Warum wir sterben - Venki Ramakrishnan - E-Book

Warum wir sterben E-Book

Венки Рамакришнан

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Beschreibung

Werden wir bald für immer leben? Wir erleben eine Revolution in der Biologie: Unsterblichkeit, einst eine schwache Hoffnung, war noch nie so greifbar für uns. Der Nobelpreisträger für Chemie Venki Ramakrishnan berichtet über die jüngsten Durchbrüche in der wissenschaftlichen Forschung und verändert für immer unser Verständnis über das Altern, das Sterben und den Tod. Das Wissen um den Tod ist erschreckend –  so sehr, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens damit verbringen, den Gedanken daran zu verdrängen. Unsere Angst vor dem Sterben hat Religionen hervorgebracht, die Philosophie geprägt und die Wissenschaft vorangetrieben. Mittlerweile hat die Forschung viele neue Erkenntnisse über unser bisher unvermeidliches Ende gewonnen und weiß um die unglaubliche Möglichkeit, dass unser Tod irgendwann nicht mehr oder sehr viel später in unserem Leben eintreten könnte. Venki Ramakrishnan erzählt fesselnd von diesen Einsichten und erklärt, was der Tod ist und wie er aus langwierigen evolutionären Prozessen hervorging. Schließlich legt er dar, inwiefern sich unsere Biologie so anpassen könnte, dass Unsterblichkeit möglich ist – und stellt die gewichtige Frage, ob der Preis der Unsterblichkeit nicht zu hoch ist. Eine spannende Reise durch die Biologie des Todes. »Absolut faszinierend. Venki Ramakrishnans Fähigkeit, die anspruchsvollsten Themen klar und fesselnd darzustellen, erfüllt mich mit Ehrfurcht.« Bill Bryson »Eine unglaubliche Reise.« Siddhartha Mukherjee »Dieses fesselnde und aufschlussreiche Buch richtet sich an alle von uns, die sich fragen, ob Alter und Sterblichkeit die nächsten Grenzen sind, die die menschliche Wissenschaft überschreiten muss. Ist der erste Mensch, der zweihundert Jahre alt werden soll, bereits geboren? Können wir unsere Lebenserwartung wirklich immer weiter verlängern, bis … bis wann? Unsterblichkeit? ›Warum wir sterben‹ nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Wissenschaft des Alterns. Treffen Sie unterwegs Nacktmulle, Wattwürmer, aufkeimende Hefepilze und gruselige menschliche Scharlatane. Venki Ramakrishnan hat eine außergewöhnliche Gabe, Wissenschaft mit Klarheit, Witz und beneidenswert unterhaltsamem Erzählstil zu erklären.« Stephen Fry

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Seitenzahl: 509

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Dies ist der Umschlag des Buches »Warum wir sterben« von Venki Ramakrishnan, Sebastian Vogel

Venki Ramakrishnan

Warum wir sterben

Die neue Wissenschaft des Alterns und die Suche nach dem ewigen Leben

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Why We Die« im Verlag William Morrow, einem Imprint von HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York, NY 10 007.

© 2024 by Venki Ramakrishnan

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Lena Miava/Shutterstock

Illustrationen: © Elfy Chiang

Lektorat: Eckard Schuster, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98492-7

E-Book ISBN 978-3-608-12365-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Das unsterbliche Gen und der Wegwerfkörper

Kapitel 2

Schnell leben, jung sterben

Kapitel 3

Zerstörung der Schaltzentrale

Kapitel 4

Das Problem mit den Enden

Kapitel 5

Neustart der biologischen Uhr

Kapitel 6

Abfall-Recycling

Kapitel 7

Weniger ist mehr

Kapitel 8

Was wir von einem bescheidenen Wurm lernen können

Kapitel 9

Der blinde Passagier in uns

Kapitel 10

Schmerzen, Beschwerden und Vampirblut

Kapitel 11

Spinner oder Propheten?

Kapitel 12

Sollten wir ewig leben?

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1 – Das unsterbliche Gen und der Wegwerfkörper

Kapitel 2 – Schnell leben, jung sterben

Kapitel 3 – ZERSTÖRUNG DER SCHALTZENTRALE

Kapitel 4 – Das Problem mit den Enden

Kapitel 5 – NEUSTART DER BIOLOGISCHEN UHR

Kapitel 6 – Abfall-Recycling

Kapitel 7 – Weniger ist mehr

Kapitel 8 – Was wir von einem bescheidenen Wurm lernen können

Kapitel 9 – Der blinde Passagier in uns

Kapitel 10 – Schmerzen, BESCHWERDEN und Vampirblut

Kapitel 11 – Spinner oder Propheten?

Kapitel 12 – Sollten wir ewig leben?

Register

Für Vera, meiner Begleiterin im Alter

Einleitung

Vor fast genau hundert Jahren legte eine Expedition unter Leitung des Engländers Howard Carter(1) im Tal der Könige in Ägypten einige seit Langem verschüttete Stufen frei. Sie führten zu einem Portal mit königlichen Siegeln, ein Zeichen, dass es sich um ein Pharaonengrab handelte. Die Siegel waren unversehrt, das heißt, seit über dreitausend Jahren war hier niemand eingetreten. Vor dem, was sie dort drinnen fanden, erstarrte selbst der altgediente Ägyptologe Carter in Ehrfurcht: Die Mumie des jugendlichen Pharaos Tutanchamun mit ihrer großartigen goldenen Totenmaske hatte seit Jahrtausenden in dem Grab neben einer Fülle weiterer wunderschöner, verzierter Kunstwerke gelegen.[1] Die Gräber waren fest verschlossen gewesen, damit gewöhnliche Sterbliche dort nicht eindringen konnten – die Ägypter hatten sich große Mühe mit der Herstellung von Gegenständen gegeben, die nie dazu bestimmt waren, dass andere Menschen sie sahen.

Das prächtige Grab war Teil eines ausgefeilten Rituals, das darauf abzielte, den Tod zu überwinden. Der Eingang zu einem Raum voller Schätze wurde von einer schwarz-goldenen Statue des schakalköpfigen Unterweltgottes Anubis bewacht, dessen Funktion im Ägyptischen Totenbuch beschrieben ist. Die Schriftrolle mit diesem Buch wurde den Pharaonen häufig mit ins Grab gelegt. Man ist leicht versucht, es für eine religiöse Schrift zu halten, aber in Wirklichkeit war es eher ein Reiseführer: Es enthielt Anweisungen, wie man sich auf den heimtückischen Wegen zur Unterwelt zurechtfinden und so in ein seliges Jenseits gelangen konnte.[2] In einer der letzten Prüfungen wägt Anubis das Herz des Verstorbenen gegen eine Feder auf. Ist das Herz schwerer, gilt es als unrein, und die betreffende Person ist zu einem entsetzlichen Schicksal verdammt. Ist der Prüfling aber reinen Herzens, gelangt er in ein wunderschönes Land mit gutem Essen, Trinken, Sex und allen anderen Annehmlichkeiten des Lebens.

Mit ihrem Glauben an die Überwindung des Todes und ein ewiges Jenseits waren die Ägypter keineswegs allein. In anderen Kulturkreisen wurden zwar nicht so raffinierte Denkmäler errichtet wie für die ägyptischen Herrscher, aber in allen gab es Glaubensüberzeugungen und Rituale rund um den Tod.

Wann wurden sich Menschen zum ersten Mal ihrer Sterblichkeit bewusst? Das ist eine faszinierende Frage. Dass wir überhaupt etwas über unseren Tod wissen, ist eigentlich Zufall: Es setzte die Evolution eines Gehirns voraus, das sich seiner selbst bewusst werden kann. Höchstwahrscheinlich mussten sich dazu ein gewisses Maß an Kognition und die Fähigkeit zum Verallgemeinern entwickeln, aber auch eine Sprache, mit der diese Idee weitergegeben werden konnte. Niedere Lebensformen und auch komplexere wie die Pflanzen nehmen den Tod nicht wahr. Er tritt einfach ein. Tiere und andere empfindungsfähige Wesen dürften Gefahren und den Tod instinktiv fürchten. Sie erkennen, wenn ein Artgenosse stirbt, und in manchen Fällen weiß man sogar, dass sie trauern.[3] Aber nichts deutet darauf hin, dass Tiere sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst sind.[4] Damit meine ich nicht den Fall, dass sie gewaltsam, durch einen Unfall oder eine vermeidbare Krankheit ums Leben kommen. Vielmehr meine ich die Unausweichlichkeit des Todes.

Uns Menschen wurde irgendwann klar, dass das Leben eine Art ewiges Fest ist, an dem wir seit unserer Geburt teilnehmen. Während wir uns über das Festmahl freuen, bekommen wir mit, wie andere kommen und gehen. Irgendwann sind wir mit dem Abschied an der Reihe, obwohl die Feier noch in vollem Gang ist. Und wir fürchten uns davor, allein hinaus in die kalte Nacht zu gehen. Das Wissen vom Tod ist so beängstigend, dass wir es während eines großen Teils unseres Lebens leugnen. Und wenn jemand stirbt, fällt es uns schwer, die Tatsache rundheraus einzugestehen. Stattdessen benutzen wir schönfärberische Worte wie »verschieden« oder »von uns gegangen«, die nahelegen, dass der Tod nichts Endgültiges ist, sondern nur der Übergang zu etwas anderem.

Damit die Menschen das Wissen von der eigenen Sterblichkeit besser bewältigen können, hat sich in allen Kulturen eine Kombination aus Überzeugungen und Strategien entwickelt, deren Zweck es ist, den Tod nicht als etwas Endgültiges zu betrachten. Nach Ansicht des Philosophen Stephen Cave(1) hat das Streben nach Unsterblichkeit(1) die menschliche Zivilisation seit Jahrhunderten vorangetrieben.[5] Unsere Bewältigungsstrategien teilt er in vier »Pläne« ein. Der erste, Plan A, besteht einfach darin, für immer oder zumindest so lange wie möglich zu leben. Wenn das nicht klappt, besteht der Plan B in der körperlichen Wiedergeburt nach dem Tod. Im Plan C zerfällt der Körper und kann nicht wieder auferstehen, aber unser Wesen bleibt als unsterbliche Seele erhalten. Plan D schließlich bedeutet, dass wir in unserem Erbe weiterleben, ob es nun aus Werken und Denkmälern oder aus unseren biologischen Nachkommen besteht.

Den Plan A haben die Menschen immer in ihr Leben eingebaut, aber auf die anderen Pläne greifen die Kulturen in unterschiedlichem Ausmaß zurück. In Indien, wo ich aufgewachsen bin, machen Hindus und Buddhisten sich fröhlich den Plan C zu eigen und glauben daran, dass jeder Mensch eine unsterbliche Seele hat, die nach dem Tod als Reinkarnation in einem neuen Körper und sogar in einer ganz anderen Spezies weiterlebt. Die abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – halten sich an die Pläne B und C. Sie glauben an eine unsterbliche Seele, aber auch an den Gedanken, dass wir irgendwann in der Zukunft körperlich auferstehen und gerichtet werden. Vielleicht ist das der Grund, warum diese Religionen traditionell darauf bestanden haben, den ganzen Körper zu bestatten, während die Einäscherung verboten war.

Manche Kulturen, so auch die alten Ägypter, gingen auf Nummer sicher, indem sie alle vier Pläne in ihre Glaubensüberzeugungen aufnahmen. Sie legten Mumien der verstorbenen Pharaonen in prachtvolle Gräber, damit sie im Jenseits körperlich wieder auferstehen konnten. Sie glaubten aber auch an eine Seele, Ba genannt, die das Wesen des Menschen darstellt und nach dem Tod weiterlebt. Eine ähnliche Haltung zur Unsterblichkeit(2) nahm auch Qin Shi Huang ein, der erste Kaiser des vereinigten China.[6] Nachdem er vielen Anschlägen auf sein Leben entgangen war, andere Staaten in Kriegen erobert und seine Macht gefestigt hatte, war er darauf aus, das Lebenselixier zu finden. Er schickte Gesandte aus, die noch den leisesten Gerüchten darüber nachgehen sollten. Wenn sie es nicht fanden, drohte ihnen die sichere Hinrichtung, also machten sich viele von ihnen verständlicherweise davon, und man hörte nie wieder etwas von ihnen. In einer extremen Kombination der Pläne B und D gab Qin auch den Befehl, für ihn in Xian ein Mausoleum von der Größe einer Stadt zu bauen, eine Arbeit, an der 700 000 Männer mitwirkten. In der Grabstätte befand sich eine Armee von 7000 Kriegern und Pferden aus Terrakotta, die alle den verstorbenen Kaiser bis zu seiner Wiedergeburt bewachen sollten. Qin starb 210 v. u. Z. im Alter von 49 Jahren. Ironischerweise wurde sein Leben vermutlich durch giftige Tränke verkürzt, mit denen er sein Leben verlängern wollte.

Im 18. Jahrhundert, mit dem Beginn von Aufklärung(1) und moderner Naturwissenschaft, änderte sich unser Umgang mit dem Tod. Viele von uns halten zwar noch heute an irgendeiner Form der Pläne B und C fest, aber nach dem Aufstieg von Rationalität und Skeptizismus sind wir uns in unserem Innersten nicht mehr sicher, ob es sich dabei um echte Alternativen handelt. Unsere Aufmerksamkeit hat sich auf die Suche nach Wegen verlagert, am Leben zu bleiben und nach unserem Tod unser Erbe zu sichern.

Es ist eine seltsame Facette der menschlichen Psychologie: Selbst wenn wir anerkennen, dass wir irgendwann nicht mehr da sein werden, empfinden wir ein starkes Bedürfnis, in Erinnerung zu bleiben. Sehr reiche Menschen engagieren sich, statt sich Grabstätten und Denkmäler errichten zu lassen, gemeinnützig und finanzieren Bauwerke oder Stiftungen, die sie lange überdauern werden. In Schriftstellerei, Kunst, Musik und Wissenschaft haben Menschen zu allen Zeiten mit ihren Werken nach Unsterblichkeit(3) gestrebt. Aber durch unser Erbe weiterzuleben, ist letztlich keine ganz und gar befriedigende Aussicht.

Aber auch wer weder ein mächtiger Monarch noch Milliardär oder Einstein(1) ist, braucht nicht zu verzweifeln. Der zweite Weg, ein Erbe zu hinterlassen und in Erinnerung zu bleiben, steht nahezu allen Lebewesen offen: Sie bringen Nachkommen hervor. Der Wunsch, sich fortzupflanzen, sodass ein Teil von uns weiterlebt, gehört zu den stärksten biologischen Instinkten, die sich in der Evolution entwickelt haben, und spielt in unserem Leben eine so zentrale Rolle, dass darüber später noch viel mehr zu sagen sein wird. Aber auch wenn wir unsere Kinder und Enkel lieben und wollen, dass sie noch lange leben, wenn wir nicht mehr da sind, wissen wir doch, dass sie eigenständige Lebewesen mit einem eigenen Bewusstsein sind. Sie sind nicht wir.

Dennoch leben die meisten Menschen nicht in ständiger Existenzangst wegen ihrer Sterblichkeit. Offenbar hat sich in der Evolution unseres Gehirns ein Schutzmechanismus entwickelt: Der Tod ist für uns etwas, das anderen zustößt, aber nicht uns selbst.[7] Verstärkt wird die Täuschung durch die Absonderung von Sterbenden. Früher waren wir überall um uns herum mit sterbenden Menschen konfrontiert, heute dagegen sterben viele von uns in Pflegeheimen oder Krankenhäusern, wo sie von der übrigen Bevölkerung getrennt sind. Deshalb führen die meisten – insbesondere jungen – Menschen ihr Alltagsleben, als wären sie unsterblich. Wir arbeiten hart, betreiben Hobbys, streben nach langfristigen Zielen, alles nützliche Ablenkungen von möglichen Sorgen rund um das Sterben. Aber ganz gleich, welche Taktik wir anwenden: Vollständig können wir uns dem Bewusstsein unserer Sterblichkeit nicht entziehen.

Damit sind wir wieder beim Plan A. Er ist die einzige Strategie, die allen empfindungsfähigen Lebewesen seit Jahrmillionen gemeinsam ist: Sie bemühen sich, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Schon in jungen Jahren meiden wir instinktiv Unfälle, Raubtiere, Feinde und Krankheiten. Dieses allgemeine Bestreben hat uns im Laufe der Jahrtausende dazu veranlasst, uns gegen Angriffe zu schützen: Wir bilden Gemeinschaften, bauen Befestigungen, entwickeln Waffen und unterhalten Armeen. Es hat aber auch dazu geführt, dass wir nach Arzneien und Heilmitteln suchen, und daraus entwickelte sich schließlich die moderne Medizin.

Unsere Lebenserwartung(1) veränderte sich über Jahrhunderte kaum, aber in den letzten 150 Jahren haben wir sie verdoppelt. Das lag vorwiegend daran, dass wir mehr über die Ursachen und die Ausbreitung von Krankheiten wussten, und an einem verbesserten öffentlichen Gesundheitswesen. Mit diesen Fortschritten ist es uns – vor allem durch die Verringerung der Säuglingssterblichkeit – gelungen, unsere durchschnittliche Lebenserwartung enorm zu verlängern. Aber eine Verlängerung der maximalen Lebensdauer – des längsten Zeitraums, den wir unter den bestmöglichen Umständen erleben können – ist ein viel schwierigeres Problem. Ist unsere Lebenserwartung festgelegt, oder können wir die Alterung verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen, wenn wir immer mehr über unsere biologischen Eigenschaften in Erfahrung bringen?

Die Revolution der Biologie, die vor über einhundert Jahren mit der Entdeckung der Gene begann, hat uns heute an einen Scheideweg geführt. Zum ersten Mal eröffnen neue Forschungsergebnisse über die grundlegenden Ursachen der Alterung die Aussicht, nicht nur unsere Gesundheit im Alter zu verbessern, sondern auch die Lebensdauer der Menschen zu verlängern.

Eine große Triebkraft für die Bestrebungen, die Ursachen der Alterung zu erkennen und Wege zur Linderung ihrer Auswirkungen zu finden, ist die Demografie. Große Teile der Welt stehen vor einer wachsenden alternden Bevölkerung, und sie so lange wie möglich gesund zu erhalten, ist zu einer dringenden gesellschaftlichen Notwendigkeit geworden. Dies hat zur Folge, dass die Altersforschung – auch Gerontologie(1) genannt –, die lange ein wissenschaftlicher Nebenschauplatz war, einen großen Aufschwung genommen hat.

Allein in den letzten zehn Jahren sind mehr als 300 000 Fachaufsätze über die Alterung erschienen. Mehr als 700 Start-up-Unternehmen haben Milliarden Dollar investiert, um die Alterung zu erforschen – die etablierten Pharmakonzerne mit eigenen Forschungsprojekten noch nicht mitgezählt.

Solche ungeheuren Anstrengungen werfen eine Reihe von Fragen auf. Können wir irgendwann der Krankheit und dem Tod ein Schnippchen schlagen und sehr lange – möglicherweise ein Vielfaches unserer heutigen Lebenserwartung(2) – am Leben bleiben? Manche Wissenschaftler behaupten das. Und Milliardäre aus Kalifornien, die ihre Lebensweise lieben und nicht wollen, dass die Party zu Ende geht, sind nur allzu gern bereit, sie zu finanzieren.

Die Unsterblichkeitsverkäufer von heute – Forschende, die vorhaben, das Leben unendlich zu verlängern, und die Milliardäre, von denen sie finanziert werden – sind eigentlich die Propheten alter Zeiten in neuem Gewand: Sie versprechen ein langes Leben, das im Wesentlichen frei von der Angst vor schleichender Alterung und Tod ist. Wem würde ein solches Leben zuteilwerden? Dem winzigen Anteil der Bevölkerung, der es sich leisten kann? Welche ethischen Fragen stellen sich, wenn man Menschen zu diesem Zweck behandelt oder verändert? Und wenn ein so langes Leben allgemein verfügbar wird, was für eine Gesellschaft hätten wir dann? Würden wir wie Schlafwandler in eine Zukunft stolpern, ohne die potenziellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen zu berücksichtigen, die sich einstellen, wenn Menschen deutlich über unsere heutige Lebensdauer hinaus am Leben bleiben? Angesichts der neuesten Fortschritte und der ungeheuren Geldbeträge, die in die Altersforschung fließen, müssen wir uns fragen, wohin solche Wissenschaft uns führt und was sie über die Grenzen des Menschen aussagt.

Die Coronapandemie, die Ende 2019 über die Welt hereinbrach, macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Natur sich nicht um unsere Pläne kümmert. Das Leben auf der Erde wird von der Evolution gelenkt, und wir werden wieder einmal daran erinnert, dass Viren schon lange vor den Menschen da waren, höchst anpassungsfähig sind und auch noch lange existieren werden, wenn es uns schon längst nicht mehr gibt. Ist es ein arroganter Gedanke, dass wir dem Tod mit Wissenschaft und Technologie ein Schnippchen schlagen können? Und wenn ja: Welche Ziele sollten wir stattdessen verfolgen?

Ich habe mich während des größten Teils meiner langen Berufslaufbahn mit der Frage beschäftigt, wie in den Zellen, aus denen unser Körper aufgebaut ist, die Proteine entstehen. Diese zentrale Fragestellung ist für praktisch alle Aspekte der Biologie von Bedeutung, und in den letzten Jahrzehnten haben wir entdeckt, dass die Alterung in vielerlei Hinsicht damit zu tun hat, wie unser Körper die Produktion und den Abbau von Proteinen steuert. Aber als ich am Anfang meiner Karriere stand, hatte ich keine Ahnung, dass irgendetwas an meiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der Frage stehen könnte, warum wir altern und sterben.

Obwohl ich die explosionsartige Zunahme der Alterungsforschung, die in unserem Verständnis des Alterns zu einigen echten Durchbrüchen geführt hat, immer faszinierend fand, beunruhigt mich zunehmend der damit verbundene ungeheure Wirbel. Er hat vielfach zur Vermarktung zweifelhafter Arzneien geführt, die nur in einer höchst vagen Verbindung zu den tatsächlichen wissenschaftlichen Befunden stehen. Dennoch verkaufen sie sich weiterhin gut, denn sie schlagen Kapital aus unserer ganz natürlichen Angst, alt und gebrechlich zu werden und irgendwann zu sterben.

Diese natürliche Angst ist auch der Grund, warum das Altwerden und die Auseinandersetzung mit dem Tod die Themen unzähliger Bücher sind. Diese lassen sich in mehrere Kategorien einteilen. Manche Bücher geben praktische Ratschläge, wie man gesund alt wird; einiges davon ist sinnvoll, anderes grenzt an Scharlatanerie. Die Bücher einer anderen Gruppe handeln davon, wie wir uns mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen und unser Ende würdevoll akzeptieren können. Damit dienen sie sowohl philosophischen als auch moralischen Zwecken. Dann gibt es Bücher, die tief in die Biologie der Alterung eintauchen. Auch hier lassen sich wieder mehrere Kategorien unterscheiden. Ihre Autoren sind entweder Journalisten oder aber Wissenschaftler, die persönlich viel Geld in ihre eigenen Start-up-Anti-Aging-Unternehmen investiert haben. Das vorliegende Buch gehört zu keiner solchen Kategorie.

Das Fachgebiet schreitet schnell voran, zieht ungeheure öffentliche und private Investitionen an und erregt gewaltiges Aufsehen. Deshalb hielt ich es jetzt für den geeigneten Zeitpunkt, an dem jemand wie ich, der in der Molekularbiologie arbeitet, aber eigentlich in dem Spiel nichts zu verlieren hat, einen nüchternen, objektiven Blick auf unsere derzeitigen Kenntnisse über Alterung und Tod wirft. Da ich viele führende Gestalten aus dem Fachgebiet persönlich kenne, konnte ich eine Reihe offenherziger Gespräche führen und so ein ehrliches, tieferes Verständnis dafür gewinnen, wie sie die Alterungsforschung in ihren vielen Aspekten sehen. Ich habe absichtlich darauf verzichtet, mit denjenigen Forschern und Forscherinnen zu sprechen, die ihre Haltung in eigenen Büchern dargelegt haben, insbesondere wenn sie im Zusammenhang mit der Alterung auch noch eng mit kommerziellen Unternehmen verbunden sind, aber ich erläutere hier ihre öffentlich allgemein bekannten Ansichten.

Bei dem hohen Tempo der Entdeckungen wäre jedes Buch, das sich ausschließlich auf die neuesten Ergebnisse der Alterungsforschung konzentriert, schon vor seinem Erscheinen veraltet. Außerdem halten die neuesten Entdeckungen in jeglichem Wissenschaftsgebiet oftmals nicht einer näheren Überprüfung stand und müssen revidiert oder aufgegeben werden. Deshalb habe ich mich bemüht, mich auf einige grundlegende Prinzipien zu konzentrieren, die hinter den vielversprechenden Ansätzen zur Erforschung und Bekämpfung der Alterung stehen. Diese Prinzipien werden sich vermutlich nicht nur auf lange Sicht bewähren, sondern auch dazu beitragen, den Lesern und Leserinnen zu vermitteln, wie wir zu unserem derzeitigen Wissensstand gelangt sind. Ebenso zeichne ich den historischen Hintergrund einiger grundlegender Forschungsansätze nach, die zu unseren heutigen Kenntnissen geführt haben. Es ist eine faszinierende, wichtige Erkenntnis: Vieles, was wir heute wissen, hat damit begonnen, dass Forscher und Forscherinnen völlig andere grundlegende Fragestellungen der Biologie studierten.

Ich habe gesagt, ich hätte in dem Spiel nichts zu verlieren, aber in Wirklichkeit haben wir natürlich alle etwas zu verlieren. Wir alle stellen uns die Frage, wie das Ende unseres Lebens aussehen wird – wenn wir jung sind und uns unsterblich fühlen, tun wir es weniger, in meinem Alter von 71 Jahren dagegen umso mehr, wenn ich feststelle, dass ich Dinge, die mir noch vor zehn oder 20 Jahren leichtgefallen sind, nur noch unter Schwierigkeiten oder überhaupt nicht mehr zuwege bringe. Manchmal fühlt es sich an, als würde das Leben sich auf einen immer kleineren Teil eines Hauses verengen, als würden Türen, die wir gern aufstoßen würden, sich mit zunehmendem Alter verschließen. Da ist es nur natürlich, dass wir fragen: Wie stehen die Aussichten, dass die Wissenschaft uns diese Türen wieder öffnet?

Da die Alterung eng mit vielen biologischen Vorgängen zusammenhängt, ist dieses Buch auch eine Art Rundumschlag durch große Teile der modernen Molekularbiologie. Es nimmt uns mit auf eine Reise durch die wichtigsten Fortschritte, die zu unseren heutigen Kenntnissen über Alterung und Tod geführt haben. Unterwegs werden wir uns mit dem Lebensprogramm beschäftigen, das von unseren Genen gesteuert wird, und wir werden fragen, wie es mit zunehmendem Alter gestört wird. Wir betrachten, welche Folgen diese Störungen für unsere Zellen und Gewebe und letztlich für uns selbst als Individuen haben. Wir werden der faszinierenden Frage nachgehen, warum manche biologischen Arten viel länger leben als andere, mit denen sie eng verwandt sind, obwohl alle den gleichen biologischen Gesetzen unterliegen. Was könnte das für uns Menschen bedeuten? Wir werden einen leidenschaftslosen Blick auf die neuesten Anstrengungen werfen, die Lebensdauer zu verlängern, und fragen, ob ihre Versprechungen gerechtfertigt sind. Auch werde ich einige modische Ideen infrage stellen, so etwa die, ob wir im hohen Alter wirklich noch zu Höchstleistungen imstande sind. Und ich möchte hoffentlich auch der entscheidenden ethischen Frage nachgehen, die hinter der Anti-Aging-Forschung steht: Selbst wenn wir es könnten, sollten wir?

Auf dem ersten Schritt unseres Weges sollten wir darüber nachdenken, was der Tod eigentlich ist und welch vielfältige Ausdrucksformen er hat. Außerdem werden wir die grundlegende Frage stellen, warum wir eigentlich sterben.

Kapitel 1

Das unsterbliche Gen und der Wegwerfkörper

Wenn ich durch die Straßen Londons gehe, bin ich immer wieder fasziniert von dieser Stadt: Hier können Millionen Menschen arbeiten, herumfahren und sich austauschen. Möglich wird das, weil eine komplexe Infrastruktur und Hunderttausende von Menschen zusammenarbeiten: U-Bahn und Busse befördern uns durch die Stadt; Post und Kurierdienste liefern Briefe und Waren aus; Supermärkte versorgen uns mit Lebensmitteln; Energieversorgungsunternehmen erzeugen und verteilen Strom; die Müllabfuhr hält die Stadt sauber und beseitigt die ungeheuren Abfallmengen, die wir produzieren. Wenn wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen, nehmen wir diese gewaltige Koordinationsleistung, die wir als zivilisierte Gesellschaft bezeichnen, nur allzu gern als selbstverständlich hin.

Eine ähnlich komplexe Choreografie gibt es auch in der Zelle, unserem grundlegenden Lebensbaustein. Wenn eine Zelle entsteht, baut sie komplizierte Strukturen auf wie die Teile einer Stadt. Damit sie funktioniert, müssen Tausende von Vorgängen gleichzeitig ablaufen. Sie nimmt Nährstoffe auf und scheidet Abfälle aus. Transportmoleküle tragen Fracht vom Ort ihrer Entstehung zu weit entfernten Teilen der Zelle, in denen sie gebraucht werden. Genau wie eine Stadt, die nicht isoliert existieren kann, sondern Waren, Dienstleistungen und Menschen mit ihrer Umgebung austauscht, müssen auch die Zellen eines Gewebes mit Nachbarzellen kommunizieren und kooperieren. Aber im Gegensatz zu Städten, deren Wachstum nicht immer begrenzt ist, müssen Zellen wissen, wann sie wachsen und sich teilen müssen und wann es an der Zeit ist, damit aufzuhören.

Mit ihrem komplexen Aufbau ähnelt eine Zelle einer Stadt. Dargestellt sind nur einige Hauptbestandteile, und der Übersichtlichkeit halber sind sie nicht maßstabsgetreu gezeichnet.

Stadtbewohner haben ihre Städte in der Geschichte immer für etwas Dauerhaftes gehalten. Im Laufe unseres Lebens kommen wir nicht auf den Gedanken, dass die Stadt, in der wir wohnen, vielleicht eines Tages nicht mehr existiert. Aber auch Städte und ganze Gesellschaften, Imperien und Zivilisationen wachsen und sterben ebenso wie Zellen. Wenn wir über unseren Tod reden, denken wir über solche anderen Formen des Todes meist nicht nach; wir meinen damit den Tod, der uns als Individuen ereilt. In Wirklichkeit ist es aber schon heikel, ein Individuum zu definieren, ganz zu schweigen von der Frage, was Geburt oder Tod eigentlich ist.[1]

Was genau stirbt im Augenblick unseres Todes? Die meisten Zellen des Körpers sind zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Wir können ganze Organe spenden, und wenn man sie schnell genug in einen anderen Menschen transplantiert, funktionieren sie dort weiterhin. Die Billionen Bakterien, deren Zahl viel größer ist als die der menschlichen Zellen unseres Körpers, gedeihen ebenfalls. Manchmal gilt auch das Umgekehrte: Angenommen, wir verlieren durch einen Unfall einen Arm oder ein Bein. Das Glied stirbt dann sicher ab, aber wir stellen uns nicht vor, dass wir selbst deshalb sterben.

Wenn wir sagen, dass wir sterben, meinen wir damit eigentlich, dass wir nicht mehr als zusammengehöriges Ganzes funktionieren. Die vielen Zellen, die unsere Gewebe und Organe bilden, kommunizieren untereinander und machen uns zu einem empfindungsfähigen Individuum. Wenn sie nicht mehr als Einheit zusammenwirken, sterben wir.

In dem unausweichlichen Sinn, in dem wir den Tod in diesem Buch betrachten, ist er die Folge der Alterung. Diesen Vorgang kann man sich am einfachsten so vorstellen, dass sich in unseren Molekülen und Zellen im Laufe der Zeit immer mehr chemische Schäden ansammeln. Die Beeinträchtigungen vermindern unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten, bis wir schließlich nicht mehr zusammenhängend als Lebewesen funktionieren – dann sterben wir. Das Ganze erinnert mich an ein Zitat aus Fiesta von Ernest Hemingway(1). Dort wird ein Mann gefragt, wie er bankrott gegangen ist, und erwidert: »Auf zweierlei Weise. Erst schleichend, dann plötzlich.« Zuerst der schleichende Verfall der Alterung, dann plötzlich der Tod. Man kann sich vorstellen, dass der Alterungsprozess allmählich mit kleinen Defekten in dem komplexen System beginnt, das unseren Körper ausmacht; diese führen zu mittelgroßen Schäden, die sich als Alterserscheinungen bemerkbar machen und schließlich zu dem großen Systemversagen des Todes führen.

Dennoch lässt sich nur schwer genau definieren, wann es geschieht. Früher bedeutete es den Tod, wenn das Herz nicht mehr schlug, aber heute lässt sich ein Herzstillstand häufig durch Reanimation (Herz-Lungen-Wiederbelebung) rückgängig machen. Als unmittelbareres Todeszeichen gilt heute der Verlust der Gehirnfunktion, aber vieles deutet darauf hin, dass auch er manchmal aufgehoben werden kann.[2] Aus unterschiedlichen juristischen Definitionen des Todes können sich weitreichende Folgerungen ergeben. Wenn bei zwei Personen in verschiedenen US-Bundesstaaten Spenderorgane entnommen werden, ist die Maßnahme unter Umständen in einem Fall vollkommen legal und im anderen Mord, selbst wenn beide Spender nach genau den gleichen Kriterien als tot gelten. Ein Mädchen, das in Oakland in Kalifornien für hirntot erklärt wurde, war nach den Maßstäben von New Jersey, wo ihre Angehörigen wohnten, noch am Leben. Ihre Familie reichte einen Antrag ein und ließ den Körper einschließlich der Lebenserhaltungsapparaturen nach New Jersey transportieren, wo sie einige Jahre später starb.[3]

Aber nicht nur der genaue Todeszeitpunkt ist schlecht definiert, sondern auch der Augenblick unserer Geburt. Wir existieren schon, bevor wir den Mutterleib verlassen und den ersten Atemzug tun. In vielen Religionen gilt die Zeugung als Beginn des Lebens, aber auch »Zeugung« ist ein unbestimmter Begriff. Nachdem die Samenzelle in Kontakt mit der Eizelle getreten ist, öffnet sich ein Zeitfenster, in dem eine Reihe von Vorgängen ablaufen muss, bevor das genetische Programm der befruchteten Eizelle in Gang kommt. Danach macht die befruchtete Eizelle im Laufe mehrerer Tage einige Teilungen durch, und der Embryo – der jetzt als Blastocyste(1) bezeichnet wird – muss sich in die Gebärmutterschleimhaut einnisten.[4] Noch später beginnt die Entwicklung des Herzens, und erst lange danach, wenn Nervensystem(1) und Gehirn sich entwickeln, kann der heranwachsende Fetus Schmerzen wahrnehmen.

Dass die Frage, wann das Leben beginnt, nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von gesellschaftlichem und kulturellem Interesse ist, erkennt man an der ständigen Diskussion um die Abtreibung. Selbst in Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind wie in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, ist es eine Straftat, Embryonen zu Forschungszwecken länger als 14 Tage heranwachsen zu lassen; das entspricht ungefähr der Zeit, wenn im Embryo der sogenannte Primitivstreifen entsteht, ein Wulst aus Zellen, der die rechte und die linke Hälfte trennt. Nach diesem Stadium kann der Embryo sich nicht mehr aufspalten und zu eineiigen Zwillingen werden. Wir stellen uns Geburt und Tod als Augenblicksereignisse vor – im einen Augenblick treten wir ins Dasein, im anderen hören wir auf zu existieren –, in Wirklichkeit sind die Grenzen des Lebens aber verschwommen. Das gleiche gilt für große Organisationseinheiten. Auch wann eine Stadt zu existieren begann oder zerfiel, lässt sich zeitlich nur schwer exakt beschreiben.

Der Tod kann in verschiedenen Größenordnungen eintreten, von Molekülen bis zu Staaten, aber das Wachstum, die Alterung und der Untergang dieser ganz unterschiedlichen Gebilde haben einige gemeinsame Aspekte.[5] In allen Fällen gibt es einen entscheidenden Zeitpunkt, zu dem die Bestandteile die Funktion des organischen Ganzen nicht mehr zulassen. Die Moleküle in unseren Zellen arbeiten koordiniert zusammen und versetzen so die Zelle in die Lage, ordnungsgemäß zu funktionieren, aber auch sie selbst können chemische Schäden erleiden und schließlich auseinanderbrechen. Sind solche Moleküle an Lebensprozessen beteiligt, altern die betreffenden Zellen und sterben schließlich. Steigen wir in der Hierarchie weiter nach oben, erfüllen die Billionen Zellen in einem Menschen ihre spezialisierten Aufgaben, kommunizieren untereinander und ermöglichen so, dass das Individuum funktioniert. In unserem Körper sterben ständig Zellen ab, ohne dass es schädliche Wirkungen hätte. Während ein Embryo heranwächst, sind sogar viele Zellen so programmiert, dass sie zu ganz bestimmten Zeitpunkten in der Entwicklung absterben, ein Phänomen, das man Apoptose(1) nennt. Aber wenn ausreichend viele lebenswichtige Zellen absterben – sei es im Herzen, im Gehirn oder in einem anderen unentbehrlichen Organ –, funktioniert der Organismus nicht mehr und stirbt.

Als ganze Menschen unterscheiden wir uns nicht stark von unseren Zellen. Wir erfüllen unsere Rollen in Gruppen: Unternehmen, Städte, Gesellschaften. Wenn ein Angestellter fehlt, ist die Funktion eines Unternehmens in der Regel nicht beeinträchtigt; erst recht gilt das für eine Stadt oder einen Staat, und auch der Tod eines einzelnen Baumes sagt nichts über die Lebensfähigkeit eines Waldes aus. Wenn aber wichtige Angestellte, beispielsweise das gesamte leitende Management, die Firma verlassen, steht die Zukunft des Unternehmens plötzlich infrage.

Interessant ist auch die Beobachtung, dass die Lebensdauer mit der Größe eines Gebildes zunimmt. Die meisten Zellen in unserem Organismus sind viele Male abgestorben und wurden ersetzt, bevor wir selbst sterben, und Unternehmen haben meist eine viel kürzere Lebensdauer als die Städte, in denen sie ansässig sind. Das Prinzip der Sicherheit durch große Zahl war eine Triebkraft für die Evolution der Lebewesen wie auch der Gesellschaften. Das Leben begann vermutlich mit sich selbst verdoppelnden Molekülen, und diese Moleküle organisierten sich in geschlossenen Einheiten, die wir Zellen nennen. Später taten sich einige Zellen zusammen und bildeten einzelne Tiere. Dann organisierten sich die Tiere in Herden – oder im Falle der Menschen in Gemeinden, Städten und Staaten. Jede Organisationsebene war mit größerer Sicherheit und mehr gegenseitigen Abhängigkeiten verbunden. Heute könnte kaum ein Mensch allein überleben.

Aber wenn wir an den Tod denken, meinen wir damit in der Regel dennoch den eigenen – das Ende unseres bewussten Daseins als Individuum. Diese Form des Todes verbindet sich mit einem krassen Paradox: Die Individuen sterben, das Leben als solches geht aber weiter. Damit meine ich nicht nur, dass unsere Familie, unsere Gemeinschaft und Gesellschaft ohne uns weiterleben. Bemerkenswert ist vielmehr, dass jedes heutige Lebewesen ein unmittelbarer Nachfahre einer Urzelle ist, die vor Milliarden Jahren existierte. Auch wenn wir uns im Laufe der Zeit verändert und eine Evolution durchgemacht haben, lebt irgendeine Wesensform in uns seit mehreren Milliarden Jahren ununterbrochen weiter. Das Gleiche wird auch in Zukunft für alle Lebewesen gelten, solange es auf der Erde Leben gibt, es sei denn, wir erschaffen eines Tages eine vollkommen künstliche Lebensform.

Wenn uns eine direkte Abstammungslinie mit unseren ältesten Vorfahren verbindet, muss es in uns irgendetwas geben, das nicht stirbt. Dieses Etwas ist die Information darüber, wie eine neue Zelle oder ein ganz neuer Organismus auch dann aufgebaut werden kann, wenn der ursprüngliche Träger dieser Information gestorben ist – ganz ähnlich wie auch die hier wiedergegebenen Gedanken und Informationen in irgendeiner Form erhalten bleiben können, lange nachdem das physische Exemplar dieses Buches verrottet ist.

Die Information für den Fortbestand des Lebens liegt natürlich in unseren Genen. Jedes Gen ist ein Abschnitt unserer DNA und wird in Form der Chromosomen im Zellkern aufbewahrt, einem spezialisierten Organell in den Zellen, in dem das genetische Material eingeschlossen ist. Unsere Zellen enthalten in ihrer großen Mehrzahl die gleiche Genausstattung, die zusammenfassend auch als Genom bezeichnet wird. Jedes Mal, wenn unsere Zellen sich teilen, geben sie das gesamte Genom an die Tochterzellen weiter. Die allermeisten dieser Zellen sind einfach Teile unseres Körpers und sterben mit ihm. Einige von ihnen überleben jedoch und entwickeln sich zu unseren Kindern – den neuen Individuen, aus denen die nächste Generation besteht. Was ist an diesen Zellen das Besondere, das ihnen das Weiterleben ermöglicht?

Die Antwort auf diese Frage gab den Anlass zu hitzigen Kontroversen, und das lange bevor wir etwas über Gene wussten, von DNA ganz zu schweigen. Als die Menschen zum ersten Mal einsahen, dass Arten eine Evolution durchmachen können, entwickelten sich zwei gegensätzliche Sichtweisen. Die erste wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Franzosen Jean-Baptiste Lamarck(1) vertreten und besagte, erworbene Merkmale könnten weitervererbt werden. Wenn beispielsweise eine Giraffe den Hals strecken muss, um die Blätter von immer höheren Zweigen fressen zu können, erben ihre Nachkommen den so entstandenen längeren Hals. Die zweite Theorie, natürliche Selektion genannt, wurde von den beiden britischen Biologen Charles Darwin(1) und Alfred Russel Wallace(1) entwickelt. Nach dieser Vorstellung sind Giraffen unterschiedlich, wobei der Hals bei manchen länger und bei manchen kürzer ist. Exemplare mit längerem Hals finden leichter Nahrung, können deshalb besser überleben und mehr Nachkommen hervorbringen. Nach und nach werden also in jeder Generation die Varianten mit immer längerem Hals selektioniert.

Wallace(2) war ein ziemlicher Außenseiter und arbeitete auf dem malaiischen Archipel, wie er damals hieß. Im Jahr 1858, mit 35 Jahren, äußerte er in einem Brief an Darwin(2) seine Ideen. Was er nicht wusste: Der ältere Mann war selbst schon viele Jahre zuvor zu der gleichen Schlussfolgerung gelangt. Da es so umwälzende Ideen waren, die auch gesellschaftliche und religiöse Auswirkungen nach sich ziehen konnten, hatte Darwin(3) noch nicht den Mut gehabt, sie zu veröffentlichen, aber der Briefwechsel mit Wallace(3) war für ihn ein Anlass, aktiv zu werden. Darwin(4) gehörte in Großbritannien zum Urgestein des wissenschaftlichen Establishments, und wenn er weniger Skrupel gehabt hätte, so hätte er Wallaces(4) Brief einfach übergehen und eilig sein Buch herausbringen können. Dann wäre der Name Wallace(5) nie bekannt geworden. Aber stattdessen sorgte Darwin(5) dafür, dass er und Wallace(6) am 1. Juli 1858 vor der Londoner Linnean Society einen gemeinsamen Vortrag halten konnten. Die Veranstaltung führte zu relativ verhaltenen Reaktionen und hatte kaum unmittelbare Auswirkungen. In einer der schlechtesten Ankündigungen der Wissenschaftsgeschichte sagte der Präsident der Gesellschaft im Rahmen seiner Jahresansprache: »Dieses Jahr war in der Tat nicht durch eine jener verblüffenden Entdeckungen gekennzeichnet, die das Wissenschaftsgebiet, zu dem sie gehören, sozusagen auf einen Schlag revolutionieren.« Dennoch ebnete der Vortrag im folgenden Jahr den Weg für die Veröffentlichung von Darwins(6) Buch Die Entstehung der Arten, das unsere biologischen Kenntnisse ein für alle Mal verändern sollte.[6]

Im Jahr 1892, 33 Jahre nachdem Darwins(7) epochemachende Arbeit erschienen war, formulierte der deutsche Biologe August Weismann(1) eine saubere Widerlegung von Lamarcks(2) Ideen. Zwar wusste man schon seit sehr langer Zeit, dass Sexualität und Fortpflanzung bei Menschen in Verbindung stehen, aber erst in den letzten 300 Jahren entdeckte man, mit welchem entscheidenden Ereignis der Vorgang beginnt: mit der Verschmelzung einer Samen- und einer Eizelle.[7] Die Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle führt dazu, dass auf scheinbar wundersame Weise ein ganz neues Individuum entsteht. Dieses ist aus Billionen Zellen zusammengesetzt, die im Körper nahezu alle Funktionen ausführen und mit ihm sterben. Zusammenfassend bezeichnet man sie als somatische Zellen, nach dem lateinischen und griechischen Wort soma für den Körper. Samen- und Eizelle dagegen sind Keimbahnzellen: Sie liegen in unseren Keimdrüsen, das heißt beim Mann in den Hoden und bei Frauen in den Eierstöcken. Sie sind die einzigen, die Erbinformation – unsere Gene – weitergeben. Weismann(2) erklärte, Keimbahnzellen könnten somatische Zellen der nächsten Generation hervorbringen, das Umgekehrte geschehe aber nie. Die Trennung zwischen den beiden Zelltypen wird auch als Weismann(3)-Barriere bezeichnet. Wenn also eine Giraffe ihren Hals streckt, beeinflusst sie damit zwar vielleicht verschiedene somatische Zellen, aus denen Muskeln und Haut am Hals bestehen, aber diese Zellen sind nicht in der Lage, irgendwelche Veränderungen an ihre Nachkommen weiterzugeben. Die in den Keimdrüsen geschützten Keimbahnzellen bleiben von den Tätigkeiten der Giraffen und allen Eigenschaften, die ihr Hals annimmt, unbeeinflusst.[8]

Die Keimbahnzellen, die unsere Gene weitergeben, sind in einem gewissen Sinn unsterblich: Ein winziger Anteil von ihnen dient dazu, durch sexuelle Fortpflanzung die somatischen Zellen und Keimbahnzellen der nächsten Generation hervorzubringen und damit die Uhr der Alterung wieder auf Null zu stellen. Unser Körper – unser Soma – ist in jeder Generation einfach das Gefäß, das die Fortpflanzung der Gene erleichtert, und nachdem er diesen Zweck erfüllt hat, ist er entbehrlich. Der Tod eines Tieres oder eines Menschen ist eigentlich der Tod des Gefäßes.

Warum gibt es den Tod überhaupt? Warum leben wir nicht einfach ewig?

Der ukrainisch-amerikanische Genetiker Theodosius Dobzhansky(1) schrieb im 20. Jahrhundert: »Nichts in der Biologie hat einen Sinn, außer im Licht der Evolution.«[9] In der Biologie lautet die Antwort auf die Frage, warum etwas geschieht, letztlich immer: weil es in der Evolution so entstanden ist. Als ich mich zum ersten Mal mit der Frage befasste, warum wir sterben, hatte ich die naive Vorstellung, der Tod sei vielleicht die Methode, mit der die Natur der nächsten Generation das Gedeihen und die Fortpflanzung ermöglicht, ohne dass ältere Individuen weiterleben und mit den jüngeren um Ressourcen konkurrieren, womit das Überleben der Gene besser gewährleistet wird. Außerdem besitzt jedes Mitglied einer neuen Generation eine andere Genkombination als seine Eltern, und da das Kartenspiel des Lebens auf diese Weise ständig neu gemischt wird, ist das Überleben der Spezies als Ganzes besser gesichert.

Diese Idee gibt es mindestens seit den Zeiten des römischen Dichters Lucretius, der im 1. Jahrhundert v. u. Z. lebte. Sie ist reizvoll – aber sie ist auch falsch. Das Problem besteht darin, dass Gene, die der Gruppe auf Kosten des Individuums nützen, in der Population nicht stabil erhalten bleiben können, weil es Betrüger gibt. Ein »Betrüger« ist in der Evolution jede Mutation, die dem Individuum auf Kosten der Gruppe dient. Nehmen wir beispielsweise an, bestimmte Gene würden die Alterung begünstigen, sodass Menschen rechtzeitig sterben, was der Gruppe nützt. Werden aber diese Gene durch eine Mutation inaktiviert, sodass ein Individuum länger lebt, hätte dieses durch sein längeres Leben auch mehr Gelegenheiten, Nachkommen hervorzubringen, obwohl das der Gruppe nicht dienen würde.[10] Am Ende würde eine solche Mutation die Oberhand gewinnen.

Viele Insekten und die meisten Getreidepflanzen pflanzen sich, im Gegensatz zu Menschen, nur einmal fort. Arten wie der Erdwurm Caenorhabditis elegans, aber auch Lachse, produzieren mit einem Schlag eine große Zahl von Nachkommen und sterben dabei, wobei ihr eigener Körper häufig durch eine Art Selbstmord wiederverwertet wird.[11] Ein solches Fortpflanzungsverhalten ist für Würmer(1) sinnvoll, denn sie leben in der Regel als Inzuchtklone und gleichen deshalb genetisch genau ihren Nachkommen. Das Fortpflanzungsverhalten der Lachse dagegen ist eine Folge ihres Lebenszyklus: Sie müssen im Ozean Tausende von Kilometern weit schwimmen, bevor sie zum Laichen zurückkehren. Da kaum eine Chance besteht, dass sie eine solche Reise zweimal überleben, ist ihnen besser gedient, wenn sie alle Kraft in eine einmalige Paarung stecken, ihre gesamte Energie darauf verwenden und dabei sogar sterben: Nur so können sie eine ausreichende Zahl von Nachkommen produzieren und damit eine möglichst große Chance schaffen, dass diese auch überleben. Für Arten wie Menschen, Fliegen oder Mäuse(1), die sich viele Male fortpflanzen, wäre es genetisch nicht sinnvoll, während der Produktion der Nachkommen zu sterben, mit denen sie nur zu 50 Prozent verwandt sind. Die natürliche Selektion wird ganz allgemein nur selten zum Vorteil von Arten oder auch Gruppen tätig. Selektioniert wird vielmehr das, was die Evolutionsbiologen als Fitness bezeichnen: die Fähigkeit der Individuen, ihre Gene weiterzugeben.

Wenn das Ziel darin besteht, die Weitergabe unserer Gene sicherzustellen, stellt sich die Frage: Warum hat die Evolution nicht die Alterung von vornherein verhindert? Schließlich haben Menschen doch umso größere Chancen, Nachkommen hervorzubringen, je länger sie leben. Die kurze Antwort lautet: In der Geschichte unserer Spezies war das Leben meistenteils kurz. Menschen starben in der Regel schon vor ihrem 30. Geburtstag durch Unfälle, Krankheiten, Raubtiere oder Mitmenschen. Für die Evolution bestand also keine Notwendigkeit, eine lange Lebensdauer zu selektionieren. Aber heute haben wir die Welt sicherer und gesünder gemacht: Warum leben wir jetzt nicht einfach weiter?

Eine Lösung für dieses Rätsel zeichnete sich erstmals in den 1930er-Jahren ab. Das lag an J. B. S. Haldane(1) und Ronald Fisher(1), zwei Mitgliedern der britischen Wissenschaftlerelite. Haldane(2) war ein Universalgelehrter und beschäftigte sich mit allem Möglichen, von den Mechanismen der Enzymwirkung bis zum Ursprung des Lebens. Er war Sozialist, wurde in Großbritannien seiner Illusionen beraubt und wanderte schließlich nach Indien aus, wo er starb.[12] Fisher(2)s grundlegende Beiträge zur Statistik haben unsere Kenntnisse über die Evolution vorangebracht und bilden auch die Grundlage für die randomisierten klinischen Studien, die heute zur Erprobung der Wirksamkeit neuer Medikamente oder medizinischer Methoden dienen und Millionen Menschenleben gerettet haben. Mehr als 50 Jahre nach seinem Tod – er starb 1962 – geriet er wegen seiner Ansichten über Eugenik(1) und Rasse zunehmend in die Kritik. Im Gonville and Caius College in Cambridge, wo Fisher(3) einst tätig war, wurde kürzlich ein Buntglasfenster entfernt, auf dem eine von Fishers(4) entscheidenden Ideen für die Gestaltung von Experimenten dargestellt war. Was mit dem Fenster letztlich geschehen soll, ist noch nicht sicher.[13]

Fisher(5) und Haldane(3) kamen unabhängig voneinander ungefähr zur gleichen Zeit auf eine revolutionäre Idee. Wie beide erkannten, wirkt die Selektion stark gegen Mutationen, die in einem frühen Lebensstadium schädlich sind, denn die Individuen, die sie tragen, pflanzen sich nicht fort. Das gilt aber nicht für ein Gen, das erst später im Leben nachteilige Wirkungen hat, denn wenn es Schaden anrichtet, haben wir es bereits weitergegeben.[14] Während eines großen Teils der Vergangenheit unserer Spezies hätten wir seine schädlichen Folgen nicht einmal bemerkt, denn lange bevor solche Effekte sich bemerkbar machten, waren die Menschen bereits tot. Erst seit relativ kurzer Zeit werden uns die Folgen von Mutationen bewusst, die im höheren Alter schädlich sind. Von der Huntington-Krankheit zum Beispiel sind in der Regel Menschen über 30 Jahre betroffen, und in diesem Alter hatten sich in früheren Zeiten die meisten von ihnen bereits fortgepflanzt und waren gestorben.

Die Ideen von Fisher(6) und Haldane(4) sind eine Erklärung dafür, warum bestimmte schädliche Gene in der menschlichen Bevölkerung erhalten bleiben, aber was sie für die Alterung bedeuten, war nicht sofort zu erkennen. Dies verstand man erst, als der britische Biologe Peter Medawar(1), auch er eine geniale, schillernde Gestalt, sich dem Problem widmete.[15] Berühmt wurde der in Brasilien geborene Medawar(2) vor allem mit seinen Gedanken über die Frage, wie das Immunsystem transplantierte Organe abstößt und Toleranz erwirbt. Im Gegensatz zu vielen anderen Forschern und Forscherinnen, die sich auf ein enges Fachgebiet konzentrieren, waren Medawars(3) Interessen wie die von Haldane(5) breit gefächert, und seine Bücher erfreuten sich wegen ihrer Vielseitigkeit und ihres eleganten Stils großer Beliebtheit. Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen meiner Generation sind mit seinem 1981 erstmals erschienenen Werk Ratschläge für einen jungen Wissenschaftler aufgewachsen – ich fand es hochtrabend und arrogant, aber gleichzeitig auch tiefgründig, fesselnd und geistreich.

Medawar(4) formulierte die Theorie der Alterung durch Mutationsansammlung, wie sie später genannt wurde. Selbst wenn ein Mensch zahlreiche genetische Mutationen trägt, die anfangs seine Gesundheit nicht merklich beeinträchtigen, bringen sie im höheren Alter in ihrer Gesamtheit chronische Probleme mit sich, was zur Alterung führt.

Der Biologe George Williams(1) ging noch einen Schritt weiter und äußerte die Vermutung, die Alterung trete ein, weil die Natur genetische Varianten selbst dann selektioniert, wenn sie im späteren Leben schädlich sind, solange sie in einem früheren Stadium einen Nutzen bringen. Diese Theorie wird als antagonistische Pleiotropie(1) bezeichnet. Pleiotropie ist einfach ein hochtrabender Begriff für das Phänomen, dass ein Gen mehrere Wirkungen ausüben kann. Mit antagonistischer Pleiotropie(2) ist also gemeint, dass das gleiche Gen entgegengesetzte Effekte hat; bei Genen, die an der Alterung beteiligt sind, können solche Effekte zu unterschiedlichen Zeiten eintreten, sodass sie in frühen Lebensjahren hilfreich und später problematisch sind. Gene, die in jungen Jahren das Wachstum unterstützen, steigern beispielsweise später die Gefahr von Alterskrankheiten wie Krebs oder Demenz.

Ganz ähnlich die Disposable-Soma-Theorie: Sie besagt, dass ein Organismus, dem nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, diese zwischen frühzeitigem Wachstum und Fortpflanzung auf der einen Seite und einer Lebensverlängerung durch ständige Reparatur der zellulären Abnutzungserscheinungen auf der anderen aufteilen muss.[16] Nach Angaben des Biologen Thomas Kirkwood(1), der die Theorie in den 1970er-Jahren erstmals formulierte, ist die Alterung eines Organismus ein evolutionärer Tauschhandel zwischen Langlebigkeit und höheren Chancen, die eigenen Gene durch erfolgreiche Fortpflanzung weiterzugeben.

Gibt es Belege für diese verschiedenen Gedanken über das Altern? Man hat mit Taufliegen und Würmern(2) experimentiert, zwei beliebten Versuchstierarten, die sich im Labor leicht züchten lassen und eine kurze Generationszeit haben. Genau wie die Theorien vorhersagen, vermindern Mutationen, welche die Lebensdauer verlängern, die Fruchtbarkeit (das heißt die Geschwindigkeit, mit der ein Organismus Nachkommen hervorbringt).[17] Ähnliche Wirkungen hat eine Verminderung der täglich mit der Nahrung aufgenommenen Kalorienzahl: Auch sie verlängert bei diesen Organismen das Leben und vermindert die Fruchtbarkeit.

Abgesehen von den ethischen Schranken besteht für Experimente mit Menschen noch ein weiteres Hindernis: Zwischen den Generationen liegen bei uns zwei bis drei Jahrzehnte, eine zu lange Zeit für Forschungsarbeiten im Rahmen einer typischen wissenschaftlichen Laufbahn, ganz zu schweigen von den wenigen Jahren, die eine Doktorandin oder ein Forschungsassistent in der Regel an einer Stelle arbeitet. Eine ungewöhnliche Analyse hat man aber an britischen Aristokraten aus den letzten 1200 Jahren vorgenommen: Sie zeigt, dass unter Frauen, die älter als 60 Jahre alt wurden (wodurch man Faktoren wie Krankheit, Unfälle und Tod im Kindbett ausschließen wollte), diejenigen mit weniger Kindern am längsten lebten.[18] Die Autoren vertreten die Ansicht, dass auch beim Menschen eine umgekehrte Beziehung zwischen Fruchtbarkeit und Lebenserwartung(3) besteht, aber wie alle gestressten Eltern wissen, kann es natürlich auch viele andere Gründe geben, warum weniger Kinder mit einer längeren Lebenserwartung verbunden sind.

Mit der Steigerung der Lebenserwartung(4) während der letzten einhundert Jahre sind wir bei einem weiteren seltsamen Aspekt der Alterung, den es nahezu ausschließlich bei Menschen gibt: der Menopause(1). Von wenigen anderen biologischen Arten wie den Schwertwalen abgesehen, können weibliche Tiere sich fast bis zum Ende ihres Lebens fortpflanzen, Frauen dagegen verlieren diese Fähigkeit in der Lebensmitte. Eigenartig ist dabei auch, dass die Veränderung bei Frauen sehr plötzlich einsetzt, während die Fruchtbarkeit bei Männern nur allmählich nachlässt.

Wenn die Selektion während der Evolution unsere Fähigkeit zur Weitergabe unserer Gene begünstigt, könnte man annehmen, dass sie auch während unseres Lebens so lange wie möglich für Fortpflanzung sorgt. Warum können Frauen also schon in einem relativ frühen Lebensstadium keine Nachkommen mehr zur Welt bringen?

Damit stellt man vielleicht die falsche Frage. Unsere engsten Verwandten, insbesondere die Menschenaffen, bekommen ungefähr im gleichen Alter wie wir keine Babys mehr: mit knapp 40 Jahren. Der Unterschied besteht nur darin, dass sie in der Regel wenig später sterben. Auch während der Menschheitsgeschichte starben die meisten Frauen kurz nach der Menopause(2) oder sogar schon früher. Eigentlich müsste man also vielleicht nicht die Frage stellen, warum die Menopause so früh im Leben eintritt, sondern warum Frauen danach noch so lange leben.

Menschen können erst dann sicher sein, dass sie sich fortgepflanzt haben – in dem Sinn, dass ihre Gene weitergegeben wurden –, wenn ihr jüngstes Kind sich selbst versorgen kann, und Menschen machen eine besonders lange Kindheit durch, in der sie von ihren Eltern abhängig sind. Möglicherweise ist die Menopause(3) entstanden, damit Frauen vor dem größeren Risiko einer Entbindung im höheren Alter geschützt sind, sodass sie länger am Leben bleiben und die Kinder versorgen können, die sie bereits haben.[19] Das wäre auch eine Erklärung dafür, warum Männer – für die ein solches größeres Risiko nicht besteht – bis zu einem viel höheren Alter fortpflanzungsfähig bleiben. Vielleicht war die Menopause also eine Anpassung, mit der eine möglichst große Chance bestand, dass die Kinder einer Frau erwachsen werden und damit ihre Gene weitergeben. Das ist die sogenannte Hypothese der guten Mutter. Tatsächlich sind die Jungtiere der wenigen Arten, deren Weibchen nach den fortpflanzungsfähigen Jahren noch lange am Leben bleiben, ebenfalls auf eine längere Versorgung durch die Mutter angewiesen. Aber selbst bei diesen Arten geht die Fruchtbarkeit eher allmählich verloren und nicht durch die abrupte Veränderung einer Menopause. Bei Elefanten beispielsweise nimmt die Fruchtbarkeit zwar mit dem Alter ab, im Gegensatz zu Menschen können sie aber auch in einem sehr späten Lebensstadium noch Nachkommen zur Welt bringen.[20] Ähnlich sind die Verhältnisse bei Schimpansen(1): Hier konnte man zwar beobachten, dass Weibchen weit über das gebärfähige Alter hinaus am Leben blieben, die Menopause tritt aber eigentlich erst gegen Ende der Lebensdauer ein.[21]

Die »Großmutter-Hypothese« als Erklärung für die Entstehung der Menopause(4) weitet den gleichen Gedanken um eine weitere Generation aus.[22] Sie wurde erstmals von der Anthropologin Kristen Hawkes(1) formuliert und besagt: Ein längeres Leben ist sinnvoll, wenn eine Frau bei der Versorgung ihrer Enkel hilft und damit deren Überlebens- und Fortpflanzungsaussichten verbessert. Andere vertreten allerdings die Ansicht, es sei für eine Frau, die weiterhin eigene Kinder haben und damit die Hälfte ihrer Gene weitergeben kann, nur in den seltensten Fällen besser, diese Möglichkeit zugunsten des Überlebens ihrer Enkel aufzugeben, die nur ein Viertel ihrer Gene tragen.

Ein anderer Gedanke stützt sich auf Untersuchungen an Schwertwalen, einer der wenigen biologischen Arten, die wie Menschen eine echte Menopause(5) durchmachen und in Gruppen zusammenleben: Danach ist die Menopause ein Weg, um Konflikte zwischen den Generationen zu vermeiden.[23] Bei manchen gruppenbildenden Arten wird die Fortpflanzung bei jüngeren Weibchen unterdrückt, und diese werden als Helferinnen für die älteren Weibchen tätig, die Junge bekommen. Bei Menschen gibt es eine solche Überschneidung kaum: Frauen pflanzen sich nicht mehr fort, wenn die nächste Generation mit der Fortpflanzung beginnt. Sie hätten kein Interesse daran, ihre Schwiegermutter bei der Produktion weiterer Kinder zu unterstützen, denn mit dieser haben sie keine Gene gemeinsam. Dagegen vererbt eine Frau, die ihrer Schwiegertochter bei der Fortpflanzung hilft, auf diese Weise ein Viertel ihrer Gene an ihre Enkel. Deshalb ist es möglicherweise für sie die beste Strategie, die Fortpflanzung einzustellen und stattdessen der Schwiegertochter bei der Fortpflanzung zu helfen.

Möglicherweise hat sich aber auch einfach die Zahl der Eizellen bei Frauen im Laufe der Evolution so entwickelt, dass sie zu ihrer durchschnittlichen Lebensdauer in freier Wildbahn passt.[24] Nach Ansicht von Steven Austad(1), der heute an der University of Alabama in Birmingham arbeitet, diente die Menopause(6) möglicherweise überhaupt nicht der Anpassung in dem Sinn, dass sie das Dasein als Mutter oder Großmutter begünstigt. Menschen leben erst seit rund 40 000 Jahren deutlich länger als Neandertaler oder Schimpansen(2). Möglicherweise reichte die Zeit also noch nicht, damit die alternden weiblichen Eierstöcke sich an diese längere Lebenserwartung(5) anpassen konnten.[25] Wo man keine handfesten Experimente machen kann, diskutieren Forscher und Forscherinnen gern, und das gilt in der Evolutionsbiologie ganz besonders.

Alle diese Theorien über die Ursachen der Alterung basieren auf dem Gedanken, dass ein Wegwerfkörper seine Gene weitergibt, bevor er altert und stirbt. Dadurch wird die Uhr der Alterung in gewisser Weise mit jeder Generation wieder auf Null gestellt. Solche Theorien gelten eigentlich nur für Lebewesen, bei denen es einen eindeutigen Unterschied zwischen Eltern und Nachkommen gibt. Das ist sicher bei allen der Fall, die sich sexuell fortpflanzen. Die Sexualität ist in der Evolution entstanden, weil sie ein effizienter, leistungsfähiger Mechanismus ist, mit dem die Gene beider Eltern immer wieder neu kombiniert werden; dadurch ergibt sich bei den Nachkommen eine genetische Variationsbreite, mit der Lebewesen sich an eine wechselnde Umwelt anpassen können. In einem gewissen Sinn kann man sagen: Der Tod ist der Preis, den wir für Sex bezahlen! Das mag eine einprägsame Aussage sein, aber nicht alle Tiere, bei denen man zwischen Keimbahn und Soma unterscheiden kann, pflanzen sich sexuell fort. Außerdem hat sich herausgestellt, dass auch Einzeller wie Hefe(1) und Bakterien altern und sterben, solange es eine eindeutige Abgrenzung zwischen Mutter- und Tochterzellen gibt.[26]

Die Gesetze der Evolution gelten für alle biologischen Arten, und alle Lebewesen bestehen aus den gleichen Substanzen. Seit Darwins(8) Zeit führt es in der Biologie immer wieder zu Verblüffung, dass die Evolution, die einfach Fitness – das heißt die Effizienz, mit der eine Spezies ihre Gene weitergeben kann – selektioniert, zu der atemberaubenden Vielfalt der Lebensformen auf der Erde geführt hat. Zu dieser Vielfalt gehört auch ein breites Spektrum unterschiedlicher Lebenserwartungen – manche bemessen sich nach Stunden, andere erstrecken sich über mehr als ein Jahrhundert. Wenn wir als Menschen etwas über die potenziellen Grenzen unserer Lebensdauer erfahren wollen, können wir quer durch das Tierreich einige überraschende Erkenntnisse gewinnen.

Kapitel 2

Schnell leben, jung sterben

Im Frühjahr gehen meine Frau und ich häufig im Hardwick Wood spazieren, einem Wald nicht weit vom britischen Cambridge. Dort bewundern wir den Teppich aus Glockenblumen, der den Boden bedeckt. Einmal kamen wir auf einem schmalen Pfad zu einer steinernen Gedenktafel, die an Oliver John Hardiment(1) erinnert, einen jungen Mann, der 2006 im Alter von 25 Jahren gestorben war. Unter seinem Namen stand ein Zitat des indischen Autors Rabindranath Tagore(1): »Der Schmetterling zählt nicht die Monate, sondern die Momente, und hat Zeit genug.«

Das Leben eines Schmetterlings dauert manchmal nur eine Woche, und die meisten Arten leben noch nicht einmal einen Monat. Als ich an das flüchtig kurze Leben eines typischen Schmetterlings dachte, fiel mir auf, in welchem Kontrast es zu etwas anderem steht, das mich fasziniert hatte. In New York war ich oft im American Museum of Natural History gewesen, wo ein riesiger Querschnitt durch den Stamm eines Mammutbaums ausgestellt ist. Als der Baum 1891 gefällt wurde, war er mehr als 1300 Jahre alt. In Großbritannien gibt es einige Eiben, deren Alter auf über 3000 Jahre geschätzt wird.

Natürlich sind Bäume etwas grundlegend anderes als wir, denn sie können sich regenerieren. Ein Apfelbaum im Botanischen Garten der Universität Cambridge wurde aus einem Steckling des Baumes herangezogen, unter dem der junge Isaac Newton(1) vor einigen Jahrhunderten ungefähr 150 Kilometer nördlich beim Woolsthorpe Manor gesessen hatte, dem Anwesen seiner Familie. Es gibt sogar mehrere »Newton(2)-Bäume«; alle waren anfangs Stecklinge jenes einen Baumes mit dem berühmten Apfel, der zu Boden fiel und der Legende zufolge Newton(3) dazu anregte, die Gravitationstheorie zu formulieren. Die Frage, ob man das Alter dieser Bäume am Wurzelstock des ursprünglichen Baumes bemessen soll, ist interessant, aber sie unterscheidet sich von der Frage nach der Lebensdauer von Tieren.

Auch im Tierreich gibt es Arten mit baumähnlichen Eigenschaften. Ein Arm, den man einem Seestern(1) abschneidet, wächst sofort nach. Noch eindrucksvoller ist die Hydra, ein kleines Wassertier: Sie scheint überhaupt nicht zu altern und kann ständig Gewebe regenerieren.[1] Das Ganze ist allerdings ein komplizierter Vorgang.[2] Wie sich in einer Studie gezeigt hat, sind allein an der Regeneration des Kopfes zahlreiche Gene beteiligt. Und das alles bei einem Tier, das nur wenig mehr als einen Zentimeter misst.

Die Hydra ist schon bemerkenswert, aber einer ihrer Verwandten, ein weiterer Meeresbewohner, kann sogar rückwärts altern – zumindest im übertragenen Sinn. Diese Spezies heißt Turritopsis dohrnii und wird auch als »unsterbliche Qualle« bezeichnet. Sind solche Quallen(1) einer Verletzung oder Belastungen ausgesetzt, gehen sie in ein früheres Entwicklungsstadium über und beginnen mit ihrem Leben ganz von vorn. Es ist fast, als könnte sich ein verletzter Schmetterling wieder in die Raupe zurückverwandeln und einen neuen Anfang machen.[3]

Hydra und unsterbliche Quallen(2) lassen keine Alterungserscheinungen erkennen und werden deshalb häufig als biologisch unsterblich bezeichnet. Das heißt nicht, dass sie nicht sterben würden – sie können sterben und sterben auch aus allen möglichen Gründen. Nach wie vor müssen sie natürliche Feinde fürchten und sich selbst ausreichend mit Nahrung versorgen, um zu überleben. Es heißt auch nicht, dass sie nicht aus biologischen Gründen sterben könnten. Aber im Gegensatz zu nahezu allen anderen Tieren nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sterben, nicht mit dem Alter zu.

Arten wie Hydra und die unsterbliche Qualle sind für Altersforscher von besonderem Interesse, denn sie können Anhaltspunkte dafür liefern, wie auch wir den Alterungsprozess abwehren können. Für mich ähneln sie allerdings mit ihrer Fähigkeit, ganze Körperteile oder sogar einen vollständigen Organismus zu regenerieren, eher den Bäumen als uns. Zwar können wir aufgrund der Tatsache, dass sie nicht erkennbar altern, faszinierende Erkenntnisse gewinnen, aber welche Bedeutung solche Erkenntnisse für die Alterung der Menschen haben, ist alles andere als klar. Manches in der Biologie ist allgemeingültig, insbesondere wenn es mit grundlegenden Mechanismen zu tun hat. In anderen Fällen jedoch lassen sich sogar Entdeckungen an Ratten(1) oder Mäusen, die Säugetiere sind und uns biologisch viel näher stehen, nur schwer auf Menschen übertragen. Bis Befunde, die an Hydra oder Quallen(3) gewonnen wurden, für uns nützlich werden, dürfte noch viel Zeit vergehen.

Vielleicht müssen wir den Blick auf Arten richten, die enger mit uns verwandt sind, beispielsweise auf Säuge- oder zumindest Wirbeltiere. Bei Tieren dieser Klasse findet man zwar nicht das gewaltige Spektrum verschiedener Lebenserwartungen wie das zwischen Insekten und Bäumen, aber auch sie unterscheiden sich beträchtlich. Manche kleinen Fische leben nur wenige Monate, ein Grönlandwal dagegen hat bekanntermaßen mehr als 200 Jahre gelebt, und ein Grönlandhai wurde nach heutiger Kenntnis sogar fast 400 Jahre alt.

Welche Ursachen haben diese starken Schwankungen, die sogar innerhalb einer einzelnen Tiergruppe wie den Säugetieren auftreten? Können wir bei allen diesen Arten aus irgendwelchen generellen Eigenschaften eine Gesetzmäßigkeit ableiten? Nach solchen Zusammenhängen suchen Forscher und Forscherinnen schon seit Langem. Insbesondere Physiker sind an allgemeinen Regeln interessiert, mit denen sie in ganz unterschiedlichen Beobachtungen einen Sinn finden können. Einer von ihnen ist Geoffrey West(1) vom Santa Fe Institute, der heute an komplexen Systemen einschließlich der Alterung arbeitet. West(2) nimmt einen weit gefassten Blickwinkel ein und analysiert, wie Städte und Unternehmen, aber auch Lebewesen, wachsen, altern und sterben. Dabei geht er auch der Frage nach, wie manche Eigenschaften von Tieren sich auf ein breites Spektrum von Größen und Lebenserwartungen verteilen.[4]

Betrachtet man die Säugetiere, so gilt ganz allgemein, dass ihr Leben umso länger dauert, je größer ein Tier ist. Im Hinblick auf die Evolution ist das plausibel. Ein kleines Tier ist stärker durch natürliche Feinde gefährdet, und bei ihm hätte eine längere Lebenserwartung(6) keinen Sinn, wenn es ohnehin gefressen wird, lange bevor es aufgrund seines Alters stirbt. Ein tiefer liegender Grund für den Zusammenhang zwischen Körpergröße und Lebensdauer ist aber in der Stoffwechselrate(1) zu suchen. Das ist, grob gesagt, die Geschwindigkeit, mit der ein Tier die Brennstoffe aus der Nahrung verbraucht, um die für seine Funktion notwendige Energie zu gewinnen. Kleine Tiere haben im Verhältnis zur Größe eine größere Körperoberfläche und geben deshalb Wärme schneller ab. Als Ausgleich müssen sie mehr Wärme erzeugen, das heißt, sie müssen eine höhere Stoffwechselrate aufrechterhalten und im Verhältnis zu ihrem Gewicht mehr fressen. Deshalb nimmt die Gesamtzahl der Kalorien, die ein Tier pro Stunde verbrennt, langsamer zu als das Gewicht des Tieres. Ein Tier, das zehnmal größer ist, verbrennt in jeder Stunde nur die vier- bis fünffache Zahl an Kalorien. Oder anders gesagt: Im Verhältnis zum Gewicht verbrennen kleinere Tiere mehr Kalorien als größere. Der Zusammenhang zwischen Kalorienverbrauch und Körpermasse wird auch als Kleiber-Gesetz bezeichnet; der Name erinnert an Max Kleiber(1), der in den 1930er-Jahren nachweisen konnte, dass die Stoffwechselrate eines Tieres mit der Potenz von 3/4 der Körpermasse zunimmt. Der genaue Zahlenwert ist dabei ein wenig umstritten, und manche Autoren konnten zeigen, dass eine Potenz von 2/3 besser zu den Daten passt.

Da auch die Pulsfrequenz mit der Stoffwechselrate(2) zunimmt, erleben Säugetiere in einem breiten Größenspektrum – von Hamstern bis zu Walen – während ihres gesamten Lebens ungefähr die gleiche Zahl von Herzschlägen, nämlich rund 1,5 Milliarden. Bei Menschen ist die Zahl derzeit nahezu doppelt so hoch, aber unsere Lebenserwartung(7) hat sich auch in den letzten einhundert Jahren verdoppelt. Es hat fast den Anschein, als wären Säugetiere so konstruiert, dass sie eine bestimmte Zahl von Herzschlägen überleben, ganz ähnlich wie ein typisches Auto, das ungefähr 250 000 Kilometer durchhält. West(3) weist darauf hin, dass 1,5 Milliarden auch ungefähr die Gesamtzahl der Umdrehungen ist, die ein Automotor im Laufe seiner durchschnittlichen Lebensdauer absolviert, und er fragt – vielleicht ein wenig augenzwinkernd –, ob das nur Zufall ist oder etwas über die gemeinsamen Mechanismen der Alterung aussagt!

Solche Zusammenhänge legen die Vermutung nahe, dass es für die Lebensdauer natürliche Grenzen gibt, denn Körpergröße und Stoffwechselrate(3) schwanken nur in einem gewissen Rahmen. Ein Tier kann beispielsweise durch Evolution nicht beliebig groß werden, ohne unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Ein solches Tier hätte auch große Schwierigkeiten, seine Zellen mit dem erforderlichen Sauerstoff zu versorgen. Der Stoffwechsel(1)