Kinder dürfen aggressiv sein - Jan-Uwe Rogge - E-Book

Kinder dürfen aggressiv sein E-Book

Jan-Uwe Rogge

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Beschreibung

Der Grundgedanke dieses Buches ist ebenso neu wie provozierend: Kinder und Jugendliche dürfen aggressiv sein! Denn Aggression bedeutet nicht nur Gewalt und Zerstörung, Jan-Uwe Rogge nimmt sich des persönlichkeitsstiftenden und schöpferischen Aspekts an, ohne den Entwicklung nicht möglich ist. Es geht dabei nicht um eine konventionelle Erziehung zur Friedfertigkeit, sondern um Aggressionserziehung, die Kindern und Jugendlichen ihre gewalttätigen Fähigkeiten bewusstmacht und ihre kreativen Potenziale fördert, die zerstörerischen Anteile indessen begrenzt. Der Autor zeigt anhand veiler praktischer Beispiele, wie Prävention und Intervention funktionieren können, damit Eltern und Pädagogen sich behutsam und mit klarem Blick den Herausforderungen stellen können, die Aggressionen in jeder Entwicklungsstufe mit sich bringen.

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jan-Uwe Rogge

Kinder dürfen aggressiv sein

 

 

 

Über dieses Buch

Der Grundgedanke dieses Buches ist ebenso neu wie provozierend: Kinder und Jugendliche dürfen aggressiv sein! Denn Aggression bedeutet nicht nur Gewalt und Zerstörung, Jan-Uwe Rogge nimmt sich des persönlichkeitsstiftenden und schöpferischen Aspekts an, ohne den Entwicklung nicht möglich ist. Es geht dabei nicht um eine konventionelle Erziehung zur Friedfertigkeit, sondern um Aggressionserziehung, die Kindern und Jugendlichen ihre gewalttätigen Fähigkeiten bewusstmacht und ihre kreativen Potenziale fördert, die zerstörerischen Anteile indessen begrenzt. Der Autor zeigt anhand veiler praktischer Beispiele, wie Prävention und Intervention funktionieren können, damit Eltern und Pädagogen sich behutsam und mit klarem Blick den Herausforderungen stellen können, die Aggressionen in jeder Entwicklungsstufe mit sich bringen.

Vita

Jan-Uwe Rogge gilt als Deutschlands erfolgreichster Erziehungsexperte. Er ist Familien- und Kommunikationsberater sowie Buchautor. Seit Jahrzehnten liefert er Antworten auf Fragen, die Eltern bewegen. Er hält Vorträge und führt Seminare im In- und Ausland durch. Seine Bücher sind Klassiker der Elternliteratur und Bestseller, sie wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Er ist als Experte regelmäßiger Gast in zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsendungen. Rogge lebt in der Nähe von Hamburg.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2025

Copyright © 2005 «Wut tut gut – Warum Kinder aggressiv sein dürfen» by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat Bernd Gottwald

Cover-Konzept anyway, Hamburg, Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt

Coverabbildung gettyimages_jure

ISBN 978-3-644-02257-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Motto

Kapitel 1: Aggressionen – ein unendliches Thema

«Schlimmer, brutaler, aggressiver, gewalttätiger …?» – Einstieg

«Das ist doch cool!» Die vielen Gesichter der Aggression – Geschichten aus dem Alltag

Kapitel 2: Aggressionen gehören zum Leben «Hört das denn nie auf!»

Aggressionen entwickeln sich – vom Säugling bis zum jungen Erwachsenen

«Mädchen sind auch nicht ohne!» – Von friedlichen Mädchen und bösen Jungen

«Es ist einfach nicht zum Aushalten!» – Gewalt in der Erziehung

«Ich gehe langsam unter!» – Autoaggressionen und Zerstörung als Hilferuf

Kapitel 3: Äußere Einflüsse

«Die schlagen sich, die vertragen sich!» – Geschwisterstreit – Geschwisterrivalität

«Seit er diese Freunde hat …» – Die Bedeutung der Gleichaltrigen

«Da lernt man nicht fürs Leben, da lernt man zuhauen!» – Die Schule, die Aggression und die Gewalt

«Das müsste doch verboten werden!» – Gewalt in den Medien

«Lasst mich doch mal in Ruhe!» – Über enge Räume und knappe Zeiten

Kapitel 4: Mit Aggressionen leben – Vorbeugung und Eingriffsmöglichkeiten

«Denen gehört was hinter die Ohren!» – Über Strafen, Konsequenzen und Wiedergutmachung

«Fürchterlich! Diese Brutalität!» – Über die Notwendigkeit von Aggressionsritualen

«Streitet doch nicht immer!» – Nur starke Kinder können streiten

«Manchmal könnte ich nur noch schreien!» – Umrisse einer Aggressionspädagogik

Literatur

«Jedes Ereignis, alles auf der Welt hat seine Zeit:

Geboren werden und sterben,

pflanzen und ausreißen,

töten und heilen,

niederreißen und aufbauen,

weinen und lachen,

klagen und tanzen,

Steine werfen und Steine sammeln,

sich umarmen und loslassen,

suchen und finden,

aufbewahren und wegwerfen,

zerreißen und zusammennähen,

reden und schweigen,

lieben und hassen,

Krieg und Frieden.»

 

Prediger/Kohelet 3,1–11

Kapitel 1:Aggressionen – ein unendliches Thema

«Schlimmer, brutaler, aggressiver, gewalttätiger …?» – Einstieg

«Kinder dürfen aggressiv sein», diesen Titel könne er nun überhaupt nicht verstehen, moniert ein Kollege, ob man denn heute solche Formulierungen brauche, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das Thema sei schließlich ernst genug. Da höre es aus seiner Sicht nun wirklich auf. Als ob’s nicht genug Gewalt und Zerstörung, Brutalität und Hass auf dieser Welt gebe. Ob ich nicht von Mobbing, Erpressung, Gefühlsarmut, sinnlosen Schlägereien und Amokläufen nicht nur in Schulen, nein nun sogar in Kindergärten gehört habe. Dann fliegen mir seine Beispiele – unterfuttert mit Zahlen und Prozentangaben («Jedes vierte Kind ist auffallig und aggressiv!») – wie Kugeln um die Ohren, sodass ich Deckung suchen muss. Als seine Empörung einer gewissen wortlosen Erschöpfung weicht, versuche ich eine Erklärung.

Der Titel will weder provozieren noch verharmlosen. Aber er will auf blinde Flecken hinweisen, die ich beim Thema «Aggression» ständig und immer aufs Neue beobachte. Denn es ist bei diesem schier unerschöpflichen Thema schon merkwürdig: Ich, der ich mich nun beinahe drei Jahrzehnte damit beschäftige, bin älter geworden; die Thesen, Einschätzungen und Vermutungen über Aggressionen kommen dagegen jung und unverbraucht daher, nicht selten aber auch als unendliche Wiederholung einer Schallplatte mit Sprung. Manchmal runzelt man die Stirn, wenn man über die ständig aggressiver und brutaler werdenden Kinder und Jugendlichen liest und dabei denkt: Den Tenor kennst du doch, etwa wenn der griechische Philosoph Hesiod 700 vor Christus – dem Kulturpessimismus des 20. und 21. Jahrhunderts vorausgreifend – schreibt: «Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der frivolen Jugend abhängig sein sollte. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerhört und rücksichtslos und frühreif. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor unseren Eltern, aber die Jugend von heute will alles besser wissen und ist immer mit dem Munde vorweg.»

Diese Aussage könnte auch gegenwärtig entstanden sein. Und deshalb ist es so erstaunlich, ja geradezu irritierend verstörend, scheint es doch fast so, als sähe die erwachsene Generation mit der nachwachsenden die Apokalypse ein Stückchen näher kommen – und dies nun über mehr als 4000 Jahre: «Die Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos», heißt es mit warnend erhobenem Zeigefinger auf einer ägyptischen Keilschrift 2000 vor Christus: «Das Ende der Welt ist nahe!»

Das fallt bei diesem Thema schon auf: Kaum ist so viel, so viel Kluges und Bedeutsames, so viel Nachdenkliches und Ernsthaftes – natürlich auch viel populistisch dummes Zeug – geschrieben worden wie über Aggressionen und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen. Greift man aus dem Stapel von Büchern, Zeitschriften und Artikeln wahllos etwas heraus und liest in den Texten, weiß man manchmal nicht, wann der Text entstanden ist. Einzig eine geschraubt daherkommende und gewundene Formulierung lässt den Entstehungszeitraum vermuten.

 

Als ich zu einem Vortrag «Werden Kinder immer schlimmer?» im Rahmen einer Reihe zur Gewaltprävention eingeladen war, blätterte ich in meinen Unterlagen und entdeckte einen Vortrag, den ich vor 20 Jahren dort gehalten hatte – auch in einer Reihe zur «Gewaltvorbeugung» in ebendieser Stadt und Institution. Ich fand meinen alten Text interessant – insbesondere die politischen, psychologischen und pädagogischen Schlussfolgerungen. Ich machte mir den Spaß, den Vortrag von damals nochmals zu wiederholen – bis auf kleinste Veränderungen, in denen ich Namen aktualisierte und zeitgemäß änderte. Aber der pädagogische Forderungskatalog blieb gleich. Die Anwesenden fanden ihn wichtig, richtig und notwendig, vor allem meinten sie, dass er schnellstmöglich umzusetzen sei. Als der Veranstalter mit bedeutungsschwerer Stimme meine Gedanken nochmals zusammenfasste und auf baldige Realisierung drängte, lächelte ich: «Ich bedanke mich. Aber diesen Vortrag und die Schlussfolgerungen habe ich hier vor vielen Jahren schon einmal gehalten. Und Ihr Vorgänger versprach schnellste Verwirklichung! Wie ich den Diskussionen jetzt entnehme, ist bisher nicht allzu viel geschehen!» Der Veranstalter war konsterniert. Teile des Publikums reagierten amüsiert.

Als ich dies einem Kollegen erzählte, der das Thema schon länger in seinem Programm hat, berichtete der, dass er sich hin und wieder den gleichen Spaß erlaube, denn Spaß, so fügte er hinzu, «gebe es bei diesem Thema ja kaum». Man müsse sich nur mal die Kollegen, aber auch das Publikum angucken, vor dem man stehen und vortragen soll, das «sind doch die reinsten Weltuntergangsmienen mit dem Tenor ‹schlimm – schlimmer – am schlimmsten!›» Manchmal vergehe ihm das Lachen, das wäre nur noch lächerlich, oberflächlich, vordergründig und populistisch, wie man die Aggression und Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen behandelte. Dabei habe die Beschäftigung damit viel Ernsthaftigkeit verdient, aber dies schließe eine gewisse Gelassenheit und Leichtigkeit nicht aus.

 

Wenn ich kurz zurückgeblickt habe, dann nicht, um historisch zu relativieren – nach dem Motto «Es war doch immer schon so» und ist «deshalb halb so schlimm». Wer sich mit Vorangegangenem beschäftigt, entdeckt eben auch, wie viel aus derVergangenheit in der Gegenwart aufgehoben ist. Aber eines fallt dann doch auf: Es ist die Dramatik, mit der man sich des Themas heutzutage bemächtigt. Es ist der geradezu inflationäre Gebrauch der Worte wie «Aggression» und «Gewalt», das willkürliche Ineins-Setzen dieser beiden Begriffe: Gewalt wird zur Aggression, Aggression zur Gewalt. Natürlich ist Gewalt ein Bestandteil von Aggression – aber eben nur ein Teil. Ein sorgfaltiger, differenzierter Blick zurück kann die blinden Flecken ebenso deutlich machen, in denen man gegenwärtig diskutiert, wie jene qualitativen Unterschiede, die Aggression bei Heranwachsenden heutzutage kennzeichnen: Aggression wird auf das schrille, grelle, zerstörerische, das Ins-Auge-Fallende reduziert und die nach innen gerichteten Aggressionen meist ausgeblendet, die sich in körperlichen Beschwerden, in Krankheiten, in Selbsthass und Zerstörung ausdrücken. Da werden Risiken und Gefahrdungen im Handeln von Kindern und Jugendlichen, die empirisch nachweisbar sind und die auf konkrete Veränderungen im Vergleich zu früheren Jahren hindeuten, übersehen: So ist das Einstiegsalter bei Gewaltanwendung gesunken. Während man dies früher den eher älteren Jugendlichen zuschrieb, zeigen gegenwärtig schon Zwölf- bis Vierzehnjährige oder manchmal sogar noch Jüngere die Bereitschaft, zerstörerische Aggressionen zur Durchsetzung von Bedürfnissen an den Tag zu legen. Die Anlässe für gewalttätige Handlungen werden niedrigschwelliger, soll heißen: Man schlägt schneller zu, lässt sich eher auf Grenz- und Regelverletzungen ein. Es fehlt an Aggressionsritualen, durch die impulsive, körperbetonte Aktionen in Bahnen gelenkt werden können. Und nicht zuletzt: Zerstörerische Gewalt bei Jugendlichen ist verbunden mit einem niedrigen Bildungs- und Schulabschluss. Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess nimmt zu und damit die Gefühle von Minderwertigkeit.

Selbstbewusstsein ist aber eine Grundvoraussetzung für Konfliktfahigkeit und Frustrationstoleranz. Wer sich als Person aufgehoben und angenommen fühlt, wer Halt und Orientierung spürt, löst Konflikte konstruktiver, achtet und respektiert den anderen im Streit, erwirbt eine Aggressionsethik, d.h. lernt, Aggressionen anzunehmen, und nicht so zu tun, als gäbe es sie nicht, und damit zugleich, Aggressionen zu zähmen und zu begrenzen, aber nicht zu unterdrücken oder auf andere zu projizieren. Einer Aggressionsethik kommt es darauf an, nicht mit weißen Fahnen der Kapitulation und Kontemplation durch den Alltag zu rennen, ein rhythmisches «Om! Om!»-Mantra auf den Lippen, sondern eine Aggressionserziehung zu initiieren, die getragen ist von dem Gedanken, schöpferische Aggressionen zu ermöglichen, ohne die Selbstbewusstsein und Autonomie, ohne die Aufbruch und Selbstwerdung nicht möglich sind, zerstörerische Aggressionen dagegen konsequent zu begrenzen, um so die Bedingungen für Humanität und soziales Miteinander zu schaffen, bräche ansonsten doch Chaos und Unmenschlichkeit aus.

Meine Überlegungen wollen nicht die Aggressionspädagogik neu erfinden, dazu ist der Respekt vor all jenen sehr groß, die sich schon jähre- und jahrzehntelang mit diesem Thema beschäftigen. Sie wollen ein paar Schneisen schlagen, damit man sich in der Unübersichtlichkeit des Themas zurechtfindet. Und wenn sich der eine oder andere in meinen Überlegungen und Handlungsanweisungen bestätigt sieht, umso besser.

«Das ist doch cool!» Die vielen Gesichter der Aggression – Geschichten aus dem Alltag[1]

Jannek – der «Forscher»

«Wie Jannek sich verhält», so rätselt seine Mutter, «mit seinen erst siebzehn Monaten, ich weiß nicht, ob das normal ist.» Dann schildert sie sein Verhalten. Jannek erkundet die Wohnung mit einem ungeahnten Tempo, ist überall und nirgends, rennt Tische und Stühle um. Keine Schublade ist vor ihm sicher, keine Steckdose. Jannek hat eine Freude daran, die Inhalte von Regalen zu erkunden, die Fallhöhe von Büchern und die Geschwindigkeit, mit der gekochte Kartoffeln auf den Boden fallen und zermatschen. Daran hat er eine wahre Freude. Er wirft Suppenteller um, so schnell und konzentriert, dass man keine Chance hat, einzugreifen.

Jannek ist ständig im Einsatz, immer auf der Suche nach neuen Erfahrungsfeldern. Seinen Eltern geht es wie dem Hasen mit dem Igel: «Ich bin schon da!» So schnell können sie gar nicht schauen, wie er geht, läuft, zugreift, Sachen wirft oder fallen lässt – und dabei vor Vergnügen kreischt.

Peter Schneider, Janneks Vater, meint: «Wir müssen ihm zeigen, wo die Grenzen sind. So geht das nicht weiter.» Dagegen ist die Mutter der Auffassung: «Das ist doch völlig normal. Sag ihm doch mal in ruhigem Ton, so geht das nicht. Aber schimpf nicht andauernd! Das macht alles nur noch schlimmer!» Worauf der Vater meint: «Du hast einfach zu viel Verständnis! Da muss mal ’ne harte Hand her, sonst wird das mit dem nichts! Oder sollte er etwa überaktiv sein? Davon liest man heute so viel!»

Johannes – der «Eroberer»

Johannes, etwas über ein Jahr, freut sich darüber, dass er sich schon so toll bewegen kann. Er geht zwar noch etwas wackelig, aber im Vierfüßlergang erreicht er ein ungeheures Tempo. Und bevor Johannes’ Mutter es sich versieht, ist ihr Kleiner schon entschwunden. Er erobert sämtliche Räume der Wohnung, besonders das Wohnzimmer hat es ihm angetan. Die Regale mit den vielen Büchern hat er ständig im Visier, er zieht sich hoch, nimmt Buch für Buch heraus und lässt es fallen. Er freut sich darüber, lacht. Bücher scheinen reizvoller zu sein als die vielen bunten Plastiksteine, die in seinem Kinderzimmer liegen.

«Johannes», ruft die Mutter, «was machst du?»

Sie hört verdächtige Geräusche, eilt ins Wohnzimmer und sieht ihren kleinen «Bibliothekar», wie er vergnügt zwischen Büchern sitzt und ungelenk darin blättert, an den Seiten zerrt.

«Johannes!» Die Stimme der Mutter hat einen scharfen Klang. «Das ist kein Spielzeug.» Sie will ihm ein Buch entreißen, aber er hält es fest.

«Nein, lass das! Sofort!»

Die Mutter zieht es ihm aus den Händen. Johannes ist sauer, schlägt nach der Mutter. Sie nimmt ihn mit den Worten «Sag mal, spinnst du!» von den Büchern weg. Johannes strampelt, schlägt wild um sich, kratzt die Mutter, die ihn festhalten will.

«Jetzt hört es aber auf. Du hast genug Spielzeug.» Sie trägt den wütenden kleinen Kerl in sein Zimmer.

«Du bleibst jetzt hier!» Aber kaum hat sie sich weggedreht, kommt er auf allen vieren hinterher, laut «Nein! Nein! Nein!» schreiend. Als die Mutter ihn auf den Arm nehmen will, um ihn zu beruhigen, holt er kurz aus und verpasst ihr einen schmerzhaften Schlag auf die Nase.

Daniel – testet aus

«Ich mag meinen Sohn ja», lächelt Anja Stephan, «er ist so toll, so wie wir ihn uns gewünscht haben. Aber mit seinen drei Jahren hat er eine ungeheure Power. Der akzeptiert kein ‹Nein!›. Dann dreht er total ab und durch.» Sie schaut verunsichert, grinst etwas gequält.

«Vor seinen Wutausbrüchen, da furchte ich mich regelrecht.» Sie überlegt: «Und ich glaube, er hat mich damit total in der Hand, weil ich so hilflos bin. Weil ich da nicht weiß, wie ich richtig reagieren soll. Und die Spirale dreht und dreht sich immer weiter.» Sie schüttelt den Kopf: «Und neulich», sie runzelt die Stirn, «da habe ich wohl völlig falsch reagiert.» Sie sieht mich an: «Aber muss man denn immer richtig handeln? Irgendwo muss man doch auch mit seiner Wut hin!»

Anja Stephan und Daniel hatten schon im Laufe des Vormittags einigen Zoff – mal ging’s um das Anziehen, das Frühstück, das Spielzeug, das Einkaufen, über jede noch so klitzekleine Angelegenheit kamen sie ins Streiten. Daniel war nicht gut drauf an diesem Tag, hatte null Bock auf nichts, aber auch rein gar nichts. Dann saß er vor seinem Turm aus Bauklötzen, den er sich mühsam zusammenkonstruiert hatte, und Anja Stephan platzte in sein Spiel.

«Wir wollen los», sagte sie freundlich. «Wir müssen zum Arzt und du musst mitkommen. Ich kann dich hier nicht alleine lassen!»

Aber Daniel schaute kaum auf, so sehr faszinierte ihn sein Turm.

«In fünf Minuten bin ich wieder da», insistierte die Mutter. Doch Daniel blickte weiter auf seine Bauklötze. Die Sätze seiner Mutter, das konnte man seiner Mimik entnehmen, interessierten ihn kaum, weil nicht er zum Arzt musste – sondern seine Mutter. Wenn er hätte gehen müssen, dann hätte er schon früher Theater gemacht: Ärzte mochte er nicht, überhaupt nicht.

Nach fünf Minuten war Anja Stephan wieder da: «So, Daniel, nun ist Schluss mit dem Spiel. Du kannst nachher weitermachen. Wir müssen jetzt los!»

Daniel schien unbeeindruckt. Er überhörte die Aufforderungen seiner Mutter, die sich ständig wiederholten.

«Daniel, nun komm, bitte!», drängelte sie. Ihre Stimme war noch betont freundlich, aber ihrem Gesicht sah man zunehmend den Stress an. Daniel blieb einfach sitzen, so als habe er die «Fünf Tibeter» verinnerlicht.

«Daniel, bitte!»

Keine Reaktion. Daniel schaute interessiert seinen fast fertigen Turm an.

«Daaanielll! Kommm!» Die Stimme der Mutter wurde schärfer. Doch Daniel ruhte völlig in seiner Mitte.

Da riss der Mutter der Geduldsfaden. Sie wollte ihn fassen, aber er rückte blitzschnell beiseite, sodass die Mutter in den Turm griff. Der stürzte ein. Daniel springt auf und läuft mit einem Klotz in der Hand auf die Mutter zu: «Ich haue dich!» Und schon hatte Anja Stephan einen schmerzhaften Schlag in den Bauch.

«Du hörst auf!» Da saß schon der nächste Treffer.

«Sag mal! Spinnst du?!», rief sie in vollster Erregung. «Du bist ja völlig durchgeknallt!» Sie packte ihn, wollte ihn festhalten, ihn beruhigen.

«Ich spucke dich an!», schrie Daniel mit einem Mal, riss sich aus der Umklammerung seiner Mutter los, hielt ihr den Klotz wie eine Waffe entgegen: «Ich schieße dich tot!» Die Mutter erstarrte.

«Bum! Bum! Bum!», stieß er im Stakkato und in höchsten Tönen hervor.

«Sag mal! Du spinnst doch!», schrie sie.

«Ich schlag dich nicht! Ich spucke dich nicht an! Ich schieße auch nicht!» Daniel war in der Zwischenzeit aus dem Zimmer gerannt und hatte sich in seinem eingeschlossen.

«Du kommst da raus!», rief Anja Stephan aufgebracht, «und zwar sofort!»

Keine Reaktion.

«Wenn du nicht sofort kommst, geht Mama ohne dich weg!»

Keine Reaktion.

«Mama geht. Dann bleibst du eben alleine hier! Du wirst schon sehen, was du davon hast!»

Keine Reaktion.

«Gut, schon gut! Sieh zu, was du hier alleine machst!»

Anja Stephan ist gegangen. Als sie nach einer Stunde zurückkam, saß Daniel im Flur – mit einem Bauklotz in der Hand, ganz kleinlaut, die Mutter flehend anschauend -, so als wollte er sagen: «Ich hab dich lieb! Aber das war ganz schön gemein von dir!»

«Ich glaube, das war absoluter Mist von mir», erklärt Anja Stephan.

Ich nicke.

«Aber ich wusste nicht mehr weiter! Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut! Ich wusste nicht mit seinem Zorn umzugehen! Ich war einfach ohnmächtig!»

Philip und Bastian – mögen sich – nicht immer

Michaela Schneider hört, wie der vierjährige Philip seinen zweijährigen Bruder Bastian «quälte», so die Mutter. Philip sei zuerst sehr fürsorglich mit seinem Bruder, aber nach kurzer Zeit würde das umschlagen. Dann hagele es Beleidigungen. Und es gehe auch körperlich «ganz gut zur Sache». Wenn sie da nicht manchmal dazwischenginge. «Ich weiß nicht», sie schüttelt den Kopf, «wo das enden würde!»

Michaela Schneider identifiziert ein Geräusch, das sich nach Bruderkrieg anhört. Sie hält es nur kurz im Wohnzimmer aus, entschließt sich einzugreifen. Ohne anzuklopfen, platzt sie ins Spielzimmer, sieht Bastian am Boden liegen, Philip nahezu unbeteiligt in der Ecke stehen. Bastian weint, Philip blickt unschuldig drein.

«Was ist hier los?», fragt sie in Richtung Philip und wirft ihm einen Blick voller Schuldvorwürfe zu.

«Er hat mir den Trecker nicht gegeben», versucht Philip sich zu rechtfertigen.

«Aber der gehört Bastian!», erklärt die Mutter.

«Der braucht ihn aber nicht!», bleibt Philip ganz gelassen.

«Dann kannst du ihn fragen!» Die Stimme der Mutter hat einen fordernden Klang.

«Du bist groß und kannst fragen.»

Philip atmet hörbar genervt aus.

«Und jetzt entschuldigst du dich!»

Philip macht jedoch keine Anstalten.

«Los!», ordnet die Mutter an.

«’tschuldigung!», presst Philip kaum hörbar hervor, ohne Bastian anzuschauen.

«Du hast mich sowieso nicht mehr lieb!», ruft Philip der Mutter hinterher, als diese den Raum verlässt, Philips Beschwerde ignorierend.

«So, nun spielt wieder schön miteinander», sagt sie, als sie – sich kurz umblickend – den Raum verlässt.

Es gibt einen kurzen Moment der Ruhe, der von einem jähen Schrei unterbrochen wird. Bastian hat ihn ausgestoßen – so hell und durchdringend, als wäre ihm etwas Lebensbedrohliches passiert. Michaela Schneider springt auf, stürzt wieder ins Zimmer. Bastian liegt wie ein Häufchen Elend am Boden. Philip steht mit verschränkten Armen in der Ecke, die Mutter anlächelnd, die mit vor Schreck geweiteten Augen die Situation zu erfassen versucht. Bevor sie zu einem Kommentar oder einer Rüge ansetzen kann, erklärt Philip seelenruhig: «Ich hab mich schon entschuldigt!»

Simon – der Provokateur

«Ich habe meinem Sohn einen Klaps auf die Finger gegeben», erzählt mir Raffaela Thomsen in zerknirschtem Ton. «Aber irgendwann muss doch auch Schluss sein!»

Sie habe so ein schönes Buch für ihren Sohn Simon entdeckt. Simon sei sieben und interessiere sich für alles, was mit Geographie zu tun hat. Deshalb habe sie ihm das Buch gekauft.

«Ich sah das Buch und dachte, Simon würde es auch gefallen.» Simon nahm das Buch, das ihm seine Mutter mit einem strahlenden Lächeln überreicht – so als verschenke sie einen Schatz. Simon nahm es achtlos in die Hand, schlug es auf, verzog sein Gesicht, sagte nicht «Danke!», wie es die Mutter erwartet hatte, sondern machte ein großes Eselsohr in das Buch.

«Simon, das ist ein schönes Buch! Was machst du da?»

Simon lacht dreckig, so empfindet es die Mutter jedenfalls.

«Und das ist ein neues Buch!», ermahnt sie ihn. «Ein neues Buch, und das hat viel Geld gekostet.»

Er hält das Buch in die Höhe, reißt eine Seite genussvoll ein und sieht die Mutter dabei provozierend an.

«Simon, was machst du da?», ruft sie irritiert, aber auch irgendwie ohnmächtig und hilflos.

«Siehst du doch!», antwortet er schulterzuckend. «Oder bist du blind?» Und mit diesen Worten reißt er die nächste Seite ein.

Sie ist sauer und schlägt ihm auf die Hand.

Mit den Worten: «Jetzt rufe ich bei der Polizei an! Man darf Kinder nicht schlagen!», verlässt er den Raum, seine konsternierte Mutter zurücklassend. Später kommt er zurück: «Die hatten bei der Polizei noch schwerere Fälle! Die kommen nicht!» Und dann umarmt er seine Mutter.

Klaus – und der «gesunde Tee»

Rosi Peters, Mutter des elfjährigen Klaus, erzählt, sie sei überzeugt, Kinder müssten morgens etwas Warmes trinken, nicht Kakao oder heiße Milch, sondern Tee, der sei einfach gesünder. Nach langen Diskussionen hätte sich Klaus darauf eingelassen, und sie sei glücklich über sein Einverständnis gewesen. Sie seufzt: «Aber damit fing das Problem erst an! Diese wahnsinnige Aggressivität! Nur wegen des Hagebuttentees!» Sie berichtet, dass sie den Tee morgens frisch aufbrühe, «keine Beutel, so richtig frisch. Sie wissen, was ich meine?» Sie blickt mich an: «Ich gebe mir da morgens schon richtig Mühe!»

Ich lache sie an: «Ich weiß.»

«Sie wissen, was nun kommt!» Ihr Blick verfinstert sich.

Klaus sitzt vor der Teetasse, aus der es dampft.

«Zu heiß!», mosert er.

«Aber Tee muss heiß sein, nur so schmeckt er», beruhigt die Mutter.

«Zu heiß», klagt er. «Viel zu heiß. Da verbrennt man sich ja die Zunge.»

«Aber draußen ist es kalt», lenkt sie ab, «dann tut der warme Tee gut. Das wirst du schon sehen.»

«Scheiß heißer Tee», beharrt er auf seinem Thema.

«Der Tee ist nicht Scheiße! Das ist ein Nahrungsmittel! In anderen Ländern hungern sie!», wird sie ungeduldig. Ihre Stimme nimmt einen schärferen Klang an: «Wenn er dir zu heiß ist, dann puste!» Er schaut sie an.

«Ja, du musst pusten. Das lernt man doch schon im Kindergarten, wenn’s zu heiß ist, pustet man!»

«Hab ich nicht im Kindergarten gelernt», antwortet Klaus betont gelangweilt. «Und außerdem gab es da keinen heißen Hagebuttentee. Da gab’s nur normalen Tee, Teebeutel. Und da konnte man sich nicht verbrennen!»

«Jetzt spitze den Mund wie ich und puste in den Tee», Rosi Peters kling energisch. «Ich mach es dir jetzt vor.»

Daraufhin nimmt Klaus seine Tasse, pustet … Viel zu stark. Der Tee schwappt über die Tischdecke und Klaus’ hellen Pullover.

«Scheiß Pusten!»

«Du stellst dich aber auch wie ein Baby an. Selbst da konntest du besser trinken», ereifert sich die Mutter.

«Aber da gab’s keinen Tee, da hast du mich gestillt», gibt sich Klaus ganz ernsthaft.

«Jetzt hört es aber auf! Was hat denn der Tee mit dem Stillen zu tun?», ruft sie empört.

«Nichts!», wiegelt Klaus ab. «Aber du hast damit angefangen. Und jetzt Schluss, ich muss in die Schule. Ohne heißen Tee in diese fürchterliche Kälte! Tolle Mutter!» Er steht auf, gibt ihr einen Kuss, lässt sie ohnmächtig zurück.

«Warum muss der nur aus einer Mücke so einen Elefanten machen. Es ist zum Kotzen!» Sie schüttelt den Kopf. «Nur weil der Tee ihm zu heiß ist. Mein Gott!»

Michael und Co. – sie wissen, was sie tun

Michael, acht Jahre, der gleichaltrige Thomas, Sven, siebeneinhalb, und Johannes, sieben, terrorisieren die Mitschüler in ihrer Klasse. Auf zwei haben sie es besonders abgesehen.

Bevorzugte Zielscheibe ist Arthur, neun Jahre. Arthur ist klein, untersetzt, etwas übergewichtig, bewegt sich deshalb ungelenk und ungeschickt.

«Außerdem hat er», so seine Lehrerin, «nicht gerade hier geschrien, als Klugheit und Intelligenz vergeben wurden.» Aber Arthur sei liebenswert, «ein kleiner Teddybär, aber auch irgendwie ein geborenes Opfer.» Sie wisse, solch ein Ausdruck sei Blödsinn, aber alle hätten Arthur auf dem «Kieker», weil er sich auch nicht zu wehren wisse. Den brauchte man nur anzuschauen, schon falle er um.

Und dann ist da noch der siebenjährige Felix, «ein kluger Kerl», so die Einschätzung seiner Lehrerin. Felix kann sich gut ausdrücken, ist sprachlich gewandt, Michael, Sven, Thomas und Johannes intellektuell weit überlegen. Felix ist klein und schmächtig, bewegt sich behände, versucht, mit seinen sprachlichen Mitteln die anderen zu überzeugen.

«Du brauchst nicht zu schlagen» ist das Credo, das seine Eltern ihm mitgegeben haben: «Du kannst andere mit der Kraft deiner Worte überzeugen!»

Doch Michael und Konsorten sind sauer auf ihn – vor allem eben Michael, der «Gruppenchef», weil er sich Felix unterlegen fühlt, ihm verbal nicht gewachsen ist. Michael hat seine «Jungs», wie er sie nennt, komplett im Griff. Sie gehorchen ihm und ordnen sich widerspruchslos unter – selbst der gleichaltrige Thomas, der ansonsten eine «große Lippe riskiert, das Maul aufreißt», wie sein Vater rindet, gibt bei Michael schnell nach. «Der ist ihm fast hörig.»

Thomas muss für seinen Boss die «Drecksarbeiten» übernehmen, während Michael im Hintergrund wirkt. Sven und Johannes sind Mitläufer, sind aber stolz dazuzugehören. Wenn sie nicht in der Gruppe sind, erreicht man sie leicht. Dann sind sie zahm. Aber kaum spüren die beiden Michael und Thomas im Hintergrund, dann drehen sie auf, sind nicht mehr zu bremsen.

Felix wird von der Gruppe sprachlich traktiert. Er hat ein Muttermal auf der linken Wange. Und deshalb nennen sie ihn «Pickel». Die vier starren auf das Mal, machen Witze darüber, erniedrigen Felix mit Worten. Der versucht sich zwar zu verteidigen, aber er hat gegen die geballte Übermacht keine Chance. Irgendwann läuft er dann weinend weg, und die Gruppe spottet und lacht ihm hinterher: «Pickel! Doofer Pickel!»

Als Felix neulich beim Wegrennen stolperte und hinfiel, rannten sie zu dem am Boden liegenden Jungen.

«Zu blöd zum Laufen», lachte Sven dreckig.

«Jetzt wehr dich!», grinste Johannes. «Los, wehr dich!», und trat ihm mit dem Fuß in den Rücken.

«Wehr dich, du Memme!» Doch Felix war starr vor Angst. Dann spuckte ihm Sven auf den Körper: «Jetzt fallt dir wohl nichts ein!» Er spuckte nochmal: «Sonst sagst du doch immer was!» Als Felix zu wimmern begann, sagte Michael, der «Chef», großspurig: «Kommt! Lasst das! Der hat genug für heute!»

Felix wollte an den folgenden Tagen nicht mehr in die Schule gehen. Insgeheim schmiedete er Rachepläne, träumte, wie die vier auf einem Scheiterhaufen rösteten, um Hilfe flehten, doch Felix fachte das Feuer an. Aber als Sven vor der Schule von einem Auto angefahren wurde, war Felix zur Stelle: «Pech gehabt!», lag ihm auf der Zunge. Aber er verschluckte den Satz und tröstete Sven.

Ganz anders gingen Michael und seine Kumpel mit Arthur um. Den erpressten sie, setzten ihn unter Druck. Als Arthur eines Morgens in die Schule kam, trat Thomas auf ihn zu: «Wenn du morgen keinen Euro für uns mitbringst, versalzen wir dein Frühstück! Klar?»

Arthur nickte. Er hatte am nächsten Morgen kein Geld dabei, weil er alles für einen Scherz hielt.

«Her mit dem Brötchen», befahl Michael. Arthur weigerte sich. Sven und Johannes nahmen seinen Rucksack, suchten nach dem Brötchen, packten es aus, bestreuten es mit viel Salz, das Thomas ihnen in einer Tüte reichte.

«Salz macht noch dicker! Du Fettbacke!», lachte Michael, der ihm das ungenießbare Brötchen reichte.

«Und kein Wort, hörst du! Wir sind überall!»

Am nächsten Morgen hatte Arthur 50 Cent dabei.

«Das reicht heute», lobte Michael mit einer gefahrlichen Ruhe in seiner Stimme. Als Arthur am nächsten Morgen wieder kein Geld dabeihatte, wiederholte sich das Vorgehen vom Vortag. Erst nach Wochen offenbarte sich Arthur einem Vertrauenslehrer, der die vier zur Rede stellte.

«War doch nur ein Scherz und nicht so böse gemeint», gab sich Michael uneinsichtig.

Sabine – und ihre Inszenierung

Frau Sander berichtet in einem Gespräch davon, dass ihre neunjährige Tochter Sabine in der letzten Zeit zunehmend «aggressiv» sei, sich «Seifenbomben» basteln und diese in eine gefüllte Badewanne werfen würde. Dies bereite ihrer Tochter «großen Spaß». «Mir macht das Angst», erzählt die Mutter, «mir geht das fürchterlich auf die Nerven. So was gibt’s bei uns nicht, Bomben und dieses fürchterliche Kriegsgeschrei.» Ich bat die Mutter, ob sie nicht eine konkrete Situation darstellen könne. Sie war einverstanden und spielte eine Szene vor, wobei sie beide Rollen (die der Mutter und die der Tochter) zu übernehmen hatte. Das Spiel nahm folgenden Verlauf:

Sabine lässt Wasser in die Wanne des Badezimmers, setzt selbst gebastelte Papierschiffchen hinein und fangt an, Wellen zu machen. Die Schiffchen schaukeln, kentern teilweise oder lösen sich auf. Wasser spritzt auf die Fliesen. Sabine lacht, ist ganz in das Spiel vertieft. Als sie dann mit einem Stückchen Seife das letzte noch schwimmende Schiffchen bewirft, kommt die Mutter ins Zimmer. «Was machst du denn da?» Keine Antwort. Sabine hat ihre Mutter kaum wahrgenommen. «Sag mal? He?» Stille. «Sabine!» Sabine schaut zur Mutter auf. «Ich mach grad ein Erdbeben.»

«Ein was?»

«Ein Erdbeben», antwortet Sabine wie selbstverständlich, «wie neulich im Fernsehen.»

«Wie neulich im Fernsehen?»

«Im Fernsehen, eben.» Sabines Stimme bekommt einen trotzigen Klang.

«Und wo?»

«Bei ‹Captain Future›.»

«Wie heißt das?»

«Captain Future!»

«Ach, diese scheußliche Sache. Du siehst sowieso zu viel.»

«Gar nicht.» Sabine spielt weiter.

«Was hast du da in der Hand? Die ist ja ganz schmierig. Da ist ja alles ganz schmierig!»

«Eine Bombe. Eine Seifenbombe.» Sabine fangt an zu lachen, freut sich über ihre Wortschöpfung.

«Sag mal, was hast du da?»

«Eine Seifenbombe.»

Sabines Mutter reagiert entsetzt: «Eine Seifenbombe? Sabine, ich glaub, ich hör nicht recht.» Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: «Weißt du eigentlich, was du sagst?»

Sabine hört auf, mit der Seife zu werfen.

«Was soll das bedeuten. Ich will’s sofort wissen.»

Sabine erhebt sich langsam und erzählt ihrer Mutter von der Fernsehsendung «Captain Future». Die Mutter versteht weder den Gang der Handlung noch den Inhalt der Folge, da Sabine nur einzelne Bilder, vor allem aber die Katastrophenszenen skizziert. Sabines Mutter schüttelt wiederholt den Kopf, wird unsicher und zunehmend zorniger.

«Du hast doch nichts verstanden. Das schaust du dir nicht mehr an. Solch dumme Sachen verdrehen dir nur den Kopf. Ich verbiete dir das!»

Sabine ist überrascht: «Warum?»

«Weil du das nicht kapierst. Du bist doch völlig durcheinander.»

«Gar nicht wahr!»

«Hörst du, Sabine.»

«Du bist gemein!»

«Sabine, hörst du! Wenn du das nochmal machst, bin ich ganz traurig. So, und nun mach hier alles sauber!» Die Mutter verlässt mit diesen Worten das Badezimmer und lässt ihre Tochter allein.

Marie – will nicht mehr

Marie, fast 10 Jahre alt, hat noch zwei Schwestern: die vierzehn Jahre alte Nathalie und die sechsjährige Sabrina.

Sabrina ist der Sonnenschein der Familie, immer fröhlich, ständig steht sie im Mittelpunkt: Sie lacht viel, macht witzige Sprüche, ist immer gut drauf. Zu ihrer großen Schwester blickt Marie neidisch auf: Sie ist klug, lernt schnell. Ihr geht alles bestens von der Hand. Nathalie ist sportlich, hat eine gute Figur. Jungen schauen ihr bewundernd nach.

Marie ist so etwas wie ein Gegenmodell zu Nathalie: Sie hat es schwer in der Schule. Dort, wo Nathalie 10 Minuten für eine schulische Hausaufgabe braucht, benötigt Marie fast eine Stunde. Ganz schlimm ist es in Mathematik. Sie verwechselt ständig Zahlen. Räumliches Denken fallt Marie schwer. Sie hat eine eher feste Figur, pummelig könnte man sagen, und Jungen machen Witze über ihre körperlichen Proportionen. Marie sitzt häufig nur herum, zieht sich zurück und schaut «Gute Zeiten, schlechte Zeiten» oder ganz schmalzige Fernsehserien an. In solchen Momenten fühlt sie sich wohl.

Marie möchte ihrer Mutter häufig im Haushalt helfen, überfordert sich damit aber ständig, weil sie sich zu viel vornimmt. Dann ist sie unglücklich über sich. Keiner kann sie dann trösten. In Augenblicken wie diesen knabbert sie an den Fingernägeln herum, zupft sich an ihren langen Haaren, holt sich ihr Kuscheltier, schmust damit. Oder sie geht an ihren Schreibtisch, nimmt ihr Tagebuch, dem sie alle Sorgen und Nöte anvertraut. Eine Not ist ihr nächtliches Einnässen, das ihr immer dann passiert, wenn die Frustrationen besonders stark waren.

Einmal hat Marie ihr Tagebuch offen in ihrem Zimmer herumliegen lassen. Die Mutter, die das Zimmer betreten durfte, sah das Tagebuch, blätterte nicht darin herum, «obgleich es mich in den Fingern gejuckt hatte», wie sie sich erinnerte, las nur in der aufgeschlagenen Seite: «Ich kann machen, was ich will. Keiner mag mich. Ich bin so alleine … Was soll ich nur machen???? Wenn ich ins Bett mache, schimpfen sie. Aber besser schimpfen, als wenn sie mich nicht sehen … Meine Mama sagt, sie hat mich lieb, aber warum schimpft sie dann so häufig. Ich möchte tot sein. Mal sehen, ob sie dann weinen, wenn ich nicht mehr da bin …»

Falk – und seine «Horrordinger»

Falk erzählt von «seinen» Zombiefilmen, die ihn bis in den Schlaf verfolgen; er malt seine Albträume aus und genießt die teils bewundernden, teils verschreckten Gesichter seiner Freunde und der Lehrer und auch das seiner Mutter. Falk ist vierzehn Jahre alt und geht auf die Realschule.

«Ich bin auf mich allein gestellt», erzählt er, «meinen Eltern ist es sowieso egal, was ich sehe oder was ich mach. Die haben immer was anderes im Kopf.»

In der Schule macht er «Rabatz», ist er abgestempelt zum «Rabauken», der nur seine «Horrordinger» im Kopf hat. «Wenn er das doch dann aber wenigstens nur für sich behalten könnte», stöhnt einer seiner Lehrer, der mit ihm alltäglich zu tun hat. Aber diesen Gefallen tut Falk ihnen fast nie.

Die Klassenkameraden verhalten sich ambivalent. Einige finden es spannend, was «Falk wohl wieder erzählen wird», anderen «geht er auf den Wecker», weil er «ein Rad ab hat, der muss doch nicht ganz richtig sein, immer dieses Gemetzel», wieder anderen «ist es klar, dass man nur so reden kann, wenn man sich die Zombiedinger immer wieder ansieht». «Wenn ich so wäre», meint einer, «ich würd wohl auch so spinnen.»

Falk hat nur zwei engere Kumpel, mit denen er «die Sachen» sieht. «Denen geht’s wie mir», meint Falk. Was er damit gemeint habe, habe ich ihn gefragt. «Die sind auch auf sich gestellt. Wir müssen eben sehen, dass wir zurechtkommen und auch so unseren Spaß haben.» Falk ist – wie seine Freunde – den ganzen Tag allein, seine und deren Eltern sind ganztägig berufstätig. «So am Tag kann ich eigentlich machen, was ich will, und ich darfauch das tun, was ich möchte. Abends behandeln die mich aber wie ein Kind, nehmen mich nicht für voll. Scheiße ist das. Dann soll ich mit ’nem Mal nach deren Pfeife tanzen, weil’s denen dann eben recht ist.»

Falks Vater duldet die Zombies stillschweigend. «Was soll’s, wenn ich’s ihm verbiete, macht er’s doch. Nur wenn er Angst hat, muss er eben sehen, wie er damit fertig wird. Das ist dann seine Sache.»

Falks Mutter versteht ihren Sohn nicht. «Es gibt so viele Video-Filme, warum gerade diese Sachen? Warum?»

Mit seinen Eltern redet Falk nicht über die Filme. «Was soll’s, die kapiern mich ja doch nicht!»

Er sieht «eigentlich nur Zombies», und das etwa zwei- bis dreimal die Woche. «Manchmal mach ich auch ’ne Pause, aber dann denk ich mir, jetzt müsstest du mal wieder einen sehen.» Die Ausleihe ist «kein Problem, denn mein Vater ist dort auch häufiger und kennt den Besitzer.» Wie lange er die Filme nun schon sieht, weiß er «eigentlich nicht». Er erinnert sich nur, dass er davor gerne Science-Fiction-Filme, vor allem Weltraumschlachten, mochte und eine Zeit lang auch «Superman gut fand». Falk kennt seine Zombie-Filme, manche hat er schon viele Male gesehen und «immer wird mir dann an der gleichen Stelle kotzig. Ich hab gehört», sagt er, «dass es die Zombies richtig geben soll, na, eben nicht richtig, aber das hat so was mit Totenbeschwörung zu tun, bei den Negern oder so ähnlich. Hab ich gelesen.» Solche Informationen holt er sich aus dem Lexikon, aber als «ich mehr von meinem Erdkundelehrer wissen wollte und ihn gefragt hab, hat er nur den Kopf geschüttelt. Und irgendwas hat er wohl auch gemurmelt.»

Magdalena – sprengt alle Ketten

Sie macht ihren Eltern «seit geraumer Zeit Sorgen», wie ihre Mutter, Sybille Schwarz, meint. «Wie die sich auffuhrt! So ist sie nicht mehr meine Tochter!», ereifert sich der Vater, Robert Schwarz. «Irgendwann muss Schluss sein. Sonst macht man sich unglaubwürdig.»

Angefangen habe es an ihrem vierzehnten Geburtstag, erinnert sich die Mutter. Da wäre sie gekommen, habe gegrinst, wir würden nun unsere Freude mit ihr haben. «Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie hat mich zurückgewiesen.» Sybille Schwarz sieht mich an, so als sähe sie die Situation wieder vor sich.

«Ich hasse dich!», brüllt Magdalena, «ich hasse euch alle!» Sie schreit mit sich überschlagender Stimme.

«Aber Leni», versucht die Mutter zu beruhigen, «hast du deine Tage bekommen?»

«Ich heiß nicht Leni. Ich bin Magdalena. Ihr werdet euch noch wundern», ruft sie und rennt aus dem Zimmer, die Tür hinter sich zuschlagend.

Magdalena lief schnurstracks zum Friseur, ließ sich die Haare kurz schneiden, rosa und lila färben. Sie kleidete sich neu ein: bauchnabelfrei, enge Jeans, enger Pullover.

«Man konnte ihren Slip sehen. Und natürlich trug sie keinen BH, tiefe Ausschnitte.» Entsetzen liegt im Gesicht der Mutter. «Mein Mann ist fast durchgedreht.»

Und eines Tages eskalierte die Situation. Die erste Bombe platzte: Magdalena hatte sich – ohne zu fragen – ein Bauchnabel-Piercing machen lassen, «ohne unsere Erlaubnis», giftete der Vater. «Stellen Sie sich das vor! Es war reinste Provokation! Aber ich bin auf ihre Inszenierung reingefallen. Ich Trottel!»

Magdalena hatte sich wieder «aufgedonnert, aufgebrezelt», wie der Vater sich ausdrückte, wollte sich mit ihren Freundinnen treffen.

«Wohin willst du?», fragte die Mutter einigermaßen freundlich.

«Geht euch nichts an!», war Magdalenas patzige Antwort.

«Und ob uns das was angeht!», greift der Vater in das Gespräch ein. Seine Stimme klingt ärgerlich. «Und ob uns das was angeht! Schließlich sind wir deine Eltern!» Seine Stimme wird schriller: «Was bildest du dir eigentlich ein?!» Er sieht an ihr hoch und runter: «Wie siehst du eigentlich aus?» Sie grinst. Ihr Gesicht ist die reinste Provokation.

«Na und?» Sie spitzt den Mund, als wolle sie ihn küssen: «Sag schon, wie? Traust dich nicht, was?»

Magdalena macht einen Schritt auf ihren Vater zu, grinst fies, grinst dreckig, «Du altes Arschloch!» im Blick. Und als sie «Sag schon, du Feigling?» wiederholt, da rastet Robert Schwarz aus, schlägt seiner Tochter ins Gesicht und presst «Wie eine Nutte!» hervor.

Der Vater erschrickt ob seines Tuns und seiner Worte. Sie weidet sich an seinem Entsetzen: «Richtig, wie eine Nutte! Jetzt gehe ich auf den Strich, um das Taschengeld aufzubessern!»

Sie dreht sich um, geht zur Zimmertür, schaut ihre Eltern an, wirft ihnen einen Kuss zu: «Bye, bye! Schlaft schön, träumt was Süßes.»

Als Magdalena die Tür hinter sich geschlossen hat, schaut Robert Schwarz erst seine Hände kopfschüttelnd, dann seine Frau ratlos an. Mit einem Mal fangt er hemmungslos an zu weinen. Sein Schluchzen kennt überhaupt kein Ende.

Als der Vater sich am nächsten Tag bei seiner Tochter entschuldigen will, blockt sie nur ab: «Du bist ein Schläger. Wenn du es ernst mit der Entschuldigung meinst, dann gibst du mir jetzt 10 Euro!»

Ein wirkliches Gespräch ist nicht mehr möglich. Magdalena zieht sich meist in ihr Zimmer zurück. Das gemeinsame Abendessen verläuft schweigend. «Bloß kein falsches Wort», so die Mutter, «sonst rastete sie aus und belegte uns mit den schlimmsten Worten … ‹Ihr Arschlöcher, ihr Ficksäcke.› Absolut Gossenniveau», erinnert sie sich. «Und wenn sie sich beruhigt hatte, bin ich wieder zu ihr hin. Ich habe das nicht auf mir sitzen lassen.»

Sybille Schwarz setzte sich zu ihrer Tochter. «Magdalena, ich möchte nicht, dass du diese Worte zu mir sagst. Ich sage so etwas auch nicht zu dir», versucht die Mutter, Verständnis zu wecken.

«Kannst du aber ruhig zu mir sagen», lächelt Magdalena ganz entspannt. «Sag’s einfach!»

Fix und fertig wäre sie danach gewesen. «Als Magdalena eines Tages geschrien hat: ‹Ich hasse euch! Ich hasse euch! Ihr Scheiß typen!›, da habe ich ihr», so die Mutter kopfschüttelnd, «eine Mordsohrfeige verpasst. Und stellen Sie sich vor», sie sieht mich an, «da hat Magdalena noch die andere Wange hingehalten: ‹Und jetzt da auch noch, wenn du mutig bist!›»

Sybille Schwarz bricht zusammen, sie weint bitterlich. Magdalena steht neben ihr, hält Distanz und meint ganz cool: «Wie kann man sich nur so gehen lassen!» Um dann nach einer kurzen Pause gefahrlich leise hinzuzufügen: «Noch einmal, und ich schlage zurück!» Sie macht eine Pause: «Hast du mich verstanden! Ich schlage zurück!»

Nun beginnt Magdalena, die Schule zu schwänzen. Erst nach acht Wochen kommt die Schulverweigerung heraus. Die Eltern hatten anfangs nichts mitbekommen, weil die Tochter morgens aus dem Haus ging und so tat, als besuche sie die Schule. Stattdessen zog sie mit anderen Mädchen durch die Stadt. Aufgeflogen war alles, als sie im Kaufhaus klauten und erwischt wurden. Als die Eltern sie von der Polizei abholten, fragte Magdalena: «Na, bringt ihr mich nun in ein Heim?»

Björn – gefühlsmäßig allein gelassen

Björn, siebzehn Jahre, ist Hooligan, kein rechtsradikaler Skinhead und auch kein sozial Benachteiligter. Ich führe Ihnen mit Absicht einen solchen Hooligan vor, weil die Medien auch hier immer ein bestimmtes Bild des Skins und des Hooligans aufbauen. Meist werden sie als dumpfe Hohlköpfe dargestellt, und man wundert sich, wenn man Exemplare trifft, die nicht so sind, wie man sie sonst – im wahrsten Sinne des Wortes – vorgeführt bekommt.

Björn hat alles, alle Statusgüter. Er ist gut angezogen und fallt höchstens durch seine übereleganten Pullover und Hosen auf. Björn ist Mitglied einer Hooligan-Gruppe. Sie besteht aus acht Mann. Björn ist der Jüngste.

Die Mutter: «Björn hat schwere Sachschäden angerichtet, drei Busse beschädigt, eine Imbissstube geplündert und angesteckt.» Sie ist verzweifelt, sie sagt: «Ich verstehe das nicht, der hat alles, aber auch alles. Jeden Wunsch lese ich ihm von seinen Augen ab. Der hat es so gut wie kein anderer Junge in seinem Alter.»

«Was wollen Sie jetzt machen, nach diesen Zerstörungen?»

Sie sagt: «Erst mal geh ich jetzt zu einem Anwalt. Dann mache ich den Schaden über die Versicherung wieder gut. Mein Mann hat das schon veranlasst. Und dann fahren wir im nächsten Monat vier Wochen in die Karibik, damit er auf andere Gedanken kommt.»

Ein solches Programm ist nicht nur das Individualprogramm von Eltern. Es gibt in Hamburg beispielsweise die so genannte Erlebnispädagogik. Man versucht, die Autokids davon abzubringen, Autos zu stehlen, indem man ihnen vier Wochen Argentinien-Urlaub verspricht. Daraufhin hat neulich ein Jugendlicher gefragt: «Was muss ich eigentlich tun, damit ich nach Australien komme?»

Ich frage Björn: «Was meinst du, was deine Eltern jetzt machen?»

Björn spontan: «Ein guter Anwalt, Geld und Bestechung in Form von Urlaub!»

«Und was willst du, Björn?»

«Ich will endlich was in die Fresse!»

«Wie meinst du das?»

«Endlich will ich mal was spüren, was in die Fresse eben! Weißt du, wann die mich das letzte Mal gestreichelt haben? Ich kann mich nicht erinnern! Ich bin für die ein Stück Investition, und das muss sich lohnen. Immer mehr reinpumpen, damit was rauskommt! Aber damit ist jetzt ein für alle Mal Sense. Ich kann dir sagen, ich mache so viel Scheiß, das verspreche ich, so viel Scheiß, bis die mich ernst nehmen.»

Ingrid und Eva, Sarah und Hanna – Wohin mit der Wut der Mütter?

«Hoffentlich», so Ingrid Schmelzer, «schreiben Sie auch mal etwas drüber, wo Mütter und Väter mit ihrer Wut bleiben können.» Sie sieht mich an. «Mit der Wut meiner Kinder kann ich ja einigermaßen umgehen, aber wohin damit, wenn ich zornig und wütig bin?»

«Genau», unterstützt sie Eva Bertram, «wohin mit meinen Aggressionen, wenn ich das Kind am liebsten auf den Mond schießen möchte? Ich nehme mich dann die ganze Zeit zusammen, weil man ja die Wut nicht vor dem Kind rauslassen soll. Das habe ich mal gelesen. Und deshalb nehme ich mich zusammen …»

«Bloß nicht werden wie die Alten früher», unterbricht sie Ingrid Schmelzer, «immer schön alles unter Kontrolle haben. Meine Mutter hat immer sofort geschrien, gekloppt, je nachdem, wie’s ihr war.»

Eva Bertram schüttelt den Kopf. «Bei mir war’s anders. Meine Mutter blieb beherrscht: Wer schreit, hat Unrecht, hat sie immer behauptet. Das war ihr Credo. Und wenn sie ganz fies war, hat sie gesagt, sie würde heute Abend meinem Vater alles haarklein erzählen.» Sie lächelt. «Aber der hat sich nicht vor ihren Karren spannen lassen. Und dann haben die beiden Stress gehabt. So konnte ich sie toll gegeneinander ausspielen.»

Sarah, die elfjährige Tochter von Ingrid, sitzt beim Gespräch ebenso dabei wie Hanna, Evas zehnjährige Tochter.

«Mama schreit zwar nicht», erzählt sie. «Aber als ich mich neulich mit meinem Bruder Sebastian gestritten habe, da ist sie einfach weggegangen. Sie ist einfach aus dem Haus gegangen, ohne etwas zu sagen. Gut, ich habe keine Angst gehabt, weil Manuel, mein ältester Bruder, noch da war, und der hat versprochen, auf mich aufzupassen, wenn Mama nicht wiederkommt.» Aber das wäre schon gemein von Mama gewesen, «einfach so zu gehen. Sie hätte doch was sagen sollen.» Sie überlegt: «Nun haben mein Bruder und ich uns noch nicht wieder gestritten, aber nur, weil wir Angst haben, sie würde wieder abhauen und dann tatsächlich nicht wiederkommen.»

«Das ist es», fallt ihr Sarah ins Wort. «Bei Mama weiß man nie, woran man ist. Ich seh’s ihr ja schon an, dass sie platzen könnte. Nur, sie tut’s nicht. Sie ist so beherrscht. Dann leg ich noch ’nen Zahn zu, weil ich denke, bevor sie infarktet, bring ich sie gezielt zum Platzen. Aber», sie sieht in die Runde, «was hat man von seiner Gutmütigkeit? Nichts! Man wird nur angeschrien, anstatt dass sie sich bedankt!»

 

Warum Kinder und Jugendliche aggressiv sein dürfen – die vorangegangenen Geschichten machen auf eine humorvolle, dann wieder erschreckende Weise den Sinn und Hintersinn des Untertitels dieses Buches deutlich. In Aggressionen drücken sich Entwicklungsschritte aus, sie sind zugleich Hilferufe, weisen auf Orientierungslosigkeit und fehlenden Halt hin. Die Geschichten zeigen aber auch, wie sich Aggressionen in Zerstörung und Brutalität verwandeln, setzt man ihnen durch Regeln und Rituale keine Grenzen. Und sie machen gleichzeitig klar, wie Aggressionen sich nach innen, gegen die eigene Person richten, wenn es für Kinder und Jugendliche keine Möglichkeiten gibt, sie gekonnt und schöpferisch, durch Absprache begleitet, auszuleben und auszudrücken.

Aber die Aggressionen von Heranwachsenden sind zugleich ein Spiegel für alle, die sie ins Leben begleiten: Man erkennt sich als Vater und Mutter, als Erzieher und Lehrer in ihnen wieder, dann vor allem, wenn die eigenen, unterdrückten aggressiven Persönlichkeitsanteile verleugnet, nicht wahrgehabt werden wollen.

«Kinder dürfen aggressiv sein» macht auf diesen Aspekt aufmerksam. Mit den Aggressionen der Kinder und Jugendlichen umzugehen heißt auch, seine eigenen zornigen, aggressiv-zerstörerischen und aggressiv-schöpferischen Anteile zu akzeptieren. Nur wenn ich diese erkenne und zulasse, kann ich Heranwachsende mit ihrer gesamten Persönlichkeit annehmen. In diesem Sinne ist eine Erziehung zum Umgang mit Aggressionen im Kindes- und Jugendalter nicht Vorbereitung auf das Leben, sie ist das Leben selbst, eine Erziehung, die in jedem Augenblick, in jedem Entwicklungsabschnitt geschieht. Sie ist in ihrer Vielfalt eine lebenslange Aufgabe. Sie ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Wie man ihr begegnen kann, davon handelt dieses Buch.

Kapitel 2:Aggressionen gehören zum Leben «Hört das denn nie auf!»

Aggressionen entwickeln sich – vom Säugling bis zum jungen Erwachsenen

Vom Säugling bis zum Kindergartenkind

Der doppelte Charakter der Aggression – einerseits das konstruktive, lebenserhaltende Moment, andererseits das zerstörerische, provokative, grenzüberschreitende – ist von Anfang an in der Entwicklung des Kindes – von den ersten Lebenstagen bis in die Pubertät hinein – enthalten. Und hört hier natürlich nicht auf. Auch der Erwachsene muss sich alltäglich bewusst machen: Ich bin zu zerstörerischen Handlungen gegenüber anderen, gegenüber Sachen oder mir selbst fähig. Aggressionserziehung – verstanden als Erziehung zum Umgang mit

Aggressionen – fangt früh an und hört nicht auf: Aggressionserziehung meint, Kinder und Jugendliche auf ihrer jeweiligen

Entwicklungsstufe zu sehen, zu beobachten, zu verstehen und – falls notwendig – Grenzen zu setzen. (Gewalt-)Vorbeugung heißt also auch, Kinder nicht wie kleine Erwachsene zu behandeln und sich zu wundern, wenn man dann bei ihnen kein Gehör findet.

 

Veronika Fischer, Mutter des 2-jährigen Jonas und des 4-jährigen Jacob, hatte sich zur Beratung eingefunden. Anlass waren die «ständigen Streitereien» ihrer beiden Söhne.

«Das ist grauenhaft, nicht zum Aushalten», klagt sie und schüttelt vehement den Kopf. «Wie die sich anpöbeln, in den Haaren liegen, spucken, kratzen …» Sie sieht mich fragend