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Als im Februar 2022 der Krieg in der Ukraine losbrach, waren die Menschen in der ganzen Welt geschockt. Sie hatten es nicht mehr für möglich gehalten, dass so etwas in Europa noch einmal Wirklichkeit werden würde. Viele gingen und gehen noch immer auf die Straße, um für Frieden zu demonstrieren, fühlen sich aber häufig machtlos den Zielen politischer Herrscher ausgeliefert. Der christliche Mönch P. Anselm Grün und der Islamwissenschaftler und Philosoph Ahmed Milad Karimi wissen aus ihrer Erfahrung, dass der Krieg häufig seine Ursachen nicht auf der Weltbühne, sondern im Kleinen, im Persönlichen hat, weil so viele Menschen mit sich selbst, mit anderen, mit Gott im Unfrieden sind. Und dass aber auch genau hierin der Schlüssel liegt, etwas zu ändern, die Welt friedlicher zu machen, indem man selbst den Frieden lebt und weitergibt.
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Seitenzahl: 162
Anselm Grün Ahmad Milad Karimi
Frieden stiften, Frieden sein
Vier-Türme-Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023
ISBN 978-3-7365-0491-2
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023
ISBN 978-3-7365-xxxx-x
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr
Lektorat: Marlene Fritsch
Coverfoto: Julia Martin / Abtei Münsterschwarzach
www.vier-tuerme-verlag.de
Vorwort
Alle Menschen sehnen sich nach Frieden. Aber dem Wunsch danach steht die friedlose Realität unserer Welt entgegen. Und auch in uns selbst ist häufig kein Frieden zu finden. Was soll also ein Buch über den Frieden für einen Beitrag leisten? Wir beide – P. Anselm Grün und Ahmad Milad Karimi – haben erfahren, dass das Gespräch darüber schon zur Erfahrung des Friedens wird. Wir haben uns dabei von den Versen aus dem Gedicht »Friedensfeier« von Friedrich Hölderlin leiten lassen:
Viel hat erfahren der Mensch,Der Himmlischen viele genannt,Seit ein Gespräch wir sindUnd hören können voneinander.
Wir haben nicht nur ein Gespräch geführt, wir sind ein Gespräch geworden. Wir haben dabei erfahren, was den jeweils anderen bewegt und somit Anteil an seinen Erfahrungen erhalten. Wir haben die Sehnsucht nach Frieden beim jeweils anderen gespürt, die jedoch auch so viele andere Menschen bewegt.
Zudem haben wir den Geschmack des Friedens erfahren, der jedem von uns etwas anders schmeckt. Und doch tut es uns gut, uns davon inspirieren zu lassen. Wir haben im Gespräch erkannt, wie wir heute angemessen über das Thema Frieden sprechen können.
Hölderlin selbst hat uns dazu einige Anregungen gegeben: Wir können nur über den Frieden sprechen, wenn wir über unsere eigenen Erfahrungen sprechen. Jeder von uns hat Frieden erfahren, aber auch Unfrieden, nicht nur in der Welt, sondern auch im eigenen Herzen. Indem wir über den Unfrieden und unsere Sehnsucht nach Frieden sprechen, wächst der Friede in uns und zwischen uns.
Wir haben erkannt, dass der Friede eine spirituelle Dimension hat. Das meint wohl Hölderlin, wenn er vom Nennen der Himmlischen spricht. Frieden braucht eine spirituelle Haltung, die wir sowohl im Christentum wie im Islam erkennen: die Haltung der Barmherzigkeit, den Willen, im anderen die göttliche Würde zu erkennen. Zudem braucht es die Liebe. Ohne Liebe gibt es keinen Frieden. Aber es braucht auch das Aufschauen zu Gott, der ein Gott des Friedens ist. Er befähigt uns zum Frieden. Wir selbst sind aus uns nicht dazu fähig. Wir können zwar Friedensverhandlungen führen, doch wenn wir nicht im Frieden sind mit uns selbst, werden diese Verhandlungen nicht erfolgreich sein. Gott schafft in uns Frieden, wenn wir uns auf ihn einlassen – oder, wie es der Islam so schön formuliert, wenn wir uns Gott hingeben. Dann erfahren wir Frieden. Der gemeinsame Blick über diese Welt und über die Konflikte dieser Welt hinaus auf Gott hin verbindet uns friedlich miteinander.
Wir werden zu einem Gespräch, das jeden von uns verwandelt, wenn wir nicht nur aufeinander, sondern voneinander hören, wie Hölderlin es formuliert. Das heißt: Ich nehme mir etwas vom anderen. Ich nehme mir nicht nur Worte, Argumente, ich nehme mir vor allem etwas von dem Geschmack des Friedens, der von jedem von uns ausgeht. So habe ich teil an der Herkunft des anderen, an dem, was ihn prägt, an seiner Erfahrung, seinen Wurzeln, seinem Glauben. Im Hören gelangen wir an den Ausgangspunkt, an den Wurzelgrund, aus dem er lebt. So bekommen wir im Gespräch Anteil aneinander. Und es entsteht etwas Neues: Frieden in uns und zwischen uns sowie Gemeinschaft. Doch diese Gemeinschaft lässt jedem seine Herkunft, seine Sichtweise. Wir lernen voneinander. Wenn wir voneinander hören, gehören wir auch einander. Es entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Größeren, von dem wir sprechen, zu den »Himmlischen«, wie Hölderlin sie nennt. Wir schenken dem anderen Gehör und hören so von ihm und zugleich von uns selbst. Wir lernen uns selbst besser kennen, wenn wir im Gespräch voneinander hören. Wir nehmen voneinander und beschenken uns auf diese Weise gegenseitig.
In unserem nun folgenden Austausch sind wir auf mehrere Dimensionen des Friedens eingegangen, die uns die biblisch-koranischen Traditionen ans Herz legen. So ist er für uns zu einer Erfahrung des Friedens geworden. Wir hoffen, dass wir auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in dieses Gespräch hineinziehen können, dass Sie nicht nur Argumente für den Frieden lesen oder hören, sondern in Ihnen Frieden entsteht und von unseren und Ihren verwandelten Herzen ausströmt in diese Welt hinein. Dann dürfen wir gemeinsam hoffen, dass überall dort, wo Menschen über den Frieden ins Gespräch kommen, er sich in unserer Welt ausbreitet.
P. Anselm Grün,Ahmad Milad Karimi
Frieden mit sich selbst
Gegensätze umarmen (Anselm Grün)
Bei Führungsseminaren erlebe ich immer wieder Menschen, denen es ein Anliegen ist, Frieden in ihre Betriebe zu bringen. Aber sie sind mit sich selbst nicht im Frieden, sondern innerlich zerrissen. Mit sich in Frieden zu kommen, das bedeutet, dass ich mit allem, was in mir auftaucht an Gedanken und Gefühlen, an Stärken und Schwächen, Frieden schließe.
Das griechische Wort für Frieden, eirene, hat mit der Harmonie in der Musik zu tun. In Frieden mit mir selbst bin ich, wenn ich die verschiedenen Töne in mir zusammenklingen lasse: die hohen und die tiefen, die leisen und die lauten, die schrillen und die sanften. Frieden heißt dann: mit mir selbst in Einklang sein. Doch das geschieht nicht von selbst, es ist ein Weg, ein Prozess hin zu diesem Einklang. Ein Orchester muss auch erst seinen gemeinsamen und einzigartigen Klang finden. Es geht darum, jedem Ton in mir zuzugestehen, dass er seine Berechtigung hat, und dann eine Möglichkeit zu finden, dass sie sich nicht gegenseitig übertönen, sondern einander klingen lassen, sodass sie einen guten Zusammenklang ergeben.
Einige Worte Jesu über den Frieden und die Versöhnung mit dem Gegner können wir als Wege zum Frieden mit sich selbst auslegen. In der Bergpredigt heißt es: »Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast« (Mt 5,25f). Der Gegner, mit dem wir auf dem Weg ins Gericht sind, ist, um mit dem berühmten Schweizer Psychiater C. G. Jung zu sprechen, unsere Schattenseite, die wir nicht annehmen wollen. Doch wenn wir das, was unserem idealen Selbstbild widerspricht, verdrängen, verfolgt es uns als unser eigener Schatten. Daher lädt Jesus hier dazu ein, sich mit dem inneren Gegner, mit der Schattenseite auszusöhnen. Wenn wir uns mit dem Gegner in unserer Seele nicht einigen, dann wird er sich zu einem Tyrannen entwickeln, der uns beherrschen möchte. Er wird uns vor den Richter zerren, vor das eigene Über-Ich. Dieses Über-Ich ist ein unbarmherziger Richter, der uns verurteilt. Er wird uns ins Gefängnis unserer eigenen Selbstablehnung werfen, uns in unserer eigenen Angst und Enge festhalten. Dort müssen wir all das abzahlen, womit wir uns nicht versöhnen konnten. Das, was wir nicht annehmen wollen, wird uns verfolgen. Es wird sich immer wieder zu Wort melden und uns foltern. Das gilt so für unterdrückte Angst, für verdrängte Sexualität, für heruntergeschluckte Wut. All das müssen wir abzahlen, oft durch psychische Krankheiten, in Form neurotischer Symptome. C. G. Jung sagte einmal, die Neurose sei der Ersatz für das notwendige Leiden, das mit unserer Selbstwerdung verbunden ist. Wenn wir uns aussöhnen mit unseren Schwächen und Schattenseiten, dann ist das schmerzlich. Aber wenn wir diesem Schmerz aus dem Weg gehen wollen und den »Gegner« missachten, anstatt uns mit ihm auszusöhnen, geraten wir in das Gefängnis unserer neurotischen Muster. Zur Selbstwerdung ist es nötig, dass wir uns mit dem inneren Gegner schon unterwegs, also in unserem Leben im Hier und Jetzt, einigen und damit nicht bis zum letzten Gericht im Tod warten. Die Versöhnung bewahrt uns vor dem inneren Gefängnis, in das wir oft genug geraten, weil wir so vieles in uns nicht annehmen und wahrhaben wollen, weil wir nicht bereit sind, mit den unangenehmen Seiten in uns Frieden zu schließen. Nur wenn wir uns mit dem inneren Gegner versöhnen, wird er für uns zum Freund und Helfer auf dem Weg zur Heilung.
Jesus fordert uns nicht nur auf, mit den Schattenseiten in uns Frieden zu schließen, sondern auch mit dem Feind in uns. Dazu erzählt er ein kurzes Gleichnis: »Wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend Mann gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden« (Lk 14,31f).
Die Feinde, mit denen wir auf unserem Weg Frieden schließen sollen, das können eigene Fehler und Schwächen sein oder Lebensmuster, die uns oft beeinträchtigen, oder aber Leidenschaften wie Eifersucht, Ärger, Angst, Depression oder Süchte. Viele versuchen, ihre Eifersucht oder Angst mit Gewalt zu bekämpfen. Doch je mehr ich etwas in mir bekämpfe, desto stärker wird die Gegenkraft, die das Bekämpfte in mir entfaltet. Und so bin ich die ganze Zeit darauf fixiert, gegen meine Fehler und Schwächen zu kämpfen.
In diese Situation hinein erzählt uns Jesus das Gleichnis von dem König, der mit zehntausend Soldaten gegen den in den Krieg zieht, der ihm mit zwanzigtausend Soldaten entgegenkommt. Der König hat keine Chance, den Kampf zu gewinnen. Er wird seine ganze Kraft dabei verbrauchen. So tun es manche, die ihre ganze Kraft vergeuden, indem sie gegen sich selbst und gegen vermeintliche Fehler und Schwächen ankämpfen. Die Kraft, die sie dabei aufwenden, fehlt ihnen bei der Bewältigung ihres Lebens. Jesus rät uns, mit den Feinden Frieden zu schließen, aus den Feinden Freunde zu machen. Im Bild gesprochen habe ich dann statt zehntausend Soldaten dreißigtausend. Und das Land, in dem ich mich bewegen kann, wird größer. Ich bekomme also mehr Fähigkeiten und Kräfte und eine größere innere Weite.
Ich möchte das an einem Beispiel erklären. Eine Frau ärgerte sich immer wieder, dass sie manchmal Essattacken bekam. Sie genierte sich und bestrafte sich mit Fasten. Dann ging es einige Tage gut, bevor es wieder von vorne begann. Sie verbrauchte viel Energie dabei, auf Essen und Fasten fixiert zu sein und dies nach außen hin zu verbergen. Aus der Esssucht nun eine Freundin zu machen, wie Jesus rät, könnte so aussehen: Ich bekämpfe und bestrafe mich nicht, sondern frage die Sucht, was sie mir sagen möchte. Wonach sehne ich mich, wenn ich so viel esse? Ist es die Liebe, nach der ich mich sehne? Oder möchte ich den Ärger und die Enttäuschung durch Essen zustopfen? Oder habe ich das Gefühl, ich würde so hart arbeiten, da müsse ich mir ab und zu etwas gönnen? All diese Sehnsüchte bewerte ich nicht. Sie haben einen Sinn. Die Frage ist, wie ich anders mit ihnen umgehen kann, wie ich sie mir auf eine Weise erfüllen kann, die für mich besser ist, die kein schlechtes Gewissen und kein Schamgefühl in mir zurücklässt. Wenn ich das Essproblem als Freundin sehe, die mich immer wieder an meine eigentliche Sehnsucht erinnert, dann brauche ich irgendwann die Sucht nicht mehr. Dann hat sie mich nicht mehr im Griff.
Ein anderes Beispiel: Eine Frau ärgert sich darüber, dass sie so eifersüchtig ist auf die Sekretärin, die im Büro ihres Mannes arbeitet. Sie malt sich immer wieder aus, wie freundlich ihr Mann mit der anderen Frau umgeht, und fragt sich, ob er nicht vielleicht eine sexuelle Beziehung zu ihr hat. Der Mann versichert ihr immer wieder glaubwürdig, dass sie nichts zu befürchten hat. Sie sei seine Angestellte, aber nichts weiter. Die Frau glaubt ihrem Mann. Trotzdem kommt sie von ihrer Eifersucht nicht los. Sobald ihr Mann zur Arbeit ist, geht das Gedankenkarussell in ihrem Kopf wieder los. Sie weiß, dass sie ihren Mann nervt, wenn sie immer wieder von ihrer Eifersucht anfängt. Sie schadet sich selbst und ihrer Beziehung. Und trotzdem kommt sie nicht davon los. Die Eifersucht zu unterdrücken, funktioniert offensichtlich auch nicht. Dann taucht sie doch immer wieder auf.
Auch hier wäre es angemessen, mit der Eifersucht zu sprechen: Welche Sehnsucht steckt darin? Warum möchte ich, dass mein Mann mich allein liebt und sich mir allein zuwendet? Warum möchte ich meinen Mann ganz für mich allein haben? Indem ich mir diese Sehnsucht eingestehe, kann ich sie relativieren. Denn ich spüre, dass das unrealistisch ist. Ich kann den anderen nicht einsperren. Zudem wird er bei der Arbeit, aber auch bei sonstigen Gelegenheiten immer anderen Frauen begegnen. Ich kann nur darauf vertrauen, dass er mich auf einzigartige Weise liebt. Ich könnte die Eifersucht auch danach befragen, auf welche alten Wunden und welche Angst sie mich hinweist. Vielleicht bin ich einmal enttäuscht worden von einem Mann? Vielleicht habe ich als Kind nicht genügend Vertrauen und Zuwendung erfahren? Dann kann ich mich aussöhnen mit meiner Wunde. Ich werde mir keine Vorwürfe machen, wenn die Eifersucht in mir aufsteigt. Ich werde sie vielmehr als Einladung sehen, dankbar für meine Liebe zum anderen zu sein und zugleich meine alten Wunden Gott hinzuhalten, damit sie von seiner Liebe durchdrungen werden und so langsam heilen.
Sowohl das griechische Wort für Frieden als auch das hebräische Wort schalom bezeichnen einen Zustand des Friedens. Sie beschreiben ein Wohlbefinden des Menschen, ein Freisein von Krieg, das bedeutet eben auch ein Freisein von innerem Krieg. Viele Menschen bekämpfen sich ständig selbst. Weil sie ihrem Idealbild nicht entsprechen, führen sie gegen die Seiten in und an sich Krieg, die ihnen nicht angenehm sind. Doch dann wird das Leben zu einem ständigen Kampf. Um in Frieden mit sich selbst zu kommen, braucht es einmal die Demut, all das, was in mir ist, anzuschauen und als Teil von mir anzunehmen. Das wird mir aber nur gelingen, wenn ich es zugleich Gott hinhalte und mir vorstelle, dass er mich mit all dem, was in mir ist, annimmt, dass ich bedingungslos von ihm geliebt bin. Zudem braucht es einen freundlichen Umgang mit mir selbst. Wenn ich gewaltsam und aggressiv Facetten meiner selbst unterdrücken will, werden sie immer stärker.
C. G. Jung deutet auch die Feindesliebe als Liebe für den Feind in mir. Natürlich ist das nur eine mögliche Deutung. Jesus meint sicher auch, dass wir den Feind außerhalb von uns selbst lieben sollten. Doch Jung ist der Überzeugung, dass die Liebe zum Feind erst möglich wird, wenn wir auch den Feind in uns lieben. So schreibt er einmal: »Wenn ich nun aber entdecken sollte, dass der Geringste von allen, der ärmste aller Bettler, der frechste aller Beleidiger, ja der Feind selber in mir ist, dass ich selber des Almosens meiner Güte bedarf, dass ich mir selber der zu liebende Feind bin, was dann? Dann dreht sich in der Regel die ganze christliche Wahrheit um, dann gibt es keine Liebe und Geduld mehr, [...] dann verurteilen wir und wüten gegen uns selbst.«1
Der Weg zum Frieden mit uns selbst ist für uns Christen nicht in erster Linie eine moralische oder psychologische Forderung, sondern es ist der Weg, den Christus selbst gegangen ist. Er war ein Mensch, der ganz und gar im Frieden war mit sich selbst. Zwei Bilder lassen diesen Frieden besonders deutlich werden: das des Kindes in der Krippe, über dem die Engel den Frieden auf Erden besingen. Wenn wir das Kind in uns, das ursprüngliche Bild Gottes in uns annehmen, dann sind wir im Frieden mit uns. Das zweite ist das des Kreuzes als Bild für die Einheit aller Gegensätze. Der Epheserbrief beschreibt das so: »Er (Christus Jesus) ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder« (Eph 2,14). Das Kreuz verbindet Juden und Heiden, es verbindet in uns das Fromme und das Unfromme, das Spirituelle und das rein Weltliche, das Bewusste und das Unbewusste, das Männliche und das Weibliche. Das Kreuz verbindet in uns Himmel und Erde, Licht und Dunkel. C. G. Jung hat daher das Kreuz immer als Zeichen gelingender Selbstwerdung bezeichnet, als Weg, uns mit den Gegensätzen in uns zu versöhnen. Jesus selbst sagt im Johannesevangelium: »Vom Kreuz herab werde ich alle an mich ziehen« (Joh 12,32). Das Kreuz ist also ein Bild der Umarmung. Jesus umarmt uns am Kreuz mit all unseren Gegensätzen. Indem wir auf das Kreuz als Bild des Friedens schauen, können wir mit uns selbst in Frieden kommen.
1 Jung, C. G.: Gesammelte Werke, Band 11. Zürich 1963, S. 367.
Durst nach Frieden (Ahmad Milad Karimi)
Frieden bleibt eine menschliche Sehnsucht. Menschlicher Frieden hat dabei viele Formen. Die Friedensforschung sowie die Friedensethik befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragehorizonten mit dessen normativen Bedingungen. Die Friedensethik, die über das rechte Handeln und Verhalten des Menschen reflektiert, fragt nach dem Grund menschlicher Verantwortung für den Frieden – mit Assoziationen zu Gerechtigkeit, Freiheit und Gewalt. Der Friedensbegriff selbst aber ist kaum eindeutig bestimmbar2, denn die Komplexität seiner Bezüge eröffnet unterschiedliche Perspektivierungen.3 Dabei liegt es nahe, zwischen den Ursachen und dem Begriff des Friedens zu unterscheiden sowie empirische und gesellschaftspolitische Differenzen wahrzunehmen. Es wird innerhalb der Friedensforschung unter anderem zwischen einem negativen, einem positiven und einem kulturellen Frieden unterschieden. Nach dem Friedensforscher Johan Galtung geht es beim negativen Frieden um die Abwesenheit von direkter (personaler) Gewalt, während es sich bei positivem Frieden um die Abwesenheit indirekter (struktureller) Gewalt handelt. Und schließlich geht es beim kulturellen Frieden um die Abwesenheit mannigfacher kultureller Gewalt, worunter auch rigide religiöse Positionen zu rechnen sind.4
Dabei kann nach dem Frieden auch aus einer existenziellen und spirituellen Perspektive und Tiefe gefragt werden, denen in den gängigen Diskursen weniger Beachtung geschenkt wird. Für das religiös-spirituelle Bewusstsein im Islam ist die Offenbarung des Korans ein Friedensgeschehen. Der Koran steht nicht für sich, sondern für die Grundeinstimmung des Geistes, in dem der Glaube Frieden mit sich selbst stiftet und entfaltet. Frieden mit mir selbst finde ich, wenn ich mich dem Koran zuwende, ihn aus dem Regal nehme, ihn aus den Tüchern schlage, ihn achtsam in der Hand halte, ihn öffne und mit meiner Stimme seine Stimme höre: »Wahrlich, Wir sandten ihn [den Koran] herab in der Nacht der Bestimmung. Was lässt dich wissen, was ist die Nacht der Bestimmung? Die Nacht der Bestimmung, ja sie ist herrlicher als tausend Monde. Die Engel steigen hernieder, und in ihr der Geist, mit der Erlaubnis ihres Herrn, auf jegliches Geheiß. Friede ist sie, bis hereinbricht die Morgenröte.«5
Mit mir selbst in Einklang sein – das ist die primäre Bestimmung eines Friedens, die ich auch innerhalb der spirituellen Traditionen des Islams entdecke und die dem Menschen in seinem Mehrklang nachspüren. Rumi schreibt: »Der Mensch ist etwas Gewaltiges; in ihm ist alles geschrieben, aber Schleier und Finsternisse erlauben ihm nicht, dieses Wissen in sich selbst zu lesen und zu suchen.«6