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Die Außenpolitik des Westens beruht auf einer zentralen Lüge: Seine weltweiten blutigen Militärinterventionen dienen nicht den Menschenrechten, sondern kurzsichtigen ökonomischen und geostrategischen Interessen. Jürgen Todenhöfer belegt dies mit erschütternden Beispiele und fordert: Der Westen muss die Menschenrechte endlich vorleben, anstatt sie nur vorzuheucheln. Unter dem Vorwand edler Ziele verfolgt der Westen mit seinen Militärinterventionen seit Jahrhunderten eine gewaltsame Interessenpolitik ‒ längst nicht nur in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen oder im Jemen. Diese Politik der großen Heuchelei, die heute von mächtigen Medien mitgetragen wird, zerstört nicht nur andere Völker und Zivilisationen, sondern auch die Legitimität und Glaubwürdigkeit des Westens. Und sie gefährdet ihn selbst, denn ein Weitermachen wie bisher bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur die Menschen weltweit, sondern auch in Europa wieder und wieder die Katastrophen ihrer Geschichte durchleben müssen. Jürgen Todenhöfer belegt seine Thesen mit packenden Beispielen, zusammen mit seinem Sohn recherchiert in den gefährlichsten Krisengebieten der Welt. Er fordert: Der Westen muss endlich die Interessen anderer Völker mitberücksichtigen, anstatt sie mit Füßen zu treten. Nur wenn er die humanistischen Werte, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, vorlebt und weltweit fair agiert, hat er eine Zukunft.
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Das Buch
Es ist eine systematische Heuchelei: Unter dem Vorwand edler Ziele verfolgt der Westen seit Jahrhunderten eine brutale Interessenpolitik. Weltweit, nicht nur in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Palästina oder im Jemen. Diese Politik der großen Heuchelei, mitgetragen von mächtigen Medien, zerstört andere Völker und Kulturen, aber auch die Legitimität und Glaubwürdigkeit des Westens und seiner Demokratien. Ein Weitermachen wie bisher bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur die Menschen anderer Zivilisationen, sondern auch die Menschen Europas die Katastrophen ihrer Geschichte wieder und wieder durchleben werden. Jürgen Todenhöfer belegt seine Thesen mit packenden Reportagen aus den gefährlichsten Krisengebieten der Welt, recherchiert zusammen mit seinem Sohn Frederic, dem Co-Autor dieses Buches. Er fordert: Der Westen muss endlich seine jahrhundertealten zivilisatorischen Versprechen einlösen. Er muss andere Völker und Kulturen so behandeln, wie er selbst behandelt werden will. Er muss seine kulturelle Apartheidpolitik beenden. Nur dann hat er eine Zukunft.
Der Autor
Jürgen Todenhöfer wurde 1940 in Offenburg geboren. Von 1972 bis 1990 war er CDU-Bundestagsabgeordneter, von 1987 bis 2008 Stellvertretender Vorsitzender eines großen internationalen Medienkonzerns. Er zählt zu den kenntnisreichsten Kritikern der Militärinterventionen im Mittleren Osten. Seit über fünfzig Jahren bereist er dessen Krisengebiete. Er versucht stets, mit allen Seiten zu sprechen: mit Rebellen, Terroristen, Präsidenten und Diktatoren. Vor allem aber mit der leidenden Bevölkerung. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und wurden weltweit übersetzt.
Jürgen Todenhöfer
DIE GROSSE HEUCHELEI
Wie Politik und Medien unsere Werte verraten
Unter Mitarbeit von Frederic Todenhöfer
Propyläen
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Abbildungen im Bildteil: Marie Alice Brandner (Bild 18), Ali Noureldin (Bild 20-23, 28, 29), Nina Priester (Bild 30, 31), Frederic Todenhöfer (alle anderen).
ISBN 978-3-8437-2026-7
3., bearbeitete Auflage 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlagabbildungen: Petra Stadler (Autor), Marie Alice Brandner (Mädchen in Trümmern) und Frederic Todenhöfer
Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
Satz und Reproduktion: LVD GmbH, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
1. KAPITELRÜCKKEHR NACH MOSSUL
Mossul, März 2017. Ein kühler, sonniger Tag. Zwei Jahre nach unserer Reise in den »Islamischen Staat« sind wir erneut in Mossul. Hier toben schwere Kämpfe. In einem Humvee der »Golden Division«, der Elite-Antiterror-Einheit der irakischen Armee, fahren wir Richtung Front. Wir, das sind zwei stämmige irakische Soldaten, eine ortskundige kurdische »Fixerin«, mein 33-jähriger Sohn Frederic und ich. Ohne »Fixer« mit guten Kontakten zu Militär und Bevölkerung kommt man in Mossul nirgendwohin.
Auf dem Dach des Humvees ein Maschinengewehr. Breitbeinig steht der MG-Schütze in unserem engen Kampffahrzeug. Mit seinen lehmverschmierten Stiefeln verdreckt er alle. Frederic stößt immer wieder mit dem Kopf gegen die harten Kanten des offenen Daches.
DER TOTE IS-KÄMPFER
Die Zerstörungen West-Mossuls sind apokalyptisch. Sie erinnern mich an die Verwüstungen von Ost-Aleppo, an deutsche Städte nach dem Krieg, an Hiroshima. Die Straße, auf der wir fahren, ist zu einem Lehmweg zusammengebombt. Links und rechts ausgebrannte, zusammengeschmolzene Autos, bizarre Häusergerippe. Um uns herum Maschinengewehrfeuer. Vor uns die Front. Ich schaue Frederic an. Er ist ganz ruhig.
Auf der rechten Straßenseite sehen wir einen toten IS-Kämpfer im schwarzen Kampfanzug. Aufgequollen liegt er auf dem Rücken. Wahrscheinlich ist er seit Tagen tot. Niemand hatte Zeit, Mut, Anstand, ihn zu bestatten. Freddy ist bleich. Ich wahrscheinlich auch.
Ich lasse anhalten. Nicht weit entfernt hören wir bellende Schüsse. Ich frage unseren Fahrer, wer da schieße: der IS oder seine Leute? Vorsichtig streckt er den Kopf aus dem Fahrzeug und lauscht. »Unsere Leute«, meint er.
Wir steigen aus. Frederic geht vor zu dem toten IS-Kämpfer, um zu filmen. Ich will mir das nicht antun. Und gehe langsam in die andere Richtung. Vor mir ein mehrstöckiges Haus, das die Straße abschließt. Ich ahne nicht, dass ich auf eine Stellung des IS zulaufe. Dass ich im Visier des IS bin.
Ich will nachdenken. Über den toten Kämpfer, der hinter mir im Staub liegt. Über den Aufstieg und Fall des angeblich unbesiegbaren IS. Über die in Grund und Boden gebombten Stadtviertel, in denen Tausende Zivilisten ihr Leben verloren haben. Darüber, dass all das im Westen niemanden interessiert.
Die Schießerei hat aufgehört. Ich will umkehren. Zu unserem Humvee zurück. Plötzlich schlägt zischend, pfeifend, peitschend neben mir eine Kugel ein. Steinsplitter spritzen auf. Geduckt stürze ich zum Humvee. Frederic reißt mich ins Fahrzeug, zerrt die gepanzerte Tür zu.
»Verdammt knapp!«, flucht unser irakischer Fahrer. Die kurdische Fixerin bekommt kein Wort heraus. Nach einer Weile sagt sie, etwas so Enges habe sie noch nie erlebt. Ich sei dem Tod direkt entgegengelaufen.Freddy ist kreidebleich. Er hat im Rücken einen Steinsplitter abbekommen. Er blutet nur leicht. Obwohl die Wunde recht tief ist. Stumm legt er seine Hand auf meine Schulter.
DIE TRAGÖDIE MOSSULS
Seit meiner Rückkehr aus dem »Islamischen Staat« vor zwei Jahren wusste ich: Ich musste nach Mossul zurück. Die jahrtausendealte multikulturelle, multireligiöse Weltstadt im Norden des Irak hatte mich immer angezogen.
Schon Anfang 2003, kurz vor der US-Invasion, hatte ich sie besucht und bewundert. Stundenlang war ich durch ihre Gassen geschlendert. Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen lebten hier harmonisch zusammen. Genauso wie Araber und Kurden. Die Menschen waren mir gegenüber sehr freundlich, obwohl sie unter den Sanktionen des Westens bitter zu leiden hatten. Diese Sanktionen, die der Vatikan »pervers« nannte, hatten in Mossul Tausende Menschen getötet. Im Gesamt-Irak hatten sie einer halben Million Kindern das Leben gekostet.
Nach der US-Invasion und dem Sturz Saddams hatte für die sunnitische Mehrheit Mossuls eine erneute Leidenszeit begonnen. Die neuen schiitischen Herrscher gingen hart gegen die einst so mächtigen Sunniten vor. Sie ließen sie spüren, dass ihre Zeit vorbei war. Durch Schikanen, durch Verhaftungen, durch Todesschwadronen.
Doch im Juni 2014 eroberten überraschend ein paar Hundert IS-Kämpfer Mossul. Zusammen mit gemäßigteren Widerstandsgruppen, die der IS schnell wieder ausschaltete. Die Sunniten von Mossul wehrten sich nicht gegen die »sunnitischen« Eroberer. Zu sehr waren sie von den Schiiten schikaniert worden. Außerdem hätten sie gegen den fanatischen IS keine Chance gehabt.
Sehr schnell bekamen auch die Sunniten Mossuls die Brutalität des IS zu spüren. Und gleichzeitig die der US Air Force. Die nahm bei ihren Luftangriffen gegen den IS keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die Stadt geriet vom Regen in die Traufe.
Der IS durfte sich über den Bombenkrieg der USA nicht beschweren. Er hatte die militärische Auseinandersetzung mit den Amerikanern gesucht. Und bekommen. Zwar hätte der IS lieber gegen US-Bodentruppen gekämpft. Doch dass nun eine von den USA geführte Koalition von über sechzig Nationen gegen sie bombte und vielleicht irgendwann auch marschierte, machte die meisten IS-Kämpfer eher stolz als bange. Angeblich war ihnen all das in alter Zeit vorausgesagt worden: ihre Siege, ihre Niederlagen und schließlich der Endsieg. Der IS liebte die David-Rolle. Gegen den Goliath USA, gegen die ganze Welt. Sein Größenwahn kannte keine Grenzen. Auch dass die USA die vom IS besetzten Städte Tikrit, Baidschi, Ramadi, Falludscha in Grund und Boden bombten und zurückeroberten, brachte seine Überzeugungen nicht ins Wanken. Der IS war und ist bis heute überzeugt, eines Tages den Endsieg zu erringen.
DIE FRONT
Es ist früher Mittag. Der IS, der nur wenige Hundert Meter von uns kämpft, weiß, dass ganz Mossul fallen wird. Ost-Mossul ist von den US-Koalitionstruppen bereits zurückerobert worden, West-Mossul zu großen Teilen zerstört. Und doch geben die verbliebenen 2000 IS-Kämpfer nicht auf. Dass ihnen eine Übermacht von 100 000 Mann gegenübersteht, stört sie nicht. Auch dass zusammen mit ihnen noch immer 400 000 Zivilisten in der Stadt eingeschlossen sind, interessiert sie nicht. Von so etwas lassen sich apokalyptische Kämpfer nicht aufhalten. Fanatiker geben nie auf. Jeden Tag sprengten sich in Ost- und West-Mossul Selbstmordattentäter des IS in die Luft. Auch während unseres Aufenthaltes.
Wir gehen zu zwei Scharfschützen der irakischen Streitkräfte im obersten Stock einer Hausruine. Der eine sitzt, der andere liegt hinter seinem Maschinengewehr. Durch Schießscharten blicken sie auf die vom IS kontrollierte Altstadt. Auf das schiefe Minarett der Al-Nuri-Moschee. Dort hatte der »Kalif« des »Islamischen Staats« Abu Bakr Al-Baghdadi im Juni 2014 seinen einzigen öffentlichen Auftritt gehabt. Auch Frederic und ich waren im Dezember 2014 dort gewesen.
Die Front ist nur noch 300 Meter entfernt. Auch dort sitzen und liegen Scharfschützen des IS. Auch sie warten stunden- und tagelang, bis jemand vor ihr Präzisionsgewehr läuft. Natürlich sind auch die Scharfschützen, die wir gerade besuchen, in ihrem Visier.
DIE KOMMANDOZENTRALE DER »GOLDEN DIVISION«
Wir fahren zurück zum Hauptquartier der Golden Division. Ein Dutzend US-Humvees und Kommunikationsfahrzeuge mit großen Antennen stehen hier. Wir sehen amerikanische Soldaten. Obwohl es in Mossul offiziell gar keine US-Soldaten gibt. Frederic filmt. Er ist nicht nur mein wichtigster Freund und Berater. Er ist auch »Chef-Dokumentator«. Er fotografiert, filmt und protokolliert.
Überallsehen wir Kämpfer ohne militärische Erkennungszeichen. Vielleicht gehören sie Spezialkräften des irakischen Geheimdienstes an. Oder schiitischen Milizen, deren Brutalität die sunnitische Bevölkerung besonders fürchtet. Hatte die US-Koalition nicht versprochen, keine schiitischen Milizen im sunnitischen Mossul einzusetzen?
Manches erinnert an unsere Erlebnisse auf der Krim. Die Russen dort hatten auch keine militärischen Erkennungszeichen getragen. Ihre Regierung wurde dafür weltweit kritisiert. Ein westlich aussehender, perfekt US-Englisch sprechender Offizier ohne Hoheitsabzeichen erklärt mir lächelnd, im Krieg gebe es nun mal Dinge, die es nicht gebe. Nur weniges sei weiß, vieles grau, das meiste aber sei schwarz. Tiefschwarz.
Ich unterhalte mich lange mit dem Oberkommandierenden der Golden Division, Lt. General Abdul Ghani Al-Asadi. Ein knorriger, jovialer Mann. Für ihn hat der IS nichts mit Islam zu tun. Er zerstöre gezielt die zentralen Botschaften des Koran. Jeder kenne die Länder, die ihn bezahlten.
WO JUNGE SOLDATEN ZIELFOTOS KOORDINIEREN
Der General erlaubt uns, aufs Dach des Hauptquartiers zu gehen. Dort wollen wir uns einen Überblick über die militärische Lage in Mossul verschaffen. Wir sehen Erstaunliches. Wir wussten immer, dass die Luftschläge der 68-Mächte-Koalition irgendwo koordiniert werden mussten. Wir dachten an einen hoch technisierten Computerraum in den USA oder sonst wo auf der Welt. Aber dass ein US-Koordinationsteam ganz einfach auf einer sonnigen Dachterrasse in Mossul saß, nur wenige Kilometer von der Front entfernt, hatten wir nicht erwartet.
Fünf junge amerikanische Offiziere in Kampfkleidung knien, sitzen, stehen vor teilweise ungewöhnlichen Spezialcomputern. Auf ihnen sehen wir hochaufgelöste Satelliten- und Drohnenaufnahmen von Zielen in Mossul. Vielleicht stammen manche der Fotos sogar von den deutschen Aufklärungs-Tornados, die wichtiger Teil der Bomber-Koalition sind. Gebannt schauen die US-Soldaten auf ihre Bildschirme und setzen Funksprüche ab.
Ich wechsle ein paar Worte mit ihnen. Es sind freundliche, gut erzogene Jungs. Sie entscheiden über Leben und Tod von zahllosen Menschen. Selbst wenn es irgendwo noch weitere Offiziere geben sollte, die alles abnicken müssen. Die aber möglicherweise nicht mehr so genau hinschauen, weil sie ihren Männern hier vertrauen. Weil sie Mossul noch weniger kennen als diese. Und weil von oben sowieso nicht zu erkennen ist, wer sich in den Häusern aufhält. Von den Häusern der Nachbarschaft, die oft mitzerstört werden, ganz zu schweigen.
Wir fragen, ob wir filmen dürfen. Die Antwort lautet Nein. Wir fotografieren trotzdem. Wann kommt man schon mal so nah an die Stelle heran, an der sympathische junge Leute über Leben und Tod entscheiden? Von Menschen, die sie nicht kennen.In einer Stadt, in der sie noch nie waren.
ZURÜCK INS »BEFREITE« OST-MOSSUL
Am nächsten Tag sind wir im »befreiten« Ost-Mossul. Eine schwarze Rauchwolke steht über der Stadt. Stammt sie von einem per Fernsteuerung in die Luft gesprengten Auto? Eine weitere Rauchwolke steigt auf. Über uns Hubschrauber. Ständig hören wir Explosionen. Der IS scheint im befreiten Ost-Mossul noch recht aktiv zu sein. Mehrere Hundert IS-Kämpfer sollen bei Freunden und Verwandten untergetaucht sein. Als »Schläfer«. Wie in allen »befreiten« Städten.
Wir gehen zum »Saddam-Hospital«, das lange unter der Kontrolle des IS stand. Es ist völlig zerstört. Als die irakische Armee ihre Angriffe auf das Krankenhaus begonnen hatte, hatte der IS die Patienten in die Kellerräume gebracht. Dann hatten zähe Verhandlungen über die Freilassung der Kranken begonnen. Der IS hatte sich lange nicht bewegt. Die Patienten waren wichtige Geiseln. Schutzschilde. Erst nach zähem Ringen konnten sie evakuiert werden.
Dann hatte der Sturm auf das Krankenhaus begonnen. Die irakische Armee war überzeugt, dass alles ganz schnell gehen würde. Doch als sie in das Krankenhaus eindrang, wurde sie von Hunderten Kämpfern überrascht, die der IS heimlich zusammengezogen hatte. Die Armee musste US-Bomber zu Hilfe rufen. Die bombten das Krankenhaus in Grund und Boden. Patienten seien dabei nicht umgekommen, versichert uns ein Arzt, der angeblich dabei war.
Wir gehen durch das ausgebrannte Krankenhaus. Es riecht nach Leichen. Vor einer Betontreppe sehen wir zwei verweste IS-Kämpfer. Frederic wird es schlecht. Als er nach draußen geht, stolpert er über einen Unterkiefer. Ich frage den Sicherheitschef, der uns begleitet, warum man die beiden Toten nicht bestattet habe. Er antwortet, diese Leute hätten keine Bestattung verdient. Wortlos lasse ich ihn stehen. Er eilt mir nach und kramt verlegen ein Papier hervor. Auf ihm steht, die Beerdigungsinstitute seien durch die vielen Todesfälle zurzeit überlastet. Vielleicht sagt der Mann die Wahrheit. Aber hätte man die Leichen nicht wenigstens vor den Hunden schützen können, die hungrig um die verwesenden Körper streunen?
Vor dem Krankenhaus sehen wir ärmlich gekleidete, verschüchterte Kinder. Sie suchen in den Trümmern nach irgendetwas Verwertbarem. Um nicht zu verhungern.
DIE GEFANGENNAHME DER IS-KÄMPFER
Wir fahren durch breite Straßen, die wir noch von unserem Besuch beim IS kennen. Viele Gebäude, die wir Ende 2014 besucht hatten, sind jetzt zerstört: das Gerichtsgebäude, das Polizeigebäude, auch Privathäuser. Doch die Zerstörungen sind deutlich geringer als in West-Mossul. Der IS hat den weitläufigeren, moderneren Osten der Stadt offenbar nicht so intensiv verteidigt wie das dicht besiedelte, historische Stadtzentrum im Westen.
Auf meine Bitte fahren wir durch Seitenstraßen. Ich will den Alltag der »befreiten« Stadthälfte erleben. An einer Kreuzung stehen sechs Humvees mit Spezialeinheiten der irakischen Polizei. Für die Bewohner des Viertels hat das nichts Gutes zu bedeuten. Wir steigen aus. Frederic beginnt zu filmen. Doch sofort wird er von bewaffneten Polizisten bedrängt, die Kamera auszuschalten. Er filmt weiter.
Drei junge Männer werden gefesselt, mit verbundenen Augen, aus einem Haus geführt und in ein gepanzertes Fahrzeug gestoßen. Angeblich IS-Kämpfer. »Kamera weg, Kamera weg!«, schnaubt ein schwer bewaffneter Polizist. Frederic wird jetzt von allen Seiten angegangen. Brüllend versuchen Männer der irakischen Spezialeinheit, ihm die Kamera zu entreißen. Ein chaotisches Schieben und Stoßen beginnt. Die Männer sind wie unter Drogen. Sie drehen die Lautsprecher ihrer Humvees voll auf.
Ich laufe zum Kommandeur der Sondertruppe und fordere ihn ziemlich heftig auf, Ordnung zu schaffen. Und sicherzustellen, dass die Handgreiflichkeiten gegen Frederic beendet würden. Wir stammten aus Deutschland, einem Land, das diesen Kampf schließlich mitfinanziere. Es gelingt ihm nur halbwegs, seine Leute in den Griff zu bekommen. Es wird weiter gegrölt.
Irgendwann kann ich zu einem der »IS-Gefangenen« vordringen. In sich zusammengefallen sitzt der gefesselte junge Mann in einem Polizeifahrzeug. Er habe nichts mit dem IS zu tun, sagt er mit tonloser Stimme. Er ahnt, was auf dem Polizeirevier und im Gefängnis auf ihn zukommt.
Aneinandergefesselt, ebenfalls mit verbundenen Augen, werden sieben weitere Gefangene aus einem Haus gezerrt. Unter ihnen zwei ältere Männer. Eine alte Frau weint: »Warum nehmt ihr mir Mann und Sohn weg?« Ein Polizist treibt die Gefangenen mit einer langen Aluminiumstange zu einem Transportfahrzeug. Ich sehe noch, wie er auf sie einprügelt. Dann werde ich abgedrängt. Johlend, Fahnen schwenkend, zieht die Horde mit ihren gepanzerten Fahrzeugen ab. Ein Albtraum. Wehe den Besiegten!
IM KRANKENHAUS VON ERBIL
Wir fahren in die achtzig Kilometer entfernte Kurdenstadt Erbil. Zum Rojava-Krankenhaus. Man kann Kriege nur verstehen, wenn man die Opfer erlebt. Ihre Schmerzen, ihre Trauer.
Schon im Eingangsbereich liegen Verwundete. Auf schlichten Tragen. Frauen drängen herein, blutende Kinder auf dem Arm. Wohin ich blicke, verletzte Kinder, übermüdete Mütter, Väter mit fahlen Gesichtern. Schreie, Schluchzen, laute Zurufe. Im »befreiten« Ost-Mossul hat es heute Morgen einen Selbstmordanschlag des IS gegeben. Vor uns liegt ohnmächtig die achtjährige Hajer. Mit Splitterwunden im Gesicht und am Hinterkopf. Ihr Körper ist mit einer Wolldecke zugedeckt. Ihr Kopf ruht auf einem blutdurchtränkten Tuch.
Ihr Vater, ein dreißigjähriger Mann mit Schnurrbart und kurzen Haaren, steht schützend neben ihr. Mit belegter Stimme erzählt er, dass er mit Hajer auf den Markt gegangen sei. Seine Tochter liebe es, mit ihrem Vater einzukaufen. Oder einfach über den Markt zu bummeln, Geschäfte anzuschauen. Der Markt sei überfüllt gewesen. Plötzlich sei ein junger Mann herangestürmt. Es habe eine laute Explosion gegeben. Stände und Geschäfte hätten sofort Feuer gefangen.
Alle hätten sich zu Boden geworfen oder hingekauert. Er habe nach Hajer gerufen. Aber sie habe nicht geantwortet.
Dann sei die Feuerwehr gekommen. Sie habe versucht, die Brände in den Geschäften zu löschen und Brandopfer rauszuholen. Rettungswagen hätten die vielen Verwundeten in Krankenhäuser gebracht. Auch Hajer, die er regungslos neben einem Stand gefunden hatte.
Der Mann schweigt. Er reicht mir sein Handy mit einem Foto seiner Tochter. Aufgenommen vor wenigen Tagen. Strahlend lacht sie in die Kamera. Ein süßes kleines Mädchen. Der Mann hält die Hände vor die Augen und weint.
Ein hünenhafter Arzt spricht uns an. Er ist Deutscher. Ein Mann voller Herzlichkeit. Ich bin stolz und dankbar, dass ein Landsmann den Verletzten von Mossul hilft. Er bringt uns zur Intensivstation. Dort liegt ein zwölfjähriger Junge im künstlichen Koma. Opfer eines Luftangriffs der US-geführten Koalition. Er ist an Schläuche angeschlossen und wird künstlich beatmet. Sein Kopf ist bandagiert. Bekleidet ist er nur mit einer Windel. Elektroden auf seinem Oberkörper kontrollieren die Körperfunktionen. Seine Haut ist mit schwarzen Brandflecken und Krusten übersät.
Die Ärzte fürchten, dass er nicht überleben wird. Seine Verletzungen seien zu schlimm. Zu viele innere Blutungen. Ein junges Leben verlöscht, bevor es richtig angefangen hat. Niemand außer seiner Familie wird nach ihm fragen. Falls sie noch lebt. Niemand wird die Verantwortung für seinen Tod übernehmen. Warum auch? Westliche Piloten töten ja angeblich für eine gute Sache. Für unsere Werte. Für höhere Ziele. Glauben das nicht auch Terroristen?
2. KAPITELHEUCHELEI IM PARADIES
Rückflug nach München. Ich finde keine Ruhe. Die Bilder von Mossul gehen mir nicht aus dem Kopf. Bilder einer ausgelöschten Stadt, verletzter und sterbender Menschen.
Warum fahre ich alle paar Monate in Krisengebiete? In die finstere Welt des Krieges, des Terrors, der Geheimdienste, ganz vieler Verbrecher und ganz weniger Helden? Muss ich das wirklich? Ich stelle mir diese Frage immer wieder. Aber darf man sich anders verhalten, wenn man einmal der Wahrheit des Krieges ins Gesicht gesehen hat?
LEBEN WIR IN EINEM GOLDENEN ZEITALTER?
Immer, wenn ich aus einem Kriegsgebiet zurückkomme, ist die Ankunft in München ein Schock. Deutschland blitzt und strahlt vor Sauberkeit und Perfektion. Mit einem Wohlstand, der mir erst richtig auffällt, wenn ich aus Ländern komme, die nichts mehr haben.
Selbst den Regen, der bei meiner Rückkehr auf München prasselt, empfinde ich als Geschenk. Unser Land, meine Heimat, kommt mir gerade vor wie das Paradies auf Erden.
Lebt Deutschland in einem goldenen Zeitalter? Die Antwort lautet Ja und Nein. Nie ging es der Mehrheit der Deutschen materiell besser als heute. Seit über siebzig Jahren leben wir im Frieden. Wir genießen mehr Freiheit als je zuvor. Technik und Medizin haben ungeahnte Höhen erreicht.
Doch haben wir bei unserem materiellen Aufstieg nicht auch viele vergessen? Alte Menschen, die durch das Zerbrechen ihrer Familien in Einsamkeit und Armut geraten sind? Die nach ihrem Tod oft anonym beerdigt werden, weil das billiger ist? Mindestlohnempfänger, die nur durch mehrere Jobs überleben können? Und viele andere mehr?
Sicher, den Armen unserer Zeit geht es rechnerisch besser als früher. Aber ist nicht auch Verteilungsgerechtigkeit ein Menschenrecht? Und ein gewisses Maß an Mitmenschlichkeit?
Kann man von einem goldenen Zeitalter sprechen, solange Menschen anderer Hautfarbe und Religion in Deutschland so diskriminiert werden wie in unseren Tagen? Solange Politiker auf die Zukunftsfragen junger Menschen nur Materialismus und moralische Leerformeln anzubieten haben? Und solange unser Land mithilft, andere Länder durch Kriege und Sanktionen noch tiefer ins Unglück zu stürzen?
KULTUR-APARTHEID
Ich glaube, dass wir draußen vor der Tür viele vergessen haben. Die politischen Eliten des Westens fordern die Errungenschaften unserer Zivilisation letztlich nur für den Westen. Für sich selbst. Sie interessieren sich nicht für die Rechte von Menschen in anderen Kulturkreisen. Ihre Menschenrechtspolitik gegenüber dem »Rest der Welt« ist eine Mogelpackung. Eine raffinierte Verhüllung kalter, oft brutaler Interessenpolitik. Heimliche kulturelle Apartheid.
Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, Autor der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, brachte seine Verachtung gegenüber der Heuchelei des Westens mit den Worten zum Ausdruck: »Ich präsentiere Ihnen (…) [das] Christentum. (…) Verdreckt, besudelt und entehrt von Piraten-Raubzügen. (…) Ihre Tasche voller Zaster, ihr Mund voll frommer Heucheleien.«1 Er war nicht der Einzige, der sich so drastisch ausdrückte.
DER KAMPF FÜR UNSERE »WERTE«
Immer wenn der »Westen« in anderen Ländern mordet und plündert, behauptet er, er kämpfe für das Gute. Seit Jahrhunderten. Er tötete im Namen der Christianisierung, der Zivilisierung, im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, von Demokratie und Menschenrechten. Neuerdings in Wahrnehmung seiner angeblichen »Responsibility to Protect«, seiner angeblichen »Schutzverantwortung« für die Welt. Inzwischen kürzen westliche Politiker ihre Begründungen für Mord und Totschlag mit den Worten ab, sie kämpften »für unsere Werte«. Warum die Werte auch einzeln aufzählen, wenn man sich ohnehin nicht an sie hält?
In der Unabhängigkeitserklärung der USA aus dem Jahr 1776 heißt es feierlich: »Wir halten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind. Dass sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden. Darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.«2 Doch diese großartigen Worte galten nur für weiße, wohlhabende und männliche Amerikaner. Frauen, Indianer, schwarze Sklaven und weiße Bedienstete waren ausgeschlossen. Thomas Jefferson, Vater der Unabhängigkeitserklärung und späterer US-Präsident, lehnte Sklaverei öffentlich ab. Privat besaß er bis zu seinem Lebensende Hunderte Sklaven. Zum Thema Frauen sagte Jefferson, Frauen seien viel zu schlau, um sich durch Politik Falten auf die Stirn zu holen.
DIE URMUTTER WESTLICHER HEUCHELEI
Heuchelei war schon bei der Gründung der USA eine beliebte Strategie. Vielleicht war die Unabhängigkeitserklärung der USA mitsamt der Erklärung der Menschenrechte sogar die Urmutter der modernen westlichen Heuchelei. Noch heute hängt die Unabhängigkeitserklärung in den Schulen der USA aus. Doch in Wahrheit folgt die US-Außenpolitik Machiavelli und Clausewitz. Amerikanische Interessen, nicht Werte, waren und sind oberstes Gebot der USA. Wir kämen der Wahrheit amerikanischer und westlicher Außenpolitik ganz nahe, wenn wir das Wort »Werte« einfach durch das Wort »Interessen« ersetzen würden.
Ähnlich menschenfreundlich klang 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution, auf die sich die heutige europäische Zivilisation so gern beruft. Doch im Namen von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« begann erst einmal ein gnadenloses Morden. »La terreur«, der Terror der Guillotine, wurde spätestens unter Robespierre zum wahren Symbol der Französischen Revolution. Selbst moderne Terroristen nehmen sich heute die Kopf abschneidende französische Guillotine zum Vorbild.
Auch die deutsche Verfassung liebt große Worte. In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«3 Alte, vereinsamte und verarmte Menschen, aber auch Migranten könnten diesen Satz als blanken Hohn empfinden.
Ähnlich heuchlerisch klingen moderne westliche Politiker. George W. Bush erklärte seinen Soldaten am 1. Mai 2003 zum angeblich erfolgreich beendeten Irak-Feldzug: »Wo auch immer Sie hingehen, bringen Sie eine Botschaft voller Hoffnung. Eine Botschaft, die (…) immer neu ist. Mit den Worten des Propheten Jesaja gesprochen: ›Zu sagen den Gefangenen: Geht heraus! Und zu denen in der Finsternis: Kommt hervor!‹«4 Ein US-Offizier war ehrlicher. Er sagte: »Es [war], wie Robbenbabys totschlagen.«5
AMERIKANISCHER EXZEPTIONALISMUS
Viele US-Politiker sind von der Einzigartigkeit der USA, von ihrer Sonderstellung in der Welt, vom amerikanischen »Exzeptionalismus«, überzeugt. Expansion und Imperialismus seien ihre geschichtliche, messianische, göttliche Aufgabe. Der Kampf »Gut gegen Böse« sei Amerikas offenkundige Mission, seine »manifest destiny«.6 Für den Philosophen Allan Bloom erzählt »Amerika […] eine einzige Geschichte: den ungebrochenen, unausweichlichen Fortschritt von Freiheit und Gleichheit.«7 Für den Schriftsteller Herman Melville, den Autor des Klassikers Moby Dick, sind die USA das von Gott »auserwählte Volk – das Israel unserer Zeit.«8
Barack Obama bat an der Klagemauer von Jerusalem Gott, ihn »zu einem Instrument [s]eines Willens zu machen«.9 Hat Obama sich wirklich als Instrument Gottes gesehen, wenn er im Weißen Haus persönlich die Opfer amerikanischer Drohnenschläge auswählte? Oder Bombenangriffe auf Afghanistan, den Irak und Libyen befahl?
FOLTERN IM NAMEN WESTLICHER WERTE
Im Namen westlicher Werte wurde weltweit gefoltert und vergewaltigt. Guantánamo und Abu Ghraib sind nur die bekannteren Beispiele. In Bagram bei Kabul ließen GIs gefangene Taliban-Kämpfer von Hunden »vergewaltigen«. Nachdem man sie nackt, mit dem Bauch nach unten, auf einen Hocker gefesselt hatte.10 In Kandahar erstach und verbrannte ein GI sechzehn Zivilisten, darunter drei Frauen und neun Kinder.11 Amerikanische Kill-Teams töteten Afghanen zum Zeitvertreib und schnitten ihnen Finger als Trophäen ab.12 Wieder andere GIs urinierten auf gefallene Taliban.
Manche dieser Täter wurden verurteilt. Doch die öffentliche Empörung hielt sich in Grenzen. Was wäre geschehen, wenn Afghanen diese Taten an amerikanischen Bürgern, Frauen und Kindern begangen hätten? Oder an Deutschen?
Hunderttausende Unschuldige wurden im Irak im Namen unserer »Werte« getötet. Zehntausende in Afghanistan. Es ging nie um Werte. Immer nur um Interessen. Der damalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler war so unvorsichtig, das 2010 offen auszusprechen. Es kostete ihn sein Amt. Auf dem Rückflug von einem Besuch der Bundeswehr in Afghanistan sagte er in einem Interview, ein Land wie Deutschland, »mit dieser Außenhandelsorientierung«, müsse wissen, dass »im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren«.13
Er sprach aus, was andere westliche Politiker täglich denken und praktizieren. Doch er verstieß gegen das eiserne »Heuchelei-Gebot«, das seit Jahrhunderten Grundkonsens der westlichen Zivilisation ist: Stets an die eigenen Interessen denken, nie davon reden! Statt von »Interessen« und »Außenhandelsorientierung« hätte Köhler einfach von »Werten« sprechen müssen. Er wäre Bundespräsident geblieben.
George W. Bush war da viel schlauer. Selbst härteste Aussagen verpackte er in erhabene Worte. Oder versuchte es zumindest. »Der beste Weg, das Böse zu Hause zu bekämpfen, ist, etwas Gutes zu tun«, sagte er. »Der beste Weg, es im Ausland zu bekämpfen, ist, das Militär von der Leine zu lassen.«14 Jeder wusste, was es heißt, das Militär »von der Leine zu lassen«. Aber es geschah ja angeblich, um das Böse zu bekämpfen.
MACHT, MÄRKTE, MONETEN
Egal, ob Amerikaner oder Europäer, stets ging es ihnen um Macht, Märkte und Geld. Um ihren Wohlstand, ihre sozialen Errungenschaften, ihre Freiheit. Nie um die Freiheit der anderen.
Die USA wollen ihre Position als Weltmacht Nummer 1 verteidigen und ausbauen. Wie einst die Weltmacht Rom. »Verteidigung ihrer Werte« nennen sie das. Wer sie dabei unterstützt, ist Freund, wer sie behindert, Feind. Das ist das A und O amerikanischer Außenpolitik. Die USA werden immer versuchen, den Aufstieg amerikafeindlicher oder amerikakritischer Mächte und Machtblöcke zu verhindern.15 Schon deshalb werden sie Russland stets als Störenfried betrachten, der sich ihrem Hegemonialanspruch entgegenstellt. Man muss schon sehr naiv sein, um zu glauben, den USA gehe es im Konflikt mit Russland oder mit anderen Ländern um Menschenrechte.
Die kapitalistische Weltmacht USA war stets auf der Suche nach neuen Märkten. Angetrieben von großen landwirtschaftlichen und industriellen Interessenverbänden, die amerikanische Politiker bis heute zur Finanzierung ihrer Wahlkämpfe dringend benötigen. Um der Suche nach neuen Märkten Nachdruck zu verleihen, errichteten die USA weltweit Hunderte Militärstützpunkte.
Um Demokratie ging es dabei nie. Doch die Behauptung, man kämpfe für den weltweiten Sieg der Demokratie, stützte die Legende vom Kampf des Guten gegen das Böse.16 Sie legitimierte fast jede Brutalität.
US-Präsident Woodrow Wilson erklärte vor dem Ersten Weltkrieg offen: »Diplomatie und, wenn es sein muss, Gewalt müssen den Weg zu den [ausländischen Märkten] erschließen.« Sein zentrales Argument lautete: Die US-Industrien haben sich »bis zu dem Punkt ausgebreitet, wo sie aus den Nähten platzen werden, wenn sie keinen freien Zugang zu den Märkten der Welt finden«.17 Manche Historiker meinen sogar, dies sei einer der Hauptgründe für den Kriegseintritt der USA in den Ersten und Zweiten Weltkrieg gewesen.
DIE SELBSTERMÄCHTIGUNG DER USA
Laut dem früheren Präsidenten Bill Clinton sind die USA jederzeit zum »unilateralen Einsatz militärischer Gewalt« ermächtigt, um sich den »ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energiequellen und strategischen Ressourcen zu sichern«.18 Selbst Jimmy Carter sah das so.19 Die USA sind der Überzeugung, dass sie selbstverständlich auch Regierungen beseitigen dürfen, die sich ihnen in den Weg stellen.20
Im Völkerrecht findet diese Selbstermächtigung, weltweit zu intervenieren, keine Grundlage. Auch deshalb wurde sie stets in edle Motive verpackt. Andere Großmächte vor ihnen sahen das ähnlich. Was die USA nach Auffassung des amerikanischen Publizisten Stephen Kinzer jedoch von allen anderen Großmächten der Geschichte unterscheidet, ist »ihr Eifer, sich selbst zu überzeugen, dass sie aus humanitären Gründen handeln«.21
DIE LANGE TRADITION DER HEUCHELEI
Heuchelei als Mittel der Politik hat eine lange Tradition. Der besiegte und gefangen genommene Häuptling Black Hawk, Schwarzer Falke, schleuderte 1832 in seiner Kapitulationsrede den siegreichen Amerikanern entgegen: »Ein Indianer, der so schlecht ist wie die weißen Männer, könnte in unserem Volk nicht leben, er würde getötet und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Die weißen Männer (…) benutzen verlogene Bücher und handeln arglistig; sie lächeln den armen Indianern ins Gesicht, um sie zu täuschen; sie schütteln ihnen die Hände, um ihr Vertrauen zu erschleichen, (…) um sie zu betrügen. (…) Lebe wohl mein Volk! (…) Lebe wohl, Black Hawk.«22
Spätestens nach den Gemetzeln des Ersten Weltkriegs blieb vom Mythos der alles überragenden westlichen Kultur nicht mehr viel übrig.23 Heute weiß die ganze Welt, dass sich kein führender westlicher Politiker im Ernstfall an die Werte seiner Zivilisation hält. Nur der Westen weiß nicht, dass die ganze Welt das weiß.
DAS VERNICHTENDE URTEIL SOLSCHENIZYNS, TOCQUEVILLES UND GANDHIS
Einige Philosophen, Schriftsteller und Denker haben versucht, der Politik des Westens ihre zivilisatorische Maske vom Gesicht zu reißen. Der Bürgerrechtler, Dramatiker und spätere Staatspräsident der Tschechoslowakei, Václav Havel, sprach bitter von einer »verlogenen ›Scheinwelt‹ großmäuliger Worte und phraseologischer Rituale (…)«. Von einem »gigantische[n] Auseinanderklaffe[n] von Wort und Tat«. In einem Brief an seine Frau schrieb er: »Alle sprechen von Freiheit, Demokratie, Humanität, Gerechtigkeit, Menschenrechten, Gleichheit (…), vom Frieden, (…) der Rettung der Umwelt (…).« Doch »alle dienen wir dabei (…) diesen Werten oder Idealen gerade nur so weit, wie es unerlässlich ist, (…) uns selbst zu dienen (…).«24
Der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn schrieb in der Wochenzeitung Die Zeit: »Wir leben zwar im Computerzeitalter, aber noch immer nach dem Grundgesetz der Steinzeit: Wer den größeren Knüppel schwingt, hat auch recht. Bloß wahrhaben wollen wir es nicht (…). Die Berufspolitiker erweisen sich als besonders geschickt darin, auch noch dem Laster einen zivilisierten Anstrich zu geben (…). Das 20. Jahrhundert hat uns mit immer neuen Erfindungen aus dem Bereich der Heuchelei verwöhnt. Wir verfallen auf immer noch genialere Möglichkeiten, unsere Doppel- Tripel-, Quadrupelmoral anzuwenden (…).«25
Der Ägypter Mohammed Abduh verglich die Sympathien des Westens für die Menschen des Mittleren Ostens mit der Liebe des Wolfes zum Lamm. Das er bekanntlich zu fressen begehre.26
Der französische Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville fand die Schurkereien des weißen Mannes allerdings gar nicht so schlecht. Er schrieb: »Die europäischen Völker sind oft die größten Schurken. Aber wenigstens sind sie Schurken, die Gott mit Willen und Kraft begabt hat, (…) für einige Zeit an der Spitze der Menschheit zu stehen. Nichts auf dem gesamten Erdball vermag ihrem Einfluss zu widerstehen.«27
Mahatma Gandhi fasste sich kürzer. Auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, sagte er: »Sie wäre eine gute Idee.«28
Auch andere Zivilisationen haben versucht, ihre Interessenpolitik in ein helleres Licht zu stellen. So führte das Römische Reich angeblich nur »gerechte Kriege«. Doch keine Zivilisation hat versucht, all ihre Brutalitäten als einen Akt der Nächstenliebe, als Dienst an der Menschheit darzustellen. Alles, was der Westen tut, wird in penetranter Weise moralisch überhöht. Er ist der ewige »Befreier«. In Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien. Immer kommt er nur zur Befreiung. Obwohl die Völker der Welt schon lange nicht mehr vom Westen befreit werden wollen.
INNERER UND ÖFFENTLICHER RECHTFERTIGUNGSDRUCK
Einer der Gründe, warum die Europäer jahrhundertelang dazu neigten, ihre Untaten moralisch zu überhöhen, war der Versuch, das eigene Gewissen zu beruhigen. Sie rotteten schließlich ganze Völker aus. Da konnte das Gewissen schon mal rebellieren.
Zu diesem inneren Rechtfertigungsdruck kam mit dem Entstehen demokratischer Republiken öffentlicher Rechtfertigungsdruck. Kriege konnte man gegenüber dem Volk viel leichter durchsetzen, wenn man ihm erzählte, es gehe um die Verteidigung seiner Freiheit oder um die Befreiung leidender Menschen.29 Schließlich brauchte man das Volk, auch wenn es sonst nicht viel zu sagen hatte, bei den nächsten Wahlen wieder.
Daran hat sich bis heute im Kern nichts geändert. Es ist schwer, die Menschen in Deutschland von der Notwendigkeit eines Krieges gegen Afghanistan zu überzeugen, wenn man als Argument nur geostrategische Gründe vorlegen kann. Oder Bündnispflichten. Die Behauptung, man wolle afghanischen Mädchen helfen, endlich wieder eine Schule zu besuchen, ist da schon hilfreicher. Oder das Versprechen, dass man dort Brunnen bauen werde.
DAS ERFINDEN VON INTERVENTIONSGRÜNDEN
Notfalls werden emotionale Gründe erfunden. Als Saddam Hussein im Sommer 1990 Kuwait überfiel, das er als undankbare, abtrünnige Provinz betrachtete, beschloss die US-Regierung, ihn militärisch wieder zu vertreiben. Doch nur Teile der US-Bevölkerung fanden diese Idee, die das Leben amerikanischer Soldaten kosten konnte, gut.
Bis sie im Fernsehen die fünfzehnjährige Kuwaiterin Nayirah sahen. In einem tränenreichen Auftritt vor dem US-Kongress erzählte sie, sie habe als Krankenschwester den Angriff irakischer Soldaten auf ein Krankenhaus in Kuwait miterlebt. Die Iraker hätten Babys aus den Brutkästen gerissen, auf den Boden geworfen und sie dort elend sterben lassen. Empört schrie die Welt auf. In den USA stieg die Zustimmung für einen Angriff auf den »Brutkastenmörder« Saddam Hussein.30 Der Krieg konnte beginnen.
Heute weiß man, dass die Brutkastenmorde von der amerikanischen PR-Firma Hill & Knowlton frei erfunden worden waren. Gegen ein astronomisches Honorar. Die junge kuwaitische Krankenschwester entpuppte sich als Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA.31 So arrangiert man Kriege.
Irakische Diplomaten und Offiziere schätzen, dass in dem Krieg 100 000 irakische Soldaten ihr Leben verloren.32 Müsste ich nicht schreiben »ermordet wurden«? Laut New York Times wurden Hunderte irakische Soldaten von den US-Soldaten bei lebendigem Leib mit Bulldozern im Wüstensand begraben. Der Sprecher des Pentagon kommentierte das Unterpflügen irakischer Soldaten mit den Worten: »Ich will nicht respektlos sein, aber es gibt keine nette Art und Weise, jemanden im Krieg zu töten.«33
WANN BEGINNT DER UNTERGANG EINER ZIVILISATION?
Immer wenn ich in Diskussionen jungen Menschen die wichtigsten Werte unserer Zivilisation aufzähle, schauen sie mich ungläubig an. Sie wissen, dass diese Werte nicht Leitlinie westlicher Außenpolitik sind. Wenn ich sie Politikern vorhalte, lächeln sie milde. Oder schauen betreten weg.
Der tägliche Verrat an unseren Werten macht es einem Politiker wie Trump leicht, sie hohnlachend über Bord zu werfen und ganz offen auf nationale »Eigeninteressen« zu setzen. Genauer: auf das, was Trump als »nationale Interessen« definiert. In Wirklichkeit handelt es sich dabei fast ausschließlich um seine persönlichen Machtinteressen. »America first« bedeutet für ihn »Trump first«. Das ist Trumps narzisstische Sonderform der Heuchelei.
Der französische Soziologe Gustave Le Bon sagte: Der Untergang einer Zivilisation beginnt an dem Tag, an dem ihre Ideale in der Welt nicht mehr respektiert werden. Und an dem die Mehrheit ihrer Bevölkerung nicht mehr bereit ist, für sie Opfer zu bringen.34 Diesem Punkt nähern wir uns jeden Tag ein Stück mehr.
3. KAPITELINSIDE MOSSUL. INNENANSICHT EINES KRIEGES
Ahmad Abdallah* lebt in den Trümmern des »befreiten« Mossul. Frederic traf ihn dort zehn Monate nach seiner »Befreiung«. Der Mann mit dem kleinen weißen Schnauzbart wird seine zerstörte Stadt nicht verlassen. Weil er sie liebt und seine Familie seit Urzeiten hier lebt. Mossul ist eine Stadt, die man nicht vergisst. Wiege der Menschheit, mit einer jahrtausendealten Kultur. Ahmad bleibt auch hier, weil er kein Geld hat, um wegzugehen. Die Bomben haben alles zerstört, was er besaß. Früher war er Lehrer. Jetzt bezieht er eine karge Rente.
Wie alle Iraker hatte er in seinem Leben nie Ruhe gefunden. Immer wieder wurde er »befreit«: 1958 befreite man ihn von der haschemitischen Monarchie, 2003 vom Sunniten Saddam Hussein, 2014 vom Schiiten Maliki und 2017 vom IS. Ahmad kann das Wort »Befreiung« nicht mehr hören. Für ihn waren alle Befreiungen ein Albtraum. Weil sie die Lage der Menschen stets verschlechterten.
DER IS: »REFORMER« UND MENSCHENSCHINDER
Kurz nach der Eroberung Mossuls hatte der IS noch Dinge getan, die der geschundenen sunnitischen Bevölkerung gefielen. Er hatte die vielen Checkpoints abgebaut, die alle als Schikane empfunden hatten. Er hatte die Preise für Lebensmittel, Obst und Gemüse deutlich gesenkt. Sich erfolgreich um die Strom- und Wasserversorgung gekümmert.
Doch die Freude über die verbesserten Lebensbedingungen hatte schon damals einen bitteren Beigeschmack. Der IS war demonstrativ brutal. Über 2500 schiitische Soldaten und Polizisten waren bei der Eroberung der Stadt hingerichtet worden. Das war nur der Anfang. Ständig wurden angebliche Spione und Kollaborateure gejagt und ermordet. Von einem mehrstöckigen Versicherungsgebäude im Zentrum Mossuls warf der IS Homosexuelle in die Tiefe.
Von all diesen Untaten machte der IS Fotos und Videos. Auf »Medien-Stationen« mitten in der Stadt führte er dann seine Barbareien auf großen Bildschirmen vor. »Public Viewing« im »Islamischen Staat«. Der IS wollte Furcht und Schrecken verbreiten. Hinrichtungen wurden zelebriert. Wenn nicht genügend Gaffer kamen, sammelte der IS sein Publikum zwangsweise ein. Erst wenn genügend Zuschauer da waren, erschoss oder köpfte er seine Opfer.
SCHIEßEN ALS SCHULFACH
Wer sich keinen langen Bart wachsen ließ, wurde bestraft. Umgerechnet fünfzig Dollar Strafe kostete ein kurz geschnittener Bart, hundert Dollar ein völlig abrasierter. Das war viel Geld für die Menschen in Mossul. Auch der alte Ahmad wurde eines Tages angehalten. Ein junger IS-Kämpfer fand, sein Bart sei zu kurz. Ahmad erwiderte, er habe acht Jahre lang im Krieg für sein Vaterland gekämpft. Er erwarte mehr Respekt. Ungerührt nahm ihm der IS-Mann den Personalausweis ab. Wenn der Bart lang genug sei, könne er den Ausweis wieder abholen.
Der IS respektierte niemanden. Wenn sich Frauen unter fünfzig nicht voll verschleierten, riskierten sie, dass der IS sogenannte Beißerinnen auf sie losließ. Die bissen ihnen in die Hände, bis sie vor Schmerz schrien. All das war irreal, gespenstisch, absurd. In den Schulen fingen sie an, den Kindern Krieg und Kampf beizubringen. Im Lehrplan ging es um Maschinengewehre, Bomben und Raketen. Ahmads Familie nahm ihre Enkel von der Schule. Ahmad konnte sich in der Stadt zwar frei bewegen. Doch wohin er auch ging, waren Kämpfer, Polizisten, Spione des IS. Der Schatten des IS war überall.
FLUCHT NACH ERBIL
Als die Brutalitäten des IS zunahmen, fuhr Ahmad mit seiner Familie nach Erbil. In die Hauptstadt der »Autonomen Region Kurdistan«. Sie liegt nur eine Autostunde von Mossul entfernt. Fast alle Straßen nach draußen waren damals noch offen. Es gab zwar »Grenz-Checkpoints«, die viel Zeit kosteten. Doch mit einer einleuchtenden Begründung kam man als Bürger Mossuls irgendwie durch. Zumindest anfangs.
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