Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat' - Jürgen Todenhöfer - E-Book
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Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat' E-Book

Jürgen Todenhöfer

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Beschreibung

Jürgen Todenhöfers Report über den IS-Terror

Im Sommer 2014 führte Jürgen Todenhöfer mehrere Monate lang Gespräche mit deutschen Islamisten (via Skype), die sich dem IS-Staat angeschlossen haben. Die Erkenntnisse, die er in diesen Gesprächen gewann, sind mehr als erschreckend und enthüllen die mörderischen Absichten des sogenannten Kalifats, das einen weltweiten Gottesstaat errichten will und dabei auch vor Massenmorden nicht zurückschreckt, selbst unter Muslimen. Nach der Erweiterung Ihres Staates im Nahen Osten, bei der sie die Nachbarstaaten unterwerfen wollen, haben sie Europa und den Westen im Visier.

Im November 2014 fuhr er als bislang weltweit einziger westlicher Journalist in das Zentrum des IS-Staats, nach Mossul, hielt sich dort 10 Tage lang auf und führte weitere Interviews. In seinem Buch beschreibt er eindringlich seine Erlebnisse vor Ort.

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Seitenzahl: 362

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Jürgen Todenhöfer

Inside IS – 10 Tage im ›Islamischen Staat‹

C. Bertelsmann

5. Auflage© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign Münchennach einem Design von Nina PriesterDie Fotos im Bildteil stammen von Frederic Todenhöfer, bis auf Nummer 17 und 47, die aus IS-Videos entnommen sind.Die Bildrechte liegen beim Autor.Karten: Peter Palm, BerlinSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-17552-8www.cbertelsmann.de

Für Frederic, der auf der Reise und bei der Gestaltung des Buches Beeindruckendes geleistet hat.

Inhalt

I Die Geburt des »Islamischen Staats«

II Ziele des Westens

III Auf der Suche nach der Wahrheit

IV Fahrt an die IS-Front

V Chat mit dem Terror

VIDie Mutter des Jihadisten

VII Die Konkretisierung der Reise

VIII Reise in den »Islamischen Staat«

IX Offener Brief an den Kalifen des »Islamischen Staats« und an seine ausländischen Kämpfer

X Nachwort zu Jihadi John

Personenregister

BILDTEIL

I Die Geburt des »Islamischen Staats«

Gerade eben erst scheint der »Islamische Staat« aus dem Dunkel der Geschichte aufgetaucht zu sein. Und schon hat er sich ins Zentrum der Weltpolitik gespielt. Doch es gibt ihn schon länger. Er ist ein Kind des Irakkriegs 2003.

Im August 2007 traf ich erstmals einen seiner Kämpfer im umkämpften Ramadi, im Irak. Rami, ein 27-jähriger, fast schüchterner Student der Geschichte, hatte sich den Terroristen angeschlossen, weil amerikanische GIs seine Mutter bei einer Hausdurchsuchung erschossen hatten. Vor seinen Augen. »Was hätten Sie getan?«, fragte er mich bitter, als er sah, dass ich die Entscheidung trotz seines Leids überhaupt nicht verstand. Es sei leicht, edle Standpunkte über Widerstand und Terrorismus einzunehmen, wenn man selbst in Wohlstand und Frieden lebe. Ob ich schon einmal darüber nachgedacht habe, was in einem Menschen vorgegangen sein müsse, bevor er sich als Selbstmordattentäter in die Luft sprenge. Als ich schweige, fügt er hinzu: »Hört auf, uns zu überfallen und zu demütigen. Haut ab aus unseren Ländern. Dann wird Al Qaida von alleine verschwinden.«

Der Aufstieg von Al Qaida zu einem Faktor im chaotischen irakischen Machtspiel hatte schon vier Jahre zuvor begonnen. 2003. Personifiziert durch den 37-jährigen sunnitischen Jordanier Abu Musab Al Zarkawi. Ursprünglich hatte dieser noch vorgehabt, mit seiner »Partei des Monotheismus und Jihad« das jordanische Königshaus zu stürzen. Doch die US-Invasion im Irak bot plötzlich ganz andere Möglichkeiten. Endlich gegen die Amerikaner zu kämpfen und einen Jihad gegen die Schiiten führen zu können, die er als Verräter des Islam, als »Abtrünnige« ansah. Sie hatten nach dem Sturz Saddam Husseins die uneingeschränkte Macht im Irak übernommen und die früher so einflussreichen Sunniten mit brutalen Methoden aus dem politischen Leben des Irak ausgeschlossen.

Schon kurz nach der US-Invasion begann Zarkawi eine irakische Kampftruppe aufzubauen. Hinzu kam eine kleinere Zahl arabischer Kämpfer, die er zusammen mit Al Qaida über Syrien in den Irak schleuste. Insgesamt verfügte Zarkawi über rund 2000 äußerst effektive Kämpfer. Davon 1000 in der Provinz Anbar. Der Rest kämpfte vor allem in Diyala und in einigen sunnitischen Vierteln Bagdads. Zarkawi profitierte vom Unmut der sunnitischen Bevölkerung. Seine bevorzugten Opfer waren irakische Soldaten, Polizisten und besonders Schiiten. Im August 2003 jagten seine Leute nach US-Angaben die Imam Ali-Moschee in Najaf in die Luft. Eine blutige Anschlagswelle folgte der anderen.

Fast jeder Anschlag im Irak wurde von den US-Besatzern großzügig Zarkawi zugeschrieben. Dessen öffentliche Rolle überstieg zunehmend seine tatsächliche Bedeutung. Dass es neben Al Qaida auch noch einen viel mächtigeren »bürgerlichen Widerstand« gegen die US-Besatzung gab, mit erheblich mehr Kämpfern, wurde systematisch verschwiegen. An der amerikanischen Heimatfront wäre das schwer zu verkaufen gewesen. Die US-Führung brauchte nach dem Sturz Saddam Husseins ein einprägsames diabolisches Feindbild, um die nicht endenden Kämpfe im Irak vor ihren Wählern zu rechtfertigen. Zarkawi schien diese Rolle des omnipräsenten Terroristen nicht zu missfallen.

Weltbekannt wurde er durch die zynische filmische Inszenierung der Enthauptung westlicher Geiseln. 2004 erschien ein Video mit dem Titel »Abu Musab Al Zarkawi schlachtet einen Amerikaner«. Darin wird dem Amerikaner Nicholas Berg der Kopf abgeschnitten. Angeblich als Rache für die »Schandtaten« der USA in Abu Ghraib. Berg und spätere Opfer trugen wie die Abu-Ghraib-Häftlinge orangefarbene Overalls. Anders als bei den aktuellen Enthauptungen unter Al Baghdadi wurde der blutige Hinrichtungsakt ungekürzt gezeigt. Ansonsten erinnert Al Baghdadis öffentlich in Szene gesetzte Brutalität in vielem an Zarkawi.

Im Herbst 2004 trat Zarkawi offiziell Al Qaida bei. Auch das dürfte den Amerikanern gefallen haben. Seine Terrorgruppe erhielt in der Öffentlichkeit den Namen »Al Qaida im Irak« (AQI). Baghdadi saß in dieser Zeit übrigens gerade in amerikanischer Haft. Unterdessen mordete Zarkawi hemmungslos weiter. So brutal, dass sich schließlich Bin Ladens Stellvertreter Ayman Al Zawahiri schriftlich beschwerte, dass bei Zarkawis Selbstmordanschlägen zu viele Zivilisten umkamen. Und mehr Schiiten als Amerikaner. Bin Laden und Zawahiri strebten – anders als Zarkawi – eine Aussöhnung der Sunniten mit den Schiiten an.

Doch Zarkawi ließ sich nicht aufhalten. In keinem Punkt. Überall, wo er auftrat, war er wegen seiner Brutalität und der Strenge seiner AQI-Shariah umstritten. Auch wenn er diese Shariah nur in wenigen Orten durchsetzen konnte. Dann allerdings galten rigide, puritanische Regeln. Rauchen, Trinken und Musik waren verboten.

Zarkawis gnadenlose Methoden glichen in vielem denen der frühen Wahhabiten vor über 200 Jahren auf der Arabischen Halbinsel. Diese wiederum erinnerten an die Charidschiten, die Mörder Alis, des Schwiegersohns des Propheten Mohammed vor über 1300 Jahren. Jeder, der nur einen Millimeter von ihren engen Glaubensvorstellungen abwich, wurde erbarmungslos und blutig verfolgt. Ob Frauen, Kinder oder Greise. Extremisten des 20. Jahrhunderts werden noch heute als moderne Charidschiten bezeichnet.

Im Juni 2006 gelang es den US-Streitkräften, Zarkawi bei Baqubah durch einen gezielten Luftschlag auszuschalten. Mit zwei 500-Pfund-Bomben. Die USA brauchten im Irak dringend einen Erfolg.

Der Kampf von Al Qaida ging jedoch weiter. Nach der Integration mehrerer kleiner Widerstandsgruppen rief »Al Qaida im Irak« im Oktober 2006 den »Islamischen Staat im Irak« (ISI) aus. Neuer Führer wurde der Ägypter Abu Ayyub Al Masri. Erster geistlicher Emir wurde der Iraker Abu Abdullah Al Rashid Al Baghdadi – nicht zu verwechseln mit dem augenblicklichen »Kalifen« Abu Bakr Al Baghdadi. Die tatsächliche Existenz und Bedeutung dieses geistlichen Emirs sind bis heute umstritten. Noch immer lag die Zahl der ISI-Kämpfer bei etwa 2000. Aus politischen Gründen galten jedoch weiterhin fast alle Anschläge auch anderer Widerstandsgruppen als Aktionen des ISI/Al Qaida.

Die US-Führung war inzwischen durch den wachsenden Widerstand im Irak militärisch und politisch erheblich angeschlagen. Und kriegsmüde. Weit und breit waren nirgendwo Massenvernichtungswaffen zu finden, derentwegen man angeblich in den Krieg gezogen war. Stattdessen stieg die Zahl gefallener GIs unablässig. Die USA änderten daher ihre Strategie. Auch im Irak kommt man mit einem Sack voll Geld weiter als mit Panzerarmeen. Mit abenteuerlich hohen Millionenzahlungen an die ausgezehrten sunnitischen Stämme erreichten die USA schließlich ein militärisches Stillhalteabkommen. Man gründete »Awakening Councils« und schuf schlagkräftige sunnitische Milizen, die, in Abgrenzung zu den ausländischen Kämpfern des ISI, »Söhne des Irak« genannt wurden.

Motiviert durch die Zusage, später an der Macht und am Wohlstand des Irak beteiligt zu werden, vertrieben die sunnitischen Stämme den zunehmend unbeliebten ISI aus seinen Hochburgen. Zwar blieben kleinere ISI-Zellen erhalten, vor allem in Bagdad, Diyala und in den großen Städten Anbars, Falludscha und Ramadi. Doch der ISI befand sich in einer existenziellen Krise. Auch den »bürgerlichen Widerstand« zwangen die sunnitischen Stämme zu militärischer Zurückhaltung. Dessen Mitglieder hatten, anders als die ISI-Kämpfer, bürgerliche Berufe, in die sie sich zurückbegeben konnten.

Als Gegenleistung zogen sich die US-Streitkräfte in ihre Stützpunkte zurück. Dort gruben sie sich wie Maulwürfe ein. Nur noch selten sah man GIs auf irakischen Straßen. Die amerikanische Darstellung, man habe die Iraker durch Bushs Truppenverstärkungen, den sogenannten »Surge«, in die Knie gezwungen, ist eine PR-Legende. Ich war in jener Zeit bei den gemäßigten Widerstandskämpfern der Provinz Anbar. Und wenig später in Bagdad. Die USA haben den Irakkrieg schlicht und ergreifend verloren. Aber mithilfe ihrer Dollargeschenke konnten sie wenigstens ihr Gesicht wahren und bei ihrem Abzug Ende 2011 so tun, als hätten sie den Krieg mit Ach und Krach doch noch gewonnen.

Allerdings hielten weder die amerikanische noch die irakische Regierung ihre großen Versprechen gegenüber den Sunniten. Sunniten und vor allem Mitglieder der früher regierenden Baath-Partei wurden faktisch weiter vom politischen Leben des Irak ausgeschlossen. Nach der Entmachtung des ISI erhielten sie auch kein Geld mehr. Viele junge Sunniten wurden wieder arbeitslos. Statt belohnt zu werden, wurden die Sunniten unterdrückt und durch Todesmilizen gejagt. Iraks schiitischer Ministerpräsident Nuri Al Maliki errichtete ein antisunnitisches Terrorregime. Aus Rache für die harten Jahre unter Saddam. Der Westen wusste das alles. Aber es interessierte ihn nicht.

Nachdem die ISI-Chefs Al Masri und der erste Al Baghdadi im April 2010 durch US-Luftschläge getötet worden waren, übernahm der 38-jährige promovierte Abu Bakr Al Baghdadi im Mai 2010 die Führung der ausgedünnten ISI-Zellen. Sie unterstanden noch immer Al Qaida.

2011, während des sogenannten Arabischen Frühlings, schlossen sich verarmte, ehemalige Saddam-Kommandeure dem ISI an. Auch sie waren 2003 aus den irakischen Streitkräften ausgeschlossen worden und hatten nie wieder eine Chance bekommen. ISI wuchs dadurch abermals zu einer kleinen, schlagkräftigen Kampftruppe heran. Al Baghdadi setzte den Feldzug Zarkawis gegen die Schiiten und die Regierung Maliki fort. Mit der gleichen Brutalität und der gleichen rigiden AQI-Shariah-Auslegung wie dieser.

Als parallel in Syrien der bewaffnete Widerstand gegen Assad an Fahrt gewann, gründete Al Baghdadi dort Ende 2011 unter der Führung des Syrers Abu Mohammad Al Julani die Terrororganisation Jabhat Al Nusra. Sie kämpfte in den folgenden Monaten mit zunehmendem Erfolg gegen das syrische Regime. Die Nähe zum ISI und zu Al Qaida wurde anfangs verschwiegen. Aus gutem Grund: Al Qaida und der irakische ISI waren unter den Syrern nicht beliebt.

Der »alawitische Ketzer« Assad entsprach perfekt dem Feindbild der Rebellen. Säkular, alawitisch, einer der engsten Verbündeten des schiitischen Iran und angeblich insgeheim prowestlich, ja sogar proisraelisch. Die meisten Rebellen, die ich in Syrien traf, hielten Assad für einen Freund Israels, obwohl Israel mehrfach seine Stellungen bombardieren ließ. Gegen Feindbilder ist auch in Syrien kein Kraut gewachsen.

In die Aufstände in Syrien waren mehrere Regierungen des Nahen Ostens und des Westens verwickelt, die großes Interesse an einem Umsturz in dem Land hatten. Saudi-Arabien, Katar, die USA, Frankreich, England und andere versuchten den Widerstand gegen Assad zu stärken. Durch Geld und Waffenlieferungen und durch eine Öffentlichkeitsarbeit, die in manchem an die Desinformationskampagnen vor dem Irakkrieg 2003 erinnerte. Wenn ich bei meinen Syrienbesuchen abends die westliche Internetberichterstattung las, dachte ich oft, die westlichen Medien schrieben über ein ganz anderes Land als das, das ich gerade intensiv erlebte.

Die Waffen, die dazu beitrugen, aus den friedlichen Demonstrationen einen gnadenlosen Bürgerkrieg zu machen, wurden mit freundlicher Zustimmung der USA in riesigen Cargo-Containern per Schiff oder per Flugzeug in die Türkei gebracht. Von dort wurden sie nach Syrien transportiert und an die Rebellen weitergegeben. Kleinere Schmuggelrouten führten durch den Libanon und später durch den Irak.

Abgesegnet wurden die Lieferungen von CIA-Offizieren, die an geheimen Orten festlegten, an wen welche Waffen gehen sollten. So konnten die Amerikaner angeblich sicherstellen, dass Waffen nicht direkt an Jabhat Al Nusra oder andere extremistische Gruppen geliefert wurden. Obwohl sie dies auf syrischem Territorium nicht mehr unter Kontrolle hatten. Dass die Waffen später auch bei terroristischen Gruppen landen würden, wussten sie. Wie jeder, der die militärische Lage in Syrien nur einigermaßen kannte. Die militantesten Rebellengruppen konnten sich hinter der Grenze stets die besten Waffen aussuchen. Oft wurden die ausländischen Waffen von den als gemäßigt geltenden Gruppen einfach an Al Qaida nahestehende Organisationen weiterverkauft. In Syrien kam es zu einem blühenden und lukrativen Waffenhandel.

Auch private Spender und Organisationen aus Saudi-Arabien und Kuwait organisierten in großem Stil Geld, Waffen und Kämpfer. Der größte Teil des Geldes und der Waffen ging an radikale islamistische Gruppen. Zwar war das nach den Gesetzen dieser Länder verboten, aber das hinderte die wenigsten.

Bis 2013 wuchs Jabhat Al Nusra zur stärksten Rebellengruppe Syriens heran. Sie wurde so mächtig, dass Al Baghdadi sich genötigt sah, öffentlich zu erklären, dass Jabhat Al Nusra eigentlich nichts anderes war als ISI in Syrien. Konsequenterweise fordert er Julani auf, ihm öffentlich den Treueid zu schwören. Der aber weigerte sich und schwor seinen Treueid lieber dem Al-Qaida-Führer Ayman al Zawahiri. Julani wollte Filiale der Zentrale, aber nicht Filiale der Filiale sein.

Al Zawahiri forderte deshalb Al Baghdadi auf, Al Nusra und ISI »wie bisher« getrennt zu lassen, damit jede der beiden Organisationen sich auf ihre jeweiligen Gebiete konzentrieren könne. Al Baghdadi lehnte das kategorisch ab und erklärte, Al Nusra sei weiterhin Teil des ISI. Da Zawahiri und Julani nicht nachgaben, brach Al Baghdadi offiziell mit Al Qaida und erklärte Julani zum Abtrünnigen. Über die Hälfte der Nusra-Kämpfer verließ daraufhin Julani, lief zu Al Baghdadi über und schwor ihm Treue.

Rakka und der Nordosten Syriens gerieten nun unter die Kontrolle von Al Baghdadi. Er benannte ISI in ISIS um (»Islamischer Staat im Irak und Al Sham – die Levante«). Später nannte er ISIS nur noch IS, »Islamischer Staat«. Eine geografische Begrenzung gab es bei diesem Namen nicht mehr. Der Anspruch von IS ist schließlich global. Als Abu Bakr Al Baghdadi das Kalifat »der Islamische Staat« ausrief, lebten bereits über sechs Millionen Menschen im »Islamischen Staat«.

II Ziele des Westens

Und wieder führt der Westen Krieg im Mittleren Osten. Ist es der zwanzigste, der dreißigste Krieg in dieser ölreichen Region? Diesmal geht es gegen den IS, den sogenannten »Islamischen Staat«, dessen demonstrative Brutalität die Welt erschauern lässt. Doch geht es dem Westen wirklich in erster Linie um das Ziel, mittelalterliche Barbareien zu unterbinden? Oder interveniert er, weil der IS inzwischen im Irak seine Ölinteressen beeinträchtigt? Immerhin ist es den Kämpfern des IS gelungen, die »Strategische Pipeline« des Irak in die Türkei unter ihre Kontrolle zu bringen und damit die Lebensader der irakischen Ölindustrie zu zerstören.

Für die Störungsfreiheit der Ölförderung und des Öltransports waren die USA stets bereit, Kriege zu führen. Solange die IS-Kämpfer nur in Syrien, fernab der viel größeren irakischen Ölfelder, mordeten und köpften, ließen die USA sie gewähren. Sie unterstützten sie sogar indirekt. Über die mit ihnen verbündeten Golfstaaten. Ähnlich wie die anderen großen syrischen Terrororganisationen Jabhat Al Nusra, Islamic Front oder Ahrar Al Sham. Weil sie Assad bekämpfen. Den Verbündeten des Iran, der den USA durch den Irakkrieg 2003 und den Sturz seines Gegners Saddam Hussein zu mächtig geworden ist. Worum geht es dem Westen in diesem neuen Irakkrieg wirklich?

Der vor 500 Jahren beginnende Aufstieg des Westens beruhte nie auf Altruismus. Nie auf zivilisatorischen Ideen für den Rest der Welt, sondern auf der konsequenten Verfolgung seiner eigenen wirtschaftlichen Interessen. Und auf der Gnadenlosigkeit seiner Armeen. Meist schoben die westlichen Staatsoberhäupter allerdings edle Motive vor, um sich die Unterstützung ihrer Untertanen oder Wähler zu sichern. Erst erschlugen sie die Menschen anderer Kulturen im Namen des Christentums, dann im Namen der Menschenrechte und der Demokratie. Doch in Wirklichkeit ging es immer nur um Geld, Macht und Ruhm. Bis heute. Der Amerikaner Samuel Huntington ist sich mit vielen Historikern einig, wenn er feststellt: »Der Westen hat die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Werte erobert, sondern durch seine Überlegenheit beim Anwenden von Gewalt. Westler vergessen diese Tatsache oft, Nichtwestler nie.« Die westliche Gewalttätigkeit sprengte alle Grenzen. Sie ging sogar über das hinaus, was uns der bestialische IS-Terrorismus heute vorführt.

Louis de Baudicour, französischer Schriftsteller und Kolonist, schilderte eine der ungezählten Barbareien Frankreichs in Algerien: »Hier schnitt ein Soldat aus Spaß einer Frau die Brust ab, dort nahm ein anderer ein Kind an den Beinen und zerschmetterte seinen Schädel an einer Mauer.« Victor Hugo, ein anderer Franzose, berichtete von Soldaten, die sich gegenseitig Kinder zuwarfen, um sie mit der Spitze ihrer Bajonette aufzufangen. Für in Salz eingelegte Ohren gab es 100 Sous.

Abgeschnittene Köpfe brachten deutlich mehr ein. Bis zum Ende des Algerienkriegs 1962 waren Enthauptungen algerischer Freiheitskämpfer an der Tagesordnung. Die abgeschnittenen Köpfe wurden anschließend öffentlich zur Schau gestellt. Wie heute im »Islamischen Staat«.

Den Irakern erging es unter britischer Kolonialherrschaft nicht besser. Winston Churchill warf ihnen 1920 wegen ihres Aufstands gegen die Krone »Undankbarkeit« vor. Er setzte chemische Waffen ein, »mit ausgezeichneter moralischer Wirkung«, wie er stolz vermerkte.

In Libyen wurden Stammesführer in Flugzeuge gepackt und aus großer Höhe abgeworfen. Libysche Mädchen wurden für die italienischen Kolonialtruppen als Sexsklavinnen gehalten. Hunderttausende Zivilisten wurden in Wüstenkonzentrationslager gesperrt, in denen die Hälfte kläglich zugrunde ging.

An diesen sadistischen Grausamkeiten hat sich bis heute nichts geändert. Wir haben sie nur nie beachtet oder verdrängt. Die muslimische Welt hat sie nicht vergessen. Im US-Foltergefängnis Bagram bei Kabul ging es laut führenden amerikanischen Militärs barbarischer zu als in Guantanamo. Taliban-Gefangene wurden so lange durch Kampfhunde vergewaltigt (!), bis sie alles gestanden. Ich habe die Zeugenaussage eines westlichen Sicherheitsspezialisten veröffentlicht. Niemand empörte sich. Was wäre geschehen, wenn amerikanische GIs durch Hunde vergewaltigt worden wären?

Ähnlich brutal gingen die westlichen »Vorkämpfer für Menschenrechte« nach 2003 im Irak vor. Die junge Irakerin Manal wurde im Flughafengefängnis von Bagdad gezwungen, der Vergewaltigung eines jungen irakischen Widerstandskämpfers durch einen GI zuzusehen. Sie hat ihre Demütigung hundertfach in die Welt hinausgeschrien, ist vor Gericht gezogen. Niemand hat sich dafür interessiert. Es war ja kein amerikanisches Mädchen, das da zerbrach.

In Guantanamo wurden nach neuesten Berichten Gefangene von US-Beamtinnen missbraucht. Manchmal von zwei Frauen gleichzeitig. Als die sexuellen Übergriffe in den USA bekannt wurden, verwarnte man die Beamtinnen lediglich. Gefangene Araber zu missbrauchen, scheint für den Westen kein Verbrechen zu sein. Der Spiegel hat ausführlich darüber berichtet. Interessiert hat der Skandal niemanden.

Wenn IS-Kämpfer vergleichbare Verbrechen begehen, kennt die Empörung des Westens keine Grenzen. Regierungen treten zusammen, Militärstäbe tagen, um Strategien zu finden, wie wir derart schamlose Angriffe auf »unsere Werte« unterbinden können. Von Arabern begangene Verbrechen sind offenbar etwas anderes als Verbrechen, die wir begehen. Eigentlich ist das Rassismus in seiner widerlichsten Form.

Laut dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre wurden die Araber vom Westen stets als Untermenschen »auf der Stufe eines höheren Affen« behandelt. Sie waren »Bewohner« Arabiens, aber nie echte »Eigentümer«. Selbst der große französische Politiker und Publizist Alexis de Tocqueville stellte die Frage: »Hat man beim Anblick der Vorgänge in der Welt nicht den Eindruck, dass der Europäer für andere Rassen das ist, was der Mensch für die Tiere bedeutet? Er macht sie seinem Dienst untertan, und wenn er sie nicht mehr unterjochen kann, vernichtet er sie.«

Nicht ein einziges Mal hat in den letzten 200 Jahren ein arabisches Land ein westliches Land angegriffen. Angreifer waren immer die europäischen Großmächte. Millionen arabische Zivilisten wurden dabei brutal ermordet. Das Gerede von der Grausamkeit der Muslime stellt alle Fakten auf den Kopf. Der Westen war viel grausamer als sie.

Nicht nur in der muslimischen Welt. Als Mahatma Gandhi gefragt wurde, was er von der westlichen Zivilisation halte, antwortete der Inder: »Ich denke, sie wäre eine gute Idee.« Die erlebte Realität westlicher Herrschaft in Indien allerdings fand er »satanisch«. Als ich 1975 als junger Abgeordneter der indischen Premierministerin Indira Gandhi einen unerbetenen Vortrag über die Bedeutung der Menschenrechte für die westliche Politik hielt, fragte sie erstaunt: »Glauben Sie das wirklich?«

Ex-NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark berichtete, man habe ihm kurz nach 9/11 im Pentagon eine geheime Liste mit sieben Schurkenstaaten gezeigt, die man in den nächsten fünf Jahren angreifen wolle. Darunter Irak, Libyen, Syrien und Iran. Bushs Kriegstreiber wollten sich die einmalige Gelegenheit der Terroranschläge des 11. September nicht entgehen lassen. Sie wollten in den Worten von Clark die Gunst der Stunde nutzen, um mit mehreren Kriegen »den Mittleren Osten zu destabilisieren, auf den Kopf zu stellen und dann zu kontrollieren«. Ehrenwerte Gründe würde man schon finden.

Die westliche Öffentlichkeit tut sich schwer, ein derart zynisches Spiel der westlichen Politik zu durchschauen. Sie glaubt wirklich, wir seien »die Guten«. Das Feindbild Islam, jahrhundertelang vom Westen gezeichnet, hat sich tief eingeprägt. Doch es ist ein manipuliertes Bild.

Es waren keine Muslime, die den »heiligen Krieg« erfanden und auf Kreuzzügen über vier Millionen Muslime und Juden niedermetzelten. Es waren Christen, die in Jerusalem »bis zu den Knöcheln im Blut wateten, bevor sie glücklich weinend« zum Grab des Erlösers schritten. Es waren auch keine Muslime, die im Namen der Kolonisierung Afrikas und Asiens 50 Millionen Menschen massakrierten. Es waren keine Muslime, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg mit fast 70 Millionen Toten anzettelten. Und es waren keine Muslime, sondern wir Deutsche, die zehn Millionen Slawen und sechs Millionen Juden, Mitbürger, Nachbarn und Freunde, feige und schändlich ermordeten. Wann haben unsere sogenannten christlichen Politiker dem Christentum, dieser wunderbaren Religion der Liebe, Ehre gemacht? Wann und wo haben wir unsere Bruderreligionen Judentum und Islam mit Respekt und Liebe behandelt?

Die vom Westen in den letzten fünf Jahrhunderten eroberten Kontinente und Länder haben unsere Barbareien nicht widerstandslos hingenommen. Obwohl ein großer Teil der Bevölkerung sich anpasste, gab es fast überall Widerstandsgruppen. Friedliche wie Gandhis »Ziviler Ungehorsam« in Indien. Bewaffnete wie einst die FLN (»Nationale Befreiungsfront«) in Algerien oder der legale irakische Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Invasion der USA im Jahr 2003.

Allerdings erkannte schon Jean Cocteau, der französische Schriftsteller: »Die Sauberkeit einer Revolution dauert höchstens vierzehn Tage.« Legaler Widerstand wird schnell zu mörderischem Terrorismus. Nicht nur in der muslimischen Welt. Neben christlichen Terroristen wie George Habash, der jüdische Siedler brutal ermorden ließ, gab es auch zionistische Terrororganisationen wie die Irgun von Menachem Begin oder die sich selbst terroristisch nennenden »Kämpfer für die Freiheit Israels« von Jitzchak Schamir. Die Terroristen Begin und Schamir wurden später Ministerpräsidenten ihrer Länder. Heftig umworben und unterstützt vom Westen.

Terrorismus ist ein weltweites, kein muslimisches Phänomen. Nach Angaben von Global Terrorism Database, einemvon der US-Regierung offiziell geförderten Exzellenzzentrum, gab es 2013 in der westlichen Welt 239 Terroranschläge. Nur zwei wurden von Muslimen begangen. Im Jahr davor waren es sechs von 196. Die meisten der 239 Anschläge wurden von Unbekannten begangen, gefolgt von Separatisten, Linksextremisten, Rechtsextremisten, Protestanten und sonstigen.

Der Satz: »Nicht jeder Muslim ist ein Terrorist, aber jeder Terrorist ein Muslim« ist Unfug. Auch wenn die »islamistischen« Terroranschläge überdurchschnittlich blutig waren. In Deutschland wurde übrigens bis heute nicht ein einziger Deutscher durch »islamistische« Terroristen getötet. Aber allein seit 1990 wurden in Deutschland 29 Muslime durch Rechtsradikale ermordet. Man denke an die NSU-Morde oder an die Morde von Mölln und Solingen. Antiislamische Hassprediger lassen sich durch diese Fakten nicht aufhalten.

Der »islamistische« Terrorismus der letzten Jahre wütete allerdings nicht in erster Linie im Westen, sondern im Mittleren Osten. Aufgeputscht durch die Antiterrorkriege der USA in Afghanistan, im Irak und in Libyen. Sie waren regelrechte Terrorzuchtprogramme. Doch dieser Terrorismus, so schrecklich er für seine Opfer in Ost und West war, störte die amerikanischen Weltstrategen nie wirklich. Im Gegenteil, er lieferte wichtige Vorwände, um mit Zustimmung der US-Wähler immer wieder auf der Achse des Öls und des Erdgases, der sogenannten Achse des Bösen, zu intervenieren. Öl war nun mal laut Exaußenminister Henry Kissinger viel zu wertvoll, als dass man es den Arabern überlassen konnte.

Terroristen sind »Schurken«, die die US-Politik schon immer brauchte, um ihren militärischen Interventionen den Anschein von Legitimität zu geben. Berühmt ist der verzweifelte Ausruf von Exgeneral Colin Powell nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: »Mir gehen die Schurken aus!« Wenn es keine Terroristen gäbe, würden die USA sie erfinden. Manchmal tun sie das auch.

Vieles über die aggressive amerikanische Erdöl- und Erdgasstrategie kann man in offiziellen Dokumenten nachlesen. Im Mai 1997 etwa erklärte die US-Regierung, sie sei zu militärischen Interventionen verpflichtet, wenn es um die »Sicherung des uneingeschränkten Zugangs zu den Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategischen Ressourcen« gehe. Nur Idioten kapieren nicht, worum es heute in der Weltpolitik geht: »It’s the oil, stupid!« Öl, das schwarze Gold, von dem der amerikanische Wohlstand abhängt. Öl, das hinterhältigste Geschenk des Teufels.

Terroristen verstehen ihre Anschläge als berechtigte Antwort auf die aggressiv ausbeuterische Politik der USA, die ihre Länder als amerikanische Tankstellen betrachten. Und dabei brutalste Methoden anwenden. Junge Muslime in Deutschland und im Irak sehen Tag für Tag, Jahr für Jahr, wie in Afghanistan, Pakistan, im Irak, Jemen, in Somalia oder Palästina muslimische Frauen, Kinder und Männer durch westliche Waffen, westliche Verbündete und westliche Soldaten schwer verletzt und getötet werden. Bis einige von ihnen irgendwann reagieren. Niemand kommt als Terrorist auf die Welt.

Hauptleidtragende dieses Terrorismus, der angeblich den Mittleren Osten befreien soll, sind die dort lebenden Zivilisten. Muslime und Christen gleichermaßen. Genauso wie bei den Bombenangriffen, mit denen der Westen diesen Terror glaubt »bekämpfen« zu können. Die überwiegende Mehrheit der Muslime und Christen steht wehrlos und verzweifelt inmitten dieses grauenvollen Kreislaufs der Gewalt.

Die Terroristen des Mittleren Ostens wissen, dass sie nur eine Minderheit sind. Dass die erdrückende Mehrheit der Muslime sich auf friedlichem Wege aus ihrem Elend befreien möchte. Der Terrorismus des Mittleren Ostens ist ein Minderheitenphänomen. Doch er sieht die Rettung der muslimischen Welt als seine Pflicht an, der er sich angeblich nicht entziehen kann. Vor allem, wenn der Westen das Heiligste der Muslime, ihre Religion, verhöhnt und mit Füßen tritt. Der Westen versteht nicht, dass eine Verhöhnung des Propheten Mohammed genauso verletzt wie jeder Bombenangriff. Es interessiert ihn auch nicht. Es gilt ja, unsere Werte zu verteidigen und nicht die Werte der muslimischen Welt.

Die meisten Terroristen wissen, dass sie militärisch gegen den Westen keine Chance haben und vor allem sich selbst und ihre eigene Welt zerstören. Jean-Paul Sartre hat diese selbstzerstörerische Verzweiflung schon 1961 während des Freiheitskriegs der Algerier beschrieben:

»Die zurückgehaltene Wut dreht sich im Kreis und richtet unter den Unterdrückten selbst Verheerungen an. Um sich von ihr zu befreien, schlachten sie sich untereinander ab. Die Stämme kämpfen gegeneinander, weil sie den eigentlichen Feind nicht angreifen können, und man kann sich darauf verlassen, dass die Kolonialpolitik ihre Rivalitäten schüren wird. Die Sturmflut der Gewalt reißt alle Schranken nieder. Das ist der Moment des Bumerangs. Die Gewalt schlägt auf uns zurück, und wir verstehen so wenig wie früher, dass es unsere eigene Gewalt ist.«

In der muslimischen Welt wird seit Langem darüber gestritten, ob man den in vielen Bereichen überlegenen Westen imitieren oder sich stärker auf islamische Werte und Traditionen besinnen soll. Terroristische Organisationen suchen ihr Heil in der Rückkehr zu einem mehr oder weniger »puritanischen« Islamismus. Massiv finanziell unterstützt vom streng wahhabitischen Königreich Saudi-Arabien. Wahhabiten sehen im Koran eine Botschaft Gottes, die für alle sozialen, kulturellen und politischen Fragen auf ewige Zeiten klare, unveränderbare Anweisungen bereithält. Die Wahhabiten sind eine finanzkräftige, kleine Minderheit. Nur zwei Prozent der 1,6 Milliarden Muslime gehören dieser strengen islamischen Konfession an. Und auch das nur, wenn man die sogenannten Salafisten dazurechnen würde. Die Mehrheit der Muslime unserer Welt versucht die Botschaften des Koran mit den Realitäten unserer Zeit zu versöhnen. Sie vertritt einen deutlich maßvolleren, milderen, modernen Islam.

Dieser innerislamische religiöse Konflikt wird überlagert von der Frage, wie man auf die aggressive Militärpolitik des Westens reagieren soll. Die radikalste Antwort gibt der IS. Er verbindet den bedingungslosen Kampf gegen die westliche Welt mit einem ebenso erbarmungslosen Kampf gegen alle Muslime, die sich ihrer brutal mittelalterlichen Ideologie nicht unterwerfen. Für den IS heißt die Antwort auf alle Fragen unserer Zeit »Islamischer Staat«. Vorerst nur im Mittleren Osten, langfristig jedoch weltweit.

All das sind Erklärungen, keine Entschuldigungen. Terrorismus lässt sich nicht rechtfertigen. Der des IS schon gar nicht. Wenn Zivilisten getötet werden, handelt es sich immer um Mord. Darüber kann es keine Diskussion geben. Wer diesen Absatz überliest, hat den Sinn der historischen Einordnung des IS nicht verstanden.

Ich bin in meinem Leben vielen Militanten und Terroristen begegnet. 1960 als Student Kämpfern der FLN in Algerien, 1971 als Richter Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF), in den Siebzigerjahren als Abgeordneter Freiheitskämpfern und Terroristen in Mosambik, Angola und Namibia, 2007 als Medienmanager erstmals Kämpfern des IS im Irak, 2010 Taliban-Führern in Afghanistan, 2012 Al-Qaida-Terroristen in Syrien usw. Sie behaupteten, sie kämpften einen edlen Befreiungskrieg für ihr »in Ketten liegendes Volk«. Sie waren der Auffassung, das Verbot »Du sollst nicht töten« sei für sie aufgehoben. Sie argumentierten und handelten alle wie nach einer Gehirnwäsche. Irgendjemand hatte in ihrem Kopf einen Schalter umgelegt. Plötzlich war alles erlaubt. Sie kämpften ja für eine gute Sache. Von ihren ideologischen Wahnvorstellungen abgesehen, waren sie meist ziemlich normale Zeitgenossen. Und dennoch waren sie Mörder. Ohne Wenn und Aber.

Aber sind nicht auch die Hintermänner völkerrechtswidriger Angriffskriege Terroristen und Mörder – auch ihrer eigenen Soldaten? Al Qaida tötete im gesamten Westen, in Amerika und Europa, in den letzten 14 Jahren über 3300 Menschen. Bush jr. jedoch allein durch den Afghanistan- und Irakkrieg mindestens 600000 Menschen. Im Irak in einem überwiegend auf Lügen aufgebauten völkerrechtswidrigen Krieg. Ist das kein Terrorismus? Hatte der Brite Peter Ustinov nicht recht, als er Angriffskriege den »Terrorismus der Reichen« nannte? Für ein irakisches Kind macht es keinen Unterschied, ob es von einem »muslimischen« Selbstmordattentäter oder von einer »christlichen« Bombe zerfetzt wird. Krieg ist der Terror der Reichen, Terror der Krieg der Armen. Qualitative Unterschiede habe ich bis heute keine gefunden.

Edward Peck, unter Ronald Reagan stellvertretender Vorsitzender der Terrorismus-Arbeitsgruppe des Weißen Hauses, schildert die Schwierigkeiten, Staatsterrorismus von gewöhnlichem Terrorismus abzugrenzen in einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation: »Wir haben sechs Terrorismus-Definitionen vorgelegt. Sie wurden alle abgeschmettert. Bei sorgfältigem Lesen stellte sich jedes Mal heraus, dass die USA selbst in derartige Aktivitäten verwickelt waren.«

Terrorismus ist nie religiös. Es gibt in Wirklichkeit keinen »islamischen Terrorismus«, so wie der Terrorismus der nordirischen IRA oder des Norwegers Anders Breivik nie christlich war. Der Terror von Muslimen wird von uns islamistisch genannt. Westlichen Terror würden wir jedoch nie christlich nennen – oder christ-istisch. Wir manipulieren die Öffentlichkeit bereits durch die sprachliche Charakterisierung unserer Feinde. Wer sich als Terrorist teuflischer Methoden bedient, kann sich nicht auf Gott berufen. Die Behauptung, dass Terrorismus vor allem ein religiöses Problem sei, ist eine atheistische Legende. Die Massenmorde der deutschen Nationalsozialisten, der sowjetischen und chinesischen Kommunisten sind der traurige Beweis, dass der Mensch das grausamste aller Geschöpfe sein kann. Mit und ohne Religion.

ENDE DER LESEPROBE