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Ob es ums Anziehen oder Aufräumen geht, ums Fernsehen oder die Hausaufgaben – der tägliche Familienstress ist oft vorprogrammiert. Wie Sie das vermeiden können, ohne gleich in autoritäre Verhaltensweisen zu verfallen, das zeigt dieses Buch an zahlreichen anschaulichen und amüsanten Situationen aus dem Alltag. Seit Erscheinen ist der Titel dieses Bestsellers sprichwörtlich geworden: Kinder brauchen Grenzen! Wir reagieren heute viel sensibler auf Kinder – aber auch verunsichert: Nur keine Vorschriften! Zu oft lassen wir unsere Kinder aber gerade damit allein, denn es ist eine Überforderung, sich als Kind ohne Grenzen in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Kinder brauchen Orientierung und Rituale, wobei ein partnerschaftliches Miteinander und Autorität überhaupt kein Widerspruch sein müssen. Die vielen Beispiele und oft verblüffenden Lösungsvorschläge von Jan-Uwe Rogge führen zu einem besseren Verständnis der Kinder und machen Mut, zu einem gelasseneren Miteinander im Familienalltag zu finden. Über Disziplin und Selbstdisziplin, Wut und Lügen, Konsequenz und Strafe, Humor und Unvollkommenheit, knappe Zeit und Konsum, Ermutigung und Streit, Handy und Computerspiele, Supernannys, Grenzen, Dankbarkeit und Demut in der Erziehung u. v. m.
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Seitenzahl: 354
Jan-Uwe Rogge
Das neue Kinder brauchen Grenzen
Motti
Vorwort
«Kinder brauchen Grenzen» Wie ein geflügeltes Wort entstand
Kapitel 1: Grenzen setzen als Disziplinierung, Grenzen setzen als Haltung
Grenzen suchen, Grenzen erfahren, Grenzen respektieren
Grenzen suchen und finden
Grenzen erfahren und setzen
Grenzen achten und respektieren
Gegen den Machbarkeitswahn bei Super Nanny und Co.
Was Eltern sagen
Was Experten meinen
Über Disziplin, Disziplinierung und Selbst-Disziplin
Kapitel 2: Ermutigung zur pädagogischen Unvollkommenheit
Erziehung ist Beziehung, oder: Eltern brauchen Wurzeln, Kinder Flügel
Erziehung ist Begleitung ins Leben, oder: Über Grenzen und Grenzüberschreitungen
Vom Beißen und Schubsen
Schimpfwörter
Trotz- und Wutanfälle
Wutausbrüche
Lügen und Stehlen
Erziehungstechniken
Konsequent sein
«Konsequenzenkiller»
Auszeitmethode
«Gute» Worte helfen nicht
Klare Aussagen
Kontakt aufnehmen
Fragen, die keine sind
Ich-Botschaften
Die Bedeutung des Humors
Von der Kunst, nicht perfekt zu sein
«Wozu»-Fragen verändern den Blickwinkel
Der Mut zum Fehler
Kapitel 3: Grenzen geben Schutz, Raum und Zeit, oder: Was Kinder brauchen
Von engen Räumen und knappen Zeiten
Über Verwöhnung und laissez faire
Kinder brauchen Ermutigung
Rituale geben Halt
Gemeinsam essen statt getrennt schlingen
Rituale gestalten Übergänge
Kapitel 4: Grenzen setzen und konsequent erziehen – hört sich leicht an, ist aber nicht einfach
Grenzen setzen von Anfang an
Vorbereiten und Umlenken
Kleinkinder beschreiben und beobachten
Die «Streu»-Ordnung im Kinderzimmer
Trödeln: Der Trick mit der Langsamkeit
Das «leidige» Zubettgehen
Die ewige «Streiterei» der Geschwister
Geschwisterrivalität ist normal
Fernsehen – der elektronische Begleiter
Kinder sind keine Glotzer
«Vielsehen» ist ein Hilferuf
Fernsehen ist (k)ein Druckmittel
Computer und Internet
Spiele haben eine wichtige Funktion
Tipps für den Umgang mit Fernseher und Computer
Konsum, Taschengeld und Handy
Aus der Sicht der Kinder
Weniger ist manchmal mehr
Der Streit um das Taschengeld
Und was ist mit dem Handy?
Hausaufgaben-Stress
Hausaufgaben-Rituale
Nachhilfe – zu Hause und professionell
Kapitel 5: Auch Grenzen stoßen an Grenzen – Grenzen setzen als Technik und Kunst zugleich
Von Ausnahmen, Überraschungen und «Zaubertagen»
Urlaub – Die Ausnahme von der Regel
Zaubern kann (fast) jeder
«Peinliche» Situationen
Im Supermarkt
Beim Autofahren
Unterschiede und Uneinigkeit in der Erziehung
Väter: Distanz als Chance
Der Unterschied macht den Unterschied
Nachwort
Über Dankbarkeit, Glück, Demut und die Kunst, Kinder das Schwimmen zu lehren
Literatur
«Mühselig ist eine gute Erziehung, das gebe ich zu.». (Erasmus von Rotterdam)
«Wer nicht Freude am unplanbaren Umgang mit Kindern hat, für den ist (Erziehung) nicht auszuhalten.». (Hartmut von Hentig)
«Ihr könnt ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, weil sie ihre eigenen Gedanken haben. Ihr könnt ihren Körpern eine Behausung geben, aber nicht ihren Seelen, weil ihre Seelen im Haus von morgen wohnen, welches ihr nicht betreten könnt, noch nicht einmal in euren Träumen. Ihr könnt versuchen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch anzugleichen – das Leben geht nicht rückwärts, noch verweilt es beim Gestern.». (Khalil Gibran)
Es war Anfang der 1990er Jahre: Ich hatte meinem Lektor ein Buchmanuskript übergeben, in dem ich die Erfahrungen aus meiner Beratungs- und Bildungsarbeit mit Eltern und Kindern, die ich seit Beginn der 80er Jahre kontinuierlich und mit viel Engagement betrieb, zu Papier gebracht hatte. Ich fand es an der Zeit, die Jahre Revue passieren zu lassen und einmal darüber nachzudenken, welche Themen meine Arbeit geprägt, welche sich wie ein roter Faden durch den Beratungsalltag gezogen, welche sich verändert hatten.
Nun saßen wir bei einem guten Essen und Wein zusammen und dachten über den Titel des Buches nach. Eingängig, knackig, provozierend sollte er sein. Und plötzlich war da ein Gedankenblitz, fiel uns «Kinder brauchen Grenzen» ein.
Uns war die mehrfache Bedeutung dieses Titels schnell klar: Grenzen schützen Kinder, geben ihnen Raum und Zeit, um sich zu eigenständigen, selbstbewussten Persönlichkeiten zu entwickeln. Grenzen vermitteln Klarheit und Orientierung, schaffen einen festen Rahmen, fordern aber zugleich heraus, sich an ihnen zu reiben, sie zu überschreiten. Denn Kinder wollen nun mal erfahren, was passiert, wenn sie vereinbarte Regeln, Rituale und Abmachungen nicht einhalten.
Diese verschiedenen Dimensionen des Titels haben manche nicht verstanden – besser: wollten manche nicht verstehen. Der Titel wurde missverstanden, als Agenda gegen die antiautoritäre Erziehung eingeschätzt und benutzt. Ein Leser schrieb mir, er hätte das Buch nach der Lektüre enttäuscht und verärgert weggelegt, weil ich den Klaps als pädagogische Niederlage abgelehnt hätte.
Und ein anderer, ein professioneller, bekannter Pädagoge, teilte mir mit: Ein Klaps habe noch niemandem geschadet. Auch ihm nicht. Er sei friedlich geworden. Aber wenn er die kleinen Tyrannen, die «kleinen Krieger» sehe, und damit meinte er tatsächlich Kinder, dann brauche es einfach den Klaps, um diese zur Ruhe zu bringen. Aber natürlich gab es auch die entgegengesetzte Position. So verstieg sich ein pensionierter Lehrer in einem Internetforum zu der Behauptung, mein Buch stünde in der Tradition nationalsozialistischer Erziehungsliteratur und leite dazu an, den kindlichen Willen zu brechen, Kinder gefügig und verführbar zu machen. Was für Maßlosigkeiten!
Das Buch verkaufte sich gleich sehr gut, war schon 1993 ein Bestseller und ist in der Zwischenzeit in sechzehn Sprachen übersetzt worden. Viele Autoren haben das «Grenzen»-Thema aufgegriffen, aber kaum eine Veröffentlichung hat eine vergleichbare Breitenwirkung erzielt. Ich werde immer wieder aufs Neue gefragt, worauf ich die Faszination zurückführe, die dieses Buch nun seit fünfzehn Jahren ausübt. Vermutlich ist es u.a. die erfrischend direkte, humorvolle Herangehensweise, die zum Erfolg des Buches beigetragen hat:
«Das Buch ist sehr praxisnah geschrieben», war ein Tenor vieler Briefe. «Man kann sich in den Geschichten wiederfinden», lautete ein anderer. «Vor allem konnte ich schmunzeln, lachen. Auch über mich selbst. Das tat gut!», hieß es in vielen schriftlichen Rückmeldungen. «Man werde an die Hand genommen, ohne dass man sich belehrt vorkomme. So von oben herab», formulierte einmal ein Elternpaar. «Das Wichtigste für uns war», so las ich in einem anderen Brief, «dass es anderen auch so geht, wir nicht alleine die Probleme mit unseren Kindern haben.» Von Eltern zu verlangen, ihre Kinder anzunehmen, setzt voraus, dass sie sich selbst angenommen fühlen. Als Autor und Berater muss man Eltern mögen, sie wertschätzen. Wer Eltern pauschal als Versager oder Kuschelpädagogen abwertet, darf sich nicht wundern, wenn man weder Zugang zu Eltern noch Kindern findet. Die meisten Mütter und Väter bemühen sich um eine gute Erziehung ihrer Kinder und wollen ernst genommen und anerkannt werden.
Erziehung hat nichts zu tun mit der Anwendung von Techniken. Erziehung ist Haltung und Kunst zugleich: Haltung gegenüber dem Kind und sich selbst. Und Kunst meint: die Kunst des «Durchwurschtelns» zu praktizieren, sich seiner Unvollkommenheit bewusst zu sein, den Perfektionismus loszulassen, sich auf seine Stärken zu besinnen, auf das, was man kann. Und nicht das fortzuführen, was nicht gelingt, was zu keinem Ergebnis führt, sondern das zu praktizieren, was funktioniert – vor allem aber auch Neues, Ungewohntes, Unbekanntes auszuprobieren, auf den Bauch zu hören. Eltern sind häufig näher an einer Lösung, als sie glauben. Sie vertrauen aber nicht ihrer Intuition, ihrer Kreativität.
Paul Watzlawick erzählte mal in einem seiner Seminare über den Unterschied von Einfallsreichtum und der bloßen Anwendung von Techniken in der Erziehung: Er schilderte ein Elternpaar, das an einem See sitzt und sich überlegt, was wohl passiert, wenn man Steine in den See schmeißt, welche Wellen sich wohl auf der glatten Wasseroberfläche bilden würden. Die Eltern werfen Steine in den See und beobachten, dass heftige Wellen entstehen. Beim nächsten Mal zielen sie vorsichtiger in das Wasser, versuchen es immer und immer wieder, so lange, bis ihnen die Wellen gefallen. Nur durch schöpferisches Tun, durch ständige Wiederholungen erreicht man ein Ergebnis, mit dem man irgendwann zufrieden ist. Und dann gibt es noch ein anderes Ehepaar, das am gleichen See sitzt. Sie überlegen und überlegen, denken über den optimalen Wurf, den richtigen Einfallswinkel der Steine nach, sie denken und denken unentwegt, welche Wurftechnik sie wohl anwenden müssten, um die richtige Wellenbewegung zu erzielen. Und so sitzen sie nur da, sitzen und denken, denken und sitzen… und wenn sie nicht gestorben sind, so hocken sie immer noch da.
Diese Geschichte fällt mir ein, wenn ich mich mit älteren Menschen, mit Großeltern über die Frage unterhalte, wie sie denn früher erzogen hätten. Und über eine dieser Geschichten muss ich besonders schmunzeln, die Geschichte von Alma.
Alma lebt auf dem Lande, bewirtschaftet mit ihrem Mann einen Bauernhof. «Ich bin Oma, vier Enkel.» Ihre Stimme klingt ruhig, gemütlich. «Ich bin eine einfache Frau, was soll ich schon über Kindererziehung sagen.» Sie fängt an, von ihrer Kindheit zu erzählen, von ihren Eltern – «arme Bauersleute»–, ihren sechs Geschwistern – «sind alle was geworden»–, ihrer Schulzeit – «der Hof und die Arbeit waren wichtiger als der regelmäßige Schulbesuch»–, ihrer häuslichen Erziehung: Hart sei diese gewesen, erinnert sie sich, hart, aber gerecht. Arbeiten musste sie. Geschenkt gab’s nichts.
Alma denkt nach: «Ob’s die Kinder heute besser haben, ich weiß es nicht.» Was sie damit meine, will ich wissen. «Ich glaube», sagt sie, «die Kinder verlieren sich. Die haben alles, die wissen nicht mehr, woran sie sind. Meine Enkel haben alles, Spielkram, Sachen zum Anziehen. Alles. Und gewieft sind die: ‹Oma, wenn wir bei dir nicht fernsehen können, kommen wir nicht.› So was hätten wir uns mal denken sollen.»
Worin ihrer Meinung nach die Unterschiede beständen in der Erziehung von gestern und heute, will ich wissen. Und wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: «Die Mütter wollen heute keine Fehler machen. Ich seh das an meiner Schwiegertochter. Bloß alles perfekt machen, das Kind könnte ja Schaden nehmen. Ich konnte früher gar nicht viel nachdenken. Hatte gar keine Zeit dazu. Meine Kinder waren viel sich selbst überlassen. Und aus beiden ist doch was geworden.»
Wenn Alma ins Erzählen kam, dann gab’s kein Bremsen, das wusste ich. «Weißt du, eins will ich dir noch erzählen. Willst du das hören?» Bevor ich antworten kann, setzt Alma schon an: «Musst du unbedingt hören.» Alma kommt zurück, setzt sich: «Also», beginnt sie, «die Kinder sind heut zappeliger. Tja, weißt du, woran das liegt?» Ich zucke mit den Schultern. Sie kommt näher: «Ich will’s dir sagen. Weil die Frauen immer schlanker werden, keine Brust, keinen Hintern und keinen Bauch mehr haben.» Sie unterstreicht das Letztgesagte mit ihren Händen. «Bei den Frauen von heute ist doch nichts mehr dran.» Ich muss lachen. Was sie denn damit sagen wolle?
«Also früher, wenn Dörte und Kurt abends unruhig waren oder auch nur so, wenn wir Zeit hatten, haben wir uns ins Bett gelegt, Dörte mit dem Kopf an meine Brust gelehnt, Kurt hatte die Hand auf meinem Bauch.» Sie sieht an sich herunter: «Guck mal, und von beidem hab ich genug. Und dann haben wir geschmust. Ich hab von früher erzählt, und irgendwann sind sie eingeschlafen. Und wenn ich keine Zeit hatte, hab ich zwei getragene Nachthemden aus der Kommode geholt. Die lagen für alle Fälle immer da. Die hab ich denen gegeben, große, weiche baumwollene Nachthemden. Und die haben nach mir gerochen. Das hat schon meine Mutter mit mir gemacht. Und die Kinder haben ihren Kopf auf die Nachthemden gelegt, und dann sind sie bald eingeschlafen. Ganz friedlich.»
«Und wie lange hast du das gemacht?» Sie lacht verschmitzt: «Bei Kurt so lange, bis er ’ne Freundin hatte. Da war’s vorbei. Ist ja auch normal, nicht? Mit meinen wollenen Ungetümen komme ich ja auch nicht gegen Spitzenhöschen und Strapse an.» Ihre Stimme wird leiser: «Weißt du, aber auf Strapse können Kinder ihre Köpfe nicht legen, weil das zu ungemütlich ist, und die riechen auch nicht so schön wie meine baumwollenen Hemden. Und weil’s davon immer weniger gibt, sind die Kinder nachts einfach zappeliger. Denk ich mir jedenfalls.»
Wenn sich das Buch so hervorragend verkauft, werde ich öfter gefragt, warum gibt es denn jetzt eine Neuausgabe: «Haben Sie Ihre Positionen etwa revidiert?» Die Antwort ist ein klares Nein! Aber seit der Zeit, in der ich das Buch konzipiert und verfasst habe, sind mehr als siebzehn Jahre vergangen, ist eine neue Generation von Eltern herangewachsen – mit immer denselben, aber zugleich mit neuen Fragen, die sich aus den veränderten Lebenswelten ergeben. So sind es vor allem zwei Gesichtspunkte, die mich dazu gebracht haben, das Buch komplett zu überarbeiten:
Vor fünfzehn Jahren spielten Computer und Internet, Konsum und Taschengeld noch keine herausragende Rolle. Und die Eltern heute haben viele neue Fragen und ein Anrecht auf verlässliche Antworten. Zudem habe ich viele Briefe erhalten mit der Bitte, manche Streitpunkte im Familienalltag (z.B. Geschwisterrivalitäten) und Konfliktthemen (z.B. Hausaufgaben) im neuen Buch anzusprechen, weil die Eltern sie in der alten Ausgabe vermisst haben. Und schließlich musste auf die Diskussionen über Disziplin und Disziplinierung, über Kuschelpädagogik und die Stigmatisierung der Kinder als Tyrannen eingegangen werden.
Das neue «Kinder brauchen Grenzen» will Eltern begleiten und sie bei ihrer schwierigen Aufgabe, Kindern Halt und Geborgenheit zu geben, ihnen Klarheit und Verlässlichkeit zu vermitteln, unterstützen – wenn es geht, nochmals fünfzehn Jahre.
Kapitel 1
Grenzen setzen: Das macht den Unterschied zwischen Ich und Du, Nähe und Distanz, Vertrautem und nicht Vertrautem, zwischen Können und Noch-nicht-Können aus. Dabei haben alle Beteiligten ganz eigene Positionen: Kinder suchen Grenzen, Eltern erfahren Grenzen, und gemeinsam achtet man Grenzen.
«Aber warum», so fragen Vater und Mutter in einer Beratung, «muss denn unser Sohn ständig bis an seine Grenzen und natürlich auch unsere gehen?» – Fast bin ich versucht, diese Frage wie ein jüngeres Kind mit «Darum!» zu beantworten.
Ich kenne kaum ein Kind, das zwei Meter vor einer Grenze verwundert stehen bleibt und ausruft: «Oh, eine Grenze!» Kinder überqueren Grenzen, gehen in das Land auf der anderen Seite, weil es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein könnte. Kinder sind Grenzgänger, sind Grenzensucher, sie bewegen sich – so die Psychologin Margrit Erni – «an der äußersten Grenze der Möglichkeiten».
Das Lied «Hänschen klein…» steht dafür ebenso wie das Märchen vom «Hans im Glück».
Jedes Kind will weg aus der symbiotischen Einheit mit den Eltern – und das tut Müttern und Vätern gleichermaßen gut. Da hält man den Säugling noch im Arm, lächelt ihm zu. Er lächelt selig zurück – und man denkt, das bliebe so bis in alle Ewigkeit.
Da beugt sich irgendjemand liebevoll über ihn und hat urplötzlich die Hand des Einjährigen im Gesicht.
Das ist dann – so könnte man es pädagogisch-psychologisch deuten – der Übergang von jener Phase, in der das Kind eins sein will mit der vertrauten Bezugsperson, in der es keine Grenzen kennt, verschmilzt mit Mutter und Vater, in der es nicht genug bekommen kann an Zuwendung, an Halt, in der es sich fallenlässt, bedingungslose Geborgenheit erfahren will, in der sich Urvertrauen aufbaut – und jener Phase, in der das Kind beides ist: Engel und Teufel, gut und böse, aber auch seine Grenzen wie die von anderen austestet. Das Kleinkind formuliert seine ganz eigene Unabhängigkeitserklärung: «Lasst mich los! Aber haltet mich fest!»
Das Kind will eben auch dann angenommen sein, wenn es nicht «lieb» ist. Es kennt mit einem Mal nur noch sich und sonst niemanden! Es ist auf sich fixiert, will alles haben, nichts abgeben. In manchen Augenblicken wirkt es einsichtig und teilhabend, im nächsten Moment schaut es wütend und tobt, weil es seinen Willen nicht bekommt. Aber gerade jetzt möchte das Kind – im übertragenen wie praktischen Sinne – in den Arm genommen, gehalten werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Wenn ein Kleinkind zuschlägt, nutzen keine langen Vorträge und erst recht kein Zurückschlagen. Kinder brauchen in solchen Situationen Klarheit, ein deutliches «Nein!», verstärkt durch Mimik und Gestik und den Klang der Stimme.
Es ist das Vorrecht der Kinder, schon in jüngeren Jahren Grenzen auszutesten, es ist die Pflicht der Eltern, ihrer Erziehungsverantwortung nachzukommen und den Maßlosigkeiten und Grenzüberschreitungen der Kinder bestimmt zu begegnen. Nur indem Eltern Normen und Werte vorleben, können Kinder diese verinnerlichen, können Regeln und Rituale verbindlich werden.
Das Märchen «Hans im Glück» erzählt von Ich-Findung und Selbst-Werdung der Kinder,aber zugleich – wenn auch unausgesprochen – davon, wie Eltern auf das Autonomiestreben des Kindes reagieren. Hans zieht in die Welt, wird reich, macht sich nach sieben Jahren auf den Weg zurück und tauscht sein Gold ein, bis er zum Schluss nur noch einen Felsbrocken hat, und auch der fällt ihm in den Brunnen. So steht er zwar mit leeren Händen vor seinen Eltern, ist aber zu einer autonomen Person geworden, die in der Fremde Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, Einstellungen und Haltungen kennengelernt, Ausdauer bewiesen, Freude an der Auseinandersetzung gewonnen hat. Hans hat vielleicht nicht den geraden Weg gewählt, er hat es aber ständig aufs Neue versucht und damit ein zentrales Prinzip des Lernens verinnerlicht: die Wiederholung, das immer wiederkehrende Ritual, weil man sich nur so Kompetenzen, Haltungen und Werte aneignen kann. Wenn Hans nach Hause kommt, entscheidet sich, ob die Eltern ihn als eigenständige Persönlichkeit annehmen, sich mit ihm über seinen eingeschlagenen Weg freuen. Eltern müssen nicht mit allen Vorhaben ihrer Kinder einverstanden sein. Aber sie sollen ihnen auch nicht die eigenen Vorstellungen vom richtigen Weg aufdrängen.
Kinder brauchen Unterstützung, um Selbstbewusstsein zu entwickeln, sich für neue Aufgaben zu motivieren. Dazu ist es notwendig, an ihrer Leistungsbereitschaft anzuknüpfen, sie zu fordern – ganz im Sinne des großen Pädagogen Pestalozzi: «Alles, was (…) das Kind lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es, alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht, ich kann es, das will es.»
Wird Hans allerdings nach seiner Rückkehr so empfangen: «Endlich bist du wieder da. Wir haben so auf dich gewartet die letzten sieben Jahre! Bleib doch bitte, bitte hier!», dann wird sich Hans vermutlich Vorwürfe machen, die Eltern alleingelassen zu haben, seine Autonomie aufgeben und wieder in jene Abhängigkeit zurückkehren, aus der er einst ausbrach, um Eigenständigkeit zu erproben.
Nun ist die Grenzüberschreitung nicht allein ein Entwicklungs- und Lebensprinzip, Grenzüberschreitungen haben zugleich einen Beziehungsaspekt. Dann ist die Frage: Warum könnten manche Kinder zwar Grenzen respektieren – wollen es aber nicht?
Meist steht beim Kind eines der folgenden Motive hinter andauernden Grenzüberschreitungen: das Streben nach Aufmerksamkeit; der Versuch, mit den Erwachsenen in einen Machtkampf einzutreten; das Gefühl, negativen Vorgaben im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entsprechen zu müssen.
Wenn Kinder Grenzen überschreiten, sollte man nicht gleich bösen Willen oder schlechten Charakter vermuten, vielmehr gibt es vier Momente, die es durch Nachdenken und Handeln zu ergründen gilt: Ist die Grenzüberschreitung
Ausdruck von Charakter und Temperament des Kindes, hat es gar mit neurologischen Defiziten (z.B. Hyperaktivität, Wahrnehmungsstörungen) zu tun?
Ausdruck von Entwicklungsbesonderheiten des Kindes (z.B. Trotzalter, Vorpubertät)?
Ausdruck davon, dass das Kind Macht ausüben, Aufmerksamkeit erlangen will?
Berührt die Grenzüberschreitung die Eltern-Kind-Beziehung?
Um auf Grenzüberschreitungen pädagogisch angemessen eingehen zu können, muss man diese Fragen zuvor beantworten.
Wer Kinder ins Leben begleitet, wird tagtäglich mit einer Polarität konfrontiert: einerseits Grenzen zu setzen und andererseits sie immer wieder auch zu erfahren. Es sind die fünf großen «G», die einen dabei begleiten: Geduld, Gelassenheit, Geschicklichkeit, große Gefühle erleben und Grenzen erfahren.
Geduld: Dazu zählt vor allem, den Charakter, das Temperament und die Eigen-Art eines Kindes zu berücksichtigen, und zugleich, sich als Vater und Mutter so anzunehmen, wie man ist: mal nachdenklich, mal fordernd, mal aufbrausend, dann sich zurücknehmend. Man bekommt meist jenes Kind, mit und an dem man noch etwas lernen kann. Die umtriebigen Eltern haben es mit einer bedächtigen Schildkröte zu tun, die «Morgenmuffel» mit einem Fünf-Uhr-Schnellzug. Geduld meint, sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie man ist.
Gelassenheit: Erziehung heißt Verzicht auf Überlegenheit. Gelassenheit bedeutet, Vertrauen zu sich und zum Kind zu haben. Gelassenheit meint nicht völlige innere Ruhe – man darf ruhig einmal die Fassung verlieren, wenn es angebracht ist, ja sogar ausrasten, muss sich aber hinterher dafür beim Kind ehrlich entschuldigen. Zur Gelassenheit gehört, aufrichtig zu seinem Verhalten zu stehen und sich nicht ständig dafür zu rechtfertigen, nur weil man seiner Erziehungsverantwortung als Eltern nachgekommen ist.
Geschicklichkeit: Erziehung ist eine Kunst, und oft entsteht das «Kunstwerk» spontan, aus dem Bauch heraus. Wer unter Zeitdruck steht, kann nicht überlegen, sondern muss reagieren. Aber es gibt eben auch Situationen, auf die kann man sich vorbereiten, um dann im «Ernstfall» gekonnter zu handeln. Geschickte Eltern entwickeln auch ein Gespür für die eigene Grenze, diese Polarität zwischen «Ich werde gebraucht!», «Ich bin unverzichtbar!» und «Ich habe eigene Bedürfnisse!».Eltern haben auch das Recht auf Rückzug – und Kinder können das verstehen und aushalten.
Große Gefühle erleben: Wer Kinder hat, der erlebt sie – häufiger, als man sich das manchmal wünscht. Wer Kinder ins Leben begleitet, der erfährt Höhepunkte und durchlebt Niederlagen – besonders während des Trotzalters und der Pubertät. Jedes Kind durchlebt diesen Entwicklungsabschnitt auf seine Weise: mal still und leise, mal lautstark und provozierend. Erziehung als Beziehung ist dann besonders wichtig, weil die Erziehungstechniken an ihre Grenzen stoßen. Üben Sie sich in Geduld – die großen Gefühlsaufwallungen gehen ganz bestimmt vorbei!
Grenzen erfahren: Dazu zählt: die eigenen Grenzen zu akzeptieren, einzusehen, dass das eigene geistige und seelische Potenzial begrenzt ist. Und diesen Zustand zugleich als Herausforderung zu begreifen, mit Grenzen kreativ umzugehen. Sich den eigenen Grenzen zu stellen tut häufig weh, vor allem, wenn man meint, bei anderen funktioniere es wohl immer. Achten Sie auf das, was Sie können! Und Sie können mehr, als Sie meinen! Akzeptieren Sie sich in Ihren Stärken, dann verlieren die Schwächen an Relevanz!
Erziehung ist Vorbild und Liebe, hat Pestalozzi einst gesagt – und unter Liebe nicht ein grenzenloses Eingehen auf das Kind verstanden, als bedingungslose Unterordnung. Liebe hat er als Selbstliebe begriffen und sie zugleich von der Selbstsucht abgesetzt. Selbstliebe ist die Erkenntnis seiner selbst. Sie beinhaltet zweierlei: zu seinen Fehlern und Schwächen zu stehen und seine Fertigkeiten wertzuschätzen, sich als ganze Persönlichkeit wahrzunehmen. Dazu zählt: über sich lachen zu können ebenso, wie mit Niederlagen umzugehen, Verantwortung wahrzunehmen, «ja» zu sich zu sagen und nicht vorschnell aufzugeben.
Erziehung heißt, respektvoll miteinander umzugehen, bedeutet aber für Eltern auch, sich ihrer Erziehungsverantwortung zu stellen und nicht so zu tun, als seien sie die gleichrangigen Freunde ihrer Kinder. Keinesfalls darf das aber als Freibrief für Machtausübung und ständige Kontrolle missverstanden werden. So wie die Erwachsenen haben auch Kinder ein Recht auf Eigensinn und auf eine Privatsphäre. Daraus erwachsen Konflikte, deren Bewältigung zum Erziehungsalltag gehört. Dabei darf aber eins nicht fehlen: «Liebe ist eine unverzichtbare Grundlage des sozialen Lebens», so drückt es der Pädagoge Otto Speck aus. Sie ist Voraussetzung dafür, sich gegenseitig als Person anzunehmen und mit Konflikten umzugehen. Grenzen zu setzen – das hat mit gegenseitiger Zumutung zu tun. Und diese Zumutung ist nur auszuhalten, wenn man sich akzeptiert und mag, die Kinder das Gefühl haben, von Vater und Mutter auch dann gemocht zu werden, wenn sie Grenzen überschreiten. Und zugleich erfahren die Eltern, dass ihre Kinder sich trauen aufzubegehren, weil ihnen die Liebe der Eltern gewiss ist. Achtung und Respekt voreinander sind in Lebenshaltungen wie den folgenden aufgehoben:
Ich (Vater oder Mutter) nehme dich so an, wie du bist. Ich vergleiche dich nicht. Du bist einzigartig, du bist eine Persönlichkeit.
Ich nehme mich als Vater oder Mutter so an, wie ich bin! Ich habe den Mut zum Fehler, zur Unvollkommenheit. Ich mache nicht alles anders als meine eigenen Eltern: Ich lebe das fort, was mir Halt und Geborgenheit gegeben hat! Ich verändere das, was mir wehgetan hat!
Ich bin als Vater und Mutter nicht für das Tun des Kindes allein verantwortlich! Du bist es für dich! Ich gebe dir Freiheiten im Rahmen meiner Erziehungsverantwortung und meiner Möglichkeiten, aber du musst lernen, auch Verantwortung für dich zu übernehmen. Wenn du Hilfe brauchst, gebe ich sie dir, wenn du Trost benötigst, bin ich da! Doch Freiheit und Verantwortung gehören zusammen: Wenn du also morgens bummelst und den Bus verpasst, dann fahre ich dich nicht in die Schule!
Ich bin als Mutter oder Vater für mich und mein Tun verantwortlich, du nicht für mich. Ich bin gerne Vater oder Mutter, aber auch Mann oder Frau. Ich mag mich nicht ständig um dich kümmern! Ich brauche Raum und Zeit, um Kraft für mich und damit auch für dich zu sammeln.
Als ich die erste Fassung meines Buches vor mehr als 15Jahren geschrieben habe, waren Erziehungsfragen konzentriert auf Vorträge, Seminare, Bücher und Zeitschriften. Zwar gab es die eine oder andere Sendung in Rundfunk und Fernsehen – doch war Erziehung das Thema von Experten und interessierten Eltern. Inzwischen gibt es mehrere seriöse Elternzeitschriften, Ratgeberartikel in Tageszeitungen und sogar in Boulevardblättern – und Fernsehsendungen, die mit populär-populistischer Aufmachung hohe Einschaltquoten erreichen wollen. Während die «Super-Mamas» mit ihrer behutsameren Form der Beratung nach eineinhalb Jahren abgesetzt wurden, hat sich die «Super Nanny» als fixer Programmpunkt etabliert.
«Ich kann mit dieser Sendung wenig anfangen», erklärt eine Mutter, «vor allem die Super Nanny finde ich völlig daneben. Da ist keine Achtung, kein mitmenschlicher Respekt. Die tritt auf wie ein Elefant im Porzellanladen. Sie weiß alles, sie macht alles. Eltern werden total entmutigt.»
«Ich dachte», berichtet ein Vater, «da kann ich vielleicht etwas lernen. Das Einzige, was ich begriffen habe, war, klarer zu sein im Umgang mit den Kindern. Alles, was ich sonst versucht habe, z.B. die Sache mit dem stillen Stuhl, hat bei mir überhaupt nicht funktioniert. Mein Sohn ist nicht weggegangen, selbst nach mehrmaliger Aufforderung ist er einfach sitzen geblieben.» Er schaut ratlos. «Und ihn raustragen, gar rauszerren, wie ich es in einer Sendung gesehen habe, das wollte ich partout nicht.»
«Ich habe die Nanny vielleicht dreimal gesehen», ergänzt ein anderer Vater, «und habe nur gedacht: Mein Gott! Wie geht es in diesen Familien zu! Da lebst du ja in einer absoluten Idylle!» Er schüttelt den Kopf. «Manchmal kam ich mir wie ein richtiger Voyeur vor, wie einer, der auf der Autobahn stehen bleibt, weil es auf der anderen Seite einen Unfall gegeben hat, und der denkt: Gott sei Dank hat es dich nicht erwischt!»
Bei pädagogischen und therapeutischen Experten überwiegt die Kritik an Erziehungssendungen wie der «Super Nanny»oder den «SuperMamas». Sicher könnten solche Sendungen zu einer öffentlichen Diskussion über Erziehung beitragen, aber dass sich Eltern deshalb professionelle Hilfe suchen, wird von meinen Gesprächspartnern in Beratungsstellen, Jugendämtern, Praxen für Kinder- und Jugendpsychologie eher skeptisch gesehen. Vielmehr herrscht der Eindruck vor, dass gerade Familien, die psychologische Beratung benötigen, sich während und nach der Sendung beruhigt zurücklehnen, weil sie der Meinung sind, bei anderen gehe es ja noch viel schlimmer zu.
Noch stärker werden die handwerklichen Fehler dieser Sendungen hervorgehoben: Wichtigstes Prinzip der Erziehungsberatung ist heute die Ressourcenorientierung, d.h., Wissen und Kompetenzen der Eltern wie der Kinder sind Ausgangspunkt jeder Beratung. Beratung funktioniert auf Dauer nur mit, niemals jedoch gegen die Eltern. Der pädagogische und psychologische Experte hört zu, beobachtet, strukturiert und begleitet Veränderungsprozesse. Er tritt nicht – wie bei der «Super Nanny» – an die Stelle der Eltern.
Die ressourcenorientierte Beratung geht von wissenden Eltern und Kindern aus, sie baut auf Partizipation aller Beteiligten. Dieser Grundgedanke fehlt in den Erziehungssendungen. Ressourcenorientierte Beratung will Informationen über Erziehung, über kindliche Entwicklung vermitteln, will aufklären über das, was funktioniert oder eben auch nicht. Ressourcenorientierte Beratung begreift Eltern und Kinder als Experten, die in das Resultat dessen, was am Ende der Beratung stehen soll, mit einbezogen werden. Beratung bedeutet eben auch Aushandeln dessen, was möglich ist. Die «Super Nanny» dagegen diktiert, gibt von oben herab Anweisungen, ob sie nun passen oder nicht.
Kinder werden in den Prozess der Beratung kaum eingebunden. Auf Entwicklungs- und Altersbesonderheiten nimmt insbesondere die «Super Nanny» kaum Rücksicht. Sie hört nicht zu, Regeln werden oktroyiert. In einer Sendung hatte die «Super Nanny» Verhaltensregeln für das Kind aufgeschrieben – allerdings konnte die Fünfjährige noch gar nicht lesen.
Erziehung als die Anwendung von pädagogischen Techniken hat etwas mit Zurichtung und Unterwerfung, mit Brechen des kindlichen Willens zu tun. Dies lässt sich – bezogen auf die «SuperNanny» – anschaulich an der Anwendung des «stillen Stuhls» bzw. des «stillen Zimmers» zeigen, wie es in der Erziehungssendung ständig angeraten wird. Funktioniert ein Kind nicht so, wie man es erwartet, überschreitet es Regeln, kommt diese Methode sofort zum Einsatz, ohne dass sie dem Kind im Vorhinein erklärt wurde. Folgt es nicht den elterlichen Anweisungen, dann wird es – wie in einigen Sendungen zu sehen war – sogar mit körperlicher Gewalt entfernt.
Man hat der Sendung vorgeworfen, sie begünstige einen Trend zur autoritären Erziehung. Ich sehe das etwas anders: «Super Nanny» fördert eine Tendenz zum Machbarkeitswahn in der Pädagogik: Wir können alles, haben alles im Griff – und das überträgt man auch auf zwischenmenschliche Beziehungen. Uns fehlt der Humanismus von Pädagogen wie Pestalozzi oder Montessori. Ein indischer Philosoph hat einmal gesagt: Erziehung ist nicht Vorbereitung auf das Leben, Erziehung ist das Leben selbst. Gemeinsam mit dem Kind durch dick und dünn zu gehen halten viele nicht aus. Das ist auch nicht einfach, wenn man Kinder im Trotzalter oder in der Pubertät hat. Wer Kinder begleitet, ist im wunderschönen Sinne angestrengt. Doch von dieser Haltung ist in den Erziehungssendungen nichts zu sehen.
Es gibt in der Pädagogik das Bild von den drei Lehrern: Da ist zunächst der Wissensvermittler, der Kinder als leere Krüge begreift und sie mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten füllen will. Kinder sind in diesem Bild unfertige, unmündige, unwissende Wesen, die es zu (be-)lehren gilt.
Dann gibt es den Töpfer, der Kinder als einen ungestalteten, durch den Erwachsenen zu formenden Klumpen Lehm begreift. Dabei hat der Erwachsene klare Vorstellungen darüber, wie die Form aussehen wird. Der Lehrer verlangt in diesem Bild Fügsamkeit, die mit Unterordnung, mit Verzicht und Einschränkung gleichzusetzen ist.
Der dritte Lehrer ist der Gärtner, der das zur Ausbildung bringt, was ein Kind an Anlagen, an Charakter und Temperament mitbringt. Ein Gärtner weiß oder spürt: Die eine Pflanze braucht mehr Wasser, eine andere würde daran ertrinken, eine Blume benötigt viel Sonne, die andere liebt den Schatten, ein Busch wächst ganz langsam, der andere treibt schnell aus; alle müssen in ihrem Wachsen – mal behutsam und sanft, mal fester und einschneidend – begleitet werden.
Zwar brauchen Kinder den Wissensvermittler, aber als Begleiter auf ihrem Weg ins Leben benötigen sie vor allem den Gärtner, der erkennt:
Jedes Kind ist auf seine Art und Weise einzigartig und unvergleichbar.
Bildung erwirbt man nicht allein durch vorgegebenen Lernstoff. Bildung hat mit Selbstbildung zu tun. Sie dient der Ausbildung von Autonomie und Eigenständigkeit, von Neugierde und Kreativität – und erzeugt damit Freude an selbsterbrachter Leistung.
Lernen, den eigenen Lebensweg zu erkunden, hat mit einem steten Suchen zu tun. Selbständiges Lernen ist nicht allein von Erfolgserlebnissen begleitet. Mit Lernen verbindet sich auch Frustration, Enttäuschung, Aufschub von Bedürfnissen.
Kinder müssen lernen, Konflikte auszuhalten, sie alters- und entwicklungsangemessen zu lösen, aus Eigeninitiative selbstverantwortlich zu handeln, den Willen zu haben, aus eigener Kraft «gut» zu werden, die allgemeinverbindlichen Normen und Werte zu verinnerlichen – und nicht, weil sie durch Gehorsam und Disziplin darauf eingeschworen sind. «Kadavergehorsam» hat man das einst genannt. Freiheit und damit die Freiheit zur Verantwortung erwirbt man – so der Pädagoge Rolf Arnold – nicht durch Disziplin, sondern «Selbstdisziplin erwirbt man durch Freiheit». Und Selbstdisziplin heißt: Kinder nicht «gut» zu machen, sondern dass sie sich wünschen, «gut» zu sein. Dazu bedarf es festgelegter/vereinbarter Regeln, Rituale und Grenzen, die sich am Alter und an den Entwicklungsbesonderheiten des Kindes orientieren, die Erziehung als Begleitung ins Leben verstehen, die Heranwachsende von einer egozentrischen Sichtweise, wie sie für das Säuglings- und Kleinkindalter so kennzeichnend ist, an ein altruistischeres Handeln heranführen, das sich durch Helfen, Mitgefühl, Trösten und Teilen auszeichnet.
Doch in der Freiheit liegen auch Gefahren. Freiheit ohne Grenzen bringt für Kinder Angst und Unsicherheit mit sich: Je größer die Freiheit ist, desto eher entsteht das Gefühl, jederzeit und augenblicklich alles haben zu wollen und zu können. Entgrenzte Lebenswelten ziehen eine Offenheit nach sich, die von Kindern manchmal als Gleichgültigkeit, Beliebigkeit, Vernachlässigung, als Alleingelassensein erlebt wird. Gerade heute, da so vieles möglich und unmöglich ist, sind Verlässlichkeit und Verbindlichkeit in der Erziehung besonders wichtig. Dabei spielt das Annehmen des Kindes, so wie es ist, eine zentrale Rolle.
Wer sich allerdings ständig überlegen und klüger fühlt, der setzt Autorität mit körperlicher, geistiger, moralischer und intellektueller Höherwertigkeit gleich, der erhebt sich über das Kind. Und dann bekommt die erzieherische Beziehung eine negative Dimension von Macht, dann wird aus dem Einfordern und Vorleben von Disziplin eine Disziplinierung, die auf Gefolgschaften setzt, die Gehorsam als Selbstzweck missversteht. Solch eine Disziplinierung will Konformität, sie setzt Normen und Werte mit Zuckerbrot und Peitsche durch, an deren Ende nicht autonome, selbstbewusste Heranwachsende stehen, sondern graue Mäuse, die durch das Befolgen von Regeln Strafen vermeiden wollen.
Disziplin – ich betone es nochmals – erwächst aus der Freiheit. Die Verinnerlichung von Normen und Werten gründet auf deren Akzeptanz, setzt Teilhabe am pädagogischen Prozess voraus. Zur Disziplin, genauer: Selbstdisziplin, gehört, die Anforderungen des sozialen Miteinanders zu erfüllen, den anderen in seinem Recht auf Unversehrtheit zu achten und zu respektieren, moralische Standards umzusetzen, eigene Bedürfnisse zu befriedigen und «gut» für sich zu sorgen, aber auch Versagen, Niederlagen und Schuld bei Verfehlungen einzugestehen, Versuchungen zu widerstehen, aber sich klar zu werden, dass sie zum Leben gehören.
«Meine Mutter liest sehr viele Bücher über Erziehung, geht zu Vorträgen und Veranstaltungen wie dieser hier und kommt dann ganz aufgemischt wieder», vertraut mir der zwölfjährige Thorben auf einem Elternseminar an, zu dem auch Kinder eingeladen sind. «Und wenn Mama dann bei Ihnen war, probiert sie alles aus, was Sie gesagt haben! Manches ist wirklich gut. Darauf muss man erst mal kommen. Sie denken wie einer von uns!» – «Wie meinst du das?» Er lacht: «Na, wie ein Kind!» – «Und wie denkt das?» – «Ganz einfach und ein bisschen schlitzohrig!»
Aber er sei mir ständig einen Schritt voraus, erklärt er: Habe seine Mutter eine Lösung für einen seiner Tricks gefunden, hätte er schon was anderes auf Lager. «Und dann sehe ich richtig, wie sie denkt, was jetzt wohl Herr Rogge dazu sagen würde!» – «Und was wünschst du dir von deiner Mutter?» – «Ach», meint er nach kurzem Nachdenken, «die ist schwer in Ordnung. Ich mag sie. Aber sie soll nicht alles so ernst nehmen, so richtig machen wollen, mal was Unerwartetes machen, mal Blödsinn. Und mal lachen, wenn es nicht so klappt mit mir. Ich hab nun mal meine Macken. Gerade deshalb mag sie mich ja, sie sagt immer: ‹Du bist mein Schlitzohr.›»
Auf meine Bücher habe ich die vielfältigsten Reaktionen bekommen, auch viele Briefe von Kindern. Ihr Tenor war: Die Eltern seien im Prinzip in Ordnung, nur wollten sie immer alles richtig machen. «Mama und Papa sind wie eine ‹pädagogische Maschine›», schrieb mir die zwölfjährige Janina, «aber ich sorge dafür, dass sie ständig heiß läuft.»
Erwachsene können von Kindern lernen. Deren Verhalten ist spontan, intuitiv, anarchisch, manchmal chaotisch. Neuerdings orientiert sich pädagogisches Handeln zunehmend am Kind, achtet es aber gleichwohl nur reduziert: Kindliche Wünsche und Bedürfnisse werden ernst genommen, die Einhaltung von Kinderrechten angemahnt. Obwohl die Heranwachsenden als Subjekte wahrgenommen werden, bleiben sie zugleich Objekte pädagogischer Bemühungen. Kinder sind aber nicht nur Lehrlinge, sie sind auch Lehrmeister. Kinder haben häufig einfache Mittel zur Hand, um komplizierte Situationen zu lösen. Deren Gebrauch muss man sich von Kindern abschauen, dann hat man mit einem Mal Techniken zur Hand, mit denen verfahrene Situationen pragmatisch, schnell und unkompliziert gelöst werden können.
Kinder sind genaue Beobachter ihrer Eltern. Sie spüren deren vergebliche Versuche, fehlerfrei zu erziehen, alles im Griff zu haben. Nach meiner Beobachtung wollen Eltern ein Problem nicht nur lösen. Sie wollen es perfekt lösen. Manche streben den pädagogischen Oscar an und nehmen dabei fast jede Anstrengung in Kauf, suchen nach dem Rezept für ihr Problem und verwechseln dabei Kindererziehung mit Kochen.
«Sie sollten», rät mir eine Briefschreiberin, «bei der Neuauflage Ihrer Bücher ein Stichwortverzeichnis einbauen, z.B. ‹Aufräumen Seite 71 bis 75›. Dann kann man Ihre Bücher noch besser gebrauchen.»
In Gedanken stelle ich mir vor, wie diese Mutter dann meine Ratgeber benutzt: «Paul! Du hast schon wieder nicht aufgeräumt! Ich schlag jetzt nach und sage dir gleich, wie du aufzuräumen hast!» Das mag überspitzt klingen, umschreibt aber ein aktuelles Problem elterlicher Erziehung: den Perfektionismus, den zwanghaften Versuch, bloß keinen Fehler zu machen, hat man doch gelesen, das könne die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen. Die elfjährige Susan bemerkt dazu hintersinnig: «Mama will immer nur mein Gutes!» Mit fast philosophischer Weisheit fügt sie hinzu: «Und was bleibt dann für mich übrig?»
Kein Vater, keine Mutter können je hundertprozentig sein. Aber da sie solche Unvollkommenheit schlecht ertragen, suchen sie nach Sündenböcken für das alltägliche Scheitern – und die sind schnell und zahlreich zur Hand: die Politik, die Gesellschaft, die Schule, die Lehrer, der Kindergarten, die Erzieherinnen. Und können diese nicht als Sündenböcke herangezogen werden, weil sie den Heranwachsenden förderliche Rahmenbedingungen bieten, bleibt immer noch jemand übrig: das Kind, das den Eltern jeden Tag den Spiegel vorhält, in dem sie die eigenen Mängel erblicken. Und je perfekter die Eltern sein wollen, umso unerbittlicher hält ihnen das Kind den Spiegel vor. Eltern halten diese Konfrontation oft nicht aus, und so projizieren sie eigene Fehler auf die Kinder nach dem Motto: «Wenn du dich besser verhalten würdest, müsste ich dich nicht anschreien, bestrafen, reglementieren.»
Statt nach einem nicht zu erreichenden Perfektionismus zu streben, käme es vielmehr auf den Mut zur Unvollkommenheit an, denn Unvollkommenheit ist menschlich. «Ich bin unvollkommen, also bin ich», sagen die amerikanischen Autoren Howarth und Tras. Unvollkommenheit ermutigt, etwas Neues auszuprobieren, etwas Überraschendes zu machen. Unvollkommenheit macht unverwechselbar, zeigt Kindern, wie Eltern an sich arbeiten, sich entwickeln. Eltern sollten ihre Schwächen und Fehler akzeptieren, zumal andere Menschen sie gerade wegen dieser Eigenschaften mögen. Der schmerzhafte Abschied vom Perfektionismus bringt gleichzeitig die entlastende Einsicht, dass Erziehung kein planbarer Prozess ist.Kinder lassen sich nicht nach dem Motto erziehen, dass einfach jedes Kind schlafen, Regeln lernen oder sauber werden könne.
Der 14-jährige Tom fragt seine Mutter, warum sie partout zu einem Vortrag über Pubertät wolle. «Du hörst dir das ja doch nur an, und es ändert sich nichts!», bemerkt er. In den folgenden Tagen fragt er nicht nach der Veranstaltung. Nach etwa drei Wochen meint er zu seiner Mutter beim Mittagessen, dass sich der Vortrag für sie und ihn ja doch gelohnt habe. Auf das erstaunte «Warum?» der Mutter antwortet er fast beiläufig: «Du fragst nicht mehr nach den Hausaufgaben, seit du dort warst!» Auf das etwas forsche «Tja, ich lerne eben doch noch dazu!» erwidert Tom: «Aber warum musstest du denn erst dahin? Ich hab dir genau das doch schon häufig gesagt!»
Mal abgesehen davon, dass Eltern pädagogische Autoritäten brauchen und den Weisheiten des Nachwuchses wenig Glauben schenken, macht die Situation deutlich, was der amerikanische Therapeut de Shazer «den Unterschied, der den Unterschied macht» genannt hat. Wenn Eltern das immer wieder Gleiche unendlich wiederholen, dann besteht für Kinder kein Grund, etwas zu ändern. Aber sie reagieren, wenn ihre Eltern anders handeln als gewohnt.
Erziehungsprozesse verlaufen nach bestimmten Regeln, die aber jederzeit in unüberschaubare Situationen umschlagen können. Wer Kinder erzieht, der muss sich von der Idee verabschieden, alles sei pädagogisch machbar. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind von Regeln und Chaos gleichermaßen geprägt. Relativierende Faktoren sind sowohl kulturelle, soziale oder politische Rahmenbedingungen als auch genetisch bedingte Persönlichkeitsmerkmale des Kindes. Für Eltern heißt das, das Chaos anzunehmen, es ansatzweise zu beherrschen und damit leben zu lernen.
Das Leben mit Kindern ist voll von Spontaneität, die Intuition erfordert. Da jedes Kind, jedes Familienleben einmalig ist, bietet jeder Tag etwas Neues, Überraschendes. Manchmal wirken pädagogische Rezepte, ohne dass man weiß, warum. Ein anderes Mal, und beim selben Rezept, kochen die Wogen hoch, obwohl alle Zutaten stimmten. Nochmals: Erziehung ist eine gestaltende Kraft, der eine Ordnung innewohnt. Aber nicht immer weiß man, wie diese Ordnung funktioniert, warum pädagogische Maßnahmen bei dem einen Kind Früchte tragen, beim anderen nicht! Diese Art Ordnung ist mithin nur das halbe Leben, die andere Hälfte ist das Chaos. Und so, wie man lernt, Ordnung zu akzeptieren, so kann man lernen, sich mit dem Chaos zu arrangieren. Das macht möglicherweise Angst, aber wer solche Unsicherheiten aushält, wer akzeptiert, dass Unvollkommenheit zum Leben und zur Erziehung gehört, der hat den Kopf frei, sich auf Neues einzulassen.
«Ich weiß immer nicht», so beginnt die Mutter des fünfjährigen Arne das Gespräch, «ob das, was ich mache, auch richtig ist, ob ich damit auch Erfolg habe.»
«Man ist», fährt der Vater des sechsjährigen Mike fort, «doch wirklich unsicher, was die Erziehung anbetrifft. Man schwimmt und schwimmt.» Er denkt nach: «Aber vielleicht ist es ja genau der Punkt, dass du diese Unsicherheit auch aushalten musst, auch aushalten lernst, und dass du es dann irgendwann auch aushältst!»
«Man spricht ständig davon», so eine andere Mutter, «Eltern sollen Wurzeln sein, den Kindern Halt geben. Aber wenn man selber nicht genau spürt, was der Halt ist, wie man das anstellt, das gibt einem nicht gerade die große Sicherheit!»
Diese Väter und Mütter beschreiben ein grundsätzliches Dilemma: Einerseits soll man Vorbild sein, Werte und Normen vermitteln, das Kind ins Leben begleiten, andererseits fehlt aber der Kompass, der den rechten Weg weist. Aber diesen Weg gibt es nicht.
Es ist eine fixe Idee, dass eine perfekte Erziehung das perfekte Kind mit Gütesiegel produziert, aus einer verfehlten Erziehung das problematische, auffällige und gestörte Kind resultiert. Erzieherisch verantwortliches Handeln stellt sich nicht als letztlich bis ins Detail planbare Aktivität dar. Aus ihm kann anderes hervorgehen, als man wollte oder sich in den kühnsten Träumen vorstellte. Erzieherisch verantwortliches Handeln hat mit Aushalten dieser Unsicherheit zu tun. Dies bedeutet nicht ein resignatives Eingeständnis, es ist die Einsicht, dass die Wirkung von Erziehung – so der Pädagoge Rolf Arnold – ungesichert bleiben muss.Wer sich Hoffnungen über die Wirksamkeit seiner erzieherischen Absichten macht, der wird häufig enttäuscht.
Man kann nicht nicht erziehen: Zweifelsohne beeinflussen Erziehungsprozesse Kinder. Aber warum manche Handlungen positive Ergebnisse zeitigen, das kann zufällig sein, kann mehr mit dem Kind, seiner Innenwelt, seinem Charakter, seinem Temperament zu tun haben als mit den pädagogischen Eingriffen.