botschaft die Figur uns vermittelt, die einfach den Koran liest. Als sie in der Folge mit dem TitelKampflesbe von ihrer Freundin und der Hauptdarstellerin der Serie Piper Chapman (Taylor Schilling) etwas irritiert angeblickt wird, während sie eine Koranausgabe in der Hand hält, sagt sie: »Weißt du, der Koran ist viel interessanter, als ich immer dachte. Eigentlich darf ich ihn ja gar nicht anfassen, aber ich habe mir die Hände gewaschen. Also wird es für Allah irgendwie schon okay sein.« So dürfte uns am meisten dies schmerzen, dass wir einsehen, dass das Wissen der Religionen nicht nebenbei zu erringen ist. Greifen wir in unserem Übereifer nach dem Koran, um zu lesen, was dort wirklich steht, unterscheiden wir uns nicht von denen, die glauben zu wissen, was der Koran aussagt, wenn man allein an seinem bloßen Wort hängt.
Die Religion kann Träger der Kultur sein, den Menschen zum Besten erheben, aber sie kann auch Träger der Gewalt und des Übels sein. Für beide Erscheinungen gibt es genügend Beispiele. Nicht die Religion ist es, die dieses tut und jenes unterlässt, sondern wir selbst sind es, die gefragt sind, unsere Religiosität im besten Sinne mit dem Leben zu verflechten. Von dem muslimischen Dichter ʿAbd al-Qādir Bedīl (gest. 1721) wird berichtet, dass ihn sein Onkel einmal in der Schule vorfindet, wie er sich mit zwei anderen Jugendlichen über ein wohl religiöses Thema streitet. Sein Onkel mit dem schönen Namen Mīrzā Qalandar wird ihn nach diesem Vorfall, der an sich kein ungewöhnlicher ist, von der Schule nehmen, weil er der Meinung ist, dass das Erlernen eines Wissens, welches einem Menschen die Halsschlagader trainiert, die im erregten Streit und durch die Wut stark pulsiert, kein geeignetes Wissen sei. Fortan wird Bedīl zu Hause unterrichtet.
Die Annahme, dass der Islam besonders gut dafür geeignet sei, Gewalt und Extremismus einen Nährboden zu bieten, weil er entweder nicht reformfähig oder nicht aufgeklärt sei oder überhaupt eine blutige Weltanschauung vertrete, da allen voran der Prophet des Islams wesentlich ein Kriegsherr gewesen sei, ist diese Annahme deshalb absurd, weil sie erstens die faktisch vorhandene Kulturgeschichte des Islams leugnet und zweitens die vielfältigen Haltungen innerhalb dieser Religion mit einer über 1400-jährigen Geistesgeschichte ideologisch auf eine bestimmte Lesart reduziert? Diese Reduktion selbst ist eine Gewalttat an der Religion.
Die Ambivalenz des Religiösen hingegen wird besonders deutlich in der italienischen MafiaserieGomorrhainszeniert, die auf dem gleichnamigen Roman von Roberto Saviano basiert. InGomorrhaspielt das Religiöse keine unbedeutende Rolle; sie ist omnipräsent. Einer der wichtigen Mafia-Anführer, Don Salvatore Conte (Marco Palvetti), ist ganz und gar der Religion verschrieben, er hält sogar den von ihm geleiteten Drogenhandel von der Straße fern, auf der sich eine Kirche befindet. Er ist umgeben vom Christentum, durchdrungen von der christlichen Lehre. Don Conte betet und betet, führt persönlich Prozessionen durch etc. Doch seine Nähe zur Religion hat auch eine andere Seite. Der Don lässt aus Südamerika Madonnenstatuen importieren, mit denen er seine Kirche und seine Wohnung schmückt, aber in den Statuen werden auch Kokainpäckchen importiert. Dasselbe Motiv, Kokainpäckchen in Madonnenstatuen zu platzieren, wird ebenso in der US-amerikanischen SerieLost gezeigt, in der der Priester selbst eine mafiöse Gestalt ist. Plastischer kann man kaum zeigen, wie das Religiöse als Träger des Übels fungiert. Man könnte nun den Gläubigen in Neapel den Vorschlag unterbreiten, sich von der Madonnenverehrung zu distanzieren, weil mit ihr auch der Kokainhandel zusammenhängt. Aber der Vorschlag ist absurd, weil er von der Annahme ausgeht, dass zur Madonnenstatue konstitutiv der Kokainhandel gehöre. Hier wird aber eindeutig die Religion zweckentfremdet, pervertiert. Die Religion ist in diesem Fall nicht Teil des Problems, sie kann aber sehr wohl Teil der Lösung des Problems sein, welches Mafia heißt.
Religionen sind mithin ambivalent, weil sie leicht daherkommen, ihrer Leichtigkeit, ihrer einfachen Präsenz aber eine subtile Komplexität innewohnt, die kaum mit infantilen Erzählungen und Gesten einholbar ist. Und damit wird eine der zentralen Fragen im Islam aufgegriffen: Was ist eine Religion? Mit dieser Frage ringt die koranische Offenbarung deshalb, weil Religion nicht als ein Phänomen begriffen wird, das – um es mit den Worten von Peter Sloterdijk zu sagen – »die Leute von nebenan stiften können«. Darin dürfte auch die subtile Polemik gegenüber dem Islam begründet sein, den Islam ausschließlich auf die Person des Propheten Muhammad zurückzuführen, indem man von »Mohammedanern« oder dergleichen sprach, um darauf hinzuweisen, dass der bloße Umstand, dass Muhammad der Stifter einer neuen Religion ist, zugleich die Widerlegung dieser Religion sei. Hingegen sei die »wahre Religion« (vera religio), um die Sprache von Augustinus zu verwenden, eben nicht auf einen »falschen Propheten« (Johannes von Damaskus) mit seiner »türkischen Bibel« (David Friedrich Megerlin) zurückzuführen. Doch die ernsthafte Religionskritik sah und sieht in der Religion generell eine Befangenheit des Menschen. Michail Bakunin schreibt in aller Klarheit: »Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.«2Die Religionskritik, die sich also selbst als ein Unterfangen zur Befreiung des Menschen versteht, erweist sich aber gerade darin, dass sie sich aus dem negativen Moment der Freiheit als Befreiung von religiösen Strukturen begreift, als höchst ideologisch. Ideologisch ist sie nämlich deshalb, weil sie ihre Opposition als Position deutet. Oder sind religiöse Menschen bloß Menschen mit einer Leidenschaft für Märchen, wie es Rust Cohle (Matthew McConaughey) als Protagonist der US-amerikanischen SerieTrue Detectiveannimmt. Cohle bringt es präzise zur Sprache, wenn er sagt: »Ein Affe hat die Sonne angeschaut und zum anderen Affen gesagt: ›He, sie will, dass du mir deinen Anteil schenkst. So sind die Menschen.‹« Ist Gott dann nichts mehr als ein Phantasma oder als eine feige Antwort auf unsere Angst, schlicht unbedeutend zu sein, »Religion als Sprachvirus, das neue Verbindungen im Gehirn schafft und dadurch das Denkvermögen einschränkt«? Cohle, der Religion als eine defizitäre Größe im Leben des Menschen begreift, ja als »Lebensfalle«, analysiert weiter: »Sie [die religiösen Menschen] übertragen ihre Angst und ihren Selbsthass auf eine Autoritätsfigur. Das ist Katharsis. Er nimmt ihre Furcht mit seiner Geschichte auf. Deshalb ist er so effektiv im Verhältnis zur Gewissheit, die er den Leuten bieten kann.« Ist dieser Standpunk eines pessimistischen Nihilismus überzeugend? Oder steht mit der religiösen Äußerung des Menschen mehr im Spiel?
Was steht auf dem Spiel, wenn es um die Religion geht? In der US-amerikanischen SerieMaster of Noneist die dritte Folge der zweiten Staffel dem Thema Religion gewidmet. Dabei konzentriert sich die Darstellung explizit auf den Islam. Die Autoren der Serie, Aziz Ansari und Alan Yang, die selbst auch die Hauptrollen in der Serie spielen, sind bemüht, den Islam in einer unverkrampften Art zu thematisieren. Die Frage, die hinter der Inszenierung dieser Folge steht, ist die Frage nach der Bedeutung der Religion im Leben eines modernen Menschen in einer pluralen, und das heißt auch in einer kapitalistisch-konsumorientierten Gesellschaft. Der Protagonist der Serie Dev Shah (Aziz Ansari, der gewissermaßen sich selbst spielt) steht im Mittelpunkt einer Geschichte, bei der es letztlich um nichts geht. Um nichts geht es auch in einigen Kultserien wie z.B.Curb Your Enthusiasmvon demSeinfeld-Erfinder Larry David, der ebenfalls sich selbst spielt, oder in der SerieLovevon Judd Apatow, Lesley Arfin und Paul Rust. Doch Aziz Ansari inszeniert dieses Nichts existenziell. Die ständige Sinnsuche, die zugleich einer immerfort vergeblichen Glückssuche ähnelt, glückt nur selten, und diese Seltenheit ist derart flüchtig, dass wir sie nur im Rückblick erfahren. Der Protagonist hat keinen Antagonisten, gegen den er agiert, er selbst ist das, wogegen er kämpft und woran scheitert. Sinn stellt sich nicht ein, am wenigsten dann, wenn er alles dafür gibt, wenn er auf der Suche nach den besten Tacos der Stadt ungemein viel Zeit im Internet investiert, möglichst vielen Tipps nachgeht, möglichst viele Kommentare liest, aber am Ende, nachdem er den besten Ort für die Tacos gefunden hat, diese Tacos ausverkauft sind.
Dev Shah ist keine tiefgründige und komplexe Person wie Tony Soprano(Die Sopranos)oder Walter White(Breaking Bad), er ist aber auch keine verschlossene und verschwiegene Figur wie Don Drapper(Mad Men)und keine überforderte und in sich zerrissene Person wie Alison Lockhart(The Affair); vielmehr ist es die Leichtigkeit dieser Figur, die uns hautnah an uns selbst heranführt, an unser Leben und an die alltägliche Sinnsuche hinter dem großen Stress, der unser Dasein in Anspruch genommen hat.
Die Religion ist kaum Thema der Serie. Umso überraschender die Folge, die im Titel bereits das WortReligionenthält. Gezeigt wird zunächst das Unverständnis der Kinder aller Weltreligionen ihrer eigenen Religion gegenüber. Die Botschaft ist ziemlich rasch klar: Kein Kind geht gerne in die Kirche, keines besucht gerne die Synagoge oder die Moschee. Und die Eltern sind stets überfordert, weil sie auf der einen Seite die religiöse Vermittlung leisten wollen, auf der anderen Seite aber die Verfasstheit der modernen Gesellschaft diese Vermittlung nahezu unmöglich macht. Doch Aziz Ansari geht einen Schritt weiter. Wir sehen den kleinen Dev am Esstisch im Haus seiner Schulfreundin. Die Mutter der Freundin setzt Dev einen Teller mit knusprigem Bacon vor. Dev kann sich kaum halten und beißt voller Genuss in den Speck. Und obwohl er darüber aufgeklärt wird, dass es sich dabei um Schweinefleisch handelt und er sich als Muslim dem Schweinefleischkonsum enthalten sollte, nimmt er – untermalt von einer Wohlfühlmelodie – erst recht das nächste Stück Bacon, führt es in den Mund, während er seine Augen schließt, um den Geschmack in seiner ganzen Fülle zu erleben. Und wir sehen an seinem Gesicht, wie ihn das Schweinefleisch von Innen erfüllt. Und auch im Erwachsenenalter revoltiert er noch gegen die überkommenen religiösen Gebote, indem er vor seiner religiösen Mutter Schweinefleisch isst und die Moschee mit einer Folge vonScary Movie