Warum Seriengucken uns zu besseren Eltern macht - Jochen Till - E-Book

Warum Seriengucken uns zu besseren Eltern macht E-Book

Jochen Till

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  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Der witzigste Erziehungsratgeber der Welt! Die großen Fragen der Kindererziehung, an denen alle Eltern mal mehr mal weniger verzweifeln, werden nun auf einmalige Weise beantwortet - durch einen Blick in die TV-Serienwelt! Was stellen beliebte Seriencharaktere mit ihrem Nachwuchs an, der nicht essen oder schlafen will? Wie bringen sie ihn dazu, aufs Töpfchen zu gehen, nicht altklug daherzureden, zu klauen oder den kleinen Bruder zu vermöbeln? Und vor allem: Wie brauchbar sind diese "Vorbilder" für das reale Leben? Jochen Till, Kinder- und Jugendbuchautor und bekennender Serienjunkie, hat sich die Augen viereckig gestreamt und Antworten gefunden: erhellend, überraschend und brüllend komisch.

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Seitenzahl: 218

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Warum Seriengucken uns zu besseren Eltern macht

Erziehen mit Netflix & Co.

Jochen Till, Anke Precht

1. Auflage 2019

10 Abbildungen

BA-DAMMMMM!

Oder Ba-Dummmmm? Ta-Dommmmm? Da-Dömmmmm? Gar nicht so einfach, ein Geräusch zu Papier zu bringen. Ich kann es leider auch nicht aus einem Comic abschreiben, dafür ist es noch zu neu. Comicautoren erfinden ständig solche Lautworte. Paff! Pow! Bang! Das sind mittlerweile geläufige Klassiker. Aber dieses Geräusch gibt es noch nicht lange, zumindest habe ich es in keinem Comic gefunden. Sie kennen es aber höchstwahrscheinlich, es hat etwas mit dem Titel dieses Buchs zu tun. Es ist das Geräusch, das ertönt, wenn Sie eine neue Serienfolge auf Netflix starten. Dann erscheint das Netflix-Logo und es ertönt dieses Ba-Dammmmm. Oder Wa-Wummmmm? Egal, Sie wissen, was ich meine. Nein? Sie haben kein Netflix? Kein Problem, das macht überhaupt nichts, Sie dürfen trotzdem weiterlesen. Das Netflix im Titel steht stellvertretend für alle Streamingdienste/Portale/Datenträger, die es ermöglichen, TV-Serien zu gucken. Amazon, Maxdome, Sky, DVD-Boxen, illegale Downloads. Egal, woher und von welchem Geräusch eingeleitet Sie Ihr Serienfutter beziehen, Hauptsache, Sie verfügen über ein gesundes Maß an Serienaffinität – wovon ich einfach einmal ausgehe, sonst hätten Sie wohl kaum ein Buch mit Netflix im Titel in die Hand genommen. Es sei denn, natürlich, Sie dachten, Netflix ist ein Cousin von Asterix, der in einem kleinen, unbeugsamen gallischen Dorf einen Kindergarten eröffnet. Womit wir wieder beim Comic und bei den Lautworten wären.

Dieses Ba-Dammmmm (oder wie auch immer man es nun schreiben mag) passt nämlich gleichfalls zum zweiten großen Thema dieses Buchs. Es könnte das Geräusch sein, das ein Spermium erzeugt, wenn es die Haut einer Eizelle durchbricht. Ba-Dammmmm! Treffer! Zielobjekt erfolgreich befruchtet! Und neun Monate später kommt etwas dabei heraus, das neben ganz viel Liebe, Fürsorge und Aufmerksamkeit noch etwas anderes ganz dringend braucht: Erziehung. Davon kann man nie genug haben – vorausgesetzt, es handelt sich um gute Erziehung. Aber das ist ja bei TV-Serien ähnlich, davon kriegt man als Serienfan auch nie genug, wenn sie gut sind. Nun bin ich hier angetreten, um diese beiden Themen mit möglichst guten Tipps zu verbinden, was bedeutet, dass ich einerseits auf lohnenswerte TV-Serien hinweisen und andererseits, damit verbunden, ein paar Ratschläge zum Thema Erziehung loswerden möchte. Was nicht bedeutet, dass Sie Ihre Kinder einfach vor dem Fernseher parken sollen, um sie zu erziehen. Das wäre nun wirklich zu einfach und mit Sicherheit pädagogisch äußerst fragwürdig. Aber vielleicht können wir ja aus Serien sogar etwas über Erziehung lernen? Es gibt schließlich mehr als genug Serienkinder, die von ihren Serieneltern erzogen werden – ob deren Erziehungsmaßnahmen im Einzelfall vorbildlich oder völlig daneben sind, ist eine andere Frage, die hier aber auch beantwortet werden soll.

Gleich vorab, um Ihnen das lästige Googeln zu ersparen: Nein, ich habe keine Kinder. Keine eigenen und auch keine patchgeworkten. Noch nicht mal über Nichten oder Neffen verfüge ich, ich bin das typische verwöhnte Einzelkind. Auch in der Familie meiner Herzallerliebsten tummeln sich keine Kinder, das jüngste Familienmitglied ist ihre Halbschwester, die gerade 18 Jahre alt geworden ist. Folgerichtig habe ich absolut keine Ahnung von praktischer Kindererziehung – und von theoretischer ebenfalls nicht. Ich bin weder Lehrer noch Erzieher oder Diplom-Pädagoge oder was es sonst noch so an Berufen in dieser Richtung gibt. Ich habe noch nicht mal eine abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen, nur ein leidlich betriebenes und nie abgeschlossenes Geisteswissenschafts-Studium, bei dem es zu keiner Zeit um Erziehungsfragen ging. Daher kann ich die absolut berechtigte Frage, die Sie sich wahrscheinlich gerade stellen, sehr gut nachvollziehen: Was qualifiziert ausgerechnet diesen Mann dazu, ein Ratgeberbuch zum Thema Erziehung zu schreiben? Die Antwort liegt auf der Hand: rein gar nichts. Bis auf die Tatsache, dass ich selbst mal ein Kind war und mir das Kindsein bis heute so weit wie praktikabel (kindliche Verhaltensmuster sind beispielsweise gerade beim Autofahren nicht unbedingt ratsam) bewahrt habe, legitimiert mich tatsächlich absolut nichts zum Verfassen eines solchen Ratgebers. ABER (natürlich gibt es ein großes Aber, sonst wäre ich ja nicht hier): Zum einen sind mir Kinder grundsätzlich nicht gänzlich fern, denn bei einem Großteil meiner bisher 50 veröffentlichten Bücher handelt es sich um Kinder- und Jugendbücher und zum anderen kenne ich mich sehr gut mit dem zweiten Aufhänger dieses Buchs, namentlich mit TV-Serien, aus. Ich habe entweder schreibend oder an Schulen vorlesend so gut wie jeden Tag mit Kindern zu tun und ich gucke allabendlich mehrere TV-Serienfolgen – eine unschlagbare Kombination für ein Buch wie dieses. Und, keine Sorge, damit die beruflich-fachliche Kompetenz in Sachen Erziehung hier nicht zu kurz kommt, haben wir mit Diplom-Psychologin Anke Precht eine absolute Fachfrau an Bord, die zudem noch drei Kinder hat.

Sie können sich nun also beruhigt auf die Couch fläzen und sich von diesem Buch unterhalten lassen. Im besten Fall stehen hinterher ein paar neue TV-Serien auf ihrem Must-watch-Zettel und Ihre Kinder blicken einer rosigen Zukunft entgegen, weil sie aufgrund der Tipps in diesem Buch hervorragend erzogen wurden. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und … Wie bitte? Sie haben leider keine Zeit, um sich lesenderweise auf die Couch zu fläzen? Weil Ihr vierjähriger Leopold nach Essen schreit? Ach, das ist doch gar kein Problem. Sperren Sie ihn einfach in den Kühlschrank und sagen Sie, er darf erst wieder rauskommen, wenn das Licht wieder angeht. Da ist er sicher, essenstechnisch versorgt und wird gleichzeitig gegen kommende Winter abgehärtet – das kann nie schaden, hat mein Opa immer gesagt, und der muss es wissen, der war in Stalingrad. Also, ab in den Kühlschrank mit Leo. Wie bitte? Sie würden doch lieber erst noch die Meinung von Frau Precht dazu hören? Kein Problem, Moment, ich rufe sie kurz an … Hm, sie geht nicht dran. Wahrscheinlich ist sie gerade damit beschäftigt, ihre Kinder zu erziehen. Immer im Dienst, die gute Frau, sehr vorbildlich. Das klären wir dann später, ich melde mich, sobald ich sie erreicht habe. Stecken Sie Leo solange ruhig schon mal in den Kühlschrank, ich bin mir sicher, das geht in Ordnung.

So, alles bereit? Ah, Sie haben den Prosecco gleich aus dem Kühlschrank mitgebracht, sehr gut – Kinder sollen ja nicht so viel Alkohol trinken, habe ich gehört. Dann kann’s ja losgehen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen! Und Seriengucken! Und Kindererziehen!

Jochen Till

Inhaltsverzeichnis

Titelei

BA-DAMMMMM!

1 Suppenkasper 2.0

1.1 Forrest Gumps Mutter

1.2 Ende der Diskussion!

1.3 Kulinarische Hingabe

1.4 Überrumpelungstaktik

1.5 Das kleinere Übel

2 Kleine Klugscheißer

2.1 Vehementes Beharren

2.2 Queen Altklug

2.3 Angsteinflößende Mini-Gangster

2.4 Gummibärchen

3 Kacka gemacht!

3.1 Dieser natürliche Vorgang

3.2 Der Kult ums Klo

3.3 Ein Korken?

3.4 Jubelstürme!

4 Trotzen und Motzen

4.1 Subtile Rache

4.2 Kalte Füße

4.3 Good Cop/Bad Cop

4.4 Die Suche nach dem Geländer

5 Auf den Hund gekommen

5.1 Ausreichend pflegeleicht

5.2 Machtlos

5.3 Stubenfliegen

5.4 Abschreckung

5.5 Butter in der Sonne

6 Mein Freund ist unsichtbar

6.1 Ein französischer Superstar

6.2 Keine Gefahr

6.3 Schmusende Katzen

7 Geschwisterliebe

7.1 Lieblingsenkel

7.2 Coole Cousinen

7.3 Dramatisch

7.4 Die Mutter aller Familienväter

7.5 Wandelnde Katastrophe

7.6 Blutende Nasen

7.7 Exklusive Zeit

8 Auf der Flucht

8.1 Kein gutes Zeichen

8.2 Achtung, Cliffhanger!

8.3 Erregte Aufmerksamkeit

8.4 Deutlich deftiger

8.5 Ein bisschen Schwund

8.6 An der Leine

8.7 Ständige Alarmbereitschaft

9 Immer diese Hausaufgaben!

9.1 Blaue Briefe

9.2 Ein Stück Schimmelkäse

9.3 Hilfreiche Streber

9.4 Genfer Konventionen

9.5 Die Prokrastinationslampe

10 Herzschmerz

10.1 Arg theatralisch

10.2 Dumm gelaufen

10.3 Fresse polieren

11 Coming-out

11.1 Völlig Wurscht

11.2 Etwas völlig Normales

11.3 Hintergedanken

11.4 Das geringste Problem

11.5 Usbekistan

12 Verbotene Substanzen

12.1 Gras im Gras

12.2 Schlaflose Nächte

12.3 Die Moralkeule

12.4 Serientrinker

12.5 Böse Dämonen

12.6 Augen öffnen

13 Schlaf, Kindlein, schlaf

13.1 Betäubungsmittel

13.2 Drehbuchpädagogik

13.3 Sieben Meter Entfernung

Autorenvorstellung

Impressum

1 Suppenkasper 2.0

Abb. 1.1

»Aber Schatz, das ist Brokkoli, der ist so gesund!« (Lois Griffin/Family Guy/Staffel 1/Folge 2)

Wie oft mussten Sie diesen Satz mit wechselnden Nahrungsmitteln schon zu einem Ihrer Kinder sagen und wurden daraufhin angespuckt?

Essen, oder besser gesagt nicht essen, ist immer ein schwieriges Thema. Zumindest war es das bei mir. Ist es auch heute noch. Ich bin das, was man einen schwierigen Esser nennt. Ob ich meine Eltern mit Brokkoli und anderen Gemüsesorten angespuckt habe, weiß ich nicht mehr, aber ich gehe fest davon aus. Meine Tante erzählte mir gerade neulich, dass ich diesbezüglich wohl eine absolute Katastrophe gewesen sein muss und meine Mutter regelmäßig zur Verzweiflung getrieben habe.

Klar, Vorlieben oder spezielle Abneigungen beim Essen hat wohl jeder. Manche kann man mit der bloßen Ankündigung von Meeresfrüchten aus dem Restaurant jagen, andere mögen keine Pilze in der Soße. Es soll ja sogar Leute geben, die süße Nachspeisen verabscheuen (mir absolut unverständlich). Jeder Mensch isst anders, das liegt wohl in unserer Natur. Wobei ich auch ein, zwei Leute kenne, die tatsächlich alles essen, aber das ist doch eher die Ausnahme und mir fast schon suspekt. Ich meine, wie kann einem denn alles schmecken? Muscheln? Schnecken? Innereien? Da stimmt doch was nicht. Dass man als im Garten herumkrabbelndes Baby mal rein aus Neugier eine Schnecke in den Mund nimmt, kann ja durchaus passieren. Aber daraus zu folgern, dass man das gerne öfter und in größeren Mengen hübsch angerichtet auf einem Teller serviert bekommen möchte, erschließt sich mir so gar nicht. Ich meine, wie schafft man es als Eltern, dass das Kind gerne Innereien isst? Meine Eltern sind ja schon mit einem profanen Gulasch an ihre pädagogischen Grenzen gestoßen. Das ist eine der wenigen Kindheitserinnerungen, die sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt hat.

Es war ein Sonntag, wir saßen am Mittagstisch, und es gab Gulasch mit Klößen – auf den ersten Tellerblick ein Grund zu großer Freude, denn ich liebte Klöße, liebe sie heute noch. Der zweite Blick war leider etwas schwieriger. Ich hatte grundsätzlich nichts gegen Gulasch, das Fleisch und die würzige Soße schmeckten mir. Es gab nur ein Problem: Gulasch war eines der heimtückischsten Fleischgerichte, das mir bis dahin untergekommen war.

1.1 Forrest Gumps Mutter

Jawohl, es gibt heimtückische Lebensmittel! Fruchtgummimischungen, zum Beispiel. Da greifst du als Kind blind vor Naschsucht rein, erwartest nichts als den köstlichsten Gummibärchengeschmack und hast plötzlich zum ersten Mal im Leben ein ekliges Stück Lakritz im Mund. Lakritz hat in Fruchtgummimischungen nichts zu suchen, das ist ein Affront gegen jede Art von Fruchtgummi und gehört verboten. Wieso wird so was überhaupt gemacht? Um die Überbestände an verständlicherweise nicht verkauftem Lakritz loszuwerden? Das ist doch … Wie bitte? Sie lieben Lakritz? Nichts dagegen, schön für Sie. Dann kaufen Sie sich doch bitte eine Packung Lakritz und belästigen uns Fruchtgummiliebhaber nicht. Ach so, Fruchtgummi mögen Sie auch? Na, dann müssen Sie eben zwei Packungen kaufen. Wer einen derart exklusiven Geschmack hat, muss dann eben auch mal tiefer in die Tasche greifen. Apropos greifen: Ein weiteres, potenziell heimtückisches Nahrungsmittel sind natürlich Pralinen. Da greift man leckerste Schokoladenhappen erwartend in so eine Packung und auf einmal hat man Schnaps im Mund. Nicht falsch verstehen, ab und zu mag ich Schnaps im Mund sehr gerne – aber nicht in Verbindung mit Schokolade! Das passt für mich überhaupt nicht zusammen. Entweder saufen oder naschen, da bin ich Purist. Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie, was man kriegt. Vielen Dank auch, Forrest Gumps Mutter. Für mich ist das keine hilfreiche Lebensweisheit, sondern eine bösartige Konsumententäuschung der Pralinenindustrie. Wenn ich verlockend süße Schokolade erwarte, will ich auch verlockend süße Schokolade kriegen, gerne mit dazu passenden Ingredienzien wie Nüssen, Karamell, Krokant oder Marzipan, aber doch bitte nicht mit bitterem Schnaps. Da könnte ich mich jedes Mal maßlos drüber aufregen, wenn ich so eine erwische. Das ist so … Wie bitte? Ja, natürlich, ein wirkliches Drama ist das nicht, es gibt tatsächlich Schlimmeres, da haben sie absolut recht.

Womit wir zurück beim Gulasch wären. Da ist die Heimtücke besonders perfide, weil nicht absichtlich von Menschenhand verursacht. In diesem Fall ist einzig und allein Mutter Natur verantwortlich. Sie gaukelt dir einen verführerisch aussehenden und herrlich duftenden Brocken Fleisch vor, das Wasser läuft dir bereits im Mund zusammen, du spießt ihn auf die Gabel, schiebst ihn zwischen deine Lippen, beißt herzhaft zu und … kriegst auf der Stelle heftige Würgeanfälle, weil du gerade auf einen ekligen Klumpen reinen Fetts gebissen hast. Das geht für mich gar nicht, auch heute noch nicht. Der Moment, wenn deine Zähne sich in diese glibberige Masse senken und sie auf deinen Gaumen trifft, etwas Ekelerregenderes gibt es nicht, mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Und das wusste ich an diesem Sonntag bereits, also verweigerte ich die Nahrungsaufnahme.

1.2 Ende der Diskussion!

»Ich ess das nicht«, sagte ich.

»O doch, du isst das«, erwiderte mein Vater. »Das ist gutes Fleisch, das ist gesund.«

»Aber mir wird schlecht, wenn ich das esse.«

»Jetzt stell dich nicht so an. Das wird gegessen.«

»Aber da ist Fett drin.«

»Nein, da ist kein Fett drin. Ich habe beim Metzger extra mageres Fleisch bestellt. Los, iss das jetzt.«

»Aber ich muss brechen, wenn ich das esse.«

»Ach, jetzt übertreib doch nicht immer so. Das ist gutes Gulasch, da muss niemand von brechen. Los, fang an zu essen, sonst wird es noch kalt.«

Ich tat wie mir befohlen. Der Kloßanteil auf meinem Teller wurde stetig geringer, während das Gulasch unangetastet blieb. Ich habe mir noch nie so sehr einen Hund gewünscht, für den ich unauffällig einen Brocken nach dem anderen unter den Tisch fallen lassen könnte. Hunde scheren sich nicht darum, ob Fett im Fleisch ist, wahrscheinlich lieben sie genau das sogar, keine Ahnung, ich war noch nie ein Hund. Jedenfalls war dicke Fleischbrocken unter den Tisch fallen lassen keine Option, das wäre meiner Mutter spätestens beim nächsten Putzen aufgefallen. Also folgte das Unvermeidliche.

»Hör auf, in deinem Essen herumzustochern«, sagte mein Vater mit Nachdruck. »Iss dein Fleisch.«

»Aber ich will das nicht essen!«, erwiderte ich ebenso nachdrücklich.

»Der Herr Will ist gestorben«, brummte mein Vater. »Du isst dein Fleisch. Und zwar sofort.«

Kennen Sie den vielleicht auch noch, den grundsätzlich verstorbenen Herrn Will? Der wurde bei mir sehr oft als Erziehungsmaßnahme herangezogen. Immer, wenn ich etwas wollte, war Herr Will plötzlich tot. Was mich wenig bis gar nicht berührte, schließlich kannte ich ihn nicht, er war zu Lebzeiten nie mal sonntags zum Kaffeetrinken bei uns vorbeigekommen und unter dem Weihnachtsbaum lag auch nie ein Geschenk von ihm für mich. Dementsprechend interessierte mich das erneute Ableben des Herrn Will in diesem Moment kein bisschen. Alles, was mich interessierte, war, wie ich einen ekligen Klumpen Fett in meinem Mund vermeiden konnte.

»Aber dann muss ich brechen!«, versuchte ich es erneut. »In echt!«

»Jetzt lass ihn doch, Diether«, kam mir meine Mutter zu Hilfe. »Das hat keinen Sinn. Wenn er etwas nicht essen will, kannst du ihn nicht dazu zwingen.«

Sie sprach aus Erfahrung und hatte wahrscheinlich keine Lust, dass ich ihr Sonntagskleid vollspuckte.

»Nein, er muss das jetzt mal lernen«, sagte mein Vater. »In Afrika haben die Kinder gar nichts zu essen, die wären froh, wenn sie so ein leckeres Gulasch kriegen würden.«

Als ob mich damals irgendwelche Kinder in Afrika interessiert hätten. Ich kannte kein einziges davon. Hätte Thomas, der Nachbarsjunge, nichts zu essen gehabt, ich hätte ihm sofort und sehr gerne eigenhändig mein Gulasch rübergebracht.

»Dann schick das Gulasch doch nach Afrika«, motzte ich.

»Jetzt nicht auch noch frech werden, ja?«, erwiderte mein Vater. »Du isst jetzt auf der Stelle dein Gulasch, und zwar jedes einzelne Stück!«

»Aber ich …«

»Nichts aber! Essen! Sofort! Ende der Diskussion!«

Die angestiegene Lautstärke und der durchdringende Blick meines Vaters ließen erkennen, dass dies tatsächlich das Ende der Diskussion war. Es blieb mir wohl oder übel nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel in Fleischform zu beißen. Ich zählte die Stücke, es waren acht. Acht Chancen, an einem Brocken Fett zu sterben. Aber vielleicht hatte ich ja Glück. Ich spießte das erste Stück Fleisch auf die Gabel, atmete tief durch und schob es mir in den Mund. Ein vorsichtiger Biss, das Fleisch zerfiel ohne jeden Widerstand in meinem Mund. Uff!

»Na also«, sagte mein Vater grinsend. »War das jetzt so schlimm?«

Nein, war es nicht. Aber es gab ja noch sieben Möglichkeiten, die es schlimm machen könnten. Ich ging Nummer 2 an. Durchatmen, rein in den Mund, zubeißen. Meine Zähne trafen unmissverständlich auf Fett. Keine kleine Sehne, eine dicke Hauptader. Der Würgereiz setzte sofort ein, ich hörte auf zu kauen und versuchte das Fleischstück so in meinem Mund abzulegen, dass es keinen Kontakt zum Gaumen bekam – jede direkte Berührung könnte fatale Folgen haben.

Mein Vater sah mir mein Dilemma offenbar an.

»Einfach runterschlucken«, sagte er aufmunternd. »Kurz und schmerzlos.«

Daran hatte ich auch schon gedacht. Ich wägte den Brocken in meinem Mund ab. Wäre er klein genug, um ihn mit einem Mal runterzuschlucken? Es könnte klappen, dachte ich, mit ganz viel Flüssigkeit. Ich griff nach meinem Glas Limo und füllte meinen Mund mit der gelben Brause. Dann schluckte ich. Die Limo war schneller als das Fleisch. Es glitt wabbelig am Gaumen vorbei in Richtung Speiseröhre. Mist, das Stück war doch zu groß. Ich konnte das eklige Fett ganz deutlich spüren. Schnell noch ein Schluck Limo zum Runterspülen. Die Limo weigerte sich, das Fleisch abzutransportieren und schoss einfach daran vorbei. Ich würgte einmal. Und noch mal. Und beim dritten Mal öffneten sich alle Schleusen. Immerhin habe ich es geschafft, nicht auf das Sonntagskleid meiner Mutter zu kotzen – der Sonntagspulli meines Vaters hingegen hatte nicht so viel Glück.

Von diesem Tag an gab es für eine sehr lange Zeit kein Gulasch mehr bei uns. Mittlerweile kann ich es schon essen und sogar genießen, Fett am Fleisch mag ich aber immer noch nicht, sobald ich welches sehe, schneide ich es ab. Was bei meiner zweiten Nahrungsmittel-Nemesis leider nicht geht. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt oder wer daran schuld ist, aber ich kriege bis zum heutigen Tag kein Salatblatt hinunter. Ich meine vorrangig diesen klassischen, grünen Salat, das gilt aber auch für alle anderen Salatarten, ich mag nicht einmal Kartoffelsalat. Der grüne ist aber am schlimmsten. Bei meinen Freunden und Bekannten ist mein Verhältnis zu diesem gesunden Grünzeug bereits seit Jahrzehnten ein Running Gag, es werden ständig Salatwitze auf meine Kosten gerissen, aber ich muss ja selbst darüber lachen, das ist schon okay. In den letzten Jahren, mit nunmehr Ü50, entdecke ich immer mehr Lebensmittel, die mir völlig unerwartet plötzlich schmecken oder die ich zumindest essen kann, ohne angewidert mein Gesicht zu verziehen. Rotkraut, zum Beispiel. Oder Spinat. Oder Spargel. Was aber immer noch nicht geht, egal, wie oft ich es versuche, ist Salat, der will einfach nicht über meine Lippen, und das wird wohl in diesem Leben auch nichts mehr mit uns.

1.3 Kulinarische Hingabe

Also, wie kriegt man als Eltern sein Kind dazu, bestimmt Sachen zu essen? Druck hat bei mir nicht geholfen, Bestechung auch nicht. Wie schafft man es, dass Klein-Michi die verhassten Karotten mag? Oder Blumenkohl. Oder Brokkoli. Oder Menschenfleisch. Verzeihung, das ist mir so rausgerutscht, ich musste gerade an die großartige Serie Hannibal denken. Darin dreht sich alles um Hannibal Lecter, den kennen Sie eventuell aus dem preisgekrönten Film Das Schweigen der Lämmer. Die Serie beleuchtet seine Vorgeschichte, leider nicht von Kindheit an, sonst würde man vielleicht erfahren, wie er zum Kannibalen geworden ist. Ich meine, der Mann bereitet regelmäßig und mit viel kulinarischer Hingabe Menschenfleisch zu, da fragt man sich doch schon, was Mama und Papa Lecter falsch gemacht haben. Hat er als Baby in seiner Beißphase eventuell mal ein Stück aus Mamis Arm gebissen, festgestellt, dass das ja ganz lecker ist, und beschlossen, fortan nichts anderes mehr zu essen? Und seine Eltern, die ihn schließlich nicht verhungern lassen konnten, wussten sich nicht anders zu helfen, als nach und nach sämtliche Verwandte/Bekannte/Briefträger an ihn zu verfüttern. Ob Hannibal wohl auch Probleme mit Fett im Fleisch hatte?

»Iiih, das ist Gulasch, das mag ich nicht, da ist Fett dran.«

»Da ist kein Fett dran. Wir haben extra die Nachbarstochter dafür genommen, die war magersüchtig.«

»Die will ich aber nicht essen, die war doof!«

»Der Herr Will ist gestorben.«

»Dann kann ich doch den essen!«

»Kannst du nicht, von dem gab’s gestern die Reste. Los jetzt, iss dein Gulasch. Sonst kriegst du in Zukunft nur noch Kinder aus Afrika.«

»Menno.«

Ob es tatsächlich an der Erziehung liegt, wenn das eigene Kind zum Kannibalen wird, kann ich schwer einschätzen. Hannibals Eltern haben sonst offenbar viel richtig gemacht, was seine Erziehung betrifft. Er ist gebildet, ein Liebhaber der schönen Künste, stets perfekt gekleidet, drückt sich gewählt aus, ist höflich, verfügt über exquisite Umgangsformen, und wenn er ein paar Leute zum Essen einlädt, sehen die von ihm zubereiteten Gänge stets sensationell aus. Das Auge isst mit. Dass man bei ihm eventuell sogar das Auge mitisst, weiß ja niemand.

Ja, ich weiß, das ist eklig. Aber manchmal mag ich solche Serien, ab und zu darf es gern ein bisschen Horror sein.

Meine Top 10 der Grusel-Serien:

Stranger Things

The Walking Dead

Hannibal

Santa Clarita Diet

Ash vs. Evil Dead

True Blood

Fear of the Walking Dead

iZombie

Bates Motel

American Horror Story

Ich hoffe, es ist überflüssig, hier extra zu erwähnen, dass Sie diese Serien nicht mit Ihren Kindern zusammen gucken sollten – es sei denn, Sie möchten akut einen bereits seit Stunden anhaltenden, extrem nervigen Albernheitsanfall der Kleinen ruckartig beenden.

Für Erziehungsfragen außerhalb von Apokalypsen sind diese Serien natürlich denkbar ungeeignet, deshalb wenden wir uns lieber den Familien-Sitcoms zu. Was stellen die Eltern dort an, um ihre Kinder zum Essen zu bringen?

1.4 Überrumpelungstaktik

In eingangs erwähnter Folge von Family Guy versucht Mutter Lois, den kleinen Stewie davon zu überzeugen, dass Brokkoli gut für ihn ist. Er verweigert verständlicherweise die Nahrungsaufnahme, sie lenkt ihn kurz ab und schiebt den Löffel einfach in seinen Mund. Sollte das etwas die Lösung sein, eine schlichte Überrumpelungstaktik? Nein, so einfach ist es leider nicht. Stewie spuckt den Brokkoli wieder aus und macht sich sofort an die Entwicklung einer Schlechtwettermaschine, die weltweit sämtliche Brokkoli-Ernten vernichten soll. Nun haben die meisten hier höchstwahrscheinlich keinen hochbegabten Zeichentrickjungen, dem es nach Weltherrschaft dürstet, aber auch echte Kinder müssen keine Genies sein, um die Überrumpelungstaktik rasch zu durchschauen.

Mit einem Klassiker der Kindererziehung versucht es Jay Pritchett in einer Modern-Family-Episode (Staffel 5, Folge 22). Als sein Ziehsohn Manny sich weigert, sein Sandwich zu essen, weil es von einer sauren Gurke berührt wurde, greift Jay durch. Manny muss so lange sitzen bleiben, bis er die saure Gurke wenigstens probiert hat. Dummerweise kriegt Mannys Mutter Gloria das mit und verfügt, dass Jay ebenfalls so lange sitzen bleibt, bis er die kolumbianische Blutwurst seiner Schwiegermutter probiert, was er bislang stets vehement verweigert hat. Tja, so kann es gehen, da kriegt man plötzlich die eigenen Erziehungsmethoden zu schmecken. In diesem Fall klappt es sogar, am Ende sieht man, wie Manny sich zum Kühlschrank schleicht und eine saure Gurke futtert. Das funktioniert als Abschlussgag in einer Sitcom natürlich sehr gut, im echten Leben habe ich da allerdings so meine Zweifel.

1.5 Das kleinere Übel

Was hilft also tatsächlich bei einem Kind, wie ich es war? Flüssiggulasch? Brokkoli aus Schokolade? Das wäre doch wirklich eine Lösung! Einfach alle Lebensmittel aus Schokolade herstellen! Dann würde sogar ich Salat essen. Oder Innereien. Oder Schnecken. Egal was. Ich bin dafür. Das ist die perfekte Lös… Wie bitte? Was, wenn jemand keine Schokolade mag? Entschuldigen Sie bitte, aber wenn jemand keine Schokolade mag, dann stimmt mit demjenigen aber ganz gehörig was nicht, da hätten die Eltern bei der Erziehung ja komplett versagt. Wer keine Schokolade mag, geht auch gern zu Hannibal Lecter essen. Wie bitte? Sie hätten gern ernsthafte Lösungen? Ja, ja, Sie haben ja recht. Dann muss ich wohl Frau Precht anrufen, Moment.

»Precht, hallo?«

»Hallo, Frau Precht. Till hier. Hätten Sie einen Moment für mich?«

»Das ist gerade sehr schlecht, ich bereite das Mittagessen für meine Kinder vor.«

»Ach, das hat doch Zeit, so eine Mikrowelle hat doch sicher eine Pause-Taste. Holen Sie sich einen Kaffee und setzen Sie sich, das haben Sie sich verdient.«

Ich höre ein Seufzen.

»Also, worum geht’s denn?«, fragt Frau Precht.

»Wir sind quasi schon beim Thema, es geht ums Essen. Wie verhindert man, dass Kinder so werden wie ich?«

»Wie Sie? Das müssen Sie schon etwas präzisieren.«

»Ach so, stimmt, Sie lesen ja gar nicht mit, wenn ich schreibe. Ich bin ein schlechter Esser. Wie verhindert man, dass Kinder schlechte Esser werden?«

»Sie sind ein schlechter Esser? Was mögen Sie denn alles nicht?«

»Wenn ich jetzt anfange, das alles aufzuzählen, können Sie Ihren Kindern das Zeug in der Mikrowelle als Abendessen verkaufen. Die Frage ist vielmehr, wie man es anstellt, dass Kinder Sachen essen, die sie nicht mögen. Hilft es, zum Beispiel, wenn man das Kind wie in der Serie Modern Family so lange am Tisch sitzen lässt, bis es aufgegessen hat?«

»Na ja – wenn man den starken Eindruck hat, das Kind isst aus Trotz nicht oder spielt ein Machtspiel, dann ist das ein gutes Mittel. Wenn es genau drei Nahrungsmittel hasst, von denen es sogar kotzen muss, und genau diese platziert man großzügig auf des Kindes Teller und lässt es dann so lange sitzen, bis es aufgegessen hat ... dann sitzt es vermutlich sehr lange. Und es erlebt seine Eltern als unnötig brutal. Zu Recht. Das wird das Vertrauen zu den Eltern nachhaltig schädigen. Dennoch spricht nichts dagegen, das Kind genau diese Dinge gelegentlich probieren zu lassen, ein Mini-Stückchen, damit es herausfinden kann, ob sich der Geschmack nicht inzwischen geändert hat.«

»Wie ist das bei Ihren Kindern? Die essen bestimmt alles, oder?«

»Haha, nein, das wäre schön! Natürlich essen meine Kinder nicht alles. Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na ja, ich dachte, Sie sind die Kinder-Expertin, Sie kennen alle Tricks, also sind Ihre Kinder dementsprechend perfekt.«