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Die erschütternde Geschichte des 22-jährigen Irakers Zaid, der vom Studenten zum Widerstandskämpfer gegen die US-Streitkräfte wurde
Jürgen Todenhöfer traf Menschen im Irak, über die wir kaum etwas wissen: Menschen wie den jungen Zaid, der in seinem Leben vor allem Not und Krieg kennengelernt hat. In bewegenden Worten erzählt er seine Geschichte, wie er und seine Mitstreiter sowohl gegen die alliierten Besatzungstruppen als auch gegen den Terror von Al Qaida im eigenen Land kämpfen. Im Krieg hat er fast alles verloren. Seine Brüder wurden von GI’s erschossen. Dann schloss sich der junge Student einer Widerstandsgruppe an und hat selbst Menschen getötet. Jürgen Todenhöfer zeichnet ein lebendiges, authentisches Bild des Irak und der islamischen Welt wie wir es aus der Berichterstattung nicht kennen.
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Seitenzahl: 412
Jürgen Todenhöfer hat sich undercover auf den Weg gemacht, um sich ein Bild von der tatsächlichen Situation im Irak zu verschaffen. Er lässt Vertreter des irakischen Widerstands zu Wort kommen, die in der westlichen Kriegsberichterstattung bisher nicht vorkamen. Wir begegnen Yussuf, einem Christen, der Seite an Seite mit Muslimen kämpft, Aisha, die für die Mütter der Widerstandskämpfer spricht, und dem 22-jährigen Zaid, der vom Studenten zum Widerstandskämpfer wurde. Dabei offenbaren sich nicht nur bewegende Kriegsschicksale. Die Interviewpartner machen auch deutlich, dass sie nicht nur gegen die amerikanische Besatzung kämpfen, sondern sich genauso vom Al-Qaida-Terrorismus und seinen Selbstmordattentaten distanzieren. Der Autor bezieht deutlich Stellung: Er sieht den Westen in einer Tradition von Gewalt und Ignoranz gegenüber der muslimischen Welt. Todenhöfer fordert eine Neuausrichtung der Politik zur Eindämmung des Terrorismus: Gerechtigkeit statt Demütigung, präventive Verhandlungen statt präventiver Kriege.
Jürgen Todenhöfer, geboren 1940, war bis Ende 2008 Manager eines europäischen Medienunternehmens. 18 Jahre lang war er Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Unionsparteien für Entwicklungspolitik und später für Rüstungskontrolle. Er schrieb die Bestseller »Wer weint schon um Abdul und Tanaya?« sowie »Andy und Marwa«. Mit seinen Buchhonoraren baute er ein Kinderheim in Afghanistan und ein Kinderkrankenhaus im Kongo. Mit dem Honorar für dieses Buch finanziert er ein israelisch-palästinensisches Versöhnungsprojekt in Jerusalem sowie ein Hilfsprojekt für irakische Flüchtlingskinder im Irak.
Im Goldmann Verlag ist von Jürgen Todenhöfer außerdem erschienen: Andy und Marwa (46217)
Gewidmet den Menschen des Irak
Ein etwas anderes Vorwort
Altes Testament, Sirach 4,27 f. »Unterwirf dich nicht dem Toren, nimm keine Rücksicht auf den Herrscher! Bis zum Tod setz dich ein für das Recht! Dann wird der Herr für dich kämpfen.«
7. Cheshwan 5768 (jüdischer Kalender)29. Oktober 2007 (christlicher Kalender)17. Schawal 1428 (islamischer Kalender)
»Ismahuli« – »Zugehört«, ruft der kleine, alte Märchenerzähler in der Teestube Al-Nofara in Damaskus und schlägt mit seinem breiten Schwert auf einen hochbeinigen schwarzen Metallschemel. Einige Gäste zucken zusammen, die meisten rücken lachend ihre Stühle zurecht. Es dämmert in Damaskus, überall gehen die Lichter an. Auch im Al-Nofara.
Die Teestube liegt in der Nähe der Grabstätte Saladins, eines der größten muslimischen Helden, im Schatten der 1300 Jahre alten Omaijaden-Moschee. Sie ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Syrer jeden Alters, aber auch einige Touristen aus Frankreich und England, trinken aus kleinen Gläsern schwarzen Tee mit frischen Pfefferminzblättern.
An der Holzwand gegenüber dem Eingang sitzt in einem grün-rot-gold bemalten Holzsessel, leicht erhöht durch ein Podest, Abu Shadi, der Märchenerzähler von Damaskus. Er ist angeblich der letzte echte »Hakkawati« der arabischen Welt. Wie in alten Zeiten in Syrien üblich, trägt er eine hellgraue Saderiah, eine Art Gehrock, mit gleichfarbigem Hemd und Pluderhosen. Ein etwa fünfzehn Zentimeter breiter, rot-silbern gemusterter »Kummerbund« umspannt sein Bäuchlein. Auf dem Kopf trägt er einen roten Fez, in Syrien »Tarbouch« genannt, der seinem zerknitterten Gesicht manchmal etwas Erhabenes gibt.
»Ismahuli«, ruft er ein zweites Mal und beginnt mit lauter, melodischer Stimme aus einem großen schwarzen Buch die uralte Legende von Antar bin Shaddat, dem Sklaven, zu erzählen. Gespannt folgt das Publikum seiner gestenreich vorgetragenen Geschichte, antwortet lachend auf seine Fragen und freut sich, wenn er die Erzählung von Zeit zu Zeit schelmisch blickend mit einem kleinen Scherz oder einer Anekdote unterbricht.
Oft muss Abu Shadi über seine Zuhörer und über sich selbst lachen. Dann rutscht ihm seine große Metallbrille fast über die Nasenspitze. Die Idee mit den Anekdoten hat er, wie er mir später erzählt, dem früheren Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, abgeschaut. Der habe seine endlosen Reden auch immer mit Scherzen aufgelockert.
Wenn Abu Shadi findet, dass seine Gäste nicht aufmerksam genug zuhören, schlägt er mit seinem stumpfen Schwert krachend auf den Metallschemel, und schon sind alle Augen und Ohren wieder bei ihm. Mit leuchtendem Blick folgen ihm die Zuhörer auf seine Reise in die Vergangenheit. Es ist, als ob er sie auf einem fliegenden Teppich in ein fernes Wunderland entführte – weit weg vom grauen Alltag der syrischen Hauptstadt Damaskus.
Doch plötzlich ertönt aus Abu Shadis Brusttasche ein recht unromantisches Handyklingeln, und schon landen alle ganz unvermittelt wieder im Hier und Jetzt. Schmunzelnd bittet Abu Shadi den ungebetenen Anrufer aus der Gegenwart, zu einem späteren Zeitpunkt anzurufen – er befinde sich gerade weit weg auf einer wichtigen Reise. Das Publikum prustet vor Lachen.
Mit einem Schwertschlag stellt Abu Shadi die Ruhe wieder her und nimmt seine Zuhörer erneut mit auf seinen Märchenflug in die ruhmreiche Vergangenheit Arabiens. Er fährt fort, die Geschichte des Sklaven Antar zu erzählen, der durch heldenhaften Kampf die heiß ersehnte Freiheit erlangt. Erzählt Abu Shadi die Geschichte der arabischen Völker?
Vor mir liegt das Manuskript meines Buches, das ich vor wenigen Tagen beendet habe. Es ist die Geschichte des jungen Irakers Zaid, der ebenfalls für seine Freiheit, für die Freiheit seines Volkes kämpft. Ob Zaids Geschichte genauso gut ausgehen wird wie die Legende von Antar dem Sklaven, weiß ich nicht.
Ich weiß auch nicht genau, warum ich nochmals zu Abu Shadi, dem Hakkawati von Damaskus, wollte, bevor ich mein Manuskript abgebe. Irgendwas zog mich fast magisch in die schummrige Teestube zurück, in der ich schon vor zwei Jahren seinen Märchen gelauscht hatte. Ich wollte noch einmal die strahlenden Augen seiner Zuschauer sehen, wenn er von den Heldentaten längst vergangener Zeiten berichtet.
Ich mag diesen alten Mann, den sein Vater als Kind immer in die Cafés der Märchenerzähler mitschleppte und dessen großer Traum es war, selbst einmal Hakkawati zu werden. Jetzt ist er es, und nun verzaubert er alle Menschen mit seiner schelmisch-melodischen Stimme – auch mich, obwohl ich kein Wort Arabisch verstehe. So sitze ich in einer Ecke des Teehauses Al-Nofara und ziehe an meiner Wasserpfeife. Meine Gedanken aber sind weit weg. Sie sind bei Zaid und seinen Freunden.
Die Geschichte der arabischen Völker ist eine Geschichte großer Siege und großer Niederlagen. In den letzten zweihundert Jahren allerdings gab es nicht mehr viel zu feiern. Der einsetzende Kolonialismus hat die arabische, ja die gesamte muslimische Zivilisation weit zurückgeworfen.
Einige Episoden der arabischen Tragödie habe ich selbst miterlebt. Als zwanzigjähriger Student bereiste ich 1960 während des Algerienkrieges das von Frankreich besetzte maghrebinische Land. In Algier wohnte ich bei einer arabischen Familie und bekam jeden Abend ab Eintritt der Dunkelheit die Angst der Menschen vor dem Krieg und vor den Anschlägen der französischen Untergrundbewegung OAS mit, die mit terroristischen Methoden für den Verbleib Algeriens bei Frankreich kämpfte.
Nach zehn Tagen Algier fuhr ich in einem Überlandzug in den Osten Algeriens, nach Constantine. Auf der Fahrt habe ich mich stundenlang mit fröhlich bechernden deutschen und englischen Fremdenlegionären über ihre »Heldentaten« unterhalten. Eine Szene werde ich nie vergessen:
Als sich der Zug in Algier ruckelnd in Bewegung setzte, ließ sich einer der Fremdenlegionäre – es war ein Deutscher – von einem neben dem Zug herlaufenden arabischen Jungen einen Kasten Limonade geben. Der kleine Algerier, er war vielleicht sieben Jahre alt, strahlte über das ganze Gesicht. Der Legionär stellte den Kasten mit der einen Hand auf die Fensterkante, mit der anderen kramte er in seiner Hosentasche nach Geld. Er nahm sich viel Zeit. Der Zug nahm Fahrt auf.
Der kleine Junge trabte neben dem Waggon her und begann um sein Geld zu betteln. Der Legionär aber schaute ihn nur spöttisch an. Als der Zug schneller wurde und der Junge flehentlich zu weinen anfing, nahm der Soldat den Kasten, hielt ihn lachend hoch und rief: »Voilà ton argent!« – »Da hast du dein Geld!«, und ließ den Kasten krachend auf den Bahnsteig fallen.
Die Limonadenflaschen zersprangen in tausend Stücke. Das fassungslose Schluchzen des kleinen Algeriers ging unter im brüllenden Hohngelächter des betrunkenen Fremdenlegionärs.
Ein Jahr später, Ende Juli 1961, war ich während der »Krise von Bizerta«1 in der gleichnamigen tunesischen Stadt. Sie war damals ein französischer Militärstützpunkt, der im Algerienkrieg eine bedeutsame Rolle spielte und dessen Freigabe Tunesien seit seiner Unabhängigkeit 1956 vergeblich gefordert hatte.
Als 1961 tunesische Truppen den Stützpunkt blockierten, bombardierte die französische Luftwaffe die Stadt. Nach heftigen Kämpfen, bei denen das französische Militär auf unbewaffnete tunesische Demonstranten schoss, wurde die gesamte Zivilbevölkerung aus der Stadt evakuiert. Rund 670 Tunesier waren getötet, 1500 verletzt worden.
Um Bizerta besuchen zu können, benötigte man eine Sondererlaubnis der französischen Militärbehörden. Die hatte ich nicht. Tunesische Freunde hatten mich daher auf Schleichwegen in die Stadt gelotst. Dort wollte ich Fotos von der schwer beschädigten Geisterstadt machen. Leider wurde ich schnell von französischen Militärpolizisten festgenommen und ziemlich ruppig mit einem Jeep zum Hauptquartier der Besatzungstruppen transportiert. Die Maschinenpistole, deren Lauf sich in meinen Rücken bohrte, machte mich sehr nervös.
Erst nach einem mehrstündigen schroffen Verhör durfte ich die Stadt wieder verlassen. Ich hatte Riesenglück gehabt. Durch mein Studium in Paris kannte ich Verwandte des französischen Stadtkommandanten. Das gab dem feindseligen Verhör eine völlig unerwartete Wendung. Ich wäre sonst mit Sicherheit nicht so leicht davongekommen. In französischen Gefängnissen konnte man bei Verstößen gegen das Kriegsrecht lange schmoren. Und als komfortabel galten Kolonialgefängnisse auch nicht. Die Fotos aber konnte ich erfolgreich aus Bizerta herausschmuggeln.
Viele Jahre später, 1980, marschierte ich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages zusammen mit afghanischen Freiheitskämpfern zu Fuß von Pakistan über die Berge des Hindukusch nach Afghanistan. Das Land war ein halbes Jahr zuvor von sowjetischen Truppen überfallen worden. Ich wollte mir ein Bild von der Lage der Menschen und dem Widerstand der afghanischen Freiheitskämpfer machen.
Ausgerechnet in Moskau auf einem diplomatischen Empfang zur Feier des zehnten Jahrestages des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrages wurde meine Reise bekannt. Leonid Samjatin, Sprecher des damaligen sowjetischen Generalsekretärs Leonid Breschnew, bekam im Beisein deutscher Diplomaten einen Tobsuchtsanfall. Mit hochrotem Kopf brüllte er, wenn man mich zu fassen bekomme, werde man mich auspeitschen und erschießen lassen.
Trotzdem war ich noch zweimal, 1984 und 1989, in dem geschundenen Land.a Durch meine Berichte über das Elend der Afghanen konnte ich zusammen mit dem Verein für Afghanistan-Förderung umgerechnet 10 Millionen Euro für afghanische Flüchtlinge, vor allem für Flüchtlingskinder, sammeln. Die Reisen hatten sich gelohnt.
1989 gelang es mir, eine Sitzung der afghanischen Exilregierung in Urgun, einem kleinen Dorf hoch in den Bergen auf der afghanischen Seite des Hindukusch, zu initiieren. Mit Jeeps, auf Eseln und zu Fuß mussten wir uns durch zerklüftete Schluchten und reißende Gebirgsbäche zu dem winzigen Dorf durchschlagen.
Der heutige afghanische Präsident Hamid Karzai erzählte mir Weihnachten 2003 bei einem Privatbesuch in Kabul schmunzelnd, er erinnere sich gut an diese erste Kabinettssitzung der Exilregierung auf afghanischem Boden. Er sei damals schließlich Assistent des Präsidenten dieser Regierung, Sibghatullah Mogaddedi, gewesen.
Den Irak habe ich vor meiner jüngsten Reise dreimal besucht. Zweimal vor dem Krieg mit meinen Kindern Frédéric und Nathalie und ein Jahr nach dem Krieg mit meinem Freund Belal El-Mogaddedi, einem Neffen des ersten postkommunistischen Präsidenten Afghanistans. Ich habe diese Reisen in meinen Büchern » Wer weint schon um Abdul und Tanaya?« und »Andy und Marwa« beschrieben. Ich fühlte mich verpflichtet, diese Bücher zu schreiben. Man darf nicht gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan protestieren und zur amerikanischen Invasion in Afghanistan und im Irak schweigen.
Zweimal war ich in den vergangenen beiden Jahren auch im heftig umstrittenen Iran. Ich hoffe, dass ich nie ein Buch über dieses wunderbare Land schreiben muss und dass sich weder die Zündler in Teheran noch die Falken in Washington durchsetzen werden. Aber gerade deshalb möchte ich an dieser Stelle über einige persönliche Eindrücke aus diesem Land berichten.
Meine erste Iranreise habe ich 2005 mit meiner ältesten, damals dreiundzwanzigjährigen Tochter Valérie unternommen. Mehrfach wurden wir von jungen Iranern angesprochen und lachend gefragt, wie vielen Terroristen wir heute schon begegnet seien. Der pauschale Terrorismusvorwurf der US-Administration, die Einteilung der Welt in Gut und Böse, ist auch bei der äußerst regierungskritischen und prowestlichen iranischen Jugend ein humoristischer Dauerbrenner.
Am besten gefiel mir das romantische Isfahan, einst Sitz der großen persischen Herrscherdynastien, eine Stadt prachtvoller Moscheen und Paläste, herrlicher Plätze und Basare. Besonders angetan hatten es mir die Si-o-se-Pol-Brücke, die »33-Bogen-Brücke« über den Fluss Zayanderud, und die großzügigen Grünanlagen am Ufer des Flusses.
An sonnigen Nachmittagen und an Feiertagen geht es am Ufer des Zayanderud zu wie im Central Park in New York. Tausende von Menschen sitzen in Gruppen fröhlich zusammen, um zu plaudern oder eine Kleinigkeit zu essen. Gelegentlich sieht man sogar junge Pärchen, wenn auch nicht ganz so oft und nicht ganz so freizügig wie im Herzen Manhattans. Mancher kommt auch nur, um ein Nickerchen zu halten. Nicht weit entfernt vom Ufer des Flusses – am malerischen Naksch-e-Jahan-Platz – sind fast die gleichen Pferdekutschen unterwegs wie im Central Park.
Immer wieder wollten junge und ältere Iraner von uns wissen, woher wir kämen. Wir mussten uns zu ihnen setzen und wurden spätestens nach zehn Minuten für den nächsten Tag zum Abendessen eingeladen. Schade, dass so wenige Amerikaner an die Ufer des Zayanderud reisen und so wenige Iraner in den Central Park! Das gilt vor allem für die Führungseliten beider Länder, die meist schrecklichen Unsinn übereinander reden.
Unter der »33-Bogen-Brücke« treffen sich nachmittags musikbegeisterte Iraner. Sie nutzen die großartige Akustik der vierhundert Jahre alten steinernen Brückenbogen, um alte iranische Lieder vorzutragen.
Fasziniert lauschten Valérie und ich an einem herrlichen Frühlingstag den Balladen zweier junger Iraner. Am liebsten hätte ich mitgesungen. Aber meine Tochter raunte mir zu, wenn ich das täte, könne ich in Zukunft ohne sie verreisen. Außerdem werde man mich sowieso in den Fluss werfen. Schweren Herzens verzichtete ich auf meine Gesangseinlage.
Vielleicht war das der Grund, warum ich ein Jahr später – während der ersten Woche der Fußballweltmeisterschaft 2006 – nochmals nach Isfahan fuhr. Und als eines späten Nachmittags wieder einige Iraner auf der »33-Bogen-Brücke« ihre Balladen zum Besten gaben, nahm ich mir ein Herz und sang auf Deutsch das Wolgalied aus der Operette »Zarewitsch«. Am Ende des Liedes summten die meisten iranischen Zuhörer mit. Ich bekam tosenden Beifall.
Musikalisch war es vielleicht nicht mein bester Auftritt. Trotzdem werde ich diesen Nachmittag in Isfahan nie vergessen. Als amerikanischer Ehrenoberst – diese Auszeichnung hatte ich als junger Abgeordneter des Wahlkreises Kaiserslautern erhalten – im »Reich des Bösen« eine deutsche Arie zu singen – wer darf so etwas schon erleben?
Auch bei diesem zweiten Besuch im Iran war die Gastfreundschaft der Menschen überwältigend. Die Weltmeisterschaft in Deutschland war Gesprächsthema Nummer eins. Unsere Stadtführerin in Teheran und unser Taxifahrer stritten sich stundenlang, wer uns zum Spiel Iran – Mexiko zu sich nach Hause einladen durfte. Die Stadtführerin entschied schließlich die Auseinandersetzung zwei Stunden vor Spielbeginn autoritär für sich.
Auf meine Frage, ob sie sich zu Hause gegenüber ihrem Mann genauso durchsetze, antwortete sie lachend, das sei im Iran nicht viel anders als in anderen Ländern. Das Kommando habe immer der wirklich Stärkere. In manchen Ehen sei das der Mann, in manchen die Frau. Was die Mullahs dazu meinten, interessiere sie nicht. Die hätten zu Hause oft auch nicht viel zu sagen.
Als ich sie zweifelnd anblickte, nickte sie nachdenklich. Vor allem in ländlichen Gegenden sei die Lage vieler Frauen noch schlecht. Aber das sei kein Problem des Islam, sondern eine Folge uralter patriarchalischer Sitten, die lange vor dem Islam existierten. Die Furcht vieler Politiker, dieses Problem energisch anzugehen, sei deprimierend.
Eine Stunde später in ihrem kleinen Haus legte sie als Erstes ihren »Rooposh«, den im Iran vorgeschriebenen Kittel, und ihr Kopftuch ab. Dann bereitete sie uns in Jeans und T-Shirt eine Kleinigkeit zu essen. Ihr Mann durfte nach dem (verlorenen) Spiel abräumen. Nicht einen Augenblick konnte ein Zweifel aufkommen, wer in dieser Ehe das Sagen hatte.
Meist waren wir im Iran ohne Reiseleiter unterwegs. Wenn wir Autofahrer nach einer Sehenswürdigkeit fragten, nahmen sie uns fast immer in ihrem eigenen Wagen mit. Häufig bezahlten sie uns trotz heftigen Protests auch noch den manchmal nicht ganz billigen Eintritt.
Richtigen Ärger bekam ich bei meinen beiden Iranbesuchen nur einmal. Als ich trotz eines Schildes »Fotografieren verboten« ein Foto des iranischen Parlamentsgebäudes machte, wurde ich von Polizisten auf die Wache beordert und aufgefordert, das Bild in meiner Kamera zu löschen. Alle Versuche, die Polizeibeamten von der unendlichen Torheit dieser Forderung zu überzeugen, scheiterten.
Als ich ihnen jedoch zeigte, dass sich auf meiner Digitalkamera auch Fotos des Eröffnungsspiels der Fußballweltmeisterschaft, Deutschland – Costa Rica, befanden – das ich eine Woche zuvor besucht hatte –, entspannten sich die Mienen der Ordnungshüter. Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion darüber, wer die größten Chancen hätte, Fußballweltmeister zu werden. Meine Fotos vom iranischen Parlament durfte ich schließlich behalten.
Kurz vor unserem Rückflug nach Deutschland sahen wir im Gewühl der Abflughalle des Teheraner Flughafens eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, das als Kopfbedeckung eine kleine amerikanische Flagge trug. Ich rieb mir die Augen: Mitten im »Reich des Bösen«, dem der amerikanische Präsident – ohne Rücksicht auf die jeweiligen Analysen der amerikanischen Geheimdienste – in regelmäßigen Abständen mit der Option eines präventiven Militärschlags drohte, schmückte eine junge Iranerin den Kopf ihres etwa zweijährigen Kindes mit den »Stars and Stripes« der amerikanischen Flagge?
Verblüfft fragte ich die Frau, ob sie keine Angst vor den iranischen Sicherheitsdiensten oder den Revolutionsgarden habe. Lächelnd schüttelte sie den Kopf: Kopftücher seien doch nur in Europa verboten. Ich fasste nach und wollte wissen, was sie von der amerikanischen Politik gegenüber dem Iran halte. Wieder lachte die junge Frau fröhlich. Amerika sei ein großartiges Land. Der Konflikt zwischen dem Iran und den USA sei ein Streit der Politiker, und Politik interessiere sie nicht.
Sie ließ mich ein paar Fotos machen und entschwand freundlich grüßend mit ihrem Stars-and-Stripes-Baby in der Menge. Außer uns interessierte sich niemand für die Kopfbedeckung ihres Kindes.
Dreimal habe ich Israel besucht, eines der schönsten und spannendsten Länder, die ich kenne. Ich war in Tel Aviv und Jerusalem und verbrachte erschüttert Stunden in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Garten Gethsemane, den der spanische Franziskanermönch Rafael nachmittags immer für mich aufschloss, las ich im Schatten uralter Olivenbäume das Alte Testament zu Ende und schrieb Teile dieses Buches.
Auf dem Ölberg befindet sich auch der jüdische Friedhof. Direkt daneben steht in einem herrlichen Olivenhain die kleine Kirche »Dominus flevit«. Hier soll Jesus über den nahenden Untergang Jerusalems geweint haben. Auch in diesem Olivengarten habe ich manche Stunde verbracht. Wenn ich zu den am Fuße des Ölbergs liegenden uralten Gräbern hinunterschaute, musste ich immer an die melancholischen Worte Salomos im Alten Testament denken:
»Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich so anstrengt unter der Sonne?« (Buch Kohelet, 1,2 – 3). Wieder und wieder habe ich unter meinem Olivenbaum diese Sätze gelesen und daran gedacht, wie wenig ich mich in meinem Leben daran gehalten habe.
An Jerusalem habe ich mein Herz verloren – diese traumhafte Metropole des Judentums, des Christentums und des Islam. Ich werde immer wieder in diese magische Stadt zurückkehren. Sie überragt alle Städte, die ich in meinem Leben gesehen habe.
Ich war auch in den Palästinensergebieten – in Bethlehem, Nablus sowie zweimal in Hebron am Grab Abrahams. Nur nach Gaza habe ich es nicht geschafft. Sehr freundliche, aber resolute junge israelische Soldaten hielten mir ihre Maschinenpistole vors Gesicht und erklärten, in Gaza hätte ich nichts zu suchen. Und ich hatte gedacht, Gaza gehöre den Palästinensern!
Auch in Israel und in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten habe ich großartige Menschen kennengelernt – liebenswerte, geistreiche Israelis und liebenswürdige, hilfsbereite Palästinenser. Mit beiden habe ich wunderbare Abende verbracht. Das Israel-Palästina-Problem ist weniger ein Problem der Bevölkerung beider Seiten als vielmehr ein Problem ihrer Politiker und Funktionäre. Immer wenn eine Lösung in greifbare Nähe rückt, torpedieren Extremisten beider Seiten sie wieder. Auf diesen dumpfen Mechanismus kann man sich fast blind verlassen.
In meinem früheren Beruf als Entwicklungspolitiker und Rüstungskontrollexperte musste ich viel reisen. Auch nach meiner Zeit als Politiker habe ich fast jeden Urlaub und fast jedes lange Wochenende für Fernreisen genutzt. Ich fand es immer interessanter, fremde Länder zu erkunden, als mich an irgendeinem übervölkerten Strand in der Sonne braten zu lassen. Auf diesen Reisen habe ich viel gelernt. Immer wieder musste ich meine Vorurteile korrigieren, obwohl ich mir eingebildet hatte, Vorurteile hätten nur andere.
Genauso faszinierend wie all diese Reisen war allerdings meine »Reise« durch die über 1800 klein gedruckten Seiten der Bibel und die 520 Seiten des Koran. Das mag überraschend klingen. Aber ich habe nie ein dramatischeres, sprachgewaltigeres Buch gelesen als das Alte Testament, nie ein stärker von Liebe durchdrungenes Buch als das Neue Testament und nie ein mehr vom Geist der Gerechtigkeit geprägtes Buch als den Koran, dessen vielgerühmte poetische Brillanz selbst durch holprige Übersetzungen des arabischen Urtextes noch durchschimmert.
Ich kann die Lektüre dieser drei Meisterwerke der Weltliteratur nur jedem ans Herz legen – vor allem jenen Politikern, die ständig über sie reden, obwohl sie sie wahrscheinlich nie gelesen haben. Wer diese packenden, sprachmächtigen Bücher liest, wird verstehen, warum sie die Welt so stark beeinflusst haben und dies immer noch tun.
Ich liebe die arabische Welt, aber ich reise auch gern in andere Länder. Mehrfach war ich in Lateinamerika, in Kuba und Chile. Ich hielt mich während der Freiheitskriege in Mosambik und Angola auf und habe mehrere Male Asien bereist, zuletzt Laos, Kambodscha und Vietnam.
Am häufigsten war ich in den USA. Dort habe ich besonders viele Freunde. Ich war mehrfach im Pentagon, im Capitol und auch im Weißen Haus. Viele führende, teilweise heute noch aktive Politiker der USA habe ich persönlich kennengelernt. Zwei meiner Kinder haben in den Vereinigten Staaten studiert. Ich bedaure, dass ich nie die Möglichkeit hatte, selbst dort zu studieren. Die USA waren und sind ein großartiges Land – ein Land, das ich trotz allem noch immer sehr liebe.
Einige meiner Reisen waren sehr beschwerlich. Bei meinem ersten Fußmarsch über den Hindukusch und durch die karstigen Wüsten Afghanistans habe ich sieben Kilo abgenommen. Der Marsch hatte überhaupt nichts Heldenhaftes. Ich war am ganzen Körper von Flöhen und Moskitos zerstochen und sah schrecklich aus. »Heldenhaft« werden derartige Reisen immer erst hinterher, wenn man am Kamin über sie berichtet.
Häufig bin ich gefragt worden, warum ich immer wieder derart mühsame Reisen unternehme. Ich weiß das selbst nicht so genau. Einer der Gründe liegt vielleicht darin, dass ich schon immer einen fast detektivischen Drang hatte, die Wahrheit zu erfahren – die Wahrheit hinter all den wohlklingenden Verlautbarungen und Kommuniqués der Mächtigen und ihrer PR-Maschinen. Die Wahrheit aber kann man nur vor Ort erfahren und nicht im Fernsehsessel.
In den Bombennächten des Jahres 1945, die ich als vierjähriger Bub in der Burgallee am Stadtrand von Hanau erlebte, bin ich zur Verzweiflung meiner Mutter immer wieder ausgebüxt. Ich wollte die Lage vor Ort erkunden und Granat- und Bombensplitter sammeln. Sie mussten möglichst noch warm sein. Obwohl ich nach meinen nächtlichen Recherchen immer den Hintern versohlt bekam, war ich sehr stolz auf meinen Karton selbst gesammelter Granat- und Bombensplitter.
Seit meiner Kindheit hatte ich außerdem nicht sehr viel Respekt vor der Macht und den Mächtigen. Mein Vater erzählte mir vor einigen Jahren, 1946 hätten aufgeregte Nachbarn die Familie aus unserem Haus in Hanau geklingelt. Auf der Burgallee geschehe etwas Schreckliches. Angstvoll rannten meine Eltern durch unseren kleinen Garten auf die Straße.
Dort sahen sie eine lange Kolonne ratternder, dröhnender Panzer stadtauswärts fahren. Direkt vor unserem Haus bogen die Panzer Staub aufwirbelnd scharf nach rechts auf den unbefestigten Gehweg ab. Erst nach etwa zehn Metern fuhren sie wieder auf die Straße. Irgendein unüberwindbares Hindernis musste auf der Straße liegen, das sie zu diesem ungewöhnlichen Ausweichmanöver zwang.
Plötzlich sahen meine Eltern, dass ich das unüberwindbare Hindernis war. Da die Panzerkolonne meine Freunde und mich am Spielen gehindert hatte, war ich auf die Idee gekommen, mich einfach quer auf die Straße zu legen. Auf dem Rücken liegend, sah ich zufrieden zu, wie die mächtigen Kriegsmaschinen quietschend auf den Gehweg ausweichen mussten.
Kreidebleich zerrten meine Eltern mich von der Straße ins Haus. Dort musste ich ihnen hoch und heilig versprechen, mich nie wieder vor fahrende Panzer zu legen. Den Hintern bekam ich diesmal nicht versohlt. Dazu war meinen Eltern der Schrecken zu sehr in die Glieder gefahren.
Dieser mangelnde Respekt vor der Macht, mein kindlicher Glaube an Gerechtigkeit und mein wahrscheinlich genauso naives Bedürfnis, immer die Wahrheit zu erfahren – notfalls auch in Krisengebieten –, haben mich mein ganzes Leben lang begleitet. Noch immer glaube ich, dass man nur seinem Gewissen bedingungslos folgen muss und nicht den jeweils Mächtigen. Und dass man zu jeder Zeit für Gerechtigkeit und Menschlichkeit eintreten muss, auch wenn das gerade mal nicht dem Zeitgeist entspricht.
Einige Politiker unserer Zeit scheinen den Drang, die Wahrheit zu erfahren, nur begrenzt zu spüren – vom Drang nach Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Sie wissen nur wenig von den Realitäten der Länder, über die sie Beschlüsse fassen, gegen die sie Krieg führen oder demnächst Krieg führen wollen. Manchmal scheint mit zunehmender Macht die Unwissenheit exponentiell zu wachsen.
Wie oft habe ich mir bei der Lektüre von Reden europäischer und amerikanischer Spitzenpolitiker über die muslimische Welt an den Kopf gefasst und gedacht, es kann einfach nicht wahr sein, dass Männer und Frauen in derart hohen Positionen solchen Schwachsinn über andere Länder verbreiten.
Für vieles, was ich von deutschen, englischen oder amerikanischen Politikern zu Afghanistan, dem Iran, Syrien, dem Irak, aber auch zu Israel und Palästina hören und lesen musste, habe ich mich geschämt – vor allem, wenn ich gerade aus diesen Ländern zurückkam. Ich habe häufig an die Worte von Papst Julius III. und dem schwedischen Kanzler Oxenstierna denken müssen, die beide fast wörtlich übereinstimmend sagten: »Ihr würdet euch wundern, wenn ihr wüsstet, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.«2
Hinzu kommt die kaum noch zu überbietende Hemmungslosigkeit, mit der die staatlichen PR-Maschinen einiger westlicher Länder immer kurz vor militärischen Interventionen Gräuelmärchen über den jeweiligen Gegner verbreiten, um anschließend mit Zustimmung der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit zuschlagen zu können. Nicht nur in »Schurkenstaaten«3, auch in den freiheitlichen Staaten des Westens wird schlimm gelogen. Wahrheit ist eines der seltensten Güter der Politik. Die Irreführung der Weltöffentlichkeit vor dem Irakkrieg und der Versuch, das Ganze im Irankonflikt zu wiederholen, sind nur zwei Beispiele von vielen. Das Traurige ist, dass die Öffentlichkeit auf die pinocchialen Manipulationen der Kriegstreiber immer wieder hereinfällt.
Die muslimische Welt ist über uns meist erheblich besser informiert als wir über sie. Selbst in der ärmsten Hütte des Irak oder des Iran steht heute ein Fernseher. Stundenlang schauen sich die Menschen nicht nur Sportberichte oder Seifenopern an, sondern auch Nachrichtensendungen, die häufig auf westliches Material zurückgreifen.
Der Siegeszug des Internet hat das Wissen vieler Muslime über den Westen weiter vertieft. Staunend musste ich auf meinen Reisen mehrfach feststellen, wie präzise Muslime vor allem der Mittelschicht die westliche Außenpolitik kennen und wie sie immer wieder den Kopf schütteln über die Torheiten, die im Westen über ihre Länder verbreitet werden. Auch auf meiner letzten Irakreise bin ich oft verblüffend gut informierten Menschen begegnet.
Diese letzte Reise in den Irak war neben meinen Afghanistanreisen vielleicht die schwierigste. Bei ihrer Vorbereitung waren mir vor allem ein ehemaliger irakischer Botschafter und ein früherer UN-Koordinator für den Irak behilflich. Sie stellten den Kontakt zu Al-Muqawama, zum irakischen Widerstand, her.
Ich habe meine Gesprächspartner gebeten, mich mit Vertretern möglichst vieler Widerstandsgruppen zusammenzubringen. Dadurch wollte ich, so gut es ging, einen repräsentativen Überblick über den Widerstand bekommen. b Die letzten Details der Reise regelten wir an Pfingsten 2007 in Kairo, Amman und Damaskus.
Ich wollte auf dieser Reise herausfinden, was im Irak unserer Tage wirklich vor sich geht. Ich wollte erfahren, ob aus den friedlichen und liebenswerten Irakern, die ich auf meinen früheren Reisen kennengelernt hatte, wirklich ein Volk blutrünstiger und fanatischer Terroristen geworden war. Und ich wollte wissen, ob der Westen im Zweistromland wirklich so bedingungslos für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kämpft, wie einige seiner Führer behaupten.
Bewusst habe ich daher keines der »Potemkin’schen Dörfer« besucht, die das Pentagon in allen Teilen des Irak errichtet, um Journalisten unter dem Schutz schwer bewaffneter Humvees Trugbilder des Friedens und der Stabilität vorzugaukeln. Ich kannte diese Strategie zur Genüge aus Algerien und aus Mosambik. Sie ist die Standard-PR-Strategie aller Besatzer dieser Welt.
Auf meiner Reise habe ich viel gelernt. Mein Zorn auf Angriffskriege und diejenigen, die sie beschließen, aber auch auf Terroristen, die Unschuldige morden, ist weiter gewachsen. Gestiegen ist auch mein Zorn auf die staatlichen Propagandamaschinen der jetzigen US-Administration. Sie vermitteln uns ein Bild des Irak, das mit den Realitäten dieses Landes nicht viel zu tun hat. Die Medien haben gegen diese Propaganda kaum eine Chance.
Da die meisten ausländischen Journalisten das Landesinnere de facto nur in Begleitung der amerikanischen Streitkräfte, d.h. als »embedded journalists«, besichtigen können, bekommen sie in der Regel nur das zu sehen, was sie nach Auffassung der PR-Abteilungen des Pentagon sehen sollen. Und das ist selten die Wahrheit.
Mein Buch ist der Versuch, die andere Seite der Medaille zu beleuchten. Es berichtet, wie irakische Menschen über den Krieg sprechen, wenn keine schwer bewaffneten GIs in ihrer Nähe stehen. Wenn weder Hubschrauber noch Humvees vorher stundenlang das Gelände für Politiker- und Pressekonvois »gesäubert« und gesichert haben. Mein Buch will zeigen, wie es im Irak hinter den Kulissen aussieht. Es zeigt den Krieg nicht aus der Sicht der Besatzer, sondern aus der Sicht der Besetzten. Mir ist klar, dass ich damit gegen mehrere Jahre westlicher TV-Berichterstattung anschreibe, die die Welt nur selten aus der Sicht eines Muslims betrachtet.
Mein Buch gibt jenen eine Stimme, zu denen die Presseoffiziere des Pentagon ihre Besucherdelegationen niemals hinführen – den Mitgliedern des irakischen Widerstands. Es versucht zu erklären, warum dieser Widerstand nicht nur gegen die amerikanische Besatzung, sondern auch gegen die Terroristen von Al-Qaida und gegen die von ausländischen Mächten unterstützten Privatmilizen irakischer Politiker kämpft. Und es will deutlich machen, wo die fundamentalen Unterschiede zwischen Widerstandskämpfern und Terroristen liegen.
Namen und Adressen meiner Gesprächspartner habe ich geändert, um sicherzustellen, dass sie für niemanden identifizierbar sind. Ich sage das ausdrücklich. Ich muss verhindern, dass den Menschen, die sich mir anvertraut haben, wegen dieses Buches etwas zustößt. Sie sind mit ihrer Offenheit ohnehin ein großes Risiko eingegangen.
Manche werden meine Treffen mit dem irakischen Widerstand kritisieren. Mit dieser Kritik kann ich leben. Ich kenne sie von meinen Reisen in das von Frankreich besetzte Algerien und in das von der Sowjetunion besetzte Afghanistan. Ich bin kein »Anti-Amerikaner«, so wie ich nie »Anti-Franzose« oder »Anti-Russe« war.
Andere Kritiker werden einwenden, dass ich von den irakischen Widerstandskämpfern genauso an der Nase herumgeführt worden sein könnte wie manche »embedded journalists« von den sie begleitenden Presseoffizieren.
Meine Erkenntnisse über die Lage im Irak beruhen allerdings nicht nur auf meinen fünf Tagen in Ramadi im August 2007. Schon an Pfingsten 2007 hatte ich mich in Jordanien, Syrien und Kairo mit zahlreichen Exil-Irakern getroffen – Widerstandskämpfern, Saddam-Opfern, irakischen Sozialisten, Nationalisten, Baathisten, Islamisten, Christen, Frauenrechtlerinnen und vielen mehr. Immer wieder hatte ich ihnen die gleichen Fragen gestellt: Wie stark ist der Widerstand? Wie steht er zu Gewalt gegen Zivilisten? Wie stark ist Al-Qaida? Woher kommen seine Kämpfer? Töten sie bewusst Zivilisten? Wie ist das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten? Wie verhalten sich die US-Streitkräfte gegenüber der Bevölkerung? Wie ist die tatsächliche militärische Lage? Wie geht es den Menschen im Irak? Dieselben Fragen habe ich dann auch im August in Ramadi all meinen Gesprächspartnern gestellt.
Nach meiner Rückkehr aus Ramadi habe ich eine weitere Woche in Jordanien und Syrien verbracht, um in Gesprächen mit Exil-Irakern meine Erkenntnisse zu überprüfen. Danach habe ich in Marokko in acht Tagen einen ersten Entwurf des Hauptteils des Buches niedergeschrieben.
Nach Deutschland zurückgekehrt, habe ich unzählige Berichte von »embedded journalists« über Ramadi gelesen. Ihre euphorische, den Pentagon-Darstellungen oft sehr ähnelnde Berichterstattung stand teilweise in krassem Widerspruch zu meinen persönlichen Erfahrungen.
In vielen Telefonaten mit Kairo, Amman und Damaskus habe ich versucht, diese Widersprüche zu verstehen und aufzuklären.
Aber auch das hat mir nicht gereicht. Anfang Oktober 2007 habe ich einen Freund nach Jordanien und Syrien geschickt, um in Einzelgesprächen erneut alle Fakten – Namen, Entfernungen, Zahlen – minutiös zu überprüfen und verbliebene Widersprüche zur Berichterstattung von »embedded journalists« aufzulösen.
In den Herbstferien Ende Oktober 2007 bin ich schließlich selbst noch einmal für eine Woche mit der Rohfassung meines Buches unterm Arm in die Region gefahren, um erneut in Gesprächen mit rund fünfzig Exil-Irakern alle fragwürdigen Punkte durchzusprechen – und natürlich um noch einmal den »Hakkawati« von Damaskus zu hören.
Auch die Kernelemente der Geschichte Zaids habe ich mir sowohl in Ramadi als auch in Damaskus und Amman von mehreren Freunden und Verwandten Zaids erzählen lassen. Einen Teil seiner Aussagen über bestimmte militärische Aktionen konnte ich in Deutschland auf amerikanischen Internetseiten überprüfen. Zaids Angaben stimmten minutiös mit den amerikanischen überein.
Nach meiner fünften Erkundungs-und Überprüfungstour bin ich mir nun sicher, der Wahrheit über den Irak – und über Zaid – sehr nahe gekommen zu sein. Näher jedenfalls als Politiker, die sich für zwei Stunden in militärisch geräumte und gesicherte Besucherzonen einfliegen lassen. Habe ich alle Wahrheiten erfahren? Ich weiß es nicht. Aber ich habe alles versucht, was in meiner Macht stand.
Mir geht es in meinem Buch auch nicht nur um den Irak. Der Irakkrieg ist lediglich ein Kapitel der seit Jahrhunderten nicht endenden Aggressionspolitik Europas und der USA gegenüber der muslimischen Welt. Ich werde auf diese unendliche Geschichte in meinem Nachwort näher eingehen.
Um das Bildmaterial für dieses Buch zu finden, musste ich mühsame Recherchen unternehmen. Ich habe ganze Wochenenden an meinem Computer gesessen und die Archive der großen Fotoagenturen durchsucht. Vor allem bei den Bildern zum Thema Kolonialismus kam ich nicht weiter. Der Westen hat einen Mantel des Schweigens über dieses dunkle Kapitel seiner Außenpolitik gelegt.
Ich musste daher an Ostern 2007 noch einmal nach Algerien fliegen, um in den Kellergewölben von Museen in staubigen alten Zeitschriften und Büchern zu stöbern. Ich habe schreckliche Bilder kolonialistischen Terrors gefunden. Aber ich wurde auch mit dem Terrorismus unserer Tage konfrontiert: In der Woche meines Aufenthalts verübte Al-Qaida in Algier, nur wenige hundert Meter von meinem Hotel entfernt, einen brutalen Selbstmordanschlag, bei dem nach offiziellen Angaben 24 Menschen getötet und 222 teils schwer verletzt wurden.4
Einige Passagen dieses Buches habe ich in Ramadi, andere in Jerusalem und New York geschrieben. Ich wollte beim Schreiben den Genius Loci auf mich wirken lassen. Zusammengefasst und weitgehend abgeschlossen habe ich den ersten Entwurf in Skoura, einer kleinen Oase im Süden Marokkos. Nirgendwo ist man der Wahrheit und Gott so nah wie in der Wüste.
Außerdem habe ich an vielen Wochenenden in München – nach meiner samstäglichen Lieblingsbeschäftigung, dem Fußballspielen im Englischen Garten – überprüft, ob ich das, was ich im Irak, in Jerusalem, in New York und in Skoura geschrieben hatte, westlichen Lesern zumuten kann. Ich habe beschlossen, es zu versuchen.
Mit dem Honorar dieses Buches möchte ich schwer verletzten irakischen Flüchtlingskindern helfen. Und ich werde ein Projekt finanzieren, das durch gemeinsame Ausbildung von 15-jährigen Juden, Muslimen und Christen an Computern der Versöhnung von Israelis und Palästinensern dient. Diese Versöhnung ist der Schlüssel zur Aussöhnung von Juden, Muslimen und Christen weltweit. Ich glaube ganz fest, dass sie kommen wird. So fest, wie ich als einer der wenigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag in den siebziger und achtziger Jahren immer an die deutsche Wiedervereinigung geglaubt habe, obwohl das damals auch nicht dem Zeitgeist entsprach. Die Aussöhnung zwischen der muslimischen und der nichtmuslimischen Welt wird kommen, weil sie kommen muss. Mit diesem Buch möchte ich einen kleinen Beitrag dazu leisten. Für meine und für Ihre Kinder. Entweder wir überleben gemeinsam, oder wir gehen gemeinsam unter.
»Wa hona ya sadati awdahna alkalam – mit diesen Worten schließe ich meine Erzählung!«, ruft Abu Shadi, schlägt mit seinem Schwert auf den Schemel und reißt mich aus meinen Träumen. Die Geschichte von Antar dem Sklaven ist zu Ende, die Geschichte von Zaid, dem jungen Iraker, beginnt.
Koran 5,32: »Wenn einer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Land angerichtet hat, so ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet. Und wenn er ein Leben rettet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit gerettet. «
Ramadi, August 2007. »Da kann ich ja gleich nach Guantánamo gehen und meine Familie in Abu Ghraib abliefern! Ich werde Ihnen meine Geschichte nicht erzählen.«
Vor mir, in der milden Abendsonne von Ramadi sitzt Zaid, ein einundzwanzigjähriger Kämpfer des irakischen Widerstands. Zaid ist ein hochgewachsener, gut aussehender Junge mit feinem Oberlippenbart und dichten schwarzen Haaren. Seine leuchtend wachen Augen sind ständig in Bewegung.
Seinem jungenhaften Charme würden wahrscheinlich nicht nur viele irakische Mädchen, sondern auch deren Mütter erliegen. Trotzdem hat Zaid wie die meisten irakischen jungen Männer keine Freundin. So etwas ging vielleicht zu Zeiten Saddam Husseins. Seit dessen Sturz jedoch haben sich die gesellschaftlichen Regeln im Irak verschärft. Aus dem einst säkularen Land ist ein Staat geworden, in dem die Menschen aus Angst vor Al-Qaida und den Todesschwadronen radikal-schiitischer Politiker als Erstes wieder altertümliche Sitten und Bräuche eingeführt haben.
Zaids Blick verdüstert sich, als ich ihn bitte, mir aus seinem Leben zu erzählen, vor allem aber von seiner Tätigkeit als Widerstandskämpfer – vielleicht sogar mit Fotos. Abweisend, aber auch ein wenig müde und traurig schaut er mich an. Ich spüre, dass vor seinem geistigen Auge gerade sein ganzes Leben im Schnelldurchlauf Revue passiert.
Zaid fährt sich mit seiner linken Hand über die Augen und schüttelt den Kopf: »Da kann ich mir ja gleich Häftlingskleidung kaufen. Für die USA sind wir alle Terroristen. Die machen keinen Unterschied zwischen Terroristen, die Zivilisten ermorden, und echten Widerstandskämpfern, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Die kennen weder unsere Träume noch unsere Trauer. Wir sind in ihren Augen nichts wert. Wenn sie mich nicht kriegen, werden sie meine ganze Familie umbringen.
Erzählen Sie, dass ich im Widerstand kämpfe und dass ich mehrere Familienmitglieder verloren habe. Aber mit Einzelheiten und Fotos kann ich Ihnen nicht helfen. Oder gehen Sie für mich nach Guantánamo?« Zaid ist aufgestanden. Seine Körpersprache ist ein einziges großes NEIN.
Ich versuche ihm zu erklären, dass auch ich mit meinem Besuch im Irak einiges riskiere. Aber das scheint Zaid nicht zu interessieren. »Wir können gerne tauschen«, meint er abweisend und wendet sich zum Ausgang des kleinen Gartens, in dem wir sitzen.
Vor dem Tor dreht er sich noch einmal um und murmelt: »Ich denke heute Nacht darüber nach. Und Sie sollten darüber nachdenken, wie Sie meiner Familie helfen, wenn ihr aufgrund Ihres Buches etwas zustößt.« Dann entschwindet er in der Abenddämmerung von Ramadi.
In der Nacht vor dieser ersten Begegnung mit Zaid klingelt schon um zwei Uhr der Wecker in meinem Hotelzimmer in Damaskus. Schlaftrunken versuche ich, ihn zum Schweigen zu bringen. Aber ich finde ihn nicht. Inzwischen beginnt auch der zweite Wecker, den ich sicherheitshalber weit weg von meinem Bett aufgestellt habe, schrille Töne von sich zu geben.
Ich kapituliere. Ich weiß, ich muss aufstehen. Um drei Uhr will ich zur irakischen Grenze aufbrechen. Zwei Uhr, eine grauenhafte Uhrzeit für einen bekennenden Langschläfer! Zu Hause würde ich mich wieder genüsslich umdrehen, um dann gegen neun Uhr ins Büro zu fahren.
Aber ich weiß, ich muss noch einmal in den Irak. Nicht mit den amerikanischen Besatzungstruppen als »embedded journalist«. Ich will das Land nicht durch die Brille der Besatzer sehen, und auch nicht aus der Perspektive eines in der »Grünen Zone« von Bagdad verschanzten Reporters. Ich will den Irak aus der Sicht der Opfer, aus der Sicht des Widerstands sehen.
Eine Stunde später – nachdem ich eine große Kanne Kaffee in mich hineingeschüttet habe – sitze ich in einem alten gelben Taxi, dessen wie ich etwas zerknittert aussehender syrischer Fahrer kein Wort Englisch spricht. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass ich zum syrisch-irakischen Grenzübergang Al-Tanf wolle.
Entgeistert dreht er sich um. »Al-Tanf?«, wiederholt er und macht mit der Innenkante seiner Hand eine Bewegung, mit der er zeigen will, dass man mir dort die Gurgel durchschneiden werde. Ich sage: »Yes, Al-Tanf! Yallah!« – was so viel heißt wie »Auf geht’s!«
Kopfschüttelnd gibt der Fahrer Gas. Es ist kurz nach drei. Für die frühe Uhrzeit herrscht erstaunlich viel Verkehr in Damaskus. Erste Straßenhändler beginnen ihre Waren auf den Gehwegen auszubreiten. Metzgereien, die kurz zuvor geschlachtet haben, öffnen bereits ihre Türen. Wir fahren vorbei an einer christlichen Kirche, deren hell erleuchtetes Kreuz das ganze Viertel überstrahlt. Entlang der imposanten, über zweitausend Jahre alten Stadtmauer von Damaskus geht es Richtung Südosten.
Ich öffne mein Handy und nehme die SIM-Karte heraus. Sicher ist sicher! Über nichts ist man heute leichter zu orten als über ein Handy. Während meines Irakaufenthalts muss niemand wissen, wo genau ich mich befinde.
Nach zehn Kilometern erreichen wir die Sayyida-Zainab-Moschee. Neben ihren prächtigen, olivgrün gekachelten Minaretten müssen wir in einem hässlichen, verlotterten Gebäude eine Reisegenehmigung für die Fahrt zur irakischen Grenze beantragen. Die Syrer tun alles, um Reisen in den Irak zu erschweren. Die Vorwürfe der US-Administration, Syrien unterstütze den irakischen Widerstand, zeigen Wirkung.
Wir müssen die syrischen Staatsdiener, die vor dem Gebäude in dunkle Decken gewickelt auf Holzliegen schlafen, erst aus ihren Träumen reißen, ehe sie uns murrend und knurrend die Genehmigung ausstellen. Als sie in meinem Pass sehen, dass ich Deutscher bin, schütteln sie ungläubig den Kopf. Etwas Unverständliches murmelnd, geben sie mir den Pass zurück und legen sich wieder schlafen. Von der Moschee erschallen die ersten Rufe des Muezzins zum Morgengebet.
Gegen sieben Uhr erreichen wir Al-Schahmma, einen armseligen Ort, siebzig Kilometer von der Grenze entfernt. Hier will ich mich mit Abu Saeed, einem Händler aus Ramadi, treffen, der mich über die Grenze bringen soll. Den Kontakt zu ihm hatten mir meine irakischen Gesprächspartner an Pfingsten in Jordanien vermittelt.
Abu Saeed erwartet mich am Ortseingang in einem dunkelblauen Chevrolet-Geländewagen mit schwarz getönten Scheiben. Bei ihm sind seine Frau Aisha, seine dreizehnjährige Tochter Shala, sein vierjähriger Sohn Ali und sein Fahrer Musa. Sie haben am Vorabend, aus dem Irak kommend, die Grenze kurz vor deren Schließung um 22 Uhr überquert und gemeinsam im Auto übernachtet.
Abu Saeed, der fließend Englisch spricht, und ich verstehen uns vom ersten Augenblick an. Abu Saeed ist vierzig Jahre alt und sieht mit seiner irakischen Kopfbedeckung aus wie Peter O’Toole in »Lawrence von Arabien«. Seine ebenfalls vierzigjährige Frau Aisha hat sanfte, fast europäische Gesichtszüge. Sie ist eine schöne Frau. Irgendwie hat sie es heute Morgen geschafft, sich im Geländewagen dezent zu schminken. Ich sage ihr, sie sehe aus wie die große amerikanische Schauspielerin Rita Hayworth. Sie bedankt sich lächelnd, obwohl sie sicher nicht weiß, wer das ist.
Abu Saeed, der Geschichte studiert hat und eigentlich Diplomat werden wollte, besitzt in Al-Dschasira, einem dörflichen Stadtteil von Ramadi, eine kleine Handelsfirma, die im Dreiländereck Irak-Syrien-Jordanien Baumaterialien und Getränke vertreibt. Seine Geschäfte laufen nicht gut, erzählt er mir, aber seine Familie komme mit dem Geld, das er verdiene, einigermaßen zurecht. »Wir leben«, sagt er, »das ist das Wichtigste – Alhamdulillah – Gott sei Dank!«
Abu Saeed hat noch vier weitere Kinder, aber die hat er in Ramadi zurückgelassen. Seine Frau, Shala und Ali hat er nur zu meinem Schutz mitgenommen. Sie sollen unserer kleinen Reisegruppe etwas Familiäres geben und bei Kontrollen von mir ablenken. Ich habe zwar eine bis zu den Knöcheln reichende weiße irakische Dishdasha an und trage einen schmalen Oberlippenbart, aber trotzdem sehe ich noch immer ziemlich europäisch aus. Wir fahren los, es ist 7.15 Uhr.
Unser dreißigjähriger Fahrer Musa, ein stiller Iraker mit Bürstenhaarschnitt, fährt fast immer Vollgas. Abu Saeed sitzt neben ihm, den kleinen Ali auf dem Schoß. Seine Frau Aisha und seine Tochter Shala haben es sich im Fond des Wagens bequem gemacht. Um nicht einzuschlafen, schiebt Musa ständig neue Kassetten mit Koranrezitationen und feurigen Predigten in das Kassettenradio. Das hält nicht nur ihn, sondern auch mich hellwach. Da ich kein Wort Arabisch verstehe, ist meine Begeisterung jedoch begrenzt. Abu Saeed ist samt Familie sofort eingeschlafen. Sie hatten schließlich eine beschwerliche Nacht.
Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt durch die syrische Wüste nähern wir uns Al-Tanf. Der Grenzposten ist in Wirklichkeit eine fünf Kilometer lange Festungsanlage, die an den früheren Zonenübergang Helmstedt zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland erinnert, an die Berliner Mauer, an Hochsicherheitstrakte von Gefängnissen – gespenstisch, beängstigend und bedrückend. Nirgendwo im früheren Irak Saddam Husseins habe ich derart geisterhaft anmutende Mauern und Absperrungen gesehen.
Zwei Stunden lang fahren und laufen wir von Kontrollposten zu Kontrollposten. Musa verteilt ständig Schmiergeld – mal heimlich unter der Motorhaube, mal offen aus dem Fenster. Meist fünfzig syrische Lira, das entspricht ungefähr einem Dollar.
Manche der syrischen Grenzbeamten geben sogar Wechselgeld zurück, falls man die passenden Scheine nicht bereit hat. Einer der Grenzbeamten zählt ganz offen und zufrieden sein dickes Bündel an Bestechungsgeldern, bevor er uns auf einen großen Lira-Schein herausgibt. Al-Tanf ist bekannt für seine geldgierigen Grenzbeamten.
Trotz reichlich Bakschisch wird hart kontrolliert. Abu Saeed stellt mich als deutschen Arzt vor, der sich in Ramadi um verwundete Kinder kümmern wolle. Aber niemand glaubt ihm, dass ich als Deutscher freiwillig und ohne den Schutz der amerikanischen Armee nach Ramadi will.
Wir werden deshalb zu einem Beamten gebracht, der für Sonderfälle zuständig ist. Er teilt uns mit ernster Miene mit, dass ich trotz meines syrischen und irakischen Visums
1. Auflage Taschenbuchausgabe September 2009 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2008 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Bildredaktion: Dietlinde Orendi GJ · Herstellung: Str.
eISBN 978-3-641-06181-4
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Leseprobe
Die Sowjetarmee hatte im Februar 1989 Afghanistan verlassen. Die von ihr weiter politisch und militärisch unterstützte kommunistische Regierung Afghanistans hielt sich noch bis 1992, nicht zuletzt, weil der Westen seine Unterstützung für die afghanischen Freiheitskämpfer fast gänzlich einstellte.
Koelbl, Susanne; Ihlau, Olaf: Geliebtes, dunkles Land. München 2007, S. 24: »Die Amerikaner, so scheint es, haben aus den Lehren der afghanischen Geschichte und dem Scheitern der Sowjets wenig gelernt. Jetzt nämlich stecken sie selber in der Hindukusch-Falle, und mit ihnen die multinationale Schutztruppe ihrer Verbündeten. ›Wenn Gott eine Nation bestrafen will‹, besagt eine Spruchweisheit in Asien, ›dann lässt er sie in Afghanistan einfallen.‹«
Hier sei verwiesen auf den kürzlich erschienenen beeindruckenden Dokumentarfilm »Meeting Resistance«. Die Autoren Molly Bingham und Steve Connors, zwei Fotojournalisten, haben ihre Interviews 2003 und 2004 in Adhamija durchgeführt, einem damals vergleichbar ruhigen, zentralen Stadtteil von Bagdad. Sie schildern die irrtümlichen Vorstellungen der meisten Amerikaner über den irakischen Widerstand mit folgenden Worten (eigene Übersetzung): »›Der erste [Fehler ist, dass] die meiste Gewalt sich gegen Zivilisten richtet, [dass] sie am Rande eines gigantischen Bürgerkriegs stehen und sich Sunniten und Schiiten gegenseitig hassen […]. Der nächste ist, dass die Leute, die gegen uns kämpfen, irgendwie radikale Splittergruppen sind, die isoliert und ausgelöscht werden können.‹ […] Der Aufstand geht überwiegend von ganz gewöhnlichen Irakern aus.«
Vgl. dazu Wilson, Emily: Iraq’s Insurgents Are Ordinary People. In: AlterNet, 13. Januar 2008, www.alternet.org/story/72984
Dazu auch: Jamail, Dahr: The Myth of Sectarian Violence in Iraq. In: International Socialist Review, 57, Januar/Februar 2008, www.is-review.org/issues/57/rep-sectarianism.shtml (eigene Übersetzung): »Bald nach der Ankunft im Irak im November 2003 lernte ich, dass es als unhöflich und schamlos galt, jemanden nach seiner Religionszugehörigkeit zu fragen. Wenn ich in Unkenntnis oder unter Zwang diese Frage stellte, war die häufigste Antwort, die ich erhalten habe: ›Ich bin Muslim, und ich bin Iraker.‹ Gelegentlich gab es beredtere Antworten wie diejenige, die mir eine alte Frau gab: ›Meine Mutter ist Schiitin und mein Vater Sunnit – können Sie mir nun sagen, welche Hälfte von mir was ist?‹ Das begleitende Lächeln sagte alles. Große gemischte Stadtviertel waren die Regel in Bagdad. Sunniten und Schiiten beteten wechselseitig in ihren Moscheen. Säkulare Iraker bilden lebenslange Verbände mit anderen, ohne sich offensichtlich um die Religionszugehörigkeit zu scheren.«