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Mary Rose W. wurde 1962 in der Schweiz geboren. Sie hat drei erwachsene Kinder und arbeitet heute als Künstlerin in einem Kunstatelier. Sie lebt als glückliche Single-Frau in einer kleinen Stadt in der Zentralschweiz. Eindringlich erzählt Mary Rose W. die Geschichte ihrer Erkrankung vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte. Seit ihrer Jugend leidet sie unter starken Krampfanfällen. Sie schildert den langen Weg vom Ausbruch der Krankheit, die ihr Leben beeinträchtigte und manche ihrer Lebensträume zerschellen ließ und sie in schwere Depressionen führte. Es dauerte 32 Jahre bis zur richtigen Diagnose und dem Beginn einer vielversprechenden Therapie. Minutiös und unter Hinzuziehung von Tagebucheintragungen und anderen originalen Dokumenten berichtet sie von dem kräftezehrenden Ringen um ein normales Leben, dem Kampf gegen die Krankheit ebenso wie gegen manche falsche ärztliche Diagnose. Heute ist der Begriff "dissoziative Krampfanfälle" auf der Liste psychiatrischer Diagnosen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgeführt und Betroffene können auf anerkannte Behandlungsverfahren zurückgreifen. Das Buch vermittelt Wissen über diese weithin unbekannte Erkrankung und gibt Einblicke in ihre Ursachen - oftmals tieferschütternde Traumata in frühester Kindheit. Der ehrliche Erfahrungsbericht, der mit hilfreichen Hinweisen und Links ausgestattet ist, kann aufklären und Betroffenen Mut und Hilfestellung vermitteln.
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Seitenzahl: 197
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Es war einmal…
Lebenslauf – Teil 1
Musik und Ausbildung
Lehrerseminar in der nahe gelegenen Stadt 1978
Ausbildung zur Volksmusiklehrerin 1979/1980
Lebenslauf – Teil 2
1997 – In der Krise
Lebenslauf – Teil 3
KV-Lehre 2003 bis 2006
2008 – Stationäre Aufenthalte
Untersuchung im Epilepsie-Zentrum
Suizidversuch
Rückkehr ins Leben
2009 – Auftritt in der »Arena«
Selbsthilfegruppe Depressionen
2010 – Einweisung per FFE
2011 – Suizidalität
Ablauf eines Anfalls
Trigger/Auslöser
Ressourcen
Epilepsie! Ja oder nein?
Psychotraumatologie – der richtige Ansatz
Psychotraumatologie, Theorie praktisch und einfach erklärt
Dissoziation, Theorie praktisch und einfach erklärt
Traumastation
Meine 7 EPs und ich
Selbsthilfegruppe Dissoziative psychogene Krampfanfälle
Unglaublich, aber wahr
Erfahrungen von Angehörigen
Erfahrungsbericht von Anatina
Erfahrungsbericht von Raffael
Erfahrungsbericht von Alexander
Musik, Musik, Musik
Entscheidung
WG-Geschichten
Mein Leben heute
Anfallskalender von 1979 bis heute
Fazit, Schlussgedanken und Dank
Hilfreiche Links
SCHNUCKIPUTZI mit Farbstiften, 2005, Mary Rose W.
Es war einmal ein Mädchen. Es wohnte in einem Land, in dem soeben ein jahrelanger Krieg zu Ende gegangen war. Vieles war zerstört worden und es gab fast nichts zu essen. Deshalb beschloss es, in einem fremden Land sein Glück zu suchen, und machte sich auf den langen Weg in die Schweiz. Dort angekommen musste es sehr viel arbeiten und verdiente sehr wenig.
Deshalb hielt es Ausschau nach einem passenden Mann, da es sich sagte: Wenn ich schon so viel arbeiten muss, dann doch lieber für die eigene Familie und nicht für Fremde. Es dauerte nicht lange, bis sich ein junger und sympathischer Mann in das Mädchen verliebte. Nach einer kurzen Verlobungszeit heirateten die beiden. Inzwischen war aus dem Mädchen eine junge Frau geworden und sie schenkte ihrem Gemahl während den ersten drei Jahren ihrer Ehe jedes Jahr ein Kind. Das erste Kind war ein Knabe und die beiden weiteren waren Mädchen. Nach einer Frist von drei Jahren gebar sie nochmals einen Sohn.
Es war nicht eine böse alte Hexe, welche der Frau sagte, wie sie mit ihren Babys umgehen sollte, sondern die Herrgötter in Weiß (Ärzte) und ihre Gehilfinnen (Krankenschwestern). Da die junge Mutter sehr zerbrechlich wirkte, hatten sie einen guten Rat auf Lager. Sie empfahlen der jungen Frau, sich nach den Geburten zu schonen und die Säuglinge während der ersten Nächte zu Hause außerhalb ihrer Hörweite in ihren Körbchen in den Keller oder die Waschküche zu stellen. Dies garantiere ihr erholsame Nächte und die Babys würden danach problemlos durchschlafen, weil sie gemerkt hätten, dass sich nachts niemand ihrer annahm, auch wenn sie noch so laut und lange schrien.
Die junge Mutter nahm den Rat dankbar an und tat, wie ihr geheißen. Wie ging es aber ihren Babys damit? Wie ging es vor allem der Zweitgeborenen? Was bedeutete diese erste fundamentale Erfahrung von Verlassenheit für ihr weiteres Leben? Welche Folgen haben Kindheitstraumen für die lebenslange Gesundheit? Davon handelt dieses Buch.
Bereits als kleines Mädchen liebte ich Märchen über alles. Kaum konnte ich lesen, verschlang ich ein Märchenbuch nach dem anderen. Was mir vor allem gefiel, war, dass das Gute immer siegte und die Geschichten am Schluss zu einem guten Ende fanden.
Im vorliegenden Buch erzähle ich Ihnen aber kein Märchen, sondern meine wahre Geschichte. Ob es in dieser meiner Lebensgeschichte zu einem guten Schluss kommen könnte, war über viele Jahre ungewiss. Die Kämpfe, die auszutragen waren, führten mich oft bis weit über meine Grenzen. Alle Erfahrungen und Erlebnisse wurden von mir so wahrgenommen, wie ich sie niederschrieb. Um Personen und Institutionen zu schützen, wurden alle Namen und Orte von mir abgeändert. Mit eingeflossen in mein Buch sind jahrelang geführte Tagebuchaufzeichnungen und andere originale Dokumente.
Im Anhang habe ich für interessierte Betroffene, Laien und Fachpersonen hilfreiche Links aufgeführt.
Meine Geschwister und ich erblickten in den Jahren 1961, 1962 und 1963 das Licht der Welt. Ich bin das mittlere, das »Sandwichkind«, wie man es heute salopp nennt. Mein jüngster Bruder machte 1966 unsere Familie komplett.
Im Alter von knapp zwei Jahren erkrankte ich an einer schweren Meningitis (Hirnhautentzündung). Während Wochen war ich dem Tod näher als dem Leben. Als ich aus der Klinik wieder nach Hause kam, musste ich nochmals alles von Anfang an lernen, was ich als aufgewecktes Kleinkind zuvor schon beherrscht hatte, denn ich war ins Babyalter zurückgefallen. Für meine Mutter war das eine schwierige Zeit. Erst kürzlich sagte sie zu mir: »Du warst als kleines Mädchen ein selten dummes Kind. Egal wie oft du deine Finger oder die ganze Hand verbrannt hattest, du hast nichts daraus gelernt und immer wieder die heiße Herdplatte oder das glühende Bügeleisen berührt.«
An meine Kleinkinderzeit habe ich sehr wenige Erinnerungen. Erst aus den ersten Schuljahren sind mir vereinzelte Geschichten und Erlebnisse im Gedächtnis geblieben. Wir wechselten in den Jahren 1960 bis 1967 mehrmals den Wohnort, bis meine Eltern in einer kleinen Berggemeinde ein Haus fanden, wo wir sesshaft wurden. Mein Vater arbeitete als selbständiger Dachdecker und Spenglermeister und meine Mutter erledigte die Haushaltungspflichten und für das Geschäft alles Administrative.
Während sieben Jahren meiner obligatorischen Schulzeit wurde ich von Klosterfrauen in alten Klostermauern unterrichtet (kein Internat). Einzig in der 5. und 6. Primarklasse machte ich Erfahrungen mit einem »weltlichen« Lehrer an einer öffentlichen Schule.
Wie fast jedes Schulkind in der Schweiz machte ich meine ersten musikalischen Erfahrungen in den Fächern Singen und Blockflöte. Die begabteren Schüler durften schon bald in der nahe liegenden katholischen Pfarrkirche während der Gottesdienste, vor allem an den Festtagen, spielen. Ich war eines von diesen Kindern.
Die Möglichkeit, nur eine Stimme zu spielen, begann mich relativ schnell zu unterfordern und zu langweilen.
Ich fragte meine Klassenlehrerin, Schwester Eugenia, ob sie mir das Harmoniumspielen beibringen würde, denn wir hatten zu Hause ein altes Harmonium. Nach drei Monaten war sie mit ihren technischen und praktischen Fähigkeiten an ihre Grenze gestoßen und bat mich, einen besser ausgebildeten Lehrer für Orgel und/ oder Klavier zu suchen. Die Suche verlief erfolgreich und schon bald besuchte ich jeden Mittwochnachmittag die kombinierte Harmonium- und Klavierstunde bei Herrn Canzati. Die schnellen Fortschritte erstaunten alle und mein Vater machte mir im Herbst 1973 folgenden Vorschlag: »Mary Rose, wenn du dich getraust, in der Mitternachtsmesse am 24. Dezember die zwei bekanntesten Weihnachtslieder ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ und ›Oh du fröhliche‹ in der Kirche zu spielen, erhältst du von mir 100 Franken.« Zur damaligen Zeit waren 100 Franken so viel wie heute 1000 Franken. Mein Ehrgeiz war geweckt und so spielte ich als elfjähriges Mädchen vor mehreren hundert Kirchenbesuchern am Heiligabend diese beiden Lieder. Ein wenig Stolz spürte ich dabei.
STÜRMISCHES MEER mit Ölfarben, 2013, Mary Rose W.
Von einem älteren Ehepaar meiner Wohngemeinde erhielt ich ein altes, fast hundertjähriges Klavier der Marke »Burger & Jacobi«. Fast jede freie Minute verbrachte ich nun mit Üben und meine Freude und Begeisterung am Musizieren nahm schnell zu. Im Frühling 1974 spielte ich als Zwölfjährige zum ersten Mal eine ganze Messe in der Kirche und wurde von der katholischen Kirchgemeinde als Organistin angestellt. Das bedeutete für mich: Jeden Samstagnachmittag in die Kirche zu gehen und die verantwortliche Klosterfrau zu fragen, welche Lieder an diesem Samstag und Sonntag gesungen werden. Danach ging ich in die Kirche und übte diese Lieder, bis ich sie konnte. Zum Teil dauerte das drei bis vier Stunden. Mit den Liedern allein war es ja nicht getan. Die Messe wollte mit einem passenden Stück begonnen und auch abgeschlossen werden. Während der Kommunion war zudem leise Musik erwünscht.
Während andere Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ihre Freizeit in Gruppen und Discos verbrachten, war ich brav in der Kirche und übte. Jeden Samstagabend von 19.30 bis 20.30 Uhr und am Sonntagvormittag von 9.30 bis 10.30 Uhr spielte ich während den Messen die Orgel. Dies von April 1974 bis zu meinem Wegzug im August 1980.
Damals hatte ich das Gefühl, so viel Zeit in der Kirche verbracht zu haben, dass es für mein ganzes zukünftiges Leben reicht. Heute gehe ich sehr selten in die Kirche, und wenn ich gehe, dann hat es einen Grund: eine Hochzeit, eine Taufe, ein spezieller Gottesdienst mit ansprechendem Thema und/oder guter Musik oder auch eine Beerdigung.
Meine Großmutter väterlicherseits verbrachte ihre beiden letzten Lebensjahre fast ausschließlich in einem bequemen Liegesessel in ihrer Arvenstube. Unsere ganze Familie besuchte die Großeltern, welche 30 km entfernt in einem kleinen Dorf wohnten, regelmäßig jedes zweite bis dritte Wochenende. Als Großmama merkte, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, fragte sie mich, ob ich an ihrer Beerdigung die Orgel spielen würde. Ich konnte ihr diesen letzten Wunsch nicht abschlagen und versprach es ihr. Bei jedem Besuch musste ich mein Versprechen erneuern. Damals war ich 16 Jahre alt. 1979 starb sie und ich löste mein Versprechen ein, obwohl es mir sehr schwerfiel, denn ich habe meine Großmama sehr geliebt und fühlte mich ihr nahe und auf spezielle Weise verbunden. Ich musste mich extrem zusammennehmen, meine Trauergefühle ganz stark zurückdrängen, um mich aufs Orgelspielen zu konzentrieren. Auch meine Tränen durften nicht fließen.
Knapp eineinhalb Jahre später verstarb auch mein Großvater und wieder war es für alle klar, dass ich bei seiner Beerdigung die Orgel spielte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit meinem ersten Kind im achten Monat schwanger, was es nicht einfacher machte.
Auszug aus meinem Tagebuch vom 10. Dezember 1978 (16 Jahre alt)
»Nun erzähle ich Euch die Geschichte vom Lehrerseminar von August–Dezember 1978. Es begann mit der schwierigen Aufnahmeprüfung. Besonders Französisch und Biologie waren für mich sehr anspruchsvoll. Als die Bio-Prüfung vorbei war, sagte ich zu mir: ›So, liebe Mary Rose, jetzt bist du geflogen.‹ Dies war dann glücklicherweise nicht der Fall. Meine gute Kollegin Barbara schaffte es leider nicht und das tat mir sehr, sehr leid. Mit ›Bärbi‹ pflege ich seither eine Brieffreundschaft, obwohl sie sehr schreibfaul ist.
Ich besuche seit dem 24. August 1978 das Lehrerseminar. Bis jetzt gefällt es mir dort absolut nicht. Alles ist so unpersönlich, Lehrer wie Schüler. Aber es gibt natürlich bei beiden Ausnahmen. Bei den Lehrern ist es vor allem die Deutschstunde bei Herrn Dürrmüller, aber auch das Französisch bei Herrn Schmidt. Apropos, in Französisch bin ich jetzt bei einer Durchschnittsnote von 3,4. In den drei Jahren Sekundarschule war ich immer die Klassenbeste. Note 5 war für mich schon nicht mehr gut. Im Zeugnis hatte ich fast ausnahmslos die Noten 5,5 und 6. Die Note 6 ist bei uns in der Schweiz die beste Bewertung.
Von meinen Studienkolleginnen fand ich vor allem Regula, Tamara und Theres sehr nett.
Wieso lagen die Noten im Seminar um einiges tiefer? Das hatte diverse Gründe. Meine Gesundheit spielte wieder einmal nicht mit. Deswegen war ich wegen chronischem, stundenlang andauerndem Nasenbluten mehr im Sanitäts- als im Klassenzimmer. Im Fach Italienisch war ich so schlecht, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Spickzettel machte. Ich stellte mich dabei so blöd an, dass ich jedes Mal erwischt wurde und die Prüfung mit der Note 1 bewertet wurde. Somit war ich in Italienisch auf einer Note zwischen 2 und 3. Das war für mich undenkbar schlecht und auch deswegen spielte mein Körper mit dem andauernden Nasenbluten verrückt. Ich konnte es mir beim allerbesten Willen nicht vorstellen, in diesem Seminar bis zum Abschluss in fünf Jahren zu bleiben.«
Auszug aus meinem Tagebuch vom 19. Dezember 1978 (16 Jahre alt)
»Heute habe ich sehr wahrscheinlich eine meiner wichtigsten Lebensentscheidungen gefällt. Ich habe beschlossen, dass ich aus dem Lehrerseminar austrete und eine Lehre zur diplomierten Volksmusiklehrerin bei Herrn Schwarzmüller beginnen werde. Diese Lehre dauert vier Jahre und ist genau das, was ich mir schon immer gewünscht habe. Meine Mutter machte mich auf das Inserat in der Tageszeitung vom 15. Dezember 1978 aufmerksam. Ich las es durch und war sofort begeistert. Wir dachten zuerst, es handle sich um eine Lehre als Verkäuferin und nebenbei bestehe die Möglichkeit, Musikunterricht zu geben. Zu meiner großen Freude war es nicht so. Am Sonntagabend sprach ich mit meinen Eltern darüber. Ich solle mich zuerst näher informieren, sagten sie. Das tat ich dann auch und stellte mich gleich am Montag bei Herrn Schwarzmüller vor. Er kannte mich noch, weil ich auch schon an einem Musikschulkonzert aufgetreten war und regelmäßig bei Herrn Canzati den Orgelunterricht besuchte. Seine Meinung war, dass ich mich sicher eignen würde. Ich sei genau das, was er suche! Er sagte noch: ›Wenn deine Eltern einverstanden sind und das mit der Schule geregelt ist, hast du deinen Ausbildungsplatz.‹ Da ich es kaum erwarten konnte, jemandem davon zu erzählen, telefonierte ich mit Mama. Auch sie war begeistert. Am Abend sprach ich noch mit Papa, der sich auch bald einverstanden erklärte. Beide sagten zu mir, es sei vor allem meine Entscheidung und ich dürfe ihnen in späteren Jahren keine Vorwürfe machen, dass sie mich nicht davon abgehalten haben, das Seminar abzubrechen.
Nun war noch das Problem mit der Schule zu lösen. Zuerst sprach ich mit meinem Klassenlehrer. Er versuchte, mich von meinem Entschluss abzubringen, was ihm jedoch nicht gelang. Danach ging ich zu Frau Willi (der Seminarmami), welche mich zum Seminardirektor schickte. Er konnte es zuerst kaum fassen, dass ich es war, die austreten wollte. Wir kannten uns schon wegen bewilligten Urlaubstagen für Untersuchungen an der Augenpoliklinik in Zürich. Nach der Hirnhautentzündung schielte ich stark und musste zwischen 1968 und 1978 dreimal operiert werden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als meine Abmeldung zu akzeptieren und mir viel Glück zu wünschen.«
Lehrvertrag zwischen Musikschule Schwarzmüller und Mary Rose W. vom 15. Januar 1979:
Fräulein Mary Rose W., geb. am 15. Mai 1962, macht bei Oskar Schwarzmüller, Volksmusikschule, eine 4-jährige Lehrzeit als Volksmusiklehrerin.
Ausbildung: Akkordeon als Hauptinstrument, Gitarre, Klarinette, Heimorgel (elektr. Orgel), Klavier und Klavierbegleitung nach Gehör, Kontrabass als Nebeninstrumente sowie Musiktheorie bis zur Modulation und Auflösung von Akkorden, etwas Dirigieren und die üblichen Büroarbeiten. Der Besuch von Clubproben des Akkordeonorchesters jeweils am Mittwochabend ist obligatorisch und gehört zur praktischen Ausbildung. Der Lehrling erhält eine konzentrierte und vielseitige Ausbildung und darum besteht wenig Zeit für weitere Schulfächer. Diesbezüglich wurde beim Lehrling die richtige Wahl getroffen. Es können noch nach der Lehre weitere nötige Schulfächer auf eigene Kosten besucht werden. Während der Lehrzeit werden weitere Musikkurse verschiedenster Art in Konservatorien oder dergleichen Häuser im In- und Ausland besucht. Diese Kurse sollen grundsätzlich selbsttragend sein, weil ja der Musiklehrling – im Gegensatz zum Konservatorium – in der Lehre einen Lohn erhält. Auch späteres Autofahren ist vorgesehen. Ein kleiner Kostenbeitrag ist vorgesehen.
Arbeitszeit: Tagesarbeitsplan von 8.00–12.00 und von 13.30–18.30 oder 19 Uhr. Pflichtübungszeiten sind von 11.00–12.00 und von 13.30–14.30 oder 15 Uhr, je nach Arbeit. Diese Übungszeit ist im Tagesprogramm eingerechnet und bezahlt. Am Montagvormittag ist frei, zudem jedes Jahr im Juli/August einen Monat bezahlte Ferienzeit. Der Lehrmeister erteilt dem Lehrling jede Woche eine ganze Privatstunde Musikunterricht oder ein würdiger Nachfolger. Ich bin bestausgewiesener Musiker und Musiklehrer mit vorzüglichen Vereins- und Kapellenerfolgen an Wettspielen, TV und Radiosendungen und habe schon viele Volksmusiklehrer ausgebildet.
Pflichten des Lehrlings: Der Lehrling darf nur für die Lehrfirma tätig sein. Er hat treu, fleissig und dem Beruf entsprechend ordentlich angezogen diese Lehre mit Abschlussdiplom von der Musikschule Oskar Schwarzmüller abzuschliessen. Sollte der Lehrling ohne triftigen Grund die Lehre nicht fertig machen, so hat er dem Lehrmeister Fr. 2000.00 zu bezahlen. Das gilt auch, wenn er nach der Lehre sofort in ein Konkurrenzunternehmen im Umkreis von 30 km eine andere Stelle annimmt. Dies aus Geheimnisgründen und deren Ausbildungsmethoden. Bei genügender Schülerzahl kann der Lehrling nach der Lehre eventuell bei mir als Musiklehrer tätig sein, mit entsprechendem Lohn. Im übrigen bin ich froh auf eine weitere Zusammenarbeit nach der Lehrzeit.
Lehrlingslohn: Im ersten Jahr Fr. 200.-, im zweiten Jahr Fr. 300.-, im dritten Jahr Fr. 400.- und im vierten Jahr Fr. 500.-.
Unterschrift Lehrmeister ……………………….………………………
Unterschrift Lehrling und Vater ……………………..………………
So sah mein Ausbildungsvertrag vor 37 Jahren aus. Ich war überglücklich, während der Arbeitszeit üben zu dürfen. Ebenso hatte ich bereits vom ersten Tag an meine eigenen Schüler an der elektronischen Orgel und dem Klavier. Nach zwei Monaten unterrichtete ich als Siebzehnjährige bereits 20 Schüler. Meine Schülerzahl steigerte sich im Verlaufe des ersten Ausbildungsjahres auf 60 (zum Teil in Gruppen von drei bis fünf Schülern), und dies bei einem Lohn von 200 Franken monatlich. Mit meinem kleinen Lohn musste ich alles bezahlen, was ich brauchte, wie Essen, Körperpflege, Kleider und einiges mehr. Meine Eltern zahlten für mich das sehr kleine Einzimmerstudio in der nahe gelegenen Stadt mit Kochgelegenheit und WC plus die Krankenkassenprämien. Ich musste dort wohnen, da ich manchmal am Abend Akkordeon-Orchesterprobe oder Auftritte hatte und das letzte Postauto bereits um 20.00 Uhr fuhr.
Jeweils am Mittwoch, wenn die meisten Schüler kamen, und am Samstag, bevor wir alle zusammen im VW-Bus in eine andere Region zum Unterrichten fuhren, durften wir bei Frau Schwarzmüller (Ehefrau des Chefs) gratis zu Mittag essen. Als gebürtige Italienerin kochte sie sehr gut, vor allem Pasta. Diese gemeinsamen Mittagessen genoss ich in zweierlei Hinsicht sehr. Ich war in Gesellschaft und das Essen war immer sehr fein.
Da wir vier Lehrlinge waren, gründete Oskar Schwarzmüller mit uns eine Studentenländlerkapelle. Meist spielte ich die zweite Klarinette. Hie und da versuchte ich mich in der Klavier- und Kontrabassbegleitung nach Gehör. Dies war für mich sehr anspruchsvoll und hätte noch viel mehr Übung und Zeit gebraucht. In dieser Formation hatten wir ein bis zwei Auftritte pro Monat, meist in den Nobelhotels in einem Badekurort. Wir Studenten (Lehrlinge) bekamen während der Auftritte etwas zu trinken und pro Abend (vier bis fünf Stunden Musizieren) ein Taschengeld von lächerlichen 20 Franken. Ich darf mit Recht behaupten, dass wir angesichts der hohen Schülerzahlen und der regelmäßigen Auftritte richtiggehend ausgenutzt wurden.
Diese Ausbildung dauerte vier Jahre oder, besser gesagt, sie hätte vier Jahre gedauert. Wieder einmal kamen mir meine gesundheitlichen Probleme in die Quere und nach eineinhalb Jahren war für mich Schluss.
Auszug aus meinem Arbeitstagebuch vom 30. Juni 1980 (18 Jahre alt)
»Ich will nun genau aufschreiben, wie es zu der Kündigung bei Oskar Schwarzmüller kam. Das Ganze hatte am 29. Januar 1980 begonnen. Es war Dienstagmorgen. Die ganze Nacht hatte ich keine Stunde geschlafen und am Morgen fühlte ich mich so elend, dass ich nicht einmal aufstehen konnte. Ich lag in meiner kleinen Wohnung und aß nichts und tat nichts und dachte mir: Wenn ich morgens um 8.00 Uhr nicht zur Arbeit erscheine, wird irgendjemand sicher nachschauen kommen, was mit mir los ist. Ich konnte mich nicht selber krankmelden, da ich kein Telefon besaß. Auch ein Radio- oder Fernsehgerät vermisste ich sehr.
Es wurde 10.00 Uhr, 11.00 Uhr und auch Mittag, ohne dass sich ein Mensch blicken ließ. Ich fühlte mich immer elender und hinzu kam noch, dass ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die Arme und Beine zuckten in kleinen Abständen immer wieder.
Endlich, um 15.00 Uhr, klingelte es. Mühsam und unter Aufbietung meiner letzten Kräfte kroch ich aus dem Bett und öffnete die Tür. Draußen standen meine Mitlehrtochter Miriam und mein Chef Oskar Schwarzmüller. Da mir so schwindlig war, legte ich mich sofort wieder ins Bett. Herr Schwarzmüller fragte: ›Aber Mary Rose, was ist denn mit dir los? Um 16.00 Uhr kommen deine Schüler, da brauche ich dich unbedingt!‹ Und genau in diesem Moment verstand ich gar nichts mehr. Der Grund: Ich fühlte mich hundeelend und der Chef dachte nur daran, dass ich seine Schüler nicht unterrichten kann. An meinem Wohlergehen war er überhaupt nicht interessiert und an mir als Mensch ebenso wenig. Ich wurde trotzig und gab auf seine Frage, ob man einen Arzt rufen solle, keine Antwort. Zum Schluss sagte er nur noch: ›Ich glaube, die hat etwas mit den Nerven!‹ Dann verließen er und Miriam Gott sei Dank meine Wohnung.
Kurze Zeit später kamen mein Vater und mein Bruder Oliver und sie riefen Doktor Niederhauser, unseren Hausarzt, an. Dieser konnte jedoch erst am Abend gegen 20.00 Uhr kommen. Er untersuchte mich und stellte fest, dass Puls und Blutdruck sehr niedrig waren, und sagte, ich hätte einen kleinen Nervenzusammenbruch erlitten. Den Rest der Woche verbrachte ich zu Hause bei meinen Eltern und es ging mir ein wenig besser. Am Freitag in derselben Woche musste ich nochmals zu Dr. Niederhauser und er versuchte, den Grund für diesen Nervenzusammenbruch herauszufinden. Ich erzählte ihm praktisch alles über meine Arbeit. Über den Chef, die Kolleginnen und die Kollegen und die Schüler und über das Verhältnis, das ich zu diesen allen hatte. Am Schluss dieses Gespräches sagte mir Dr. Niederhauser, wenn das mit mir so weiterginge, so wäre es das Beste für mich, wenn ich mich nach einer anderen Stelle umsehen würde. Nach diesem Gespräch war ich, ehrlich gesagt, wie vor den Kopf gestoßen. Denn ich hatte nie daran gedacht, nicht einmal im Traum, meine Lehre abzubrechen. Bis auf den Chef hat mir alles gut gefallen und vor allem mit meinen Schülern kam ich sehr gut aus.
Am nächsten Tag, es war Samstag, rief Musiklehrerin Donatella zu Hause bei meinen Eltern an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Nun sagte sie doch tatsächlich am Telefon, der Chef habe zu ihr gesagt, wenn das mit mir so weiterginge und ich immer wieder krank sei, müsse er sich nach einer neuen Lehrtochter umsehen. Als mir Mama das erzählte, konnte ich es fast nicht glauben, denn es war ja das erste Mal, dass ich eine Woche lang fehlte und die Schüler nicht unterrichten konnte. Außer den zwei Tagen, als ich Grippe hatte, aber das war in den Weihnachtsferien gewesen.
Von nun an ließ mich der Gedanke an eine mögliche Kündigung nicht mehr los. Ich hatte viele schlaflose Nächte deswegen. Ich unterhielt mich vor allem mit meinem Kollegen Walter über dieses Thema, der seine Ausbildung erst vor Kurzem bei Oskar Schwarzmüller begonnen hatte. Ihm vertraute ich. Zwischendurch sprach ich auch mit meinen Mitlehrlingen Miriam und Bruno. Sie alle waren natürlich nicht dafür, dass ich kündige, und versuchten, es mir mit allen möglichen Argumenten auszureden, vor allem Walter. Die Idee nahm aber immer mehr Gestalt an und ich besprach die Angelegenheit mit meinen Eltern. Anfang März setzten sich Mama und ich zusammen und schrieben an Herrn Sven Otterhaus, der in einem anderen Kanton wohnte und ein Musikgeschäft für elektronische Orgeln im Selbstbau (Generalvertretung für die ganze Schweiz) mit integrierter Musikschule hatte, einen Brief. Es war eine Art Bewerbungsschreiben, in dem wir fragten, ob er eine Musiklehrerin brauchen könnte. Ich hatte bereits an meinem Wohnort für Herrn Otterhaus Schüler auf der Orgel unterrichtet, deshalb kannte er mich.
Schon bald kam eine positive Antwort und wir, Herr Otterhaus und ich, trafen eine Verabredung zwecks Besprechung der Angelegenheit. Dieses Treffen fand am 18. März 1980 in einem Café statt. Nach einem dreistündigen Gespräch mit einem guten Nachtessen waren wir uns einig. Falls das mit meiner Kündigung klappte, hätte ich die Stelle als Musiklehrerin bereits in der Tasche. Von diesem Tag an war ich mir meiner Sache ganz sicher und nichts und niemand konnte mich mehr von meinem Entschluss abbringen.
Mein großes Problem war nur noch die Konventionalstrafe in Höhe von 2000 Franken, die im Falle eines Lehrabbruches drohte. Da erinnerte ich mich wieder an das Gespräch mit Dr. Niederhauser und ich schaute gleich am nächsten Tag in seiner Praxis vorbei. Ich erzählte ihm alles, was zwischenzeitlich vorgefallen war. Ich informierte ihn auch über das unterdessen geführte einstündige Gespräch mit Oskar Schwarzmüller, in dem folgende drei Themen zur Sprache gekommen waren:
Ich hatte darum gebeten, nicht mehr Klarinette spielen zu müssen, da es mich zu sehr anstrengte. Oskar Schwarzmüllers Antwort lautete: Am Konzert vom 3. Mai 1980 brauche er mich unbedingt noch und ich könne vorher auf keinen Fall aufhören.