Warum Raben die besseren Eltern sind - Jan-Uwe Rogge - E-Book

Warum Raben die besseren Eltern sind E-Book

Jan-Uwe Rogge

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Beschreibung

Jan-Uwe Rogge, einer der bekanntesten Referenten und Bestsellerautoren zu Erziehungsthemen, zeigt Ihnen sehr humorvoll, wie Sie bei Ihren Kindern eine gute Balance finden zwischen Halt geben und Loslassen. Viele Eltern neigen heute zum Klammern, Kontrollieren und Überbehüten - oft in bester Absicht. So berauben sie jedoch ihre Kinder um unendlich viele Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten sowie um die Chance, an Hindernissen zu wachsen. Das Ergebnis sind häufig (fast) erwachsene, lebensuntüchtige Nesthocker. In diesem Buch erfahren Mütter und Väter, was häufig schiefläuft und was das für sie selbst und vor allem für ihre Kinder bedeutet. Mit seinem warmherzigen Humor und typischen, unterhaltsamen Eltern-Kind-Dialogen aus dem prallen Familienalltag schafft Jan-Uwe Rogge es immer wieder, Eltern zielgenau, aber nie verletzend den Spiegel vorzuhalten. Selbstverständlich gibt er auch viele praktische Anregungen - Anstöße zum Nachdenken über das eigene Verhalten sowie konkreten Rat und Tipps.

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Seitenzahl: 199

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LOSLASSEN UND HALT GEBEN

Das Wort »Rabeneltern« fällt immer dann, wenn Eltern ihre Kinder – tatsächlich oder vermeintlich – vernachlässigen, nicht genügend für sie sorgen, ihnen zu wenig Liebe und Zuwendung schenken oder gar sich selbst überlassen. Warum sind also nun Raben plötzlich die besseren Eltern? Weil Raben tatsächlich keine schlechten Eltern sind. Fürsorglich wärmen sie ihre Jungen und bringen ihnen Essen und Trinken. Und auch wenn die Jungvögel das Nest verlassen haben, aber noch nicht flügge sind, passen die Eltern weiterhin auf sie auf und versorgen sie mit Futter, bis die Jungen fliegen und selbstständig auf Nahrungssuche gehen können. Dann verlassen die Jungvögel das elterliche Revier.

Da fragt man sich natürlich, wie das Schimpfwort Rabeneltern zustande gekommen ist. Vermutlich weil kleine schreiende Jungvögel auf dem Boden oder auf einem Ast so verlassen wirken und die Menschen lange nicht wussten, dass die Vogeleltern auch noch für ihre Brut da sind, wenn diese nicht mehr im Nest sitzt. Allerdings trifft das für viele andere Vögel auch zu.

Dass gerade der Rabe für ein schlechtes Elternimage herhalten musste, hängt wohl mit vielerlei Aberglauben zusammen: Schwarz ist in unserer Kultur die Farbe des Bösen und des Todes. Als Aasfresser treiben Raben sich gern auf Müllhalden herum, was ihnen auch keine Sympathie bei den Menschen eintrug. Und als Begleiter des germanischen Gottes Odin galten sie auch noch als heidnisch. Letztlich ist aber wohl eine Bibelstelle im Buch Hiob dafür verantwortlich, dass Raben zu Namensgebern für schlechte Eltern wurden: »Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen schreien zu Gott und umherirren ohne Futter.« Der Irrtum, dass Raben schlechte Eltern seien, die sich nicht um ihren Nachwuchs kümmern, ist also uralt.

Natürlich kann man nicht Tierverhalten einfach auf Menschen übertragen, das wäre wissenschaftlich und moralisch unredlich. Als positives Bild aber können Rabeneltern sehr wohl dienen: Sie lassen ihre Kleinen schon los, auch wenn diese noch nicht selbstständig überlebensfähig sind. Sie überlassen die Jungen aber auch nicht einfach sich selbst. Und in diesem zweifachen Sinne sind Raben die besseren Eltern.

Von diesen zwei Polen – Loslassen und Haltgeben – handelt dieser Erziehungsratgeber. Er soll Sie darin unterstützen, Ihren Kindern den zur Entwicklung nötigen Freiraum zu gewähren, ihnen aber auch genügend Halt zu geben, damit die Kinder sich sicher fühlen und diesen Freiraum auch freudig nutzen können. Das ist das A und O einer kindgerechten Erziehung, die sowohl Überbehütung vermeidet als auch Überforderung.

Bei heutigen Eltern lässt sich eher eine Tendenz zu Überbehütung feststellen. Im ersten Kapitel erfahren Sie, was es mit diesem Phänomen auf sich hat, und können auch gleich einen »Elterntest« machen. Daran anschließend wird das Thema Loslassen und Haltgeben oder – aus Kindperspektive betrachtet – Haltsuchen anhand der verschiedenen Entwicklungsstufen vom Kleinkindalter bis zum jungen Erwachsenen verdeutlicht. In einem letzten Kapitel geht es dann noch einmal um die Eltern in einem späteren Lebensabschnitt, nämlich wenn die Kinder aus dem Haus sind. Da unser Thema ein altersübergreifendes ist, bietet jedes Kapitel interessante Aspekte dazu – unabhängig davon, in welchem Alter Ihre Kinder gerade sind. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Freude beim Lesen und Loslassen.

Eltern sein heute

Eltern sind heute ständig unter Beobachtung. Sie werden schnell in Schubladen gesteckt, schnell stigmatisiert. Medien spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle: Sie zählen in regelmäßigen Abständen auf, was Eltern alles falsch machen, was sie nicht können, was sie unterlassen. Und daraus werden dann Folgen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung abgeleitet. Es wird dabei immer »über« die Kinder gesprochen. Sie selbst finden kaum ein Sprachrohr. Dabei wird übersehen, dass Kinder ja nicht nur Objekte der Erziehung sind. Kinder lassen sich nicht alles gefallen, sie gestalten ihre Wirklichkeit auch selbst, sie sind eigenständige Subjekte, die zugleich auch ihre Eltern, ihre Umgebung erziehen.

FRÜHER WAR ALLES BESSER?

Erziehung ist also ein komplexer Prozess, der nicht auf eine einfache Gleichung zu bringen oder als monokausaler – aus a folgt b – Zusammenhang zu sehen ist. Zweifelsohne wünschen wir uns das zuweilen. Dann wäre die Wirklichkeit wunderbar überschaubar, wir hätten alles im Griff. Doch hat Erziehung eben nichts mit Mathematik zu tun, die alles auf den Punkt bringen will. Am Ende eines Erziehungsprozesses stehen manchmal viele Punkte, ja sogar Frage- oder Ausrufungszeichen. Denn Erziehung ist Beziehung, Begleitung der Kinder ins Leben und damit ein fortdauernder Prozess. Ein Prozess, der mit vielen Fragen, mit Unsicherheiten einhergeht: »Habe ich alles richtig gemacht?«, »Muss ich mir Sorgen machen?«, »Kann ich mein Kind schon in die Welt hinauslassen?«, »Fühlt es sich verstoßen?«.

Solche Fragen sind legitim! Denn Loslassen hat nichts mit Fallenlassen zu tun, und niemand will sein Kind – zu Recht – überfordern. Eltern bleibt man ein Leben lang und damit ein Stück weit in der Verantwortung für sein Kind. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite verkörpern die Kinder: Sie wollen sich auf ihre Eltern verlassen – einerseits –, aber ebenso wollen sie, dass Vater und Mutter sie auch loslassen. Dieses Wechselspiel ist manchmal im Fluss, manchmal aber ergibt sich daraus ein Drama, ein Drama, das unter dem Titel »Halt mich, aber lass mich los, lass mich los, aber halt mich« zu immer neuen Inszenierungen und Aufführungen gelangt. Und das bedeutet: Die familiären Realitäten sind vielschichtiger, als es manch populäre Schlagzeile darstellt. So verständlich der Wunsch nach Vereinfachung ist – schließlich braucht man ja ein Raster, in das man die Wirklichkeit einordnen kann –, dem Familienalltag wird man damit kaum gerecht.

Eltern machen einen tollen Job

Erziehung findet nicht im luftleeren Raum statt, außerhalb des Lebens, und wenn man damit fertig ist, entlässt man den Nachwuchs in die Wirklichkeit. Nein, Erziehung passiert jeden Augenblick, sie passiert, ob man es will oder nicht. Es ist unmöglich, nicht zu erziehen. Man kann nicht wählen zwischen »Heute erziehe ich mal« und »Morgen mache ich eine Pause«.

Ebenso kann man das Ergebnis von Erziehung nicht genau vorhersagen. Die Wirkung von Erziehung ist unsicher: Aus einem umtriebigen Kind muss nicht zwingend ein lebenstüchtiger Unternehmer werden. Oder, anders gesagt, ein selbstbewusster, eigenständiger Heranwachsender kann sich – widrige Lebensumstände vorausgesetzt – in einen von Zweifeln und Selbstzweifeln geplagten Stubenhocker verwandeln. Trotzdem gilt es, auf Erziehung – verstanden als Beziehung zwischen Eltern und Kind – nicht zu verzichten, auch wenn sie sowieso stattfindet und nichts garantiert ist. Es, Sisyphus gleich, immer und immer wieder zu versuchen, das ist die Devise für Eltern in der heutigen Zeit.

Die öffentliche Anprangerung »der« Eltern oder bestimmter Elterntypen verfehlt deshalb auch ihren – vielleicht gut gemeinten – Zweck. Schubladendenken hilft nicht weiter bei der Sisyphusarbeit Erziehung, und niemand hat etwas davon, wenn berufstätige Mütter gegen jene ausgespielt werden, die zu Hause bleiben, oder Väter, die eine lange Elternzeit nehmen, gegen jene, die den Karriereknick fürchten.

In diesem Zusammenhang wird schnell eine glorreiche Vergangenheit mit dem schlimmen Heute verglichen. Früher – so dann der Tenor – war alles besser, vor allem konnte man früher angeblich besser loslassen. Aber solche auf die Vergangenheit gerichteten Aussagen bringen den Eltern von heute, die jetzt Kinder erziehen, überhaupt nichts. Es ist gegenwärtig nicht schlimmer und war früher nicht besser, es ist eben anders. Rahmenbedingungen haben sich verändert. Und diese haben Auswirkungen auf das elterliche Erziehungsverhalten. Die Eltern von heute machen im Wesentlichen einen guten Erziehungsjob, sie leben Achtsamkeit und Fürsorge vor. »Meinen Sie das wirklich?«, hören wir da einige fragen. Natürlich sind wir dieser Auffassung, wissen aber sehr wohl, dass Eltern das Loslassen auf sehr verschiedene Weise im Alltag praktizieren und umsetzen, und wir wissen auch, dass am einen Ende der Skala jene stehen, die sich sehr schwertun mit dem Loslassen, und am anderen jene, die überhaupt keinen Halt geben.

»Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan worden ist. Mich interessiert, was getan werden muss.«

Marie Curie | polnische Physikerin und Chemikerin (1867 – 1934)

Hubschraubereltern und Wohlstandsverwahrlosung

Auf die genannten Eckpunkte wollen wir kurz eingehen, da in diesen Fällen das Gleichgewicht zwischen Loslassen und Haltgeben in bedenkliche Schieflage gerät.

Da gibt es einerseits die viel zitierten »Hubschraubereltern«, die ihr Kind im Kindergarten abgeben und danach die Einrichtung umkreisen wie Adler ihren Horst, nur um zu erspähen, wie es dem Kind ergeht. Oder die das Kind am liebsten mit dem Auto bis in das Klassenzimmer der Grundschule fahren würden, damit es nicht von saurem Regen getroffen wird. Oder sie legen sich mit den Lehrkräften an, um ihren Kindern einen guten Schulabschluss zu sichern. Diese Eltern wollen nur »das Beste« für ihren Nachwuchs (siehe auch >) und überwachen ihn ständig – wie ein Hubschrauber aus der Luft oder die klassische »Glucke« am Boden. Hier beginnt das Nicht-loslassen-Können. Dabei steht meist nicht das Kind im Mittelpunkt der Bemühungen. Hubschraubereltern erziehen nicht selbstlos, solche Erziehung ist an knallharte Bedingungen geknüpft, die später von den Kindern erfüllt werden müssen: »Ich habe früher für dich gesorgt, nun sorgst du für mich.« Allerdings: Hubschraubereltern mögen eine neue Unterart von Eltern sein, der Gedanke, der sich dahinter verbirgt, existierte auch schon früher. Es gibt – biblisch gesprochen – »Nichts Neues unter der Sonne«.

Neben einem Zuviel an (falsch verstandener) Beziehung, wie sie die Hubschrauber- oder Gluckeneltern pflegen, findet sich auch programmierte Beziehungslosigkeit bei materieller Verwöhnung – heute meist mit dem Begriff »Wohlstandsverwahrlosung« etikettiert. Hier sind Eltern am Werk, die Beziehung mit Konsum verwechseln, materielle Versorgung mit Erziehung. Sie schenken aber keine emotionale Zuwendung. Ihre Söhne und Töchter haben prall gefüllte Kinderzimmer, sind schick angezogen, können sich nicht beklagen ob des Reichtums, der sie umgibt. Sie fühlen sich aber allein, ja einsam, ihnen fehlt es an nichts und trotzdem an allem – nämlich an Beziehung, an Halt, an Geborgenheit. Vordergründig scheinen sie losgelassen, in Wirklichkeit sind sie alleingelassen.

»Das sicherste Mittel, Kinder zu verlieren, ist, sie immer behalten zu wollen.«

Adolf Sommerauer | deutscher evangelischer Pfarrer (1909 – 1995)

Die große Mehrheit

Dann gibt es da noch jene anderen Eltern – und das ist die Mehrheit –, die in der öffentlichen Diskussion gerne außen vor gelassen werden. Diese Eltern bemühen sich um eine gute Erziehung, haben gleichwohl ihre Probleme damit und stellen sich Fragen, auf die sie gerne verbindliche Antworten hätten. Für diese Eltern, für Sie, haben wir unser Buch geschrieben: Es soll Ihnen helfen, Ihre Kinder anzunehmen, wie sie sind, und sie ins Leben zu begleiten. Es soll Ihnen helfen bei der Einsicht, dass Kinder Fehler machen dürfen und dass Eltern nie perfekt sein können.

Denn nur wenn Sie sich auch selbst so annehmen, wie Sie sind, mit all Ihren liebenswürdigen Unvollkommenheiten, dann können Sie auch Ihre Kinder so annehmen, wie die sind. Nur wenn Sie sich selbst annehmen und achten, sorgen Sie auch gut für sich selbst, und es geht Ihnen gut. Und nur wenn es Ihnen gut geht, wenn Sie auf Ihre Fähigkeiten vertrauen – selbst wenn nicht alles gelingt –, dann geht es auch Ihren Kindern gut, dann ist Achtsamkeit die Grundlage der Beziehung, dann trauen Sie auch Ihren Kindern das Leben zu.

In Be-Weg-ung bleiben

Man kann Erziehung mit dem Weg zum Nordpol vergleichen. Das ist kein leichter Weg. Schon gar nicht verläuft er geradlinig, und Krisen gehören dazu. Manchmal muss man innehalten, verschnaufen, weil es anstrengend ist, aber – sich auch freuen, darüber, was man geschafft hat, auch stolz darauf sein, dass man ganz allein Lösungen erarbeitet hat. Wahrscheinlich müssen Sie auch Umwege gehen, wenn Hindernisse auftauchen, und sich immer wieder neu auf veränderte Verhältnisse einstellen. Auf jeden Fall können Sie nicht dauerhaft stehen bleiben und zum Eiszapfen erstarren. Sie müssen in Bewegung bleiben.

Und das ist auch das Motto der großen Erziehungsaufgabe des Loslassens. Loslassen heißt, sich auf den Weg machen, sich weiterentwickeln. Das gilt für Eltern wie Kinder gleichermaßen. Dabei stehen sie als eigenständige Individuen in Beziehung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Dieser Prozess ist nicht ganz einfach – manchmal nervenaufreibend, zuweilen auch traurig –, aber meist sehr spannend!

Ob das früher anders war, sei dahingestellt, denn einer Mutter, einem Vater helfen historische Vergleiche kaum. Deren Probleme sind aktuell, leiten sich aus dem Hier und Jetzt ab. Sie im Hier und Jetzt zu begleiten ist Anliegen dieses Buches. Und die Begleitung beginnt mit dem nachfolgenden kleinen Test.

»Zu unserer Natur gehört die Bewegung; die vollkommene Ruhe ist der Tod.«

Blaise Pascal | französischer Wissenschaftler und Philosoph (1623 – 1662)

TEST: WIE WÜRDEN SIE REAGIEREN?

Keine Sorge – wir wollen mit diesem Test nicht Ihr Erziehungswissen überprüfen oder herausfinden, wo Ihre Defizite liegen. Wir denken, Sie erziehen kompetent, sind am Wohlergehen und an der Entwicklung Ihres Kindes interessiert. Doch ist Erziehung ein mühseliges Unterfangen – und dies ein ganzes Familienleben lang. An manchen Tagen gelingt einem fast alles, man ist zufrieden mit sich, mit dem Kind, mit der Welt. Und auch der Nachwuchs scheint ausgeglichen und frohen Mutes. An anderen Tagen geht mehr oder minder alles schief, eine Katastrophe jagt die nächste, und am Abend fallen alle erschöpft und mit einem unguten Gefühl in die Federn. Da können bei den Eltern schon mal Versagensgefühle und Selbstzweifel auftauchen, die sie dann durch Aneignung pädagogischen Wissens überwinden wollen.

Aber Erziehung ist ja nicht nur Theorie, Erziehung bewährt sich in der Praxis. Und da muss man häufig schnell entscheiden, Bauchgefühl und Intuition sind dann wichtiger als die theoretisch fundierte, perfekte Maßnahme. Das gilt insbesondere für jene Situationen und Augenblicke, in denen es um das Loslassen geht.

Wir stellen Ihnen im Folgenden verschiedene Situationen vor, wie sie im Familienalltag vorkommen. Sie können dann jeweils zwischen drei Antworten auswählen. Horchen Sie zunächst in sich hinein, bevor Sie die Antworten lesen, und entscheiden Sie dann spontan – so wie Sie es auch im Alltag machen müssten, – welche Antwort am besten zu Ihrer ersten Reaktion passt.

Die Auswertung finden Sie am Ende des Buches auf >. Der Test soll keinesfalls dazu dienen, Sie in eine bestimmte Elterntyp-Schublade zu stecken. Er soll Ihnen vielmehr dabei helfen, Ihre Selbstwahrnehmung in der Praxis zu verbessern, so können Sie gegebenenfalls gegensteuern.

Situation 1

Patrick hat gerade das Laufen gelernt. Er steht mit unsicheren Beinen in der Welt, wackelt bedenklich hin und her und fällt immer wieder hin. Dann steht er auf, und – plumps – liegt er wieder auf dem Boden. Er schaut sich um, blickt zu seinem Vater, der eine Zeitung in der Hand hält, die Szene beobachtet. Der Vater blickt unsicher, Patrick erhebt sich, fällt schnell wieder hin und fängt auf der Stelle an, lauthals zu brüllen.

Wie reagieren Sie?

Das ist ein Spiel von Patrick. Der will nur Aufmerksamkeit. Wenn man sich um alles kümmert, hat man nie seine Ruhe. Patrick wird es schon irgendwann lernen, aufrecht zu gehen. Hauptsache, ich bin in seiner Nähe.

Sie springen sofort auf, trösten Patrick mit den Worten: »Das ist doch nicht so schlimm! Das kann passieren!«, und Sie versuchen, ihn zu beruhigen.

Sie schauen Patrick an, lächeln, gehen auf ihn zu und ergreifen sein ausgestrecktes Händchen. Dann nehmen Sie ihn kurz in den Arm und stellen ihn wieder auf die Beine. Sie bieten ihm die Hand an, damit er Halt spürt.

Situation 2

Die dreijährige Sophie sitzt in der Küche und sieht Ihnen zu, wie Sie Gemüse putzen. »Will helfen«, sagt Sophie, »will helfen!« Sie überlegen: »Das Messer ist scharf, Sophie könnte sich verletzen. Ist sie nicht zu klein dafür?« Sophie fordert immer vehementer ein Messer, um sich am Gemüseputzen zu beteiligen.

Wie reagieren Sie?

Sie ignorieren den Wunsch Ihrer Tochter, vertrösten sie auf später: »Dafür bist du noch zu klein! Schau mal, du könntest dich schneiden! Und dann wärst du doch traurig, weil du dir wehgetan hast! Wenn du mal größer bist, darfst du helfen.«

Sie holen ein kleines Messer und zeigen Sophie, wie man es hält und die Gurke damit schneidet. Dann überlassen Sie Ihrer Tochter das Messer und beobachten, wie sie es anfasst und die Gurke schneidet. Sie lächeln ihr aufmunternd zu. Sophie ist stolz, als sie eine Gurke zerkleinert hat, und Sie loben: »Gut gemacht, Sophie.«

Sie wehren Sophies Wunsch ab und machen einen Gegenvorschlag: »Ich beeile mich. Und wenn ich fertig bin, dann spielen wir. Du musst dich nur noch einen Augenblick gedulden.«

Situation 3

Moritz weint immer bitterlich, wenn Sie ihn im Kindergarten abgeben. Was Sie von den Erzieherinnen wissen: Wenn Sie gegangen sind, dann beruhigt Moritz sich schnell, lässt sich auf das Spiel mit den anderen Kindern ein.

Wie reagieren Sie?

Moritz’ Abschiedsschmerz ist normal. Sie haben ein Ritual vereinbart: Sie umarmen ihn, drücken ihm drei Küsse ins Gesicht und geben Moritz der Erzieherin an die Hand. Dann gehen Sie langsam weg, winken ihm zu und vertrauen darauf, dass es ihm gut gehen wird.

Sie wollen den Abschiedsschmerz vermeiden, weil Ihnen Ihr Sohn so leidtut. Wenn Sie ihn der Erzieherin übergeben, lenken Sie ihn mit irgendetwas ab und machen sich dann ohne große Worte schnell davon, in der Hoffnung, dass Moritz sich beruhigt.

Sie haben ein verdammt schlechtes Gewissen, weil Sie Moritz allein zurücklassen. Sie denken, dass er möglicherweise noch zu jung für den Kindergarten ist, und überlegen, ihn doch wieder abzumelden und ihn zu Hause zu lassen.

Situation 4

Im Zimmer des vierjährigen Paul sieht es meist aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Paul stört sich nicht an der Unordnung, im Gegenteil. Je nachdrücklicher Sie ihn auffordern, endlich aufzuräumen, umso gelassener wird er. Er stört sich nicht an Drohungen wie: »Wenn du nicht aufräumst, lese ich dir keine Geschichte mehr vor!« Paul zuckt nur mit den Schultern.

Wie reagieren Sie?

Vielleicht hat er die Übersicht in seinem Chaos verloren, weiß nicht mehr, wo er mit der Ordnung anfangen soll. Sie machen ihm deshalb ein Angebot: »Ich helfe dir 5 Minuten. Dann gehe ich, und du räumst weiter auf!« Und das tun Sie dann auch.

Sie denken, dass Paul selbst nicht Ordnung schaffen kann. Während er im Kindergarten ist, räumen Sie sein Zimmer auf.

Sie sind sauer: »Soll er doch in seiner Unordnung untergehen! Ich bin schließlich nicht seine Putzfrau!« Sie halten die Unordnung aber nicht mehr aus und fangen an zu drohen: »Wenn du nicht aufräumst, gibt es kein Fernsehen!« Falls Paul dann aufräumt, denken Sie: »Warum muss man immer erst böse werden? Aber wenn es hilft, was soll’s!«

Situation 5

Die knapp sechsjährige Bea freut sich auf die Schule, weil sie dann »groß ist«. Nun steht der Schulbesuch in wenigen Wochen an, und Bea hat plötzlich keine Lust mehr. Wenn sie das Wort »Schule« hört, reagiert sie heftig: Mal hat sie Kopfschmerzen, dann tut ihr der Bauch weh, dann hält sie sich die Ohren zu, wenn von der Schule geredet wird. Sie verweigert sich total.

Wie reagieren Sie?

Bea scheint überfordert, deshalb überlegen Sie, Bea noch ein Jahr im Kindergarten zu belassen, damit sie reifer wird. Sie denken aber auch, dass Bea Sie mit ihren Ängsten vielleicht unter Druck setzt. Sie sind hin- und hergerissen.

Man kann Kinder nicht vor allem bewahren. Die Schule ist nun mal eine Pflicht. Da muss jeder durch. Und wenn Bea erst mal in der Schule ist, wird sie sich schon daran gewöhnen. Aller Anfang ist schwer.

Ich rede nicht mehr von der Schule. Bea ist knapp sechs Jahre alt, sie ist noch nicht groß! Wenn sie den Kindergarten verlässt, werde ich weiter dafür sorgen, dass sie genügend Zeit zum Spielen hat, Zeit, für sich zu sein.

Situation 6

Der achtjährige Mario liebt die »Streuordnung« in seinem Zimmer. Sie halten sich da raus, haben ihm aber auch erklärt: »Wenn du etwas nicht wiederfindest, dann ist das deine Sache! Und ich kaufe auch nichts Neues.« Mario hatte ganz selbstsicher geantwortet, er verliere nichts, habe »alles im Griff«, wisse, wo die Dinge ihren Platz haben. Eines Tages ist sein MP3-Player verschwunden. Mario sucht und sucht. Aber er findet ihn nicht!

Wie reagieren Sie?

Weil Ihr Sohn so verzweifelt ist, kaufen Sie ihm doch ein neues Gerät. »Aber wenn das wieder weg ist«, lassen Sie ihn gleich wissen, »gibt es keinen neuen Player mehr.«

»Ich habe es dir gesagt. Jetzt sieh zu, wie du ein neues Gerät bekommst! Vor mir ganz bestimmt nicht! Das hast du nun von deiner Unordnung!«

Sie suchen gemeinsam mit ihm nach einer Lösung und machen Vorschläge: Er könne sein Taschengeld für die Anschaffung eines neuen Geräts verwenden, er könne Geld ansparen. Aber Sie bleiben dabei, dass Sie keinen MP3-Player kaufen werden. Wenn er Sie gemein findet, ignorieren Sie das.

Situation 7

Der achtjährige Timo war bisher ein sehr selbstbewusster Bursche. Doch mit einem Male wirkt er in sich gekehrt, ängstlich, traut sich nichts mehr allein zu, will immer in Ihrer Nähe sein. Ja, es scheint fast so, als dürften Sie nicht mehr aus dem Haus gehen, müssten ständig in seiner Umgebung sein.

Wie reagieren Sie?

Timo hat wohl, als er klein war, nicht genug Urvertrauen aufgebaut. Aber wie kann ich nachträglich dafür sorgen, dass er mehr Selbstvertrauen bekommt? Die Ursachen seines Verhaltens suchen und finden Sie bei sich.

Das ist halt so eine Phase. Da kann man nicht viel machen. Gut, ich werde ihm jetzt mehr Nähe geben, aber auch nicht zu viel. Denn das könnte er ausnutzen. Und dann wird er nicht unbedingt lebenstüchtiger.

Timo ist in der letzten Zeit gewachsen, und die Veränderung macht ihm Angst! Aber ich bin nicht seine Amme, die ihn ununterbrochen umsorgt. Ich habe das Recht auf ein eigenes Leben. Aber ich biete ihm Verlässlichkeit. Wenn ich das Haus verlasse, dann sage ich, wann ich wieder zurück bin.

Situation 8

Patricia, zehn Jahre, hat Freundinnen, die Ihnen nicht passen: Sie kleiden sich provozierend, schminken sich aufreizend, verwenden eine in Ihren Augen obszöne Sprache. Sie machen sich Sorgen, dass Ihre Tochter zu sehr unter diesem problematischen Einfluss steht und sich ihm nicht entziehen kann.

Wie reagieren Sie?

Sie laden die Freundinnen ein, obgleich Ihre Tochter das als peinlich empfindet. Sie möchten auf jeden Fall gerne wissen, wie Patricias Freundinnen so ticken, und sich ein realistisches Bild von ihnen machen.

Sie untersagen Ihrer Tochter den Kontakt mit diesen Mädchen. Sie wissen zwar, dass Verbote kontraproduktiv sind, aber besser scheint es Ihnen, jetzt klare Grenzen zu setzen, als später das große Chaos zu erleben.

Das ist ja irgendwie normal in dem Alter, und man kann sowieso nichts machen. Patricia muss ihre eigenen Erfahrungen machen. Ich hoffe, ich habe ihr genügend Fundament mitge-geben, dass sie auch mit dem umgehen kann, was die Freundinnen ihr so vermitteln.

Situation 9

Max, zwölf Jahre, ist gewachsen, körperlich in die Höhe geschossen und hat »null Bock auf Schule«. Sie haben die Sorge, Ihr Sohn könnte eine »faule Socke« werden, und fordern ihn jeden Tag auf, seine Hausaufgaben zu machen. Max antwortet meist gelangweilt: »Mach ich gleich.« Oder er behauptet, es habe heute gar keine Hausaufgaben gegeben.

Wie reagieren Sie?

Wenn man jetzt nicht durchgreift, dann ist die Schullaufbahn zu Ende. Deshalb verordnen Sie Handy-, Computer- und Fernsehverbot. Wenn Max protestiert, erklären Sie ihm, das habe er sich selber zuzuschreiben.

Sie wissen nicht mehr weiter, denn die Situation ist verfahren. Und weil Sie aus dem Machtkampf mit Max nicht mehr herauskommen, suchen Sie bei einer Beratungsstelle Unterstützung, um das Problem zu lösen.

Max muss da seine eigenen, wenn auch schmerzhaften Erfahrungen machen. Wenn er will, soll er kommen. Aber ich biete ihm keine Unterstützung an. Er muss selber klarkommen. Da muss man loslassen!

Situation 10

Die dreizehnjährige Annabell zieht sich immer mehr aus dem Familienkreis zurück, will mit Ihnen und allen anderen nichts mehr zu tun haben. Sie verweigert sich auch allen Angeboten, die sie früher toll fand, und hat einfach keinen »Bock« mehr auf Eltern, Geschwister und überhaupt Familie.

Wie reagieren Sie?

Pubertät ist eine Zeit, in der man nichts mehr machen kann, in der die Heranwachsenden ihr eigenes Leben inszenieren. Erziehung ist in der Pubertät vorbei und hat auch keinen Sinn mehr, sonst reibt man sich nur auf.

Solange sie ihre Füße unter meinen Tisch setzt, soll sie sich gefälligst nach mir richten. Wollen wir doch mal sehen, wer hier das Sagen hat!

Ich möchte den Kontakt auf jeden Fall aufrechterhalten. Aber wahrscheinlich muss der nun anders aussehen als früher. Ich werde mit Annabell über Möglichkeiten reden, was wir verändern sollten, damit sie mehr Freiraum hat, es aber trotzdem auch Zeit für Gemeinsames gibt, und mit ihr eine Vereinbarung darüber treffen, was wir wann gemeinsam machen.

Situation 11