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Jedes Kind erlebt von Anfang an starke Gefühle: unbändige Freude, wenn etwas gelungen ist, Momente von großem Glück, wenn es sich geborgen fühlt. Auf so positive Emotionen wird viel Wert gelegt: Kinder sollen glücklich sein. Doch auch Tränen, Zorn und Frustration, die Trauer über kleine und große Abschiede und Neuanfänge gehören zum Kindsein dazu. Erwachsene reagieren in solchen Momenten unsicher, bagatellisieren kindliche Gefühle. "Du musst nicht traurig sein!" Oder: "Das ist doch nicht so schlimm!" Mit solchen Sätzen fühlen sich Kinder allein gelassen. Dieses Buch zeigt, dass in den glücklichen wie in den unglücklichen Augenblicken des Alltags Kräfte enthalten sind, die Mut machen und an denen Kleine und Große wachsen können. Mit viel Feingefühl und Verständnis helfen die Autoren, Gefühle der Kinder ernst zu nehmen, zu begleiten und mitten im größten Sturm ein stabiler Leuchtturm zu bleiben.
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Seitenzahl: 297
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© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020
© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020
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Projektleitung: Dr. Sarah Rafajlovic
Lektorat: Anna Cavelius
Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München
eBook-Herstellung: Christina Bodner
ISBN 978-3-8338-7460-4
1. Auflage 2020
Bildnachweis
Coverabbildung: Stocksy
Fotos: GettyImages; iStock; Stocksy
Syndication: www.seasons.agency
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Betrachtet man die Fülle an Kinderratgebern, die jedes Jahr erscheinen, so wird offenbar auf die kognitive oder die sprachliche Entwicklung der Kleinen größter Wert gelegt. Dabei durchleben Kinder von Anfang an vor allem eines – starke Gefühle: Unbändige Freude, wenn sie etwas erreicht oder bekommen haben, und Momente von Glück, wenn sie sich geborgen fühlen. Den Moment von Nähe, wenn sie von Mutter oder Vater in den Arm genommen werden, und das Gefühl von Aufgehobensein, wenn sie so angenommen werden, wie sie sind. Die Momente von Innigkeit, wenn sie ihr Kuscheltier im Arm halten.
Mit solch positiv erlebten Gefühlen bei Kindern können Eltern »gut« umgehen. Ja es scheint fast, als ob das die wichtigsten Emotionen sind: Kinder müssen/sollen glücklich sein. Aber jedes Kind weiß: Da gibt es noch die anderen Gefühle, die auch zu mir gehören, die Mama und Papa aber Sorgenfalten auf die Stirn treiben.
Da sind die traurigen Momente, die mit viel Tränen und Leid einhergehen. Eltern reagieren dann unsicher, bagatellisieren kindliche Gefühle. »Du musst nicht traurig sein!« Oder: »Das ist doch alles nicht so schlimm!« Oder: »Denk mal an was Schönes!« Mit solchen Sätzen fühlt sich ein Kind aber allein gelassen. Es spürt, dass auch in den unglücklichen Augenblicken spirituelle Kräfte enthalten sind, die Mut machen. Ein Kind ahnt, dass es das Erreichte übersteigen muss, um selbstständig zu werden. Dabei vergießt es Tränen, die erleichtern. Und ein Kind kann zürnen, wütend sein, ausflippen. Es ist eben nicht nur lieb! Es kann auch ein »kleines Monster« sein! Doch egal wie: Es braucht das Gefühl: Ich bin OKAY so!
Eltern handeln in vielen Alltagssituationen häufig sehr souverän, aber dann gibt es Augenblicke, Phasen im Leben ihres Kindes, da ist es mit der Selbstsicherheit schnell vorbei. Die Devise lautet: Jetzt bloß keinen Fehler machen! Das verwirrt – und man agiert noch nervöser. Dies betrifft vor allem Situationen und Phasen, in denen Kinder nicht fröhlich, sondern untröstlich sind.
Dieses Buch will Sie ermutigen, sich den Emotionen, die Ihr Kind berühren, selbstbewusst zu stellen, um es zu begleiten, Halt zu geben und zu trösten. Glücksgefühle gehören dabei genauso wie das Abschiednehmen – mal nur kurz, mal länger, mal für immer. Man kann ein Kind nicht davor bewahren. Krisen und Abschiede sind Teil seiner Entwicklung. Und trotzdem tun sie weh. Wenn man sie also schon nicht davor beschützen kann, dann gilt es, sie dabei zu begleiten.
Leben vollzieht sich in Übergängen, von Abschied zu Neubeginn – und das von Geburt an. Übergänge gehören zum Leben und zur Entwicklung, aber sie machen auch Angst, sind mit starken, beunruhigenden Gefühlen verbunden, werfen einen aus der Bahn, sind mit Tränen und Erschütterungen verbunden. Wenn man Kinder begleitet, dann ist eine HALTUNG wichtig. Das wichtigste Moment ist dabei die Beziehung. Fünf Momente sind dabei zentral:
Vom Kind aus denken (»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder!«)
Die kindliche Persönlichkeit akzeptieren
Mitgefühl stärkt, Mitleid schwächt
Geborgenheit aufbauen, spirituelle Rituale entwickeln
Geduld, Glaube und Gelassenheit helfen
Jedes Hänschen spürt, dass es vom Erreichten wegmuss. Aber um den Übergang auszuhalten, braucht es den Stock (Psalm 23, »Dein Stecken und Stab trösten mich«) und den Hut, also die Behütung. Nur behütete Kinder (»Du schaffst es!«/»Ich vertraue dir!«) schaffen den Übergang, überbehütete Kinder (»Sei vorsichtig!«/»Soll ich dir nicht doch helfen?«) scheitern häufig. Übergänge gelingen mit vertrauten Objekten, um neues, unbekanntes Terrain zu erobern. Diese können der Reim, der magische Satz, das Gebet oder das Vertrauen auf Gott sein. Den Zauber des Neubeginns zu erfahren oder Abschiede zu erleben ist ein Grundprinzip von Begleitung und Beziehung. Dabei begeben sich Eltern wie Kinder gemeinsam auf eine Reise.
Halt geben und begleiten, auch wenn die Stürme toben
In einem Gesprächskreis zum Thema Gefühle bei Kindern äußern Mütter und Väter ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle. Denn wenn Eltern über große Gefühle bei ihren Töchtern und Söhnen reden, sind die Emotionen der Erwachsenen mindestens genauso groß und verwirrend. Doch wie befreit man sich aus dem destruktiven Strudel der eigenen Verunsicherung? Wie geht man sicher und gelassen mit großen Gefühlen um? Wie bleibt man Mensch, Haltgeber und Begleiter, auch wenn es mal schwierig wird?
Maria, Mutter von zwei Jungen, vier und sieben Jahre alt: »Eigentlich bin ich mit meinen beiden schon zufrieden!« – »Was heißt eigentlich?« Sie lächelt: »Die sind total in Ordnung! – Aber da ist dieser kleine Mann im Ohr, der einem sagt: Es geht doch noch besser!« Maria schüttelt ihren Kopf: »Höher! Besser! Weiter! Nie ist man mit sich zufrieden! Vor allem«, sie atmet tief ein, »wenn’s denn tatsächlich einmal Probleme mit den Kindern gibt. – Also, wenn sie SICH ZOFFEN, wenn sie ausflippen, sofort ist der Gedanke da: Was hast du nun schon wieder falsch gemacht?« Sie wirkt ärgerlich: »Alles bezieht man auf sich, zieht sich jeden Schuh an! Fürchterlich!«
Dann grinst sie schief: »Meine Mutter sagte immer, wenn ich frech war, sie wünsche mir später mal so ein Kind wie mich.« Sie atmet tief aus: »Das nimmt einem die Freude, verdammt!« Sie schüttelt den Kopf: »Und diese Bücher über glückliche Kinder. Was man machen muss, damit sie glücklich werden. Ich dreh’ noch durch! – Als ob es nur Glück gäbe und nicht diese anderen Gefühle, die auch noch da sind! – Ich bin doch auch nicht nur glücklich! Ich bin auch mal sauer, wütend, todtraurig! Ich bin ein Mensch! Und meine Kinder sind es auch!«
Saskia, Mutter des dreijährigen Ben und des einjährigen Florian, nickt.
»Mit dem ersten Kind, da gab es schon Zweifel, ob ich alles richtig machen würde. Bei jedem Mucks stand ich bei Fuß. Und dann hatte Ben so heftige Gefühlsausbrüche. Der konnte WÜTEND sein, schlug um sich, flippte total aus. – Das ging manchmal so weit, bis er kotzte. Dann hörte er auf, war ganz ruhig. Und ich war komplett fertig.«
»Und dann die guten Ratschläge, die ich überall bekam, so als wäre ich die absolute Vollidiotin.« Saskia stockt: »So kam ich mir ja auch vor. Und dann diese Selbstzweifel: Warum passiert es nur dir? Was machst du nur falsch? Und! Und!« Sie wiegt ihren Kopf: »Mit Florian, da wurde es besser. Irgendwie hatte ich mehr Vertrauen zu mir selbst! – Und ich wusste: So viel machst du gar nicht falsch!« Sie lächelt: »Ich hab es doch an Ben gesehen. Der entwickelt sich!« Sie grinst: »Trotz meiner Erziehung. Kinder sind doch stärker, als wir meinen, viel stärker!«
Saskia wirkt nachdenklich: »Und trotzdem bleiben da Fragen: Sind solche heftigen Zornesattacken normal? Woher kommen diese wüsten Anfälle? Vor allem: Wie reagiere ich richtig? Das Kind soll doch keinen Schaden nehmen!« Sie denkt nach: »Da bleiben immer Zweifel!« Um dann schnell fortzufahren: »Aber besser, man hat seine Zweifel! Oder?«
Als Tobias und Nina, Eltern von drei Kindern zwischen neun und fünf Jahren, das hören, haken sie ein. So wäre es! Genau so: »Man ist einfach unsicher. Von allen Seiten hört man nur die Besserwisser, diese Kinderflüsterer.« Tobias zieht seine Augenbrauen genervt hoch: »Diese Kinderflüsterer«, wiederholt er ironisch. »Die Bescheidwisser, die auf alles eine Antwort haben. Ein Patentrezept!« Nina ergänzt: »Die rütteln am Selbstvertrauen, die geben einem das Gefühl, man ist ein Versager! Oder«, ihre Augen werden schmal, »unsere Kinder seien nicht ganz dicht.« Man habe MONSTER als Kinder oder sie zu Monstern gemacht. Schlimm wäre das! Nina schaut verunsichert: »Dabei will man doch manchmal nur hören, dass ausflippende Kinder normal sind. Dass vieles normal ist! Dass das Kind, nur weil es mal durchdreht, nicht sofort zum Psychiater muss! Und die Eltern gleich mit!«
Tobias nickt: »Dieses Konkurrenzdenken unter den Eltern«, das ginge ihm gewaltig auf den Zeiger: »Wenn du andere Mütter und Väter hörst, dann ist bei denen alles paletti. Die haben nur normale Kinder. Bullerbü-Kinder!« Er drehe mittlerweile fast durch, wenn er so etwas höre.
Tobias habe da wohl recht, nimmt Patricia, Mutter des fünfjährigen Nick, den Faden auf. Sie sehe das bei ihrem Sohn: »Der hat vor allem ANGST, vor allem und jedem. Jede neue Situation ist für ihn eine Herausforderung. Sein ständiges ›Ich kann das nicht‹ bringt mich auf die Palme. Und wenn man ihn dann lässt, dann macht er es ja doch. Er kann es ja!« Die Mutter nickt: »Er kann es ja! Verdammt!« Sie stockt: »Aber vorher dieses ängstliche Getue. – Das geht mir so was von auf den Wecker! Mannomann! Ganz schlimm ist es, wenn er fremden Personen begegnet: Die schaut er nicht an. Sein Blick ist dann starr auf den Boden gerichtet. Seine Stimme wird leise, unsicher!« Patricia schüttelt ihren Kopf: »Nicht mal seinen Namen kann er dann sagen. Er sagt nichts, presst nur seine Lippen zusammen. Aus ihm kriegt man nichts heraus, gar nichts!«
Sie lächelt etwas verlegen: »Noch nicht mal bestechen lässt er sich.« Das fände sie aber nun wieder gut: »Der bleibt stur. Meine Schwiegermutter will ihn immer mit Bonbons zum Reden bringen. Und Bonbons sind etwas Besonderes für ihn. Bei uns gibt es die nämlich nicht!« Patricia lächelt in sich hinein: »Aber selbst da bleibt er stur und seine Oma ist dann kurz vor dem Verzweifeln. Die kann machen und tun, was sie will! Nick redet nicht!«
Dann wird sie ernst: Sie fände das ja auf der einen Seite in Ordnung, weil sie ja wisse, er rede dann schon, wenn er wolle: »Und dann quasselt er ununterbrochen! Aber«, fährt sie mit sorgenvoller Miene fort, »in einem Jahr kommt er in die Schule. Und da wird verlangt, dass er spricht, wenn er dazu aufgefordert wird. Was machen wir denn, wenn auf Fragen nicht antworten wird?« Patricia zuckt mit den Schultern: »Da ist man schon in einer Zwickmühle: Soll man sein Kind zwingen zu sprechen? Soll man es lassen, in der Hoffnung, die Zeit löse das Problem?« Sie zieht die Schultern ratlos nach oben: »Ich weiß es nicht!«
»Irgendwie ist es doch gar nicht schlecht, dass man nicht alles weiß!« Roman, Vater von zwei Jungen, sechs und acht Jahre alt, hat sehr konzentriert zugehört: »Manchmal denke ich mir, wir machen uns zu viele Gedanken und wissen so wenig!« Er denke viel über seine Kinder nach, wohl viel mehr als seine Eltern: »Die haben einfach gemacht!« Das wäre nicht alles richtig gewesen, »bestimmt nicht«! Aber er stelle sich schon die Frage, warum »aus mir dann doch etwas geworden ist«! Er denke, so fährt er fort, seine Mutter und sein Vater hätten viel aus dem Bauch heraus entschieden, da wäre viel Platz für Gefühl in ihrer Erziehung gewesen: »Gefühl!« Er betont dieses Wort: »Gefühl! Im Guten wie im Schlechten! Denn natürlich ging es manchmal auch bös’ zur Sache!« Das dürfe man nicht wiederholen, aber mit Gefühl zu erziehen, das »habe er übernommen! Wenn ich mit GEFÜHL erziehe, kann ich auch die Gefühle meiner Kinder besser verstehen!« Er bemühe sich jedenfalls, aber manchmal läge er damit auch daneben.
Roman frage sich häufig, was ihm in seiner eigenen Erziehung gutgetan habe, und nicht ständig, was daran schlecht war! Denn das müsse man ja nicht fortsetzen. Aber das, was schön war, das, was er gemocht habe, das sollte man doch weiterführen. Er erinnere sich gerne an die »Polsterschlachten« mit seinem Bruder und dem Vater. Die wären toll gewesen. Das wäre heute aber offenbar nicht mehr akzeptabel. Wenn er anderen Eltern davon erzählen würde, dann würden die ihre Gesichter verziehen. Die meinten dann, so erzählt er weiter, davon würden Kinder »aggressiv oder so etwas in der Richtung«. Er glaube das nicht, er meine vielmehr, dass die Jungen »so Regeln lernen, wie man fair miteinander kämpfen kann, ohne die anderen zu verletzen«. Roman sieht etwas unschlüssig aus: »Oder bin ich da auf dem falschen Dampfer?«
»Na ja,« greift seine Frau Maja ein: »Du forderst sie schon!« Manchmal denke sie auch, das gehe zu weit. Was sie damit meine, will ihr Mann wissen. »Na, die Gruselgeschichten, die du ihnen hin und wieder erzählst!« Die müssten doch nicht sein. »Aber sie mögen die Geschichten«, insistiert er, »die wollen sie hören. Und wenn sie Stopp sagen, dann mache ich doch auch nicht weiter. Ich überfordere sie nicht!« Rudi klingt selbstbewusst.
Petra, Mutter von drei Mädchen, vier, sechs und neun Jahre alt, nimmt den Faden auf. Was ihr besonders auf die Nerven gehen würde: »Wir sind niemals am Ende. Da hat man ein Problem gelöst, schon hast du das nächste am Hals!« Sie schaut genervt drein: »Meine Lena, die Jüngste, die hatte WUTAUSBRÜCHE, die waren nicht zum Aushalten. Sie schrie, warf sich auf den Boden! Der reinste Horror! Grauenhaft!« Sie seufzt tief: »Wenn’s nur zu Hause war! Gut!« Das habe sie schon irgendwie geschaukelt: »Aber in der Öffentlichkeit, im Bus, in der Fußgängerzone und ich weiß nicht, wo noch … Puh! – Dieses Geglotze der anderen! Fürchterlich!« Petra stockt: »Und mit einem Mal ist der Anfall vorbei!« Sie lächelt schwach: »Aber die nächste Attacke kam schneller, als man denken konnte!«
Die Mutter atmet tief aus: »Jetzt nuckelt sie dafür. Sie nuckelt und nuckelt! Wenn irgendetwas ist oder auch nicht ist, wenn sie sich langweilt oder was weiß ich: Daumen in den Mund und weg ist sie, abgetaucht in eine andere Welt!« Sie wäre gespannt, was als Nächstes anstünde: »Bin wirklich neugierig, was da wieder kommt.«
»Irgendwas ist immer«, nimmt Matthias, Vater eines fünfjährigen Sohnes, den Faden auf. »Was hatte man mich und meine Frau gewarnt, wenn unser Sohn in den Kindergarten käme, vor dem ABSCHIEDSSCHMERZ und was weiß ich!« Er schaut in die Runde: »Nichts davon ist eingetreten. – Der Max ging von Anfang an gerne in die Kita, hatte schnell zwei Freunde!« Die wurden eine richtig verschworene Gemeinschaft, eine »kleine Bande«, wie seine Erzieherin erzählte. »Wir waren froh. Er fühlte sich wohl! Und was will man mehr als Eltern! Jeder will doch glückliche Kinder, oder?«
Matthias macht eine kurze Pause: »Dann kamen die Weihnachtsferien. Alles paletti. Und als er dann wieder in den Kindergarten gehen sollte, da machte er Theater! Aber so etwas von Theater!« Nichts habe hier geholfen, Max habe sich auf den Boden geschmissen, sich an das Treppengeländer geklammert: »Fürchterlich! Und dann dieses Gekreische in den höchsten Tönen! Da bist du hilflos! Absolut hilflos!« Er schüttelt langsam seinen Kopf. Seine Frau und er hätten ihn dann zu Hause gelassen. Wohl wäre es ihm dabei nicht gewesen. Wo käme man denn hin, wenn ein Kind ständig seinen Willen durchsetzen würde: »Da bist du doch erpressbar. So etwas geht doch überhaupt nicht! Aber was willst du da machen?« Sein Blick wirkt ratlos.
Genau das wäre es, meint Marie, Mutter von zwei Jungen, zwei und sechs Jahre alt. Da stehe man von einem Tag auf den anderen vor einem Problem und wisse nicht, wie man das nun wieder lösen solle. »Also, der Paul, der Ältere«, berichtet sie, »der weiß alles, der kann alles. Ein richtiger Obergescheiter, gibt überall den Ton an, mischt überall mit.« Im Kindergarten wäre er der Bestimmer gewesen, hätte damit angegeben, bald in die Schule zu kommen: »Paul fühlte sich richtig stark!«
Maries Stimme wird leise: »Und mit einem Mal, so nach den Weihnachtsferien, da kippte die Stimmung. Von der Schule wollte er nichts mehr wissen. Er hielt sich die Ohren zu, wenn er nur das Wort hörte. Oder er brüllte: ›Hör auf! Hör auf!‹ Von einem Mal aufs nächste. Ganz plötzlich!» Als sie Paul darauf ansprach, dass er doch schon groß sei, habe er geschrien: »Will nicht groß sein! Will nicht groß sein!« Aber das wäre noch nicht alles gewesen: »Mit einem Mal wollte er wieder einen Schnuller haben, über den er sich bisher lustig gemacht hatte, weil das Babykram war. Er kam zu uns ins Bett, machte einen auf kleines Kind, ganz verlassen von der Welt und TRAURIG. Dann wurde er ganz leise, war kaum noch zu verstehen. Ganze Sätze sprach er nicht mehr!» Marie runzelt ihre Stirn: »Und aus solchem Verhalten sollst du dann schlau werden!» Und dann kämen die Selbstvorwürfe, die Ursachensuche, und die fange natürlich bei einem selbst an: »Was habe ich falsch gemacht?« Oder diese Horrorbilder: »Mein Kind will nicht in die Schule! Ich muss es zwingen! Und dann nimmt es Schaden!»
Marie presst ihre Lippen fest zusammen. Dann aber lächelt sie: »Und im Juli ist er wie selbstverständlich zum Schnuppertag gegangen!«
Wenn man ihn auf seine Ängste angesprochen hätte, dann hätte er nur die Achseln gezuckt, als wäre da nie etwas gewesen und der Schulbesuch wäre das Normalste der Welt.
Tja, das wäre so etwas mit der Normalität, grinst Michael, Vater eines Sechs- und eines Neunjährigen: »Die Kinder können es doch einem kaum recht machen! – Wenn sie brav sind, leise sind, miteinander spielen, sagt man nichts oder fragt sich: Komisch, die sind so still heute. Kann es nicht immer so sein?« Michael atmet tief aus: »Und wenn es wieder hoch hergeht, dann ist man schnell genervt. Warum müssen die schon wieder STREITEN? Können die nicht mal leise sein, einfach mal schön spielen?« Wenn man gut drauf wäre, könne man damit ja umgehen. »Aber, wenn du selbst geladen bist, dann schreist du los, sagst Dinge, die dir hinterher leidtun! – Ja, so ist das! Ich bin doch auch nur ein Mensch! Habe doch auch Gefühle!« Er überlegt: »Deshalb kann ich meine beiden ja auch irgendwie verstehen! Nicht immer! Aber ich bemühe mich!« Was die Gefühle anbetrifft, da habe er vor allem von seinem Älteren gelernt. Der lasse »die Sau raus«, wenn ihm was nicht passe. Darauf könne man sich verlassen: »Der ist so etwas von ehrlich.« Auch wenn es ihm und anderen wehtue. Der würde sich nicht verstellen: »Und das finde ich klasse!«
»Sie sind so ehrlich, die Kinder, das finde ich auch!«, greift Lisa ein, »So ehrlich, dass es einem die Sprache verschlägt. Fragt doch meine Pia neulich, ob ich STERBEN könne. Einfach so! – Mir ist der Kinnladen runtergefallen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, habe irgendwas gesagt …« Sie schüttelt ihren Kopf: »Aber was soll man da machen? Man will ja nichts Verkehrtes sagen, lenkt ab auf ein anderes Thema. – Gott sei Dank hat das Kind nicht weitergefragt.«
Dabei würden häufig einfache Dinge helfen, meint Beatrice, die Mutter eines Achtjährigen. Julian hätte neulich etwas über ein Erdbeben gelesen und sie gefragt, ob so etwas auch bei ihnen passieren könne. Er hätte den Papa auch schon gefragt. Der habe ihm erklärt, dass es bei uns keine Erdbeben geben könne, und ihm das bei Google gezeigt. Das Kind war aber mit der Antwort nicht zufrieden, das Erdbeben hätte ihn weiter beschäftigt. Sie habe dann auch angefangen, ihm die Ursachen von Beben zu erklären. Aber Julian wäre immer unruhiger geworden, bis er mit den Füßen aufgestampft und laut gerufen hätte: »Aber das will ich doch gar nicht wissen!« Ungehalten habe sie gefragt: »Ja, was willst du denn wissen?« Daraufhin hätte ihr Sohn sie umarmt und leise gesagt: »Ich will wissen, ob du bei mir bist, wenn ein Erdbeben kommt!« Sie habe ihn in den Arm genommen und nichts mehr gesagt. »Warum machen wir es uns so schwer und kompliziert, wenn es die Kinder so einfach haben wollen?«
Ja, warum eigentlich, könnte man sich fragen. Diese kleine Gesprächsrunde zeigt viele Facetten auf, wenn es um die Emotionen von Kindern geht und die Versuche, ihnen auf den Grund zu gehen. Die kindlichen Gefühlslagen lösen ihrerseits bei Eltern und Erwachsenen, die die Kinder begleiten, eine ganze Gefühlspalette aus, die von Nachdenklichkeit und Zweifel bis hin zur Hilflosigkeit reicht. Gefühle der Kinder ziehen einen Zwiespalt nach sich!
Eltern wollen Kinder, die Gefühle zeigen – Freude, Glück, Fröhlichkeit. Andere Emotionen wiederum sind nicht so wohlgelitten, irritieren, ängstigen, lösen bei einem selbst heftige Emotionen aus – Wut, Zorn, Ungehaltensein, Verzweiflung, Scham, Hilflosigkeit, vor allem jedoch UNSICHERHEIT!
Eltern wollen in diesen Augenblicken Sicherheit, sie brauchen die Gewissheit, angemessen zu handeln. Doch kommt ihnen da der kindliche Eigensinn in die Quere. Kinder entwickeln sich nicht nach Lehrbuch, lassen sich schon gar nicht nach vermeintlich plausiblen Rat-Schlägen erziehen, wie man sie in vielen Elternratgebern oder -foren findet. Rat-Schläge sind getarnte Schläge, deren blaue Flecken man erst dann bemerkt, wenn das eigene Kind ganz anders agiert, wie es im Buche steht. Wenn das, was man gelesen hat, nicht funktioniert. Man macht eben die Rechnung ohne den Wirt, sprich: die Kinder. Jedes davon ist einzigartig und ein wunderbarer LEHRMEISTER, der seine Eltern immer aufs Neue vor neue, andere Aufgaben stellt. Und wenn man als Mutter oder Vater meint, eine Aufgabe gelöst zu haben, dann steht die nächste schon vor der Tür. Man wäre in der Erziehung eigentlich nie am Ende, seufzte einmal eine Mutter in der Beratung. So ist es! Oder anders formuliert: Ohne Schweiß kein Preis!
Gleichwohl ist das Bedürfnis von Eltern nach Sicherheit, nach Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen ihrer Kinder zu verstehen. Ja sie haben einen Anspruch darauf. Hier fällt nun jedoch auf: Sie geben sich selbst ihre passenden Antworten und suchen Erklärungen, vor allem in Form von Schuld, zumeist bei sich! Hin und wieder sind auch die anderen dran. Dann ist es die Gesellschaft, die Schule, der falsche Freund, die Medien und, und, und …
Doch meistens landet man bei der eigenen Person. Dies ist zweifelsohne auch Ergebnis eines Elternbashings, das sich landauf, landab durch die mediale Berichterstattung oder die Hitzewallungen im Internet breitgemacht hat. Dort wird den verunsicherten Eltern sehr plastisch deutlich gemacht, wohin ihre falsche Erziehung führt: zwangsläufig in den Abgrund in Form von verhaltensgestörten, unsozialen, egoistischen Kindern! Und wer will das schon! Meist werden die Aussagen dann noch mit Studienergebnissen unterlegt, die beweisen, wie verwahrlost, unerzogen und gemein die Kinder von heute sind – unter der Überschrift: Früher war alles besser! Dazu passt die populäre Formel: Kinder werden immer schlimmer!
Natürlich gibt es auch Erziehungsfehler, Und es geht hier auch nicht darum, Eltern, die kindliche Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit nicht einlösen, freizusprechen, nein: Es geht darum, Mütter und Väter zu ermutigen, in BEZIEHUNG zu sich zu kommen, sich so anzunehmen, wie man ist, mit allen Stärken, aber eben auch den Schwächen. Und zwar in dieser Reihenfolge – und nicht umgekehrt! Nur so können sie in eine aufrichtige Beziehung zu ihrem Kind treten. Denn nur dann kann man auch sein Kind annehmen, so wie es ist – mit all seinen Stärken und all seinen »Macken«, mit all seinen Gefühlen, seiner Freude, seiner Wut, seinem Zorn, seiner Angst und Unsicherheit. Konkret heißt das: Seinen Dreijährigen gelassen anzunehmen, wenn er an der Supermarktkasse am Boden liegt, schreit, sich wälzt und lautstark brüllt und wenn man als Mutter oder Vater denkt: Boden, öffne dich! In dieser Situation zum Kind zu stehen, allen dadurch zu zeigen: »Das ist meiner!«, vielleicht mit dem Hintergedanken: »Er kann auch anders!«, dann steht man zum Kind, ist parteilich und solidarisch. Und der Dreijährige spürt diese Haltung!
Indem man ruhig dasteht, verkörpert man einen STANDPUNKT, der Kindern Halt und Sicherheit gibt – gerade in Augenblicken, in denen sie von Gefühlen überwältigt werden, sie sich im Chaos ihrer Emotionen zu verlieren und darin unterzugehen drohen. Solch ein Standpunkt unterstützt Kinder mehr als Beschwichtigungen oder Versuche, die Wut zu unterdrücken.
Doch setzt so ein Standpunkt, so eine Haltung eine erzieherische Gelassenheit voraus. Die hat freilich nichts zu tun mit einem gleichgültigen Gewährenlassen im Sinne von: Da kann ich sowieso nichts machen! Oder: Kinder sind eben so! Gelassenheit bedeutet aber auch nicht gedankenloses Fallenlassen. Man kann ein Kind zum rechten Zeitpunkt loslassen, aber man darf und kann es nicht fallen lassen. Kinder müssen ihre, manchmal auch schmerzhaften, Erfahrungen machen. Aber diese können sie nur für sich nutzen, wenn sie um eine haltgebende und verlässliche Geborgenheit wissen.
Im Talmud, einem der wichtigsten Traditionswerke des Judentums, stehen Regeln, die den Juden Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens geben. Die fünfte lautet, die Kinder das Schwimmen zu lehren. Das hört sich merkwürdig an: Schwimmen – gibt es nicht wichtigere Themen in der Erziehung?
Doch schaut man sich diese Regel genauer an, enthält sie auf wundersame Weise die Balance und die Spannung von HALTGEBEN und LOSLASSEN. So liegt der Säugling in den ausgestreckten Armen von Vater und Mutter, deren Arme fast auf der Wasseroberfläche ruhen. Das Kind hat das Gefühl absoluter Geborgenheit: Mir kann nichts passieren! Wenn es älter ist, können die Eltern die Arme etwas tiefer sinken lassen, weil das Kind sich mit ungestümen, eckigen Bewegungen über Wasser zu halten vermag. Aber wenn seine Kräfte nachlassen, sollten die Eltern ihre Arme wieder stützend nach oben führen. Das Kind kann sich zugleich fallen lassen und aufgehoben fühlen. Und irgendwann kann es auch schwimmen und sich allein über Wasser halten. Es entfernt sich, ist vielleicht sogar der Begleitung durch die Eltern überdrüssig geworden. Jetzt können Vater und Mutter die Arme aus dem Wasser nehmen: Sie sind leer und erfüllt zugleich, weil sie ihr Kind eine Technik gelehrt haben, mit der es im Zweifelsfall überleben kann. Dieses Erfüllen kann nur im Loslassen geschehen, ein Lernprozess, der erlebt wird, wenn man Kinder ins Leben begleitet. Nichts anderes stellt ja Erziehung dar.
Man darf nicht vergessen, dass es Eltern gibt, die für ihre Erziehungsaufgabe erst ihre »Mitte« finden müssen, um im kindlichen Aufruhr der Gefühle richtig zu intervenieren. Dann gibt es auch solche, die erst in Gedanken einen Ratgeber durchgehen müssen, um sich die Stelle, die sie beim Lesen mit dem Wort »Wichtig« markiert haben, in Erinnerung zu rufen. Solche sehr überlegten Eltern werden von ihren Kindern in aller Regel gnadenlos geerdet, zunächst zu Hause und dann – sollten Vater oder Mutter die Lektion noch nicht kapiert haben – im öffentlichen Raum. Dabei können Kinder bei der Wahl des Ortes, der Eltern vor Herausforderungen bezüglich ihres Selbstbewusstseins und ihrer inneren Haltung stellt, ungemein einfallsreich sein.
Und dann gibt es jene Eltern, die Erziehung als HOCHLEISTUNGSSPORT missverstehen. Diese Disziplin lässt sich anschaulich an der Verwendung der Worte »richtig« oder »schön« aufzeigen. Vor ein, zwei Jahrzehnten sollten Kinder »nur« aufräumen, wenn es um die Ordnung ging. Seit einigen Jahren heißt es: »Könnt ihr nicht mal richtig aufräumen?« Und was das Spiel anbelangt, durften Kinder früher »einfach nur« spielen, heute heißt es – meist mit unterdrücktem Zorn: »Könnt ihr nicht mal schön spielen?« Oder: »Geht das nicht mal leise?« Nein! Das können Kinder eben nicht: schön spielen.
Man stelle sich mal vor, eine Vierjährige sagt zu ihrer Freundin: »Ich denke, wir spielen heute mal schön leise!« Spielen können Kinder aber immer nur mit vollem Einsatz, mit all den Gefühlen, und die sind nicht immer schön und leise. Die häufige Verwendung von Eigenschaftswörtern wie »richtig« oder »gut«, um Tätigkeiten von Kindern zu bewerten, zeigt, wie die Erziehung der Kinder zu Hochleistungsprodukten in den alltäglichen Sprachgebrauch eingesickert ist: Bloß nichts falsch machen! Bloß keine Fehler machen!
Authentisch erziehen
Das Loslassen fängt zunächst bei den Eltern an, es stellt sich als innerer Prozess dar. Also:
Erziehung ist nicht die Vorbereitung auf ein Leben, das irgendwann stattfindet. Sie spielt sich im Hier und Jetzt ab. Wenn ein Kind vier Jahre alt ist, dann ist es vier und nicht fünf! Wenn es in die Tagesstätte kommt, besucht es diese und nicht in zwei Jahren die Schule. Wenn ein Kind nachts nicht durchschläft, dann schläft es noch nicht durch! Wenn es wütend ist, dann ist es nicht aggressiv, sondern es handelt so. Und auf die selbst gestellte Frage »Wo soll das alles nur enden?« lässt sich mit Udo Lindenberg antworten: »Hinterm Horizont geht‘s weiter«, oder wie es im Kölschen Grundgesetz verankert ist: »Et hätt noch immer jot jejange! « Untergangsszenarien lassen Erziehung und damit Erziehende so freudlos werden. Dabei wollen Kinder lachende, fröhliche Eltern! Freude vermissen Kinder an Erwachsenen, dabei ist es für sie so zentral, weil dieses Gefühl ihren Alltag erträglich macht.
Kinder möchten Eltern aus Fleisch und Blut, mit einer authentischen Haltung, die auch erlaubt: »Ich weiß nicht weiter!« Dann erfährt ein Kind: Jetzt geht es denen wie mir! Sie sind Menschen und keine Maschinen. Kinder fordern von ihren Erwachsenen: Kehrt auf das menschliche Maß zurück!
Es gibt einen anderen Gesichtspunkt, der häufig außen vor bleibt, wenn Eltern oder auch andere pädagogisch Handelnde das Verhalten ihrer Kinder deuten sollen. Das sind bestimmte Entwicklungsphasen im Heranwachsen. Zwar sprechen Väter und Mütter schnell vom Trotzalter oder der Pubertät, aber dieser Deutungsrahmen bleibt abstrakt oder wird nur zur vordergründigen Beschreibung genutzt: »Ist eben so im Trotzalter!« Was aber diese Phase mit ihren Zornesausbrüchen und überbordenden Schreiereien bedeutet, wird häufig verkannt – und in vielen Ratgebern meist nicht erwähnt. Der Trotz ist das lebendige Bild der UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG des Kindes und kein Machtkampf mit den Eltern. Es fehlt Eltern, aber auch Profis, eine inhaltliche positive Bestimmung des Trotzes, die sich im Übrigen auch nicht einstellt, wenn man meint, auf diesen Begriff ganz zu verzichten. Wenn Mütter und Väter die Bedeutung des Trotzes (eben: Unabhängigkeit des Kindes) verstanden haben, dann können sie die heftigen Gefühle dieser Entwicklungsphase akzeptieren lernen.
Das heißt nicht, alles, was ein trotzendes Kind an den Tag legt, vorbehaltlos zu tolerieren. Man kann aber auf der Grundlage des Verständnisses angemessen handeln. Und das bedeutet, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu achten und zu respektieren. Respekt für das Kind meint, sich seiner Erziehungsverantwortung als Erwachsener bewusst zu sein. Und damit seines Wissens, seiner Kompetenzen. Kinder müssen sich darauf verlassen können.
Mehr Wissen bringt nur dann Probleme mit sich, wenn es als Besserwisserei missverstanden wird: »Ich möchte dir schlimme Erfahrungen ersparen!« Denn Erfahrungen bestehen meist aus Umwegen im Leben und Umwege erweitern die Ortskenntnis. Ein Umweg bedeutet: Entwicklung stellt keine stete Aufwärtsentwicklung dar. Entwicklung ist immer ein Gemenge aus Fortschritt, Stillstand und Rückschritt. Manchmal merkt ein Kind das, nimmt es wörtlich. So will vielleicht ein Kind, das schon seine ersten Schritte in die Welt gemacht hat und auf beiden Beinen stehen kann, mit einem Mal wieder getragen werden, weil es weniger anstrengend ist.
Ein anderes Kind bleibt für einige Zeit in der Entwicklung stehen, blickt zurück und stellt fest: Früher hatte ich es einfacher, da hat man mich gefüttert, wurde mir jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Nun bin ich groß, muss alleine essen und muss das zu mir nehmen, was mir vorgesetzt wird! Gemein! Da bin ich doch lieber wieder klein!
In jeder Entwicklung ist häufig ein solcher Widerspruch enthalten. Das zu verstehen ist wichtig, um sich auf die Gefühlswelten von Kindern einzulassen. Gefühle – wir werden es im Lauf dieses Buches noch erläutern – sind auch ein Zeichen von wachsender Reife und damit Anlass für ein Kind, immer wieder Unerwartetes oder auch etwas Ungewohntes, Anderes auszuprobieren.
Es fällt Eltern nicht selten schwer zu akzeptieren, dass in jedem Entwicklungsschritt automatisch ein Widerspruch enthalten ist. Kinder sind neugierig, forschend, schauen hinter die Dinge. Das macht das Leben mit ihnen so spannend und manchmal eben nervend, zum An-die-Decke-Gehen. Sie zeigen uns das über ihr Handeln, über ihre Gefühle – von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt, von Wutausbrüchen bis zur liebevollen Anhänglichkeit. Die Aufgabe von Erwachsenen besteht nun darin, diese Botschaften genau zu verstehen und sie entsprechend zu ENTSCHLÜSSELN.
»Warum«-Fragen helfen da nicht weiter (Warum macht mein Kind das nur?), sondern eine Frage, die man sich selbst stellen und beantworten muss: »Wieso macht mein Kind das? Was will es mir zeigen? Was hat es davon?« Und wie man auf diese Fragen verlässliche Antworten findet, davon handeln die nächsten Kapitel.
Von der Freude, von Ängsten, vom Trotz und vom Zorn
In den Evangelien des Neuen Testaments begegnet Jesus Kindern, auf die er sich einlässt und sie segnet. Erwachsene können dabei vom Kind lernen, wer sie sind. Und es gibt Heilungsgeschichten. In ihnen geht es vor allem um Gefühle, die Söhne und Töchter ihrem Vater und ihrer Mutter gegenüber haben. Jesus tritt hier wie der erste Familientherapeut auf: Er löst Verwicklungen auf, verteilt dabei aber keine Schuldgefühle. Es geht ihm um die Verwandlung von Eltern und Kindern, um Beziehungen, die es einem Kind ermöglichen, aufzublühen und gut zu leben.
Die Jünger streiten sich darum, wer der Größte im Himmelreich sei. Es geht ihnen um Anerkennung vor Gott und vor den Menschen. Damit zeigen sie, dass sie nichts verstanden haben von der Botschaft Jesu. Jesus stellt deshalb ein Kind in ihre Mitte und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Mt 18,4)
Das heißt nicht, dass wir infantil werden sollen. Als Erwachsene sollen wir vielmehr HINEINSPÜREN in das Wesen eines Kindes. Das Kind ist spontan, es drückt seine Gefühle aus. Es ist aber auch offen für alles, was um es herum geschieht. Es sieht alles mit neuen Augen an. Diese Offenheit und Neugier braucht es offensichtlich, um offen zu sein für das Geheimnis Gottes. Viele Erwachsene haben sich eingerichtet in ihrem Leben. Sie kennen sich aus. Aber sie haben sich auch dem Neuen und Unerwarteten gegenüber verschlossen. Das Kind vertraut dem Vater. So sollte auch der erwachsene Christ sein. Er sollte sich wie ein Kind verwiesen fühlen auf den Vater im Himmel, sich an den Vater anlehnen, zum Vater aufschauen. Das Kind erwartet etwas vom Vater und von der Mutter. Es erwartet LIEBE