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Jan-Uwe Rogges Bücher sind pädagogische Bestseller, weil der Autor von "Kinder brauchen Grenzen" mit besonderem Gespür auf den Alltag von Familien reagiert. Angst gehört zu den Grundgefühlen menschlichen Daseins. Doch möchten viele Eltern ihre Kinder angstfrei aufwachsen lassen. Jan-Uwe Rogge besteht darauf: Kinder brauchen Ängste. Denn Ängste machen dann stark, wenn ein Kind weiß, wie es seine Angst bewältigen kann. Der Autor sagt, was Eltern tun können, wenn - ein Kind nicht ein- oder durchschlafen kann, weil z.B. Gespenster im Zimmer sind - der Abschied vor dem Kindergarten immer tränenreich ist - Kinder fremdeln und sich an sie klammern - Kinder in den Medien Katastrophen erleben - Kinder sich als Außenseiter fühlen - Kinder sie mit ihren Ängsten unter Druck setzen - sie Ängste hervorrufen, obwohl sie nur das Beste wollen - sie Fehler gemacht haben und ihre Kinder unsicher reagieren. Dr. Jan-Uwe Rogge versteht es, mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Kompetenz in Beispielen aus dem Erziehungsalltag und in den gut verständlichen theoretischen Darstellungen handfesten Rat zu geben und pädagogische Sicherheit zu vermitteln.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jan-Uwe Rogge
Jan-Uwe Rogges Bücher sind pädagogische Bestseller, weil der Autor von «Kinder brauchen Grenzen» mit besonderem Gespür auf den Alltag von Familien reagiert. Auch das Thema dieses Buches trifft eine sensible Frage, mit der jede Mutter und jeder Vater schon einmal zu tun hatte. Denn welches Kind stand noch nicht im Schlafanzug in der Tür: «Mama, ich kann nicht einschlafen, ich hab Angst.»
Angst gehört zu den Grundgefühlen menschlichen Daseins. Dennoch möchten Eltern ihre Kinder in einer angstfreien Atmosphäre aufwachsen lassen. Aber wenn Kinder von ihren Räubern, Vampiren und sonstigen Monstern erzählen, fühlen sie sich häufig zu Recht unverstanden: «Du musst doch keine Angst haben.» Dieser berühmte Satz stimmt oft einfach nicht, sagt Jan-Uwe Rogge.
Es gibt kein Leben ohne Angst, auch nicht für Kinder. Doch oftmals glauben Eltern schuldbewusst, dass sie etwas falsch gemacht haben, wenn ihre Kinder verängstigt sind und das auch zeigen. Bagatellisierungen wie «Das ist doch nicht so schlimm» oder gar «Stell dich nicht so an» führen dazu, dass Kinder sich allein gelassen fühlen und häufig ihre Ängste verdrängen. Jan-Uwe Rogge besteht darauf: Kinder brauchen Ängste. Denn Ängste machen stark – wenn ein Kind weiß, wie es die Angst bewältigen kann. Je geborgener sich ein Kind fühlt, desto sicherer wird es mit den Ängsten umgehen.
Jan-Uwe Rogge kann noch Geschichten erzählen – von Kindern und ihren kleinen Nöten und großen Ängsten, von Eltern und ihren Unsicherheiten und Sorgen. Der versierte und erfahrene Familienberater weiß, dass die Medien heute schon Kinder mit Grausamkeit und Gewalt konfrontieren, und versteht es, mit einer ihm eigenen Leichtigkeit und Kompetenz in Beispielen aus dem Erziehungsalltag und in den gut verständlichen theoretischen Darstellungen handfesten Rat zu geben.
Jan-Uwe Rogge gilt als Deutschlands erfolgreichster Erziehungsexperte. Er ist Familien- und Kommunikationsberater sowie Buchautor. Seit Jahrzehnten liefert er Antworten auf Fragen, die Eltern bewegen. Er hält Vorträge und führt Seminare im In- und Ausland durch. Seine Bücher sind Klassiker der Elternliteratur und Bestseller, sie wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Er ist als Experte regelmäßiger Gast in zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsendungen. Rogge lebt in der Nähe von Hamburg.
Herausgegeben von Bernd Gottwald
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2025
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel «Kinder haben Ängste» im Rowohlt Verlag
Copyright © 1997 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Redaktion Barbara Wenner
Cover-Konzept anyway, Hamburg, Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt
Coverabbildung gettyimages/Mixmike
ISBN 978-3-644-02256-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Vorwort
Ängste gehören zum Leben
Die Angst hat ein Doppelgesicht
Angst, Furcht und Schrecken
Angst ist ein Gefühl
Ängste können verarbeitet werden
Angst ist auch eine Frage des Temperaments
Ängste begleiten den Lebenslauf
Frühe Ängste sind kein Schicksal
Kinder wollen Halt
Vom Klammern, Weinen und vom Fremdeln
Bindung schafft Selbstwertgefühl
Die Mutter als Sicherheitsbasis
Kinder werden wählerisch
Nähe und Distanz erfahren
Anna-Lena fremdelt
Distanzlosigkeit
Vom Krabbeln und vom Laufenlernen
Kinder erleben erste Trennungen
Vom Loslassen und Festhalten
Mit Trennungsängsten ist nicht zu spaßen
Überbehütung und mindere Bindung machen ängstlich
Daumenlutschen, Nuckeln und der Schnuller
Kinder brauchen Eigen-Zeit
Patentrezepte gibt es nicht
Einschlafen, durchschlafen und Trennungsängste in der Nacht
Mein Kind schläft einfach nicht ein!»
«Unser Kind wacht jede Nacht auf!»
Franziska und das Traumfresserchen
Der erste Abschied oder wenn der Kindergarten Eltern angst macht
Pünktlichkeit gibt Sicherheit
Hänschen klein geht allein
Abschiede tun weh
Erziehungsbedingte Trennungsängste
Wenn Eltern sich trennen, tut es weh
Monster, Geister und Konsorten
Von den Ängsten, gefressen zu werden
Vom Sauber-Sein und den Ängsten, im Klo verschlungen zu werden
Ninas Thron
David und Goliath
Der Blitz, die Hexe und der Räuber – Symbole kindlicher Vernichtungsängste
Von kleinen Schrammen und großen Schmerzen
Die Guten und die Bösen – Über Phantasiefiguren, Zaubergeschichten und Monsterrituale
Benjamin besiegt den bösen Dino
Tamara und die Krokodile – Von der Kraft der Zaubergeschichten
Mathias bekommt die Monster-Zähm-Medaille
Machen Horrorfiguren aggressiv?
Wenn Kinder schießen – Aggressionen im Spiel
Kriegsängste sind Vernichtungsängste
Vom Woher und vom Wohin
Kinder philosophieren über den Sinn des Lebens
Von Liebe und Haß, vom Pflegen und Quälen – der Umgang mit Tieren
Kinder fragen nach dem Tod
Kinder brauchen Wahrhaftigkeit
Protest, Verleugnung und Verarbeitung – Phasen von Trauer und Trennung
Wiederannäherung als Form der Bewältigung
Rituale geben Kraft
Abschied inszenieren
Kinder verarbeiten Ängste
Die Fehler der Eltern
Lea, das Schlitzohr
Keine Angst vor der Angst
Oliver und die Monsterschiffchen
Drei wichtige Regeln für Eltern
Mit den Kindern wachsen die Aufgaben und auch die Ängste
Beates Zubettgeh-Ritual
Kinder bewältigen Ängste durch magische Kräfte
Kindliche Techniken der Angstbewältigung
Phantasie stopft Wissenslücken
Phantasie macht angst, Phantasie besiegt Angst
Zaubergeschichten und Märchen
Geschichten erzählen
Gegen Bettnässen und Schlaflosigkeit oder die heilende Kraft von Geschichten
Klara, das Känguruh und der Zauberstein
Rituale bannen Ängste
Cornelia und ihr Draki
Elemente des Rituals
Unsichtbare Gefährten nehmen Ängste
«Mit Knorri bin ich stark!»
Von der unheimlichen Lust an der Angst
Die Elemente der Angstlust
Angstlust, Zurücksinken und Anklammern
Steffen und die Biene Maja
Wenn aus der Lust an der Angst Entsetzen wird
Erziehung, die Ängste schaffen kann
«Manchmal krieg ich echt schon Angst!» – Kinder erzählen
«Die nehmen mich nicht ernst!» – Grenzenlose Erziehung macht unsicher
«Oder muß ich erst böse werden?» – Strafandrohung, Inkonsequenz und Kinderängste
Von Maria, die sich für die inkonsequenteste Mutter der Welt hielt
«Ich kann das nicht!» – Über Entmutigungen
«Das mußt du doch können!» – Überforderte Kinder sind ängstlich
«Keiner mag mich!» – Von der Verzweiflung, ein Außenseiter zu sein
Von den Folgen emotionaler Ablehnung
«Ich bin wie mein Vater!» – Der elterliche Perfektionismus und die Angst vor Mißerfolg
«Mut zur Unvollkommenheit»
Wenn Ängste passiv bewältigt werden
Wie Eltern Erziehungsfehler wiedergutmachen können
Von Bernhard, dem unsichtbaren Indianer und einem starken Löwen
Kinderängste und die Medien
Kinder sind Experten
Musik, Geräusch und Bilder und was Kindern sonst noch angst macht
Medien – nicht Ursache, sondern Verstärker von Angst
Kein Happy-End ohne Happy-End
Kinder hören Fernsehen
Das Erschrecken über Katastrophen
Der eigene Alltag kehrt wieder
Wie Kinder mit den Medien-Ängsten umgehen oder warum Sehverbote nicht helfen
Spiele und Wiederholungen geben Gewißheit
Nachwort
Angst und fachkundige Hilfe
Psychosomatische Erkrankungen
Ausgewählte Bücher und Medien, die Kindern bei der Bewältigung von Ängsten helfen
Literatur
Das ist ein Geist, aber ein ganz lustiger!
Katharina, 4 Jahre
Für Nine
Das ist ein gefährlicher Gespensterfisch.
Tonia, 4 Jahre
Wenn ich Eltern- und Familienseminare zum Thema «Kinderängste» anbiete, erlebe ich eine angespannte Situation: Man kann die Angst, die die Eltern haben, förmlich spüren. Sie wirken bedrückt, still, unsicher, betreten. Und ähnlich ist es, wenn Eltern wegen des ängstlichen Verhaltens ihrer Kinder um Beratung bitten.
Kinderangst, so scheint es, macht Eltern angst, vermittelt schlechtes Gewissen oder unangenehme Gefühle. Kinderängste werfen Fragen danach auf, warum gerade das eigene Kind eine Furcht zeige, die andere überhaupt nicht hätten. Und dies, obwohl man sich in der Erziehung doch alle Mühe gibt, jegliche Belastungen von den Kindern fernhält, die Unsicherheit und Ängstlichkeit mit sich bringen könnten.
«Jede Nacht hat mein Sohn Angst, er träumt schlecht, schläft nicht wieder ein», kommentiert eine Mutter ihre nächtlichen Erfahrungen. «Und meine Tochter will nicht in den Kindergarten, weil sie Angst hat, daß ich sie nicht wieder abholen würde. Jeden Morgen dieser Nerv», berichtet eine sichtlich gestreßte Mutter. «Nachts scheint das Kinderzimmer meines Sohnes zum Tummelplatz aller Geister unserer Stadt zu werden. Nichts hilft dagegen: keine guten Worte, keine Argumente», klagt ein genervter Vater.
«Und ich kann keinen Schritt mehr aus dem Haus gehen, ohne daß mein Sohn klammert, klettet, er hat fürchterliche Angst, daß ich nicht wiederkomme», erzählt eine Mutter und gesteht dann: «Da ist mir der Kragen geplatzt: Es ist zum Davonlaufen, hab ich geschrien, aber da war erst recht die Hölle los. Siehste, hat er gesagt, du gehst weg. Oje, er hat so gewimmert.»
«Mein Sohn hat sich neulich nur ein bißchen die Haut aufgeratscht. Es hat ein klein wenig geblutet, aber er hat gebrüllt: Ich sterb! Ich sterb! Es war fürchterlich», sagt ein Vater mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck: «Ich war völlig hilflos.»
Kurze Kommentare und Anmerkungen, die zeigen, wie Kinderängste Eltern bewegen, oder besser: wie Eltern häufig rat- und hilflos reagieren, nicht wissen, wie sie angemessen antworten können. Kinderängste lösen häufig bei Eltern die Frage aus: Haben wir etwas falsch gemacht, wenn unser Kind nun Angst hat? Was sind richtige Antworten auf die Fragen der Kinder? Kann ich mein Kind ohne Angst erziehen?
«Nein», höre ich eine Mutter im Ton der Entschiedenheit sagen: «Aber ehe ich das kapiert hatte, mußte ich meine Lektion lernen.» Sie sei 23 gewesen, als ihr erstes Kind, der Jakob, geboren wurde. Damals sei sie viel beschäftigt gewesen, habe mit ihrem Mann eine Firma aufgebaut. «Jakob entwickelte sich prächtig», erzählt sie. «Gut, es gab hin und wieder mal Schwierigkeiten: Er näßte noch einige Zeit ein, nuckelte, hatte lange Zeit seinen Schnuller. Aber das störte mich nicht. Mir fiel es auch gar nicht auf! Wir hatten ein richtig herzliches Verhältnis.» Jakob beschäftigte sich wunderbar mit sich selbst, war ein sehr ausgeglichenes Kind, wirkte gelassen. «Und das, obwohl es manchmal viel Hektik gab.» Die Mutter lacht: «Dann kam das zweite Kind. Ich hab die Arbeit erheblich reduziert, wollte die Schwangerschaft ganz bewußt erleben und hab mich viel mit Kindererziehung beschäftigt. Ich wollte mehr Zeit für meinen Sören haben, die Fehler, die ich bei Jakob gemacht hatte, nicht wiederholen. Ich wollte alles richtig machen.» Sie sieht mich an: «Was sage ich Ihnen: Sören ist nun vier. Er schläft schlecht ein, träumt und phantasiert von bösen Tigern, ist zögerlich, zaudernd, traut sich häufig nichts zu. Er hat Angst vor jeder neuen Situation.» Sie schüttelt den Kopf: «Dabei wollte ich alles perfekt machen, ihm Ängste ersparen, die ich als Kind durchgemacht hatte und die auch Jakob hatte. Und alles ist schlimmer, als ich es gewollt habe.»
Diese kleine Geschichte verdeutlicht zweierlei:
Kinder durchleben in ihren ersten Lebensjahren entwicklungsbedingt verschiedene Ängste, die sich bei ihnen – beeinflußt durch Anlage, Temperament und Familienklima – zeigen. Daneben gibt es Ängste, die sich aus den Eltern-Kind-Beziehungen ergeben. Nicht selten «zweckentfremden» Eltern ungewollt die erziehungsbedingten Ängste, z.B. wenn die Mutter sagt: «Es ist zum Davonlaufen!» So können nämlich beim Kind tiefliegende Trennungsängste aktualisiert werden.
Kinderängsten ist nicht mit einem erzieherischen Perfektionismus beizukommen. Und objektiv richtige Antworten auf Kinderfragen sind nicht selten jene, die den Kindern nicht passen und sie überfordern. Angemessener sind wahrhaftige Antworten, die sich am Alter, an den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder orientieren.
Deshalb sollen meine praktischen Hinweise, die sich in den Geschichten dieses Buches finden, nicht als fertige Gebrauchsanweisung zur Bearbeitung von Ängsten mißverstanden werden. Ich will vielmehr Mut machen, gemeinsam mit den Kindern eigene Wege zur Angstbewältigung zu gehen – und dieses Gehen bewußt zu erleben, weil so individuelle Pfade gefunden und beschritten werden. Dabei kann man viel von Kindern lernen. Mich hat ihre mutige, magische, spielerische, paradoxe, manchmal anarchistische, auch grausame und provokative Art fasziniert, sich Ängsten zu stellen. Ich habe von ihrer Gestaltungs- und Schöpfungskraft gelernt.
Zugleich erinnerten mich die Kinder an meine eigenen Kindheitsängste. Mir wurde vor Augen geführt, wie ich damit umgegangen bin. Eine meiner Lieblingsgeschichten, die mir mein Großvater erzählte, stammte aus seiner eigenen Kindheit. Er lebte auf einem großen Bauernhof. Und wenn ein Gewitter kam, holte seine Mutter alle Bewohner in die Diele, man setzte sich um einen Tisch, zündete eine Kerze an, legte die Bibel und alle Papiere dazu. Und dann fing seine Mutter an, Gruselgeschichten zu erzählen. Mein Großvater kannte sie nicht mehr – ich hätte sie gerne gehört. Aber er wußte noch wie damals: Die Geschichten waren so gruselig, daß er darüber glatt das Gewitter vergaß. Und manchmal bedauerte er, daß es Jahreszeiten mit so wenigen Gewittern gab.
Als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war, näßte ich hin und wieder ein – nicht häufig, vor allem aber dann, wenn mein Kinderbett frisch bezogen war. Ich war darüber sauer, wütend, wollte das nicht. Aber es passierte immer wieder. Und ich schlief zunehmend schlechter ein, hielt mich wach, damit es nicht wieder passierte. Als ich eines Morgens deshalb unausgeschlafen war, fragte meine Großmutter, warum ich so ungnädig wäre. Ich erzählte ihr die Geschichte. Sie fummelte in ihrer Kittelschürze, holte ein großes Leinentaschentuch heraus, das – um es vorsichtig auszudrücken – gebraucht war. «Beim nächstenmal, wenn alles frisch ist», sagte sie, «legst du das auf das Kissen und den Kopf drauf und denkst: Das Bettzeug ist dreckig!» Wie hätte ich auch anderes denken können! Ich nahm das Tuch mit, hütete es wie meinen Augapfel. Nach ein paar Tagen legte ich es auf mein frischbezogenes Kopfkissen. Gerüche von Tausendundeiner Nacht stiegen in meine Nase. Es roch nach Kartoffelschalen, nach Äpfeln und Nüssen. Ich schlief selig ein – und näßte nicht mehr ein.
Als ich so sechs war, segelte ich mit meinen Eltern auf der Ostsee. Sie hatten für damalige Verhältnisse ein großes Segelboot. Einmal kamen wir in einen heftigen Sturm. Die Wellen gingen hoch, der Wind pfiff in den Wanten. Das Schiff durchschnitt die Wellen, Brecher kamen über. Ich hockte mich in eine Ecke des Cockpits, den Rücken an die Kajütenwand gelehnt, mich fest andrückend, ein kleines Spielzeugauto in der Hand, das ich über die Kajütenwand gleiten ließ - ständig meinen Vater im Blick, der am Steuer saß, seine Pfeife in der Hand, klare Kommandos gebend, so als sei die Situation für ihn eine wie jede andere auch. Und so war es auch! Wenn das Boot Schräglage bekam, die Wellen wieder über das gesamte Boot spritzten, es heftig schaukelte, schaute ich meinen Vater kurz an – und sein beruhigender Blick beruhigte mich. Dieser Sturm war gruselig, aber schön gruselig, weil ich mich aufgehoben und sicher fühlte. Es war wie Geisterbahn fahren – nur spannender.
So ist mir bei der Beschäftigung mit den Ängsten der Heranwachsenden klargeworden, über welche Kreativität, ja welchen Humor Kinder verfügen, wie Kreativität und Humor ihnen schützende Distanz geben, ja welches Vertrauen sie in eigene Kräfte legen, wenn man sie läßt, sie nicht entmündigt und ihnen Verantwortung entzieht.
Humor findet sich denn in vielen Geschichten dieses Buches. Es sind Geschichten zum Lachen, weil Lachen befreit. Aber es sind manchmal traurige Geschichten, weil Angst auch mit Trennung und Abschied zu tun hat, und die sind ohne Schmerz und Tränen verbunden.
In diesem Buch gehe ich auf zwei Formen der Angst ein: auf die erziehungs- und auf die entwicklungsbedingten Ängste. Daneben gibt es krankmachende Ängste, die einer therapeutischen Begleitung bedürfen. Mit diesen Ängsten werde ich mich aber nur am Rande beschäftigen – nicht, weil ich sie für unwichtig erachte, sondern weil es hierzu andere, kompetente Veröffentlichungen gibt. Und ich versuche auch keine theoretische Erörterung des Themas. Ich möchte den Blick vielmehr auf jene Seite der Angst lenken, die zum Leben gehört, die schützt, die stärkt, die lebenstüchtig macht. Doch diese produktive Seite der Angst können Kinder nur entwickeln, wenn man nicht mit Angst erzieht, wenn Eltern Angst nicht für ihre Zwecke funktionalisieren. Denn dann erdrückt Angst und engt die kindliche Entwicklung ein.
Das ist mein Freund Draki!
Cornelia, 5 Jahre
Einige Kinder einer vierten Grundschulklasse sitzen in einem Stuhlkreis und erzählen sich Geschichten zum Thema «Als ich einmal Angst hatte». «Ich lag im Bett», berichtet die achtjährige Annette, «da quietschte es fürchterlich. Da konnte ich nicht mehr ruhig sein. Ich wußte nicht, was es war. Mein Herz klopfte schnell. Ich konnte meine Augen keinen Zentimeter mehr zumachen. Den Kopf habe ich ein bißchen unter die Decke gesteckt. Und dann kam jemand die Treppe hoch. Sein Schatten war an der Wand. Da habe ich laut losgeschrien. Aber das war nur mein Vater, der wollte mir was sagen. Der hat mich beruhigt, ich solle nun mal keine Angst haben!»
«So was habe ich auch schon mal erlebt», sagt Caroline. «Als ich im Bett lag, war da auch so ein komisches Geräusch. Und ich dachte, jetzt kommt gleich ein Entführer und nimmt dich mit. Da hatte ich ganz nasse Hände. Ja, der kam immer näher, und da dachte ich, jetzt packt er mich. Und ich hab laut gerufen. Ganz laut. Da kam meine Mutter und hat mich getröstet. Ich durfte das Buch von den Schmugglern nicht mehr weiterlesen, weil Mama meinte, davon habe ich so schlecht geträumt.»
«Also da war bei mir auch so was», berichtet Sven. «Da hab ich was ganz Schlimmes geträumt. Ich bin in ein Gewitter gekommen, mit ganz viel Donner und Blitz. Und da dachte ich, das wär in echt. Ich bin irgendwie aufgestanden und wollte zu Mama. Aber auf dem Flur stand ein Vampir. Und der wollt mich erschrecken. Da hab ich aber gesagt: Faß mich nicht an. Und da hat er blöd geguckt und ist verschwunden, und ich bin zu Mama ins Bett gekrabbelt.»
«Gespenster sind blöde. Also, das ist eine lustige Angst», erklärt Jasmin. «Blöd ist es nur, wenn das in echt passiert. Also, Mama ist einmal zum Einkaufen gegangen. Und hat gesagt, sie ist vorm Dunkelwerden wieder da. Aber sie war nicht da. Da hab ich Angst gekriegt. Jetzt ist ihr etwas passiert, hab ich gedacht. Da hat es plötzlich an der Haustür geklingelt. Da dachte ich, jetzt kommen Gespenster und holen dich ab. Aber da habe ich durch den Schlitz geguckt, und das war Mama. Da hab ich keine Angst mehr gehabt.»
«Ich war einmal im Bett. Da hat die Straßenlaterne so komisch auf mich geschienen. Und wenn ein Auto vorbeifuhr, war da so ein Schatten, und ich dachte, ein großer Vogel will ins Zimmer kommen. Da hab ich Angst gehabt. Da hab ich meine Kuscheltiere Hasi, Schnucki und Dumbo genommen und mich mit ihnen unter der Decke versteckt. Wir haben so zusammen gekuschelt. Und dann war das nicht mehr schlimm», erzählt Johnny. «Ich war wohl noch ganz klein», fängt Ben an, «da hatte ich immer vor dem Gewitter Angst. Da kam eines, und ich hab laut gebrüllt. Meine Mutter hat mich dann auf den Arm genommen. Und sie hat mir erzählt, daß das Gewitter nicht zu unserem Haus kommen kann. Es war noch ganz weit weg. Da hatte ich keine Angst mehr vor dem Gewitter.»
«Ich hab keine Angst vor so was, nicht vor Geistern und nicht vor Gewitter», berichtet Frank. «Wenn ich nicht brav bin, komme ich in ein Heim, das sagt mein Papa. Oder sie gehen weg und lassen mich dann allein zu Hause. Ja, dann bin ich ganz allein, und davor hab ich arg Angst. Weil, ich weiß doch gar nicht, wer mir dann das Essen kocht.»
«Meine Eltern haben sich schon geschieden», sagt Laura. «Sie sind schon auseinander. Papa wohnt ganz weit weg. Den seh ich nur noch selten. Aber der ist blöd, sagt meine Mama. Nun will ich ihn auch nicht mehr sehen. Aber ich bin schon traurig. Nun hab ich nur noch Mama. Und wenn die auch noch geht, wenn die also auch noch weggeht, dann bin ich ganz alleine und hab nur noch Teddy. Der ist mein Allerliebster.»
«Ich hab Angst, in die Schule zu gehen», sagt Ole, «weil ich nicht gut bin. Meine Lehrerin mag mich, die ist nett, aber Papa sagt, wenn ich nicht richtig lerne, dann werd ich Müllmann oder obdachlos. Der ist neulich mit mir da hingegangen und hat mir gezeigt, wo die wohnen. Das war ganz schrecklich. Ich glaub, ich komm da auch mal hin.»
«Ist nicht so schlimm, wenn du da bist», will ihn Marlene trösten, «die haben immer einen Hund dabei, der auf sie aufpaßt. Denen passiert nichts. Das ist wie bei mir. Wenn ich allein zu Hause bin, dann nehme ich unseren kleinen Benno, unseren Spitz. Dann setze ich mich in den Sessel, hab ihn im Arm und sag: Nun mußt du auf mich aufpassen. Und dann knurrt er. Und dann fühl ich mich ganz sicher.»
«Manchmal möchte ich auch ein Hund sein und knurren so wie deiner», schmunzelt Beatrice. «Ich find das ganz blöd, wenn ich mit Mama unterwegs bin und wir jemanden sehen, den ich nicht kenne, dem muß ich dann immer die Hand geben. Ich mag das nicht. Ich kenn den ja nicht. Sonst soll ich von keinem was nehmen, den ich nicht kenne. Aber dann …» Sie schüttelt verständnislos den Kopf.
«Also», beginnt Ralf-Peter, «also, wenn ich Katastrophen oder Unglücke sehe, im Fernsehen oder so. Oder wenn ich davon höre. Dann habe ich schon Angst. Das kann dir auch passieren, denke ich mir. Oder daß meinem Papa etwas passiert, der ist auch viel mit dem Flugzeug unterwegs. Der hat zwar versprochen, er paßt auf sich auf. Aber da passiert so viel. Der kann doch gar nicht auf alles aufpassen.»
«Früher», lacht Francesco, «hatte ich Angst vor Krokodilen. Die lagen unter meinem Bett. Da durfte nichts aus meinem Bett raushängen. Und ich bin dann auch nirgendwo mehr hingegangen. Dann hatte ich aber ’ne Idee: Ich wußte, die sind ganz gefräßig. Deshalb wollten sie mich ja auch haben. Da hab ich Smarties um mein Bett verteilt. Die sollten sie zuerst essen. Und dann sind sie satt, und dann fressen sie mich nicht mehr. Und am anderen Morgen waren die Smarties immer noch da. Da hab ich gedacht, da sind ja gar keine Krokodile und hab selber die Smarties gegessen. Aber dann war mir schlecht. Ich hab gedacht, vielleicht haben die Krokodile die nur nicht gegessen, weil ihnen nicht schlecht werden wollte. Also hab ich gedacht, da sind doch Krokodile. Am nächsten Tag hab ich dann Schokolade um das Bett verteilt. Und als die am nächsten Morgen dann auch noch da lag, hab ich gedacht, so wählerisch können die nicht sein. Also gibt’s doch keine Krokodile unterm Bett.»
«Gibt es doch», beharrt Nadine. «Versuch’s mal mit Lila Pause.» Darauf Francesco genervt:
«Entweder sie fressen Schokolade, dann fressen sie dich nicht. Oder wenn die Schokolade noch da ist, gibt’s keine Krokodile. Und du wirst auch nicht gefressen. Dann kannst du die Schokolade fressen, dann siehst du aber auch bald aus wie ein Krokodil.»
«Blödkopp», meint Nadine.
Diese Gespräche zeigen die vielen Gesichter, die Ängste für Kinder haben. Und sie machen die alltäglichen Aspekte von Kinderängsten deutlich, die im Laufe des Buches, in den Geschichten und meinen Kommentaren ausführlicher erläutert werden.
Sie ist eine natürliche Erfahrung des Menschen, hat eine sichernde Funktion, ist notwendig, um das Überleben zu gewährleisten. Die Angst stellt eine notwendige physiologische und intellektuelle Vorbereitung auf eine gefährliche und bedrohliche Situation dar. Sie mahnt zur Vorsicht, ist hilfreich, um eine Gefahr realistisch einzuschätzen. Ohne Angst, ohne Furcht hätte die Menschheit in den letzten Jahrtausenden nicht überlebt. Zugleich fordern Ängste zur Bewältigung auf: Sich einer Angst selbstbewußt und freiwillig zu stellen, ihr ein Gesicht zu geben, setzt Vertrauen in die eigenen Kräfte voraus. Es stärkt zudem das Selbstwertgefühl, wenn man Ängste verarbeitet hat.
Mit der Ausbildung und Entwicklung von Ängsten im Lebenslauf bilden sich bei Kindern Angstbewältigungsstrategien aus. Und dabei erfahren die Kinder: Sie sind manchmal nicht Ängsten, aber ihren Eltern hilflos ausgesetzt, die ihnen nicht zutrauen, Ängste schöpferisch anzugehen. Damit soll nicht unterschlagen werden, daß es auch Ängste gibt, die Entwicklungen einschränken und behindern, eine Angst, die dem Wortsinn alle Ehre macht.
Angst kommt vom lateinischen «angustiae», d.h. «Enge», das Eigenschaftswort «angustus» bedeutet «eng». Kinder erleben im Laufe ihrer Biographie manche Situation, die sie unter Druck setzt, manchmal einen überbehütenden Erziehungsstil, der sie nicht losläßt, in wahrlich erdrückender Enge hält. Aber auch das Gegenteil macht Kindern Angst: der fehlende Körperkontakt und Halt, die Gleichgültigkeit, die emotionale Leere, die ihnen nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes entgegenschlägt. Kinder fühlen sich nicht angenommen, betteln um Zuwendung – und sei es über eine störend-auffallende Aktion oder psychosomatische Anzeichen (wie Kopf- oder Bauchschmerzen). Wenn die Angst ein Ausmaß erreicht hat, das ein normales Leben nicht zuläßt, die Reifung des Kindes behindert und Alltagsvollzüge in Frage stellt, dann hat sie keine Schutzfunktion mehr. Dann behindern Ängste die Entwicklung, werden pathologisch oder neurotisch, dann verliert Angst ihre lebenserhaltende Funktion, sie schwächt, wirkt bedrohlich und schüchtert ein.
Während die lebenserhaltende Angst mit konstruktiven Bewältigungsstrategien einhergeht, die ein Gefühl der Stärke vermittelt, führt die krankmachende Angst zur Schwäche und vermittelt das Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein.
«Manchmal höre ich etwas von der Furcht», will eine Mutter wissen, «dann höre ich wieder etwas von der Angst. Sind Angst und Furcht gleichbedeutend?» Furcht stellt eine Reaktion auf eine wirkliche, manchmal vermeintliche Gefahr dar. Das Kind sieht sich einer bestimmten Gefahr ausgeliefert, es fühlt sich ihr ausgesetzt und durch das furchterregende Objekt gefährdet. Ein Kind, das einst von einem Hund gebissen wurde, kann bei weiteren Begegnungen mit diesem Tier Furcht zeigen, die allerdings im Laufe seiner Entwicklung vergehen kann. Das Kind wird reifer, fühlt sich stärker und damit dem Objekt seiner Furcht nicht mehr ausgeliefert. Die Spannung zwischen eigener Schwäche und wahrgenommener starker Gefährdung verringert sich.
Während sich Furcht häufig nur an ein Objekt bindet, ist die Angst nicht selten durch eine diffuse Mehrdeutigkeit gekennzeichnet, die unsicher macht, einen Gefahrenreiz ausübt. Angst kann zudem dauerhaft sein. Angst ist mit Gefühlen verbunden, die sich lähmend auswirken können oder die zur Flucht auffordern und mit Schwäche, Unvermögen und Hilflosigkeit verbunden sind. Und Angst geht nicht selten mit Gefühlen der Ohnmacht einher, einer Ohnmacht, die das Gefühl vermittelt, die Gefahrensituation nicht konstruktiv zu packen. Dies gilt insbesondere für soziale, erziehungsbedingte Ängste, deren Ursachen in der Nahwelt des Kindes liegen. Gerade diese Ängste stellen sich dem Kind häufig bedrohlich dar und besetzen ganze Persönlichkeitsanteile, sie berühren sein Urvertrauen und Selbstwertgefühl negativ.
Eine Phobie stellt eine verschobene Angst dar, eine Angst, die sich an eine bestimmte Vorstellung bindet und zwanghaft ist, d.h. zu Aktivitäten (z.B. dem Waschzwang), aber auch zu ihrer Unterlassung (z.B. keinen Fahrstuhl zu benutzen) zwingt. Solches Vermeidungsverhalten kann umfassend werden.
Marie, jetzt 18 Jahre, hat eine Hundephobie. Als Vierjährige wurde sie von einem kleinen Hund angebellt, sie erschrak, brüllte fürchterlich. Man lachte sie aus. Hatte sie zunächst nur Furcht vor kleinen Hunden, so verselbständigte sich ihr Vermeidungsverhalten allmählich. Bald wechselte sie die Straßenseite, wenn sie nur von weitem einen Hund kommen sah, später plante sie ihre Wege, um keinem Hund zu begegnen. Sie ließ sich irgendwann mit dem Auto zur Schule fahren, abholen, verzichtete zunehmend auf außerhäusliche Kontakte, um nur ja keinen Hund zu Gesicht zu bekommen.
Neben Tierphobien sind es Schulphobien, die bei Kindern auftreten können. Die Kinder weigern sich, zur Schule zu gehen. Schon der Gedanke daran ist mit Bauch- und Kopfschmerzen, mit Übelkeit und Erbrechen, mit Eß- und Schlafstörungen verbunden. Sobald das Kind zu Hause bleiben darf, verschwinden die Symptome nicht selten. Auch phobische Schulverweigerungen sind nicht häufig verschobene Ängste, d.h., sie haben nicht selten mit unangenehmen Schulerlebnissen (hänseln, Mißerfolgs- und Versagensängsten), aber noch häufiger mit problematischen Familiensituationen (z.B. inkonsequentem Erziehungsstil, konkurrierendem Erziehungsverhalten der Eltern, einem überbehütend-klammernden mütterlichen Erziehungsstil) zu tun.
Angst, Furcht, Phobien vor konkreten Objekten und Situationen können somit erlernt werden. Man nennt solche Lernerfahrung Konditionierung, die meist in zusammengesetzten Situationen entsteht: z.B. ein plötzliches Geräusch (das Bellen) und ein darauffolgendes plötzliches Erlebnis (z.B. die Begegnung mit dem Hund). Die so erlernte Angst kann sich allmählich auf andere Hunde übertragen. Die Angst verallgemeinert sich, bindet sich möglicherweise an andere Tiere. Man muß ihnen dann nicht einmal mehr begegnen, um ein Angstgefühl zu bekommen. Manchmal reicht schon der Gedanke, die Vorstellung, sich diesen Tieren gegenüberzusehen, um unruhig, nervös, ja letztlich phobisch zu reagieren. Aber solche Ängste, die man in spezifischen Situationen erlernen kann, sind durch therapeutische Begleitung auch zu verlernen.
Ängste zeigen sich körperlich, sind mit Gefühlen verbunden: Der ängstliche Mensch hat aufgerissene Augen (oder er verschließt sie, hält sie sich zu), die Pupillen sind geweitet, die Ohren sind gespitzt oder mit den Händen zugedrückt, der ängstliche Mensch hat eine Gänsehaut oder Schweißausbrüche, der Kopf ist gerötet, das Herz schlägt schnell, die Hände zittern, sie sind feuchtkalt. Darm und Nieren arbeiten schnell, Durchfall oder Verdauungsstörungen sind vorprogrammiert. Und jeder Mensch ist sein eigener Angsttyp. Aber generell gilt: Je diffuser sich die Angstsituation darstellt, um so bedrohlicher empfindet das Kind sie, um so heftiger sind die Gefühle. Dies gilt vor allem für die erziehungsbedingten Ängste, mit denen gespielt und gedroht wird: «Warte, bis es dunkel wird und Papa kommt!» Oder: «Das sag ich dem Nikolaus!»
Mit Rationalisierungen («Du brauchst doch keine Angst zu haben!»), mit Ignorieren («Das ist nicht so schlimm!»), mit Dramatisieren («Mein armes Kind, diese bösen Träume!») ist den Kindern nicht geholfen. Und Angstgefühle eignen sich nicht dazu, Kinder abhängig und klein zu halten. Kinder wollen mit all ihren Gefühlen an-, in ihren Ängsten ernst genommen werden.
Ängste zeigen sich über Gefühle, aber nicht jede Angst eines Kindes zeigt sich den Erwachsenen. Es gibt verborgene, verdeckte Ängste, die man an vielfältigen Symptomen erkennen kann:
Regression. Die sechsjährige Katja näßt wieder ein, seit sie eine Schwester bekommen hat. Sie redet in Babysprache, stammelt herum, will wieder gewickelt werden.
Einnässen und Einkoten. Der sechsjährige Stephan kotet seit Wochen tagsüber ein. Er geht häufig in das Freigelände des Kindergartens und macht dort seine «Häufchen», setzt «seine Duftmarken», wie die Erzieherin sagt. Stephan lebt in einer angespannten Familiensituation, befürchtet die Trennung seiner Eltern.
Kein Neugierverhalten und selbstgewählte Isolation. Die achtjährige Vera fällt im Hort dadurch auf, daß sie sich nichts zutraut, auf niemand anderen zugeht. Sie scheint still-passiv, nimmt zu niemandem Kontakt auf.
Passivität und Überangepaßtheit. Der neunjährige Björn fällt in Hort und Schule kaum auf. Er ist zurückgezogen, spricht leise, hat eine gehemmte Körperhaltung. Jede Aufgabe erfüllt er «brav». Er weiß, nur über Leistung erfährt er zu Hause Aufmerksamkeit.
Ungeduld, Hektik, Aggression. Der neunjährige Fabio ist der «Gruppenkasper», der durch seine Aktivitäten in den Mittelpunkt tritt. Er erlebt elterlicherseits einen grenzenlosen Erziehungsstil, den er als Gleichgültigkeit an seiner Person deutet.
Distanzlosigkeit. Die fünfjährige Mona geht auf jede Person in ihrer unmittelbaren Nähe zu, setzt sich auf deren Schoß, umgarnt und küßt sie. Sie wirkt vertrauensselig, ja nahezu angstfrei, dabei setzt sie sich völlig ungeschützt den kompliziertesten Situationen aus.
Verborgen-verdeckte Ängste verstecken sich hinter einer Vielzahl von Symptomen, die nicht allein auf Angst hindeuten müssen. Um diese angemessen zu interpretieren, ist eine genaue Beobachtung des Kindes unabdingbar. Das äußerliche Verhalten allein genügt nicht, um es als Angstsymptom zu bestimmen.
Die angstfreie Welt ist eine Illusion, ja eine negative Utopie. Eine Erziehung, die Ängste fernhalten will, macht Heranwachsende genauso lebensuntüchtig wie jene, die Kinder mit Ängsten unter Druck setzt. Kinder werden im Laufe ihrer Biographie mit vielfältigen Erfahrungen konfrontiert, die gefühlsmäßige Eindrücke und Belastungen mit sich bringen und Spuren hinterlassen. Eine selbstbestimmte Verarbeitung und Bewältigung von Ängsten ist für die Ausbildung von Ich-Identität und Selbstvertrauen wichtig. Kinder brauchen bei der Angstbewältigung elterliche Unterstützung, weil sie so Sicherheit und Halt erfahren.
Kinder haben ganz eigene Wege der Angstbewältigung: Sie inszenieren ihre Ängste, geben ihnen ein Gesicht. Obwohl jede Verarbeitung einzigartig ist und sich von Kind zu Kind unterschiedlich darstellt, können elterliche Maßnahmen die Verarbeitung unterstützen:
Geben Sie dem Kind das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, trauen Sie ihm die Angstbewältigung zu. Je sicherer sich das Kind gebunden fühlt, je mehr Vertrauen es zu sich selber hat, um so schöpferisch-kreativer geht das Kind an die Situation heran.
Die Angst des Kindes ist ernst zu nehmen, sie sollte weder überdramatisiert noch heruntergespielt werden. Rationalisierungen helfen nicht. Aktives Zuhören, Anteilnahme, Verständnis sind wichtig – und: Nicht das Problem für das Kind lösen. Das Kind soll bei der Angstverarbeitung mitarbeiten. Deshalb ist die Frage an das Kind wichtig: Was kannst du zur Bewältigung deiner Ängste beitragen? Kinder sind voller Ideen, Magie und Phantasie. Kinder, die nicht mitarbeiten wollen, setzen ihre Ängste möglicherweise zweckgerichtet ein, um – unbewußt – bestimmte Ziele (z.B. Aufmerksamkeit erzielen, Schuldgefühle vermitteln, Ohnmachtsgefühle erzeugen) zu erreichen.
Ängste kommen schnell, vergehen manchmal langsam. Eine Angstbewältigung ist nicht von heute auf morgen zu erreichen. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, seine eigene Vorgehensweise. Nicht alle äußeren Einflüsse, auch das Temperament des Kindes prägt nachhaltig – manchmal zum Frust der Eltern – die Geschwindigkeit, mit der Ängste verarbeitet werden.
«Ich verstehe das nicht», erzählt eine Mutter auf einem Seminar, «meine beiden Kinder sind völlig unterschiedlich: Die jüngere Tochter, die Bettina, die ist sechs, geht auf alles zu, ist ausgeglichen, wird mit schwierigen Situationen lässig fertig. Die ältere, sie heißt Dorothea, ist acht, die ist schüchtern, scheu, schreckhaft. Und jetzt vergleicht sich die Ältere ständig mit der Jüngeren, zieht sich immer mehr zurück und verkrampft noch mehr!»
Viele Eltern beobachten: Kinder sind ganz unterschiedliche Angsttypen, gehen ganz verschieden mit angstbesetzten Situationen um, entwickeln differierende Strategien, um ihre Ängste zu verarbeiten. Zweifelsohne sind Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit auch anlagebedingt. Sie sind vom Temperament und von der Konstitution des Kindes abhängig. Schon bei Säuglingen kann man beobachten, wie sie unterschiedlich auf Situationen reagieren : Die einen liegen ausgeglichen da, lassen sich schnell beruhigen und trösten, schlafen lange und ausgiebig, lächeln, wirken geradezu gelassen. Andere scheinen schon früh zögerlich, scheu, sind leicht erregbar, reagieren erschreckt auf jedes Geräusch, jede Veränderung der Situation bringt sie regelmäßig durcheinander, sie reagieren schneller mit Ängsten.
Wenn man von anlage- und temperamentsbedingten Faktoren bei der Ausbildung von Kinderängsten spricht, darf nicht übersehen werden: Umwelteinflüsse prägen die Persönlichkeit des Kindes schon im pränatalen Zustand. Der Alkohol-, Tabletten- und Zigarettenmißbrauch der schwangeren Mutter hat ebenso gravierende Einflüsse auf die Konstitution des Kindes wie das Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft. So zeigt eine Untersuchung: Frauen, die während der Schwangerschaft zu Hektik und Nervosität neigten, brachten Kinder zur Welt, die unausgeglichen-nervös reagierten, während sich umgekehrt die mütterliche Gelassenheit und Ausgeglichenheit während der Schwangerschaft auf das Kind positiv auswirkten.
Aber genetische Bedingungen und Temperamente müssen kein lebenslanges Schicksal sein: Auch ein scheu-unsicheres Kind kann Selbstbewußtsein und Urvertrauen aufbauen, anpackend seinen Lebenslauf gestalten. Umgekehrt kann aus einem ausgeglichen-stabilen Kind – die Fallgeschichten des Buches zeigen es – ein sozial unsicheres, still-passives Kind werden. Das elterliche Wissen um die genetische Disposition, um das Temperament kann insbesondere jenen Kindern helfen, die launenhaft sind, zu mehr Schreckhaftigkeit, Ängstlichkeit und Schüchternheit neigen, die langsamer auftauen als die Springinsfelde, die schnell im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Die zögerlich-unausgeglichenen Kinder haben es dann schwerer, wenn man sie ständigen Vergleichen unterwirft. Dies tun sie schon häufig genug selbst – mit für sie manchmal deprimierenden Resultaten.
Sie erfahren, was sie alles nicht können, bekommen ein negatives Selbstbild und ziehen sich zurück. Es entsteht ein Teufelskreis, der diese Kinder nicht aufbaut, sich vielmehr als negativ erfüllende Prophezeiung wiederholt. Und dann reagieren Eltern (und pädagogisch Handelnde) ungeduldig: Da bietet man den Kindern ein optimales Umfeld, da stimmt das emotionale Klima in der Familie, da bemüht man sich um das Kind – und trotzdem reagiert es in Situationen schüchtern-scheu, wirkt es zögerlich, hat es Launen, zeigt unregelmäßige Rhythmen beim Essen und beim Schlafen. Oder die Eltern haben ein Kind, das jede Nacht aufwacht, nicht richtig durchschläft – und alles, was in den Ratgebern zum Ein- und Durchschlafen steht, funktioniert nicht, obwohl es beim Geschwisterkind oder bei anderen Eltern so reibungslos klappt.
Frust kommt hoch, Ärger macht sich breit, Versagensgefühle entstehen. Man fühlt sich geplagt, ungerecht vom Schicksal behandelt («Warum ausgerechnet ich?»), und dann kommen – ohne daß man das vielleicht will – doch vergleichende Maßstäbe: «Warum kann mein Kind das nicht?», «Versuch’s doch wenigstens mal!», «Jetzt bist du schon so lange im Kindergarten und kannst es immer noch nicht!», «Das ist doch ganz einfach, probier’s doch! Du mußt dich nur trauen!»
Ich hatte es gesagt: Anlagebedingte Dispositionen und Temperamente sind kein Schicksal. Ein Kind kann damit leben, sich akzeptieren lernen. Dazu braucht es Zeit, Eigen-Zeit. Und hierbei ist entscheidend, wie die Umwelt auf das kindliche Temperament reagiert. Haben Kinder das Gefühl, sie sind in ihrer Eigen-Art akzeptiert, bauen Kinder mit schwierigen Temperamenten Selbstbewußtsein und Urvertrauen auf. Auch wenn es passender und einfach angenehmer wäre, wenn das Kind einmal durchschliefe, kann man es in seinen unregelmäßigen Schlafrhythmen annehmen lernen. Und wenn sich Kinder darin bestätigt sehen, daß sie in fremden Situationen langsam auftauen dürfen, dann kann man in ihrer Zögerlichkeit auch eine produktive Langsamkeit entdecken. Diese Kinder ziehen sich zurück, wenn man sie vergleicht und drängelt, diese Kinder bewegen sich mit dem ihnen eigenen Tempo vorwärts, wenn man sie läßt.
Schwierigkeiten und Probleme entstehen dann, wenn Eltern die temperamentsbedingte Launenhaftigkeit, Schüchternheit, Unausgeglichenheit, Unregelmäßigkeit bei alltäglichen Abläufen mit temperamentsbedingter Offenheit, Gelassenheit, Anpassungsfähigkeit und Zugänglichkeit vergleichen. Dann stellt sich schnell der Verdacht ein, diese Kinder wollten nicht, sie machten ihre «Unarten» oder «Untugenden» mit Absicht. Nein: Diese Kinder können nicht. Sie machen es nicht mit böser Absicht, um ihre Eltern zu ärgern, sie vorzuführen. Sie können wirklich nicht.
Die Einsicht in anlagebedingtes Verhalten kann Eltern dazu bringen, sich intensiver und vorbehaltloser auf die Seite ihrer Kinder zu schlagen, ihnen Begleitung und Unterstützung zu geben, anstatt – manchmal unbewußt – gegen sie zu arbeiten.
Kinderängste können, wie die Geschichten des Buches anschaulich zeigen, auf vielfältige Weise entstehen. Der dänische Philosoph Kierkegaard formulierte, Angst sei nur vor dem Hintergrund von Freiheit möglich. Die Freiheit, sich zu entfalten, Neues anzupacken, etwas zu wagen, hinaus in die Welt zu gehen, ist mit Angst verbunden – eine Angst, die herausfordert und schöpferisch, konstruktiv und kreativ macht. Sich selbstbestimmten Aufgaben stellen ist mit Spannung und Streß verknüpft, weil man scheitern kann, zugleich können so aber starke Gefühle von Selbstbewußtsein und Autonomie entstehen.
Menschen, die nicht hinausgehen, um sich der Freiheit und der Angst zu stellen, werden nicht selbständig, entwickeln kein Selbstwertgefühl, betrügen sich selber. Wer sich nicht selbstbestimmt dem Neuen stellt, weil er vor seiner Angst flieht, entwickelt eine Angst vor der Angst. Für diese Menschen ist Angst keine produktive Kraft, sie hemmt, macht sie krank.
Wenn Kinder das Krabbeln und Gehen lernen, lösen sie sich aus vertrauten Zusammenhängen. Das Kind stößt an räumliche Grenzen, an denen es rüttelt, die es überschreiten möchte – denn jenseits der Grenzen tun sich Freiheiten und Freiräume auf, die es erobern möchte. Für Kinder sind diese fremden Räume mit Lust und Angst verbunden, mit Lust auf Neues und Angst davor, sich in der Freiheit zu verlieren, keine Orientierung zu finden.
Das Kind entwickelt sich in den ersten Lebensjahren rasant. Mit jedem Entwicklungsschritt wird die Tür zum Leben offener – und dies fordert das Kind gefühlsmäßig heraus. Aber es läßt sich fordern, weil es weiß: Nur wenn ich aus der Tür gehe, mich den Gefühlen stelle, finde ich Zutrauen zu mir, erfahre ich mich in meinen Fähigkeiten.
In den ersten fünf Lebensjahren durchlebt ein Kind die fünf entwicklungsbedingten Angstformen, die es ein Leben lang begleiten. Da ist zunächst einmal die ursprünglichste Form von Angst, die Körperkontaktverlust-Angst. In der nächsten Entwicklungsphase entsteht das sogenannte «Fremdeln» oder die Achtmonatsangst. Mit dem Krabbeln und dem Gehenlernen geht die Trennungsangst einher, die sich zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensmonat ausbildet, ihren Höhepunkt zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr hat. Um das dritte Lebensjahr kommt er zur Ausbildung der Vernichtungsangst, der sich zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr die Todesangst hinzugesellt. Bedenken Sie: Überwundene Ängste können wieder auftreten. Die Geburt eines Geschwisterchens kann Trennungsängste genauso wiederbeleben wie der Wohnortwechsel oder die Scheidung der Eltern. Direkt oder indirekt erlebte Katastrophen rufen Vernichtungsängste, die man schon überwunden glaubt, erneut wach.
Hier zeigt sich, wie unsinnig und verheerend es ist, Kinder angstfrei erziehen zu wollen. Wichtiger ist es, sie zur Verarbeitung von Ängsten zu ermutigen, ihnen dabei Halt und Sicherheit zu geben. Eltern können dabei auf jene Strategien, Symbole und magischen Bilder zurückgreifen, die die Kinder selbst entwickelt haben. Wer Kinder von entwicklungsbedingten Ängsten fernhält, erzieht sie zu einer Angst vor der Angst, macht sie hilflos, abhängig von sich, macht sie schutzlos gegenüber möglichen Angstattacken.
Die entwicklungsbedingten Ängste verschwinden, werden schwächer, aber dies ist für Eltern, deren Kinder es gerade mit Ängsten zu tun haben, nur ein schwacher Trost. Denn manchmal dauert es lange, bis Kinder Ängste bewältigt, eigene Problemlösungskapazitäten entwickelt haben. Die hängen entscheidend von der gefühlsmäßigen und geistigen Reifung des Kindes ab. Und die stellt sich niemals als eine stete Vorwärtsbewegung dar, sie ist vielmehr erheblichen Schwankungen unterworfen, von Vorwärts- und Rückschritten, von Stillstand und Umwegen gekennzeichnet.
Generell kann man festhalten: Ängste vor plötzlichen Geräuschen und Bewegungen nehmen bis zum sechsten Lebensjahr ebenso zu wie die Angst davor, Körperkontakt und Halt zu verlieren. Während das Durchschlafen und die damit verbundenen Trennungsängste sich im Laufe der ersten Lebensjahre abbauen, nehmen Ängste beim Einschlafen und vor Träumen noch zu.
Nun sind Ängste allerdings auch erziehungsbedingt, man nennt sie soziale Ängste. Diese Ängste werden zumeist im Elternhaus erlernt. Sie werden in einem gesonderten Kapitel anschaulich geschildert. Soziale Ängste lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen:
eine problematische Erziehungsbeziehung (z.B. Streß in den Paarbeziehungen, ein gefühlsmäßig leeres Milieu),
einen Kinder unterdrückenden, sie bewußt erniedrigenden Erziehungsstil,
ein inkonsequentes, meist mit Sanktionen drohendes erzieherisches Handeln,
einen grenzenlosen, die Kinder sich selbst-überlassenden Erziehungsstil, der sich in impulsiven Strafaktionen entlädt,
eine überbehütende, Kinder hemmende, sie nicht loslassende Erziehungshaltung,
eine Kinder überfordernde Leistungsbereitschaft, die sie nicht im Hier und Jetzt annimmt, sondern auf eine imaginäre Zukunft hin ausrichtet.
Auch wenn in der frühen Kindheit manche Disposition festgelegt wird, manche Kinder gar nicht anders können, selbst wenn sie wollten, so darf der «Mythos vom frühen Trauma» – so die Publizistin Ursula Nuber – nicht als Beleg dafür herhalten, daß ein Wachsen, eine Wandlung, eine Veränderung für Kinder aus widrigen Lebensumständen nicht möglich seien. Sie sind prägend – aber sie müssen nicht lebenslang zu Persönlichkeitsstörungen führen. Genauso wie eine geborgene Kindheit nicht vor psychischen Problemen im späteren Leben schützt.
Es gibt keinen unbedingten Zusammenhang zwischen einer belastenden Kindheit und einem negativen Lebensentwurf. Ungünstige Erfahrungen können aufgefangen werden. Unabhängig davon gilt auch: Wenn Kinder keine Möglichkeiten der Verarbeitung, des Schutzes, des Haltes haben, dann kann lebenslange Verzweiflung die Folge sein. Das muß sich nicht in zerstörerischer Aggression äußern, sondern kann sich darin zeigen, daß diese Kinder niemals auffallen, sich überangepaßt verhalten.
Schützende Faktoren, mit denen Kinder fehlende Geborgenheit aushalten und verarbeiten, mit denen eine Entwicklung lebenslang wirklich wird, sind:
die Möglichkeit zu einer gefühlsmäßig stabilen Beziehung – sei es zu Lehrern, Nachbarn, Freunden, Geschwistern oder anderen Bezugspersonen;
diese Kinder nicht als «Opfer» zu sehen, sondern ihnen konstruktive Problemlösungen vorzuleben, sie zum selbständigen Handeln zu ermutigen. Mitleid schwächt, Mitgefühl stärkt;
bei dem traumatisierten Kind allmählich Leistungsbereitschaft zu entwickeln, ihm Verantwortung zu übertragen;
ihm die Möglichkeit geben, im Spiel mittels Kreativität, Humor und Phantasie problematische Erfahrungen zu verarbeiten. Die geben nicht allein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die schaffen zugleich schützende Distanz zur Vergangenheit;
den belastenden Kindern Möglichkeiten zu einer räumlichen Distanz zum elterlichen Zuhause zu geben, um neue Bindungen zu anderen Orten und Personen eingehen zu können. Wenn dies nicht möglich ist, kann der gefühlsmäßige Abstand über eine zeitliche Distanz hergestellt werden. So können Aufenthalte im Hort, in der Schule, im Jugendclub, im Sportverein das Selbstbewußtsein stärken, emotionale Kraft geben, um die gefühlsmäßige Leere im häuslichen Alltag auszuhalten. Der Psychotherapeut Hilarion Petzold spricht von «schützenden Insel-Erfahrungen» und beschreibt diese so: «Das Erleben einer liebevollen Erzieherin, die eine harte und kalte Kollegin für ein paar Wochen vertritt, mag aus der Kontrasterfahrung das eine Kind in eine noch tiefere Verzweiflung stürzen, dem anderen Kind aber einen Hoffnungshorizont eröffnen, weil es – wenn auch nur für kurze Zeit – sich liebevoll angenommen und gemeint fühlt.»
Ich hab Angst vor Papa, weil er einen Bart hat.
Christoph, 3 Jahre
Mit der Geburt, mit der Durchtrennung der Nabelschnur, löst sich das Kind von der Mutter, aber es ist weiter von ihr abhängig. Ihre Fürsorge und ihr Dasein garantieren dem Kind körperliches und seelisches Überleben. In den ersten Wochen, d.h. im nach-embryonalen Zustand, schläft das Kind viel, wird gestillt, bekommt Nahrung, erhält Wärme, Geborgenheit, es spürt beim Stillen und Getragenwerden den mütterlichen Herzrhythmus. In diesem Zustand totaler Bedürfnisbefriedigung, der vielleicht eine Art Schlaraffenland bedeutet, in dem Milch, das Gefühl des Aufgehobenseins und Einsseins mit der Mutter unendlich vorhanden sind, gewinnt das Kind Vertrauen zu sich und zur Mutter. In diesem Schlaraffenland entstehen die Voraussetzungen für ein sich entwickelndes Urvertrauen und die gefühlsmäßig feste und sichere Basis des Kindes.
Der Säugling ist in den ersten Lebensmonaten ebenso anhänglich wie abhängig. Beides sind Bedingungen, um zu überleben. An Stimme und Geruch erkennt das Baby die Mutter, gleichwohl ist es zunächst noch unkritisch anderen Personen gegenüber. Die Fähigkeit, zwischen festen und weniger festen Bezugspersonen zu unterscheiden, entwickelt das Kind etwa vom sechsten Lebensmonat an. Erlebt das Kind jeden Tag andere Gesichter, erhalten sie keine konkrete Bedeutung. Das Kind lernt dann nicht, zwischen vertrauten und unvertrauten Personen zu differenzieren, es erscheint vertrauensselig, geht distanzlos auf andere zu. Ein solches Verhalten kann ein Zeichen für eine brüchige Bindung sein.