Was bleibt, sind wir - Jill Santopolo - E-Book
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Was bleibt, sind wir E-Book

Jill Santopolo

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Beschreibung

Zwei Menschen. Ein Augenblick. Was wäre wenn?

Lucy und Gabe treffen sich mit Anfang zwanzig in einem Uni-Seminar, und diese Begegnung verändert ihr beider Leben für immer. Gemeinsam lernen sie die erste große Liebe kennen. Nur eines bedenken sie nicht: dass ihre Wünsche sie immer weiter auseinander treiben könnten. Lucy macht Karriere in New York, während Gabe als Fotograf um die Welt reist. Trotzdem können sie einander dreizehn Jahre lang nicht vergessen. Werden sie erneut zueinander finden? Ein einziger Augenblick könnte das entscheiden …

»Dieses Buch hat mich nachts wach gehalten, denn ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht.« – Reese Witherspoon

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Seitenzahl: 423

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JILL SANTOPOLO

Was bleibt,

sind wir

Aus dem amerikanischen Englisch von Carola Fischer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe The Light We Lost erschien 2017 bei G.P. Putnam’s Sons Deutsche Erstausgabe 03/2018

Copyright © 2017 by Jill Santopolo

All rights reserved including the right of reproduction

in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with G.P. Putnam’s Sons,

an Imprint of Penguin Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673

Redaktion: Claudia Krader

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München unter Verwendung des Umschlags von Anthony Ramondo & Sandra Chiu

Umschlagabbildung: © Shutterstock/Denis Gorelkin, Canicula

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21397-8V002www.heyne.de

Für New York City

PROLOG

Ich kenne dich bereits mein halbes Leben.

Ich habe dich lächelnd gesehen, zuversichtlich, überglücklich.

Ich habe dich verzweifelt gesehen, verletzt, verloren.

Doch so habe ich dich nie gesehen.

Du hast mir beigebracht, das Schöne zu suchen. Du hast stets das Licht gefunden, in der Finsternis, im Verderben.

Ich weiß nicht, welche Schönheit, welches Licht ich hier finden werde. Aber ich werde suchen. Das tue ich für dich. Denn ich weiß, du würdest das auch für mich tun.

In unserem gemeinsamen Leben gab es so viel Schönheit.

Vielleicht sollte ich damit beginnen.

1

Manchmal können Dinge etwas über die Vergangenheit erzählen. Damals malte ich mir aus, dass der Holztisch, um den wir uns in Kramers Shakespeare-Seminar versammelten, genauso alt wäre wie die Columbia University selbst. Das Möbelstück hätte seit 1754 in diesem Raum gestanden, die Tischkanten wären von Generationen von Studenten blank gewetzt worden. Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit, aber in meiner Vorstellung blieb ich dabei. Egal ob Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg, Sezessionskrieg, Weltkriege, Korea, Vietnam oder Golfkriege, für mich saßen die ganze Zeit Studenten an diesem Holztisch.

Es ist komisch, aber wenn du mich fragst, wer an jenem Tag noch da war – ich könnte es dir nicht sagen. Früher hatte ich alle Gesichter klar vor Augen, aber dreizehn Jahre später kann ich mich nur an dich und Professor Kramer erinnern. Nicht einmal der Name von Kramers Assistentin fällt mir ein, die damals zu spät in den Seminarraum gerannt kam. Sogar später als du.

Kramer hatte gerade die Anwesenheit überprüft, als die Tür aufging. Ein Lächeln lag auf deinem Gesicht, und ein Grübchen erschien auf deiner Wange, als du deine Baseballkappe abgenommen und in deine hintere Hosentasche gesteckt hast. Dein Blick landete auf dem freien Platz neben mir, und eine Sekunde später hast du auf dem Stuhl gesessen.

»Und Sie sind?«, fragte Kramer, während du ein Notizbuch und einen Stift aus deinem Rucksack geholt hast.

»Gabe«, sagtest du. »Gabriel Samson.«

Kramer blickte auf das Blatt, das vor ihm lag. »Probieren wir es das restliche Semester mal mit pünktlich, Mr. Samson«, sagte er. »Das Seminar beginnt um neun. Besser noch, probieren wir es mit zu früh.«

Du hast genickt, und Kramer begann, über die verschiedenen Aspekte von Julius Cäsar zu reden.

»Weil schon am Gipfelpunkt, droht nun der Abstieg«, las er vor. »Es gibt Gezeiten in den Lebensdingen; die, wenn bei Flut genommen, zum Erfolg uns führn; verpasst man sie, so verebbt die Lebensreise am seichten, klippenreichen Strand der Not. Auf solcher hohen Woge treiben wir, und müssen’s nutzen, wenn der Strom uns trägt, weil wir sonst Schiffbruch leiden.1 Ich denke, Sie haben den Text alle gelesen. Wer weiß, was Brutus über Schicksal und freien Willen sagen will?«

Ich werde diese Zeilen nie vergessen. Seit jenem Tag habe ich mich unzählige Male gefragt, ob du und ich dazu bestimmt waren, uns in Kramers Shakespeare-Seminar zu treffen. War es unser Schicksal oder unsere Entscheidung, dass wir über die Jahre in Verbindung blieben? Oder eine Kombination aus beidem, weil wir rechtzeitig den Strom nutzten, der uns trug?

Nachdem Kramer geendet hatte, überflogen einige Studenten den Text vor ihnen auf dem Tisch. Du fuhrst mit den Fingern durch deine Locken, und sie ringelten sich sofort wieder.

»Also«, hast du gesagt, und alle schauten dich an, genau wie ich.

Weiter kamst du nicht.

Kramers Assistentin, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, stürmte zur Tür herein. »Entschuldigung, dass ich zu spät bin«, sagte sie. »Ein Flugzeug ist ins World Trade Center geflogen. Es kam gerade im Fernsehen, als ich aus dem Haus wollte.«

Niemand erkannte die Bedeutung ihrer Worte, nicht einmal sie selbst.

»Was war mit dem Piloten, war er betrunken?«, fragte Kramer.

»Das weiß ich nicht«, sagte die Assistentin und setzte sich hin. »Der Nachrichtensprecher hatte keine Ahnung, was los war. Er hat nur gesagt, es soll eine Art Propellermaschine gewesen sein.«

Wenn das heute passieren würde, hätten wir zahllose Nachrichten auf unseren Handys. Ein Pling von Twitter und Facebook oder Push-Nachrichten von der New York Times. Damals war Kommunikation nicht so blitzschnell, und Shakespeare wollte lieber nicht unterbrochen werden.

Wir alle taten das Thema mit einem Schulterzucken ab, und Kramer sprach weiter über Cäsar. Als ich mir Notizen machte, bemerkte ich, wie deine rechte Hand unwillkürlich die Holzmaserung des Tisches entlangfuhr. Schnell kritzelte ich ein Bild von deinem Daumen mit dem rauen Nagel und der eingerissenen Nagelhaut. Das Notizbuch habe ich irgendwo, in einer Bücherkiste voller Klassiker der Literatur und Philosophie. Ich bin sicher, es ist noch da.

2

Ich werde niemals vergessen, was wir zueinander sagten, als wir den Hörsaal verließen. Die Worte waren eher belanglos, aber sie haben sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt. Wir gingen zusammen die Treppe hinunter. Nicht wirklich zusammen, aber nebeneinander. Die Luft war klar, der Himmel blau, und alles hatte sich verändert. Nur wussten wir das damals nicht.

Die Studenten um uns herum redeten alle gleichzeitig:

»Die Twin Towers sind eingestürzt!«

»Alle Seminare wurden abgesagt!«

»Ich will Blut spenden. Weiß jemand, wo ich das kann?«

Ich drehte mich zu dir um. »Was ist los?«

»Ich wohne dort drüben«, sagtest du und zeigtest auf das East-Campus-Wohnheim. »Lass uns herausfinden, was los ist. Du bist Lucy, stimmt’s? Wo wohnst du?«

»Hogan Hall«, antwortete ich. »Und ja, ich bin Lucy.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Lucy. Ich bin Gabriel.« Du hieltest mir deine Hand hin. Mitten im Trubel schüttelte ich sie und sah dich dabei an. Dein Grübchen erschien wieder. Deine blauen Augen strahlten. In diesem Moment dachte ich zum ersten Mal: Er ist schön.

Wir gingen in dein Wohnheim und schauten mit deinen Mitbewohnern Adam, Scott und Justin Fernsehen. Auf dem Bildschirm fielen Menschen aus den Gebäuden, schwarze Trümmerhaufen schickten Rauchsignale gen Himmel, und die zwei Türme stürzten in Endlosschleife in sich zusammen. Die Zerstörung betäubte uns. Wir starrten auf die Fernsehbilder, unfähig, die Informationen mit unserer Realität zusammenzubringen. Wir begriffen nicht, dass das in unserer Stadt passierte, nur sieben Meilen von unserem Campus entfernt. Ich jedenfalls nicht. Es fühlte sich so weit weg an.

Unsere Handys funktionierten nicht. Du hast von dem Telefon im Wohnheim deine Mutter in Arizona angerufen und ihr gesagt, dass es dir gut geht. Ich telefonierte mit meinen Eltern in Connecticut. Sie wollten, dass ich nach Hause kam. Sie kannten eine Familie, deren Tochter im World Trade Center arbeitete. Niemand hatte etwas von ihr gehört. Und der Cousin eines weiteren Bekannten war im Restaurant Windows on the World zum Frühstück verabredet gewesen.

»Außerhalb von Manhattan ist es sicherer«, sagte mein Vater. »Was machst du, wenn es ein Anthrax-Anschlag war? Oder eine andere Biowaffe. Oder Nervengas.«

Ich erzählte meinem Vater, dass die U-Bahn nicht fuhr. Die Züge wahrscheinlich auch nicht.

»Ich hole dich mit dem Auto ab«, meinte er. »Ich fahre gleich los.«

»Mir geht es gut«, versicherte ich. »Ich bin bei Freunden. Alles okay. Ich rufe euch später wieder an.« Es fühlte sich immer noch unwirklich an.

»Wisst ihr«, sagte Scott, nachdem ich aufgelegt hatte. »Wenn ich ein Terrorist wäre, würde ich eine Bombe auf uns werfen.«

»Was redest du da für’n Scheiß?«, entgegnete Adam. Er wartete auf einen Anruf von seinem Onkel, der bei der New Yorker Polizei arbeitete.

»Ich meine, wenn man es wissenschaftlich betrachtet«, begann Scott, konnte seinen Satz aber nicht zu Ende bringen.

»Halt den Mund«, sagte Justin. »Im Ernst, Scott. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Vielleicht sollte ich lieber gehen«, sagte ich zu dir. Im Grunde kannte ich dich kaum. Ich hatte deine Freunde gerade erst kennengelernt. »Meine Mitbewohnerinnen fragen sich wahrscheinlich, wo ich bin.«

»Ruf sie an.« Du hast mir wieder das Telefon hingehalten. »Sag ihnen, dass du gleich auf das Dach des Wohnheims Wien gehst. Sie können auch dahin kommen. Falls du das willst.«

»Wo gehe ich hin?«

»Du gehst mit mir.« Deine Finger fuhren geistesabwesend über meinen Zopf. Das war eine sehr intime Geste, eine Berührung, zu der es nur kommt, wenn man die Barrieren der persönlichen Distanz durchbrochen hat. Wenn man vom Teller eines anderen isst, ohne zu fragen. Urplötzlich fühlte ich mich mit dir verbunden, als ob deine Hand auf meinem Haar mehr bedeutete als nur ein paar unruhige, nervöse Finger.

Jahre später dachte ich erneut an diesen Augenblick. Ich hatte beschlossen, meine Haare zu spenden, und der Friseur überreichte mir meinen braunen Zopf, der in der Plastikhülle dunkler aussah. Obwohl du in diesem Moment am anderen Ende der Welt warst, hatte ich das Gefühl, dich zu hintergehen. Es war, als würde ich das Band zwischen uns durchtrennen.

Als dir an jenem Tag bewusst wurde, was du gerade getan hattest, sank deine Hand herunter. Du hast mich zum zweiten Mal angelächelt, aber diesmal blieben deine Augen stumm.

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte ich.

Die Welt schien in tausend Stücke zu zerspringen. Es fühlte sich an, als ob wir durch einen zerbrochenen Spiegel an einen zerklüfteten Ort gelangten, wo nichts mehr einen Sinn ergab, wo unsere Schutzmauern eingerissen waren. An diesem Ort gab es keinen Grund, Nein zu sagen.

3

Wir nahmen den Fahrstuhl in den zehnten Stock des Wohnheims Wien hinauf. Du bist zum Ende des Flurs gegangen und hast das Fenster aufgemacht. »Das hat mir ein Kommilitone im zweiten Jahr gezeigt«, sagtest du. »Der Blick auf New York City ist unglaublich, so was hast du noch nie gesehen.«

Wir kletterten aus dem Fenster auf das Dach, und mir stockte der Atem. Von der Südspitze Manhattans stiegen dunkle Rauchschwaden auf. Der gesamte Himmel war grau, die Stadt mit Asche bedeckt.

»O mein Gott«, sagte ich. Tränen traten mir in die Augen. Ich stellte mir die Stadt vor, wie sie bis vor Kurzem ausgesehen hatte. Ich sah die schreckliche Stelle, wo die Türme gestanden hatten. Endlich verstand ich, was passiert war. »In diesen Gebäuden waren Menschen.«

Deine Hand fand meine und hielt sie fest.

Dort standen wir und blickten auf die Folgen der Zerstörung. Uns beiden liefen Tränen über die Wangen. Wie lange wir dort blieben, weiß ich nicht mehr. Sicher waren auch andere Studenten da, aber ich erinnere mich nur an dich. Und an den Rauch. Dieses Bild hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt.

»Was passiert jetzt?«, fragte ich im Flüsterton. Beim Anblick der zerstörten Stadt begriff ich das Ausmaß des Anschlags. »Wie geht es weiter?«

Du hast mich angesehen, und unsere tränennassen Blicke trafen sich mit einer Wucht, dass wir die Welt um uns herum vergaßen. Dein Arm schlang sich um meine Hüfte, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um deinen Lippen zu begegnen. Wir drückten uns fest aneinander, als ob uns das vor dem schützen würde, was geschehen könnte. Als ob ich nur in Sicherheit wäre, wenn ich meine Lippen auf deine presste. Denn so fühlte ich mich, als dein Körper meinen bedeckte – sicher, umgeben von deinen starken, warmen Armen. Ich spürte das Zucken deiner Muskeln und vergrub meine Finger in deinem Haar. Du hast meinen Zopf um deine Hand gewickelt und meinen Kopf leicht nach hinten gezogen. Ich vergaß alles um mich herum. In diesem Moment gab es nur dich.

Jahrelang habe ich mich deswegen schuldig gefühlt. Schuldig, weil wir uns zum ersten Mal küssten, während die Stadt brannte. Schuldig, weil ich mich vollkommen in dir verlieren konnte. Später habe ich erfahren, dass wir nicht die Einzigen waren. Menschen erzählten mir im Flüsterton, dass sie an diesem Tag Sex hatten. Sie wurden schwanger. Sie verlobten sich, sagten zum ersten Mal Ich liebe dich. Der Tod stärkt den Lebenswillen der Menschen. Wir wollten an diesem Tag leben, und ich kann es uns nicht verdenken. Heute nicht mehr.

Wir hielten kurz inne, um Luft zu holen, und ich lehnte meinen Kopf an deine Brust. Ich lauschte. Dein regelmäßiger Herzschlag tröstete mich.

Hat mein Herzschlag damals dich getröstet? Tröstet er dich noch?

4

Du hattest mir ein Mittagessen versprochen, deshalb gingen wir zurück in dein Wohnheim. Du sagtest, dass du nach dem Essen noch einmal mit deiner Kamera aufs Dach gehen würdest, um Fotos zu machen.

»Für den Spectator?«

»Die Unizeitschrift?«, fragtest du. »Nee. Für mich.«

In der Küche fiel mein Blick auf einige deiner Fotos, die dort herumlagen – Schwarzweißbilder, auf dem Campus aufgenommen. Die Fotos waren wunderschön, ungewöhnlich, in Licht getaucht. Die Motive waren so herangezoomt, dass alltägliche Gegenstände wie moderne Kunst aussahen.

»Was ist das?«, fragte ich. Nachdem ich das Foto eine Zeit lang betrachtet hatte, erkannte ich, dass es die Nahaufnahme eines Vogelnests war, ausgekleidet mit Zeitungen und einem Aufsatz über französische Literatur.

»Ach, das war unglaublich«, sagtest du. »Jessica Cho, kennst du sie? Sie singt a cappella und ist die Freundin von David Blum. Jessica hat dieses Nest, in das eine Hausarbeit eingeflochten war, von ihrem Fenster aus gesehen und mir davon erzählt. Also bin ich hin und habe mir das angesehen. Ich musste mich ganz weit aus dem Fenster lehnen, um es zu fotografieren. David hat mich an den Knöcheln festgehalten, weil Jessica Angst hatte, ich könnte hinunterfallen. Aber ich hab’s geschafft.«

Nachdem ich diese Geschichte gehört hatte, sah ich dich mit anderen Augen. Du warst mutig, unerschrocken, du wolltest Kunst machen. Wenn ich zurückblicke, glaube ich, dass ich genau diesen Eindruck von dir bekommen sollte. Du wolltest mich beeindrucken, aber damals merkte ich das nicht. Ich dachte nur: Wow! Ich dachte: Er ist wunderbar.

Die Wahrheit ist, damals wie heute, dass du überall Schönheit siehst. Dir fallen Dinge auf, die andere Menschen gar nicht bemerken. Das habe ich von Anfang an bewundert.

»Willst du das später beruflich machen?«, fragte ich und zeigte auf die Fotos.

Du hast den Kopf geschüttelt. »Das mache ich nur zum Spaß«, sagtest du. »Meine Mutter ist Künstlerin. Du solltest ihre riesigen abstrakten Bilder sehen, die sind einfach großartig. Aber ihren Lebensunterhalt verdient sie mit kleinen Gemälden vom Sonnenuntergang in Arizona. So ein Leben will ich nicht. Ich will keine Bilder machen, nur weil sie sich verkaufen.«

Ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und schaute mir die restlichen Fotos an. Rost, der in eine steinerne Bank sickerte, gesprungene Marmoradern, Patina auf einem Metallgitter. Schönheit, wo ich sie niemals vermutet hätte. »Ist dein Dad auch Künstler?«, fragte ich.

Dein Blick verfinsterte sich. Ich sah, wie hinter deinen Augen eine Tür zufiel. »Nein«, sagtest du. »Ist er nicht.«

Ich war in ein Gefahrengebiet geraten, von dem ich nichts geahnt hatte. Da ich dabei war, deine innere Landschaft zu entdecken, merkte ich mir den Ort. Und hoffte bereits in jenem Moment, dass ich dieses Terrain gut kennenlernen, mich irgendwann blind dort zurechtfinden würde.

Du warst still. Ich war still. Im Hintergrund plärrte der Fernseher. Der Nachrichtensprecher berichtete über den Brand im Pentagon und den Flugzeugabsturz in Pennsylvania. Das ganze Grauen dieses Tages stürzte wieder auf mich ein. Ich legte deine Fotos beiseite. Es schien falsch zu sein, mich in diesem Moment mit Schönheit zu befassen. Wenn ich heute zurückdenke, war es jedoch vielleicht genau das Richtige.

»Hast du nicht etwas von Mittagessen gesagt?«, fragte ich, obwohl ich nicht hungrig war. Obwohl die Fernsehbilder mir auf den Magen schlugen.

Die Tür hinter deinen Augen ging wieder auf. »Das habe ich«, sagtest du mit einem Nicken.

Du hattest nur Zutaten für Nachos. Also schnitt ich ganz mechanisch Tomaten und machte mit einem alten, verrosteten Öffner eine Dose Bohnen auf, während du Tortillachips in eine billigen Aluschale geschichtet und Käse in eine angeschlagene Müslischüssel gerieben hast.

»Was ist mit dir?», sagtest du, als ob uns unser Gespräch nicht für einen Moment entgleist wäre.

»Hm?« Ich drückte den Dosendeckel auf die Bohnen, damit ich ihn abnehmen konnte.

»Bist du Künstlerin?«

Ich legte den Deckel auf die Arbeitsplatte. »Nein«, sagte ich. »Ich schreibe Geschichten für meine Mitbewohner, kreativer bin ich nicht.«

»Worüber?« Dabei hattest du den Kopf auf die Seite gelegt.

Ich blickte zu Boden, damit du nicht sehen konntest, wie ich rot wurde. »Das ist sehr peinlich«, sagte ich. »Die Geschichten handeln von einem Minischwein mit Namen Hamilton, das versehentlich am College für Kaninchen angenommen wurde.«

Dein Lachen klang überrascht. »Hamilton. Ein Schwein«, sagtest du. »Ich verstehe. Das ist lustig.«

»Danke«, sagte ich und schaute dich wieder an.

»Das willst du also nach dem Studium machen?« Deine Hand griff nach dem Glas mit der Salsa und schlug den Deckel leicht gegen die Arbeitsplatte, damit er sich leichter aufdrehen ließ.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es ein großes Interesse an Geschichten von Hamilton, dem Schwein, gibt. Ich hatte daran gedacht, in die Werbung zu gehen, aber auf einmal kommt mir das dumm vor.«

»Warum dumm?« Der Deckel ging mit einem Plopp auf.

Ich schaute zum Fernseher hinüber. »Hat das irgendeine Bedeutung? Werbung? Wenn das meine letzten Tage auf Erden wären, und ich würde mein gesamtes Erwachsenenleben damit zubringen, Kampagnen für geraspelten Käse oder Nachos zu entwerfen, hätte ich dann das Gefühl, dass mein Leben sinnvoll wäre?«

Du hattest dich mir zugewendet. Deine Augen sagten: Ich denke darüber nach.

Ich lernte mehr über deine Topografie. Vielleicht hattest du auch etwas über meine innere Landschaft gelernt. »Was macht ein sinnvolles Leben aus?«, fragtest du schließlich.

»Das versuche ich herauszufinden«, sagte ich. Meine Gedanken kreisten. »Ich denke, es geht darum, ein Zeichen zu setzen, in positiver Weise. Damit man eine bessere Welt verlässt als die, in die man hineingeboren wurde.« Daran glaube ich immer noch, Gabe. Mein ganzes Leben lang habe ich danach gestrebt, genau das zu erreichen. Und ich glaube, du hast das auch. Doch bis zu diesem Moment hatte keiner von uns auf diese Art über sein Leben nachgedacht.

Ich sah, wie sich dein Gesichtsausdruck veränderte. Ich war nicht sicher, was das bedeutete. Ich kannte dich noch nicht gut genug. Heute kenne ich diesen Blick. Er besagt, dass sich dein Blickwinkel verschiebt.

Du hast einen Chip in die Salsa getunkt und mir hingehalten. »Willst du?«

Ich biss ab, den Rest stecktest du dir in den Mund. Deine Augen glitten über mein Gesicht und an meinem Körper hinab. Ich spürte, wie du mich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtetest. Dann strichen deine Fingerspitzen über meine Wange, und wir küssten uns erneut. Dieser Kuss schmeckte nach Salz und Chili.

Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, bemalte ich die Wand in meinem Kinderzimmer mit roter Wachsmalkreide. Ich glaube nicht, dass ich dir das jemals erzählt habe. Egal. Während ich also kleine Herzen und Bäume, Sonnen und Monde und Wolken zeichnete, wusste ich, dass ich das eigentlich nicht durfte. Das spürte ich tief in meiner Magengrube. Aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich wollte unbedingt meine Wand bemalen. Mein Zimmer war rosa und gelb gestrichen, aber meine Lieblingsfarbe war Rot. Ich wollte ein rotes Zimmer haben. Ich brauchte ein rotes Zimmer. Die Wand zu bemalen fühlte sich gleichzeitig vollkommen richtig und absolut falsch an.

Genauso war es auch an dem Tag, als ich dich kennenlernte. Dich inmitten von Tod und Unglück zu küssen fühlte sich vollkommen richtig und zugleich absolut falsch an. Ich konzentrierte mich auf das, was sich richtig anfühlte, so mache ich das immer.

Ich ließ meine Hand über deinen Rücken in die hintere Tasche deiner Jeans gleiten, und deine Hand rutschte in meine Hosentasche. Wir drückten uns aneinander. In deinem Zimmer klingelte das Telefon, aber das kümmerte dich nicht. Dann klingelte das Telefon in Scotts Zimmer.

Einige Sekunden später kam Scott in die Küche und räusperte sich. Wir ließen einander los, und du sahst ihn an. »Stephanie sucht dich, Gabe«, sagte er. »Sie ist noch dran.«

»Stephanie?«, fragte ich.

»Ach, niemand«, sagtest du, gerade als Scott antwortete: »Seine Ex.«

»Sie heult, Mann«, sagte Scott zu dir.

Du sahst unschlüssig aus, deine Augen wanderten von Scott zu mir und wieder zurück. »Könntest du ihr bitte sagen, dass ich sie in ein paar Minuten zurückrufe?«, sagtest du zu ihm.

Scott nickte und ging aus dem Raum. Du hast meine Hand genommen und deine Finger mit meinen verschränkt. Unsere Augen trafen sich, wie zuvor auf dem Dach. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Mein Herz schlug schneller.

»Lucy«, sagtest du. Plötzlich war mein Name von Sehnsucht erfüllt. »Ich weiß, du bist hier, und deshalb klingt das seltsam, aber ich sollte Stephanie zurückrufen. Wir waren letztes Jahr zusammen und haben uns erst vor einem Monat getrennt. Dieser Tag …«

»Ich verstehe schon«, sagte ich. Merkwürdigerweise machte dich das noch sympathischer, dass du dich um Stephanie kümmern wolltest, obwohl ihr nicht mehr zusammen wart. »Ich sollte mich sowieso bei meinen Mitbewohnerinnen blicken lassen.« Im Grunde wollte ich nicht gehen. »Danke für …«, begann ich, wusste aber nicht weiter. Mir fiel nichts ein.

Du hast meine Finger gedrückt. »Dank dir ist dieser Tag mehr als nur der Moment eines furchtbaren Terroranschlags«, sagtest du. »Lucy. Luce. Luz heißt Licht auf Spanisch, stimmt’s?« Du machtest eine Pause, ich nickte. »Ich danke dir, dass du diesen dunklen Tag mit Licht gefüllt hast.«

Du hattest Worte für die Gefühle gefunden, die ich nicht ausdrücken konnte. »Ja«, sagte ich. »Das ist es. Danke dafür.«

Wir küssten uns wieder. Es fiel mir schwer, mich von dir zu lösen, von dir fortzugehen.

»Ich rufe dich nachher an«, sagtest du. »Deine Nummer finde ich ja im Telefonbuch. Tut mir leid wegen der Nachos.«

»Mach’s gut«, sagte ich. »Nachos können wir ja auch ein anderes Mal essen.«

»Das klingt gut«, meintest du.

Beim Hinausgehen fragte ich mich, wie es sein konnte, dass einer der schrecklichsten Tage, die ich je erlebt hatte, gleichzeitig etwas Positives haben konnte.

Ein paar Stunden später hast du mich angerufen, aber das Gespräch verlief anders, als ich erwartet hatte. Du sagtest, dass es dir furchtbar leid täte, aber Stephanie und du, ihr wärt wieder zusammen. Ihr ältester Bruder wurde vermisst – er arbeitete im Nordturm des World Trade Centers. Sie brauchte dich. Du hofftest, ich würde das verstehen, und warst mir dankbar, dass ich Licht in diesen schrecklichen Nachmittag gebracht hatte. Es bedeutete dir sehr viel, dass ich bei dir gewesen war. Dann hast du dich noch einmal entschuldigt.

Ich war total am Boden zerstört. Unsinnigerweise, aber so war es.

Während des restlichen Semesters redete ich nicht mehr mit dir. Auch nicht im nächsten Semester. In Kramers Seminar suchte ich mir einen anderen Platz, damit ich nicht neben dir sitzen musste. Aber jedes Mal, wenn du etwas über die Schönheit sagtest, die du in Shakespeares Worten erkanntest, in seinen Bildern, in den hässlichsten Szenen, hörte ich genau zu.

»Ach weh, ein Purpurstrom aus warmem Blut.« Du hast laut vorgelesen. »Entspringt und sinkt, gleich der Fontäne, die der Wind bewegt, von deinen Rosenlippen.«2 Ich konnte nur an deine Lippen denken und an das Gefühl, als sie meine berührten.

Ich versuchte, diesen Tag zu vergessen, aber vergeblich. Ich konnte nicht vergessen, was mit New York, mit den Vereinigten Staaten, mit den Menschen im World Trade Center geschehen war. Ich konnte nicht vergessen, was zwischen uns geschehen war. Wenn mich heute jemand fragt: »Warst du in New York, als die Twin Towers einstürzten?« – »Wo warst du an dem Tag?« – »Wie war das?«, bist du das Erste, woran ich denke.

Es gibt Momente, die die Lebensbahn eines Menschen ändern. Für viele von uns, die in New York City lebten, war der 11. September 2001 so ein Moment. Alles, was ich an diesem Tag tat, würde später wichtig sein, würde sich unauslöschlich in mein Gedächtnis und mein Herz einprägen.

Ich weiß nicht, warum ich dir an diesem Tag begegnet bin, aber weil es so war, wirst du für immer ein Teil meiner persönlichen Geschichte sein.

5

Es war Mai, und wir hatten gerade unseren Abschluss gemacht. Wir gaben unsere Barette und Talare zurück und tauschten sie gegen in Latein verfasste Diplome ein, auf denen unsere Namen standen. Nach der Feier betrat ich zusammen mit meiner ganzen Familie – meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder Jason, zwei Großeltern und einem Onkel – das Le Monde. Wir bekamen einen Platz neben einer anderen, sehr viel kleineren Familie. Deiner.

Als wir uns einer nach dem anderen an eurem Tisch vorbeischlängelten, blicktest du auf und berührtest meinen Arm. »Lucy«, sagtest du. »Ich gratuliere.«

Ich zitterte, als ich deine Haut auf meiner spürte, obwohl unsere Begegnung so viele Monate zurücklag. »Ich dir auch«, war alles, was ich herausbrachte.

»Was hast du vor?«, fragtest du. »Bleibst du in der Stadt?«

Ich nickte. »Ich habe einen Job in der Programmentwicklung einer neuen Fernsehproduktion bekommen. Kindersendungen.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Zwei Monate lang hatte ich gefiebert und gehofft, bis ich die Zusage erhielt. Es war der Job, über den ich seit dem 11. September 2001 nachdachte. Damals war mir klar geworden, dass ich etwas Sinnvolleres als Werbung machen wollte. Dieser Job hatte das Potenzial, die nächste Generation zu erreichen und die Zukunft zu verändern.

»Kindersendungen?« Ein Lächeln huschte über dein Gesicht. »So was wie Alvin und die Chipmunks? Haben die Figuren Quietschestimmen?«

»Nicht unbedingt«, erwiderte ich lachend. Ich hätte dir gern erzählt, dass mich unser gemeinsames Gespräch zu diesem Entschluss gebracht hatte. Dass der Augenblick in deiner Küche mir so viel bedeutete. »Was ist mit dir?«

»McKinsey«, sagtest du. »Berater. Keine Streifenhörnchen für mich.«

Das überraschte mich. Das hatte ich nach unserem Gespräch in der Küche, nach deinen Textanalysen in Kramers Shakespeare-Seminar nicht erwartet.

Was ich sagte, klang anders. »Das ist großartig. Meinen Glückwunsch. Vielleicht sehen wir uns irgendwann.«

»Das wäre schön«, sagtest du.

Dann setzte ich mich zu meiner Familie an den Tisch.

»Wer war das?«, hörte ich jemanden fragen. Ich schaute auf. Ein Mädchen mit langen weizenblonden Haaren, die ihr über den Rücken fielen, saß neben dir, die Hand auf deinem Oberschenkel. Sie war mir gar nicht aufgefallen, meine ganze Aufmerksamkeit hatte dir gegolten.

»Jemand, den ich von der Uni kenne, Stephanie«, hörte ich dich sagen. Was, natürlich, der Wahrheit entsprach. Aber es tat weh.

6

New York ist eine merkwürdige Stadt. Man kann dort jahrelang leben und niemals seinem Nachbarn begegnen. Dafür trifft man seine beste Freundin auf dem Weg zur Arbeit vor der U-Bahn. Schicksal kontra freier Wille. Oder vielleicht beides.

Im März, fast ein Jahr nach dem Abschluss, hatte New York uns vollkommen verschlungen. Zusammen mit Kate wohnte ich in einer riesigen Wohnung an der Upper East Side, die früher ihren Großeltern gehört hatte. Davon hatten wir schon zu Schulzeiten geredet. Nun war dieser Kindheitstraum wahr geworden.

Ich hatte eine sechsmonatige Affäre mit einem Arbeitskollegen, einige One-Night-Stands und ein paar Dates mit Männern hinter mir, die ich entweder nicht klug, nicht gut aussehend oder nicht interessant genug fand, obwohl ich im Nachhinein zugeben muss, dass sie alle ganz okay waren. Hätte ich Darren in dieser Zeit kennengelernt, hätte ich über ihn wahrscheinlich dasselbe gedacht.

Seit ich die Philosophy Hall und das East-Campus-Wohnheim, die mich an dich erinnerten, nicht mehr täglich sah, dachte ich nicht mehr an dich. Jedenfalls die meiste Zeit. Wir hatten uns fast ein Jahr lang nicht getroffen. Aber jedes Mal, wenn ich bei der Arbeit mit meinem Chef Storyboards durchsah oder wir eine Folge über Respekt und Toleranz besprachen, wanderten meine Gedanken zu dir. Ich dachte an unser Gespräch in deiner Küche zurück. Ich hatte das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Der 20. März 2003 war mein dreiundzwanzigster Geburtstag. Eigentlich wollte ich erst am Wochenende eine Party feiern, aber meine engsten Kolleginnen, die Drehbuchschreiberin Alexis und die Szenendesignerin Julia, bestanden darauf, dass wir schon nach der Arbeit auf mich anstießen.

In jenem Winter gingen wir alle drei am liebsten ins Faces & Names, denn dort gab es gemütliche Sofas und einen Kamin. Die Temperatur lag bei etwas über null Grad. Wir hofften, in der Bar würden sie den Kamin anmachen, wenn wir darum baten. In den vergangenen Monaten waren wir sehr oft dort gewesen, und der Barkeeper mochte uns.

Julia hatte mir eine Geburtstagskrone gebastelt und bestand darauf, dass ich sie aufsetzte. Alexis bestellte Appletinis für uns alle. Wir setzten uns auf das Sofa vor dem Kamin und sprachen vor jedem Schluck einen Toast aus.

»Auf Geburtstage«, begann Alexis.

»Auf Lucy«, sagte Julia.

»Auf Freunde«, fügte ich hinzu.

Weiter ging es: »Auf den Fotokopierer, der heute keinen Papierstau hatte.« – »Auf Chefs, die sich krankmelden.« – »Auf Essenseinladungen nach einem tollen Meeting.« – »Auf Bars mit Kamin.« – »Auf Appletinis.«

Die Kellnerin kam mit einem Tablett zu uns, auf dem drei weitere Appletinis standen.

»Ach, die haben wir aber nicht bestellt«, sagte Julia.

Die Kellnerin lächelte. »Ihr habt einen heimlichen Verehrer.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zur Bar hin.

Da warst du.

Einen Moment lang glaubte ich an eine Fata Morgana.

Ein kurzes Winken von dir.

»Er hat mich gebeten, etwas auszurichten: Alles Gute zum Geburtstag, Lucy.«

Alexis blieb der Mund offen stehen. »Du kennst den?«, sagte sie. »Scharfer Typ.« Dann hob sie das neue Getränk, das die Kellnerin vor ihr abgestellt hatte, in die Höhe.

»Auf süße Jungs in Bars, die deinen Namen kennen und Drinks spendieren«, rief sie. Nachdem wir alle einen Schluck getrunken hatten, sagte sie zu mir: »Geh hin und bedank dich, Geburtstagskind.«

Zuerst stellte ich mein Glas ab, überlegte es mir dann aber anders und nahm es wieder in die Hand. Ich wankte leicht auf meinen High Heels, als ich zu dir an die Bar ging.

»Danke«, sagte ich, während ich auf den Hocker neben dir glitt.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagtest du. »Hübsche Krone.«

Ich lachte und nahm sie ab. »Dir steht sie bestimmt viel besser«, sagte ich. »Willst du sie aufsetzen?«

Du wolltest. Die Krone drückte deine Locken platt.

»Fantastisch«, sagte ich.

Du hast gelächelt und die Krone vor uns auf die Theke gelegt.

»Ich habe dich beinahe nicht wiedererkannt«, sagtest du. »Deine Haare sind anders.«

»Pony«, erwiderte ich und strich mir die Haare aus der Stirn.

Du sahst mich genauso an wie damals in deiner Küche, aus jedem Blickwinkel. »Wunderschön, mit oder ohne Pony.« Deine Stimme klang ein bisschen rau, und mir wurde klar, dass du noch betrunkener warst als ich. Ich fragte mich, warum du an einem Donnerstagabend allein und angetrunken in einer Bar herumsitzt.

»Wie geht es dir?«, wollte ich wissen. »Alles okay?«

Den Ellbogen auf der Bar aufgestützt und den Kopf in eine Hand gelegt, sagtest du: »Ich weiß nicht. Stephanie und ich haben uns getrennt. Ich hasse meinen Job. Und die USA sind in den Irak einmarschiert. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bricht die Welt zusammen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, wie ich auf die Neuigkeit über Stephanie und deine Behauptung, dass die Welt zusammenbreche, reagieren sollte. Deshalb nippte ich nur an meinem Drink.

»Vielleicht wusste das Universum, dass ich dich heute Abend finden musste«, redetest du weiter. »Du bist wie … Pegasus.«

»Ein geflügeltes Pferd, wie in der Ilias?«, fragte ich. »Ein männliches geflügeltes Pferd?«

»Nein«, antwortetest du. »Du bist definitiv weiblich.«

Ich lächelte. Du fuhrst fort. »Ohne Pegasus hätte Bellerophon die Chimära niemals besiegt. Pegasus machte ihn stärker. Er konnte hoch über allem, über dem Schmerz, über den Verletzungen fliegen. Und wurde ein großer Held.«

Ich hatte die Sage nicht so verstanden. Ich sah darin eine Geschichte über Teamwork, Zusammenarbeit und Partnerschaft. Mir hatte gefallen, dass Pegasus Bellerophon erst die Erlaubnis geben musste, auf ihm zu reiten. Doch ich konnte spüren, dass dir deine Interpretation wichtig war. »Na ja, dann vielen Dank für das Kompliment. Obwohl mir ein Vergleich mit Athene, Hera oder den Gorgonen lieber gewesen wäre.«

Deine Mundwinkel zuckten nach oben. »Keine Gorgonen. Du hast keine Schlangen auf dem Kopf.«

Ich berührte meine Haare. »Du weißt nicht, wie ich aussehe, wenn ich morgens aufwache«, sagte ich.

Deine Augen sagten mir, dass du das sehen wolltest.

»Habe ich dir jemals gesagt, dass es mir leidtut?«, fragtest du. »Was mit uns passiert ist. Es tut mir nicht leid, dass ich dich geküsst habe. Aber …« Ein Schulterzucken. »Ich bereue, was danach geschehen ist. Ich habe versucht, das Richtige zu tun. Mit Stephanie. Das Leben ist …«

»Kompliziert«, beendete ich den Satz für dich. »Das ist okay. Es ist ewig her. Und du hast dich entschuldigt. Schon zweimal.«

»Ich denke immer noch an dich, Lucy«, sagtest du, den Blick auf dein leeres Whiskyglas gerichtet. Ich fragte mich, wie viel du getrunken hattest. »Ich denke an diese Wegbiegung, daran, was geschehen wäre, wenn wir sie genommen hätten. Zwei Wege trennten sich.«3

Heute würde ich darüber lachen, wenn du mich einen Weg nennen würdest, aber damals fand ich es wunderbar romantisch, dass du Robert Frost für mich zitiertest.

Ich schaute zu Alexis und Julia hinüber. Sie beobachteten uns und tranken ihre Martinis. »Alles okay?« Julia formte die Worte mit den Lippen in meine Richtung. Ich nickte. Sie tippte auf ihre Uhr und zuckte mit den Schultern. Ich antwortete ebenfalls mit einem Schulterzucken. Sie nickte.

Ich sah dich an. Du warst umwerfend, zart und zerbrechlich, und du wolltest mich. Vielleicht warst du mein Geburtstagsgeschenk vom Universum.

»Die Sache mit den Wegen ist die«, sagte ich. »Manchmal kreuzen sie sich wieder. Manchmal bekommt man noch einmal die Chance, denselben Weg zu nehmen.«

Meine Güte, waren wir lahm. Oder vielleicht einfach nur jung. Furchtbar jung.

Du sahst mich an, dein Blick war glasig, aber dennoch faszinierend. »Ich werde dich jetzt küssen.« Dann hast du dich zu mir herüber gebeugt. Der Kuss fühlte sich an, als wäre ein Geburtstagswunsch in Erfüllung gegangen.

»Kommst du mit zu mir, Lucy?«, hast du gefragt und mir eine eigensinnige Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen. »Ich möchte nicht allein nach Hause gehen.«

Ich erkannte die Traurigkeit in deinen Augen, die Einsamkeit. Und ich wollte dir helfen, ich wollte deine Rettung, dein Gegenmittel sein. Ich wollte alle Probleme für dich lösen. Das will ich noch immer. Das ist meine Achillesferse. Das sind die Granatapfelkerne, die mich wie Persephone in der Unterwelt festhalten.

Ich hob deine Finger an meine Lippen und küsste sie. »Ja«, sagte ich. »Ich will.«

7

Später lagen wir zusammen in deinem Bett, nur die Lichter der Stadt, die durch die Jalousien fielen, erhellten unsere Körper. Wir kuschelten Bauch an Rücken, du hattest den Arm um mich gelegt, deine Hand ruhte auf meinem nackten Bauch. Wir waren müde, zufrieden und ein wenig betrunken.

»Ich will meinen Job hinschmeißen«, sagtest du im Flüsterton, als ob es in der Dunkelheit sicher wäre, diese Worte laut auszusprechen.

»Okay«, antwortete ich leise mit schläfriger Stimme. »Du darfst deinen Job hinschmeißen.«

Dein Daumen fuhr an der Unterseite meines Busens entlang.

»Ich will etwas Sinnvolles tun.« Ich spürte deinen warmen Atem an meinem Hals. »So wie du gesagt hast.«

»Mhm«, antwortete ich im Halbschlaf.

»Damals habe ich es nicht kapiert.«

»Was kapiert?«, murmelte ich.

»Es geht nicht nur darum, die Schönheit zu entdecken.« Deine Worte hielten mich wach. »Ich will alles fotografieren – Glück, Traurigkeit, Freude, Zerstörung. Ich will mit meiner Kamera Geschichten erzählen. Du verstehst das, Lucy, oder? Stephanie hat es nicht verstanden. Aber du warst damals dabei, am 11. September. Du weißt, wie dieser Anblick unsere Sicht auf die Welt verändert hat.«

Ich drehte mich um, sodass wir uns in die Augen schauen konnten, und gab dir einen zärtlichen Kuss. »Natürlich verstehe ich das«, flüsterte ich, bevor ich in tiefem Schlaf versank.

Aber ich habe nicht wirklich begriffen, was du meintest, oder nicht gewusst, wo dich das hinführen würde. Dass es dich an diesen Ort, zu diesem Augenblick bringen würde.

Ich war betrunken und müde und lag endlich in deinen Armen, so wie ich es mir unzählige Male vorgestellt hatte. Damals hätte ich auf all deine Fragen mit Ja geantwortet.

8

Du hast deinen Job gekündigt, um Fotografiekurse zu belegen. Natürlich. Und wir trafen uns weiterhin. Die Anziehung zwischen uns wurde umso stärker, je mehr Zeit wir miteinander verbrachten. Wenn sich unsere Körper berührten, gab uns das Trost, Hoffnung und Kraft. Wir zogen uns in Restauranttoiletten aus, weil wir nicht warten konnten, bis wir zu Hause waren. Wir drückten uns gegen Mauerwände, Ziegelsteine bohrten sich in unsere Schultern, während unsere Lippen sich fanden. Wir machten Picknicks im Park, mit Apfelsaftflaschen voller Weißwein. Dann lagen wir zusammen auf der Wiese, atmeten den Duft der Erde, des frisch gemähten Grases und unserer Körper.

»Ich möchte mehr über deinen Dad wissen«, sagte ich ein paar Monate später. Ich lief mit offenen Augen direkt in ein Krisengebiet, aber ich war bereit, das Erdbeben zu riskieren.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Du zogst meinen Kopf, der auf deinem Arm lag, an deine Brust. Deine Stimme war hell und leicht, aber ich konnte fühlen, wie sich deine Muskeln anspannten. »Er ist ein Arschloch.«

»Ein Arschloch, inwiefern?« Ich drehte mich so hin, dass ich einen Arm um deinen Bauch legen und dich besser festhalten konnte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass wir uns niemals nah genug kamen. Ich wollte unter deine Haut kriechen, in deine Gedanken, damit ich alles erfuhr, was es über dich zu wissen gab.

»Mein Dad war … unberechenbar«, sagtest du leise, als ob du dieses Wort mit der größtmöglichen Sorgfalt ausgewählt hättest. »Sobald ich groß genug war, habe ich meine Mutter beschützt.«

Ich hob meinen Kopf von deiner Brust. Ich wusste nicht, was ich sagen, wonach ich fragen sollte. Ich wollte wissen, was du unter groß genug verstehst. Vier Jahre? Zehn? Dreizehn?

»Ach, Gabe«, war alles, was mir einfiel. Heute tut es mir leid, dass da nicht mehr kam.

»Mein Dad und meine Mom haben sich auf der Kunsthochschule kennengelernt. Sie sagt, er wäre ein wundervoller Bildhauer gewesen, aber ich habe nie eine seiner Arbeiten gesehen.« Du schlucktest heftig. »Er hat alles zerschlagen, jedes einzelne Werk. Kurz nachdem ich auf die Welt gekommen war. Er wollte Statuen entwerfen, riesige Installationen. Niemand nahm etwas von ihm in Kommission, niemand kaufte seine Kunst.«

Du sahst mich an. »Ich weiß, das muss hart für ihn gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen …« Dann hast du den Kopf geschüttelt. »Er hat aufgegeben und eine Galerie aufgemacht. Aber er war weder Geschäftsmann noch Verkäufer. Er war die ganze Zeit wütend, impulsiv. Ich … ich habe nicht begriffen, was das mit ihm gemacht hat. Welche Macht das Scheitern hat. Einmal ist er mit dem Messer auf ein Gemälde meiner Mutter losgegangen, auf ein Bild, an dem sie viele Monate lang gearbeitet hatte. Er war der Meinung, dass sie ihre Zeit für das Malen von Sonnenuntergängen brauchte. Sie weinte fürchterlich, als hätte er auf ihren Körper eingestochen, nicht nur auf ein Gemälde. Danach ist er gegangen.«

Ich ließ meine Hand in deine gleiten und hielt sie fest. »Wie alt warst du da?«

»Neun«, sagtest du mit sanfter Stimme. »Ich habe die Polizei gerufen.«

Meine Kindheit war so anders als deine, eine vollkommene Vorstadtidylle in Connecticut. Ich war nicht sicher, wie ich mit deiner Erzählung umgehen sollte. Wenn wir dieses Gespräch heute hätten, würde ich den Schmerz würdigen, deinen wie auch seinen. Ich würde sagen, dass dein Vater sicher eine schwere Zeit hatte, dass er mit Dämonen kämpfte. Dass es mir leidtäte, weil seine Dämonen deine geworden waren. Denn so war es doch, oder nicht? So vieles in deinem Leben war eine Reaktion auf ihn. Du hast versucht, nicht so zu werden wie er, und am Ende hast du mit seinen und deinen Dämonen gefochten.

Aber an jenem Tag konnte ich das, was du gesagt hattest, nicht so schnell verarbeiten. Ich wollte dich trösten. Nach einem tiefen Atemzug sagte ich: »Du hast das Richtige getan.«

»Ich weiß«, sagtest du. Dein Blick verhärtete sich. »Ich werde nie so wie er. Ich werde dich nie verletzen und nie so tun, als ob deine Träume unwichtig wären.«

»Ich auch nicht. Ich werde mich nie so verhalten, als ob deine Träume nicht zählen würden, Gabe.« Ich legte meinen Kopf wieder auf deine Brust und küsste dich durch dein T-Shirt. Ich wollte dir zeigen, dass ich dich bewunderte und Mitgefühl mit dir hatte.

»Das weiß ich.« Deine Hand fuhr durch meine Haare. »Das ist eines der vielen, vielen Dinge, die ich an dir liebe.«

Ich setzte mich auf, sodass ich dir wieder ins Gesicht sehen konnte.

»Ich liebe dich, Lucy«, sagtest du.

Es war das erste Mal, dass du das sagtest. Das erste Mal, dass ein Mann diese Worte zu mir sagte.

»Ich liebe dich auch«, antwortete ich.

Ich hoffe, du erinnerst dich an diesen Tag. Ich werde ihn nie vergessen.

9

Ein paar Wochen, nachdem wir zum ersten Mal Ich liebe dich zueinander gesagt hatten, waren du und ich allein in Kates und meiner Wohnung. Wir feierten diesen Umstand, indem wir in Unterwäsche durch die Räume liefen. Draußen war es drückend heiß, eine schwüle Julihitze, bei der ich am liebsten den ganzen Tag im Swimmingpool verbracht hätte. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, war es drinnen sehr warm. Die Wohnung war so groß, dass wir wahrscheinlich mehr als ein Klimagerät benötigt hätten.

»Kates Großeltern waren echte Immobiliengenies«, sagtest du, während wir uns halb nackt Rührei machten. »Wann haben sie diese Wohnung gekauft?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich und steckte zwei Muffins in den Toaster. »Irgendwann, bevor ihr Dad geboren wurde. So um 1940?«

Ein anerkennender Pfiff von dir.

Wir waren nicht sehr oft da, aber ich wette, du erinnerst dich an die Wohnung. Ein unvergesslicher Ort. Zwei riesige Schlaf- und Badezimmer und diese Frühstücksecke, die wir als Bibliothek benutzten. Die Decken waren dreieinhalb Meter hoch. Zwar erkannte ich damals nicht den Wert der Details, aber die Wohnung wusste ich zu schätzen. Kate studierte an der juristischen Fakultät der New York University, und ihr Vater meinte, es sei günstiger, in der früheren Wohnung der Großeltern zu wohnen als im Studentenwohnheim auf dem Campus. Auch für mich war das eine gute Lösung.

»Zu Schulzeiten haben wir Kates Großmutter hier besucht«, erzählte ich, als wir mit unseren Tellern auf den Knien auf dem Sofa saßen. »Sie hat Kurse am Metropolitan Museum of Art gegeben, bis sie krank wurde, und zu einer Zeit am Smith College Kunstgeschichte studiert, als die meisten Frauen nicht daran dachten, an die Uni zu gehen.«

»Ich hätte sie gern kennengelernt«, sagtest du nach einem Schluck Kaffee.

»Du hättest sie gemocht.«

Wir kauten leise vor uns hin. Unsere Oberschenkel berührten sich, während wir aßen, meine Schulter streifte deinen Arm. Wir konnten einfach nicht im selben Raum sein, ohne uns zu berühren.

»Wann kommt Kate zurück?«, fragtest du, nachdem du hinuntergeschluckt hattest.

Ich zuckte mit den Schultern. Kate hatte Tom vor etwa einem Monat kennengelernt, und das war vielleicht das zweite Mal, dass sie bei ihm übernachtete. »Wir sollten uns besser bald anziehen.«

Ich spürte deine Augen auf meinem Busen.

Du stelltest deinen Teller zur Seite, du hattest zu Ende gefrühstückt.

»Du hast keine Ahnung, was du mit mir machst, Lucy«, sagtest du, während ich meine Gabel auf dem Teller ablegte. »Den ganzen Morgen ohne Klamotten rumzulaufen. Ich fühle mich wie in einer meiner Fantasien.« Deine Hand fuhr zu deinem Schritt, und du fasstest dich langsam durch den Stoff an.

Ich hatte das noch nie gesehen, wusste nicht, was du machtest, wenn du allein warst. Ich musste hinsehen.

»Jetzt du«, sagtest du, während du an deinen Boxershorts zerrtest.

Ich stellte meinen Teller ab und streckte die Hand nach dir aus. Ich war schon scharf.

Du schütteltest den Kopf, ein Lächeln erschien auf deinem Gesicht. »Das habe ich nicht gemeint.«

Ich zog die Augenbrauen hoch, dann verstand ich, was du wolltest. Ich ließ meine Finger an meinem Bauch hinuntergleiten. Auch du hattest mir noch nie zugesehen, wie ich mich berührte. Die Vorstellung erregte mich. Ich schloss die Augen und dachte an dich, wie du mich ansahst, ich dachte daran, wie es war, diesen besonderen Moment mit dir zu teilen, und mein Körper erschauderte.

»Lucy«, flüstertest du.

Meine Augen schlugen unruhig auf, und ich sah, wie deine Hand sich schneller bewegte.

Dieser Moment fühlte sich intimer an als Sex. Wir beide befriedigten uns für den anderen, machten etwas, das man normalerweise nur allein tut. Die Grenzen, die das Du und das Ich trennten, verschwammen zu einem Wir.

Während ich mich selbst weiter streichelte, lehntest du dich gegen das Sofa und zogst deine Boxershorts ganz aus. Die ganze Zeit blicktest du mich unentwegt an. Unsere Hände wurden schneller. Wie auch unsere Atmung. Deine Zähne bohrten sich in deine Unterlippe. Dann bemerkte ich, wie dein Griff fester wurde und deine Muskeln sich anspannten. Ich sah zu, wie du kamst.

»Himmel«, sagtest du. »O Lucy.«

Meine Bewegungen wurden energischer, ich wollte auch kommen, aber deine Finger klammerten sich um mein Handgelenk.

»Darf ich?«, fragtest du.

Deine Stimme ließ mich erzittern.

Ich nickte. Du machtest Platz, damit ich mich der Länge nach auf das Sofa legen konnte. Dann zogst du mir den Slip aus. Du rücktest näher, und ich krümmte mich in der Erwartung deiner Berührung.

Als deine Finger in mich glitten, sagtest du: »Ich habe ein Geheimnis.«

»Wirklich?«, fragte ich und bog mich nach vorn, deiner Hand entgegen.

»Wirklich.« Du strecktest dich neben mir aus. Dein Mund lag jetzt auf meinem. »Immer, wenn ich mich selbst streichele, denke ich an dich.«

Ein Schaudern fuhr durch meinen Körper. »Ich auch«, flüsterte ich zwischen zwei Atemzügen.

Wenige Sekunden später kam ich.

10

In jenen ersten sechs Monaten lernte ich ständig neue Seiten an dir kennen. Manche fand ich sexy, manche überraschend, andere liebenswert.

Ich erinnere mich an einen Tag, als ich nach der Arbeit zu dir kam. Du hast mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden gesessen, um dich herum stapelweise Papierquadrate, jedes so groß wie ein kleiner Post-it.

Ich stellte meine Tasche auf dem Küchentisch ab und schloss die Tür hinter mir. »Was ist los?«, fragte ich.

»Meine Mutter hat in zwei Wochen Geburtstag, am 19. September«, sagtest du. Einen Moment lang hörtest du auf, Papierquadrate zu sortieren. »Da ich dieses Jahr nicht nach Hause fliegen kann, wollte ich ihr etwas Persönliches mit der Post schicken.«

»Du machst ein … Papiermosaik?«, fragte ich und trat näher.

»In gewisser Weise. Das sind Fotos von meiner Mom und mir.« Du hieltest die Papierquadrate in die Höhe, um sie mir zu zeigen. Als ich sie aus der Nähe betrachtete, sah ich dich und deine Mutter bei deiner Highschool-Abschlussfeier. Ihr beide in Shorts, eure Füße im Wasser baumelnd. Du mit deiner Mom auf eurer Veranda, du zeigst ihr Hasenohren.

»Wow.«

»Ich habe fast den ganzen Tag Bilder ausgedruckt«, sagtest du. »Jetzt ordne ich sie nach Farben. Ich möchte, dass es wie ein Kaleidoskop aussieht.«

Ich setzte mich neben dich auf den Fußboden, und du gabst mir einen flüchtigen Kuss.

»Warum wie ein Kaleidoskop?« Ich hob ein Foto von dir und deiner Mutter hoch, Rücken an Rücken, du warst ein bisschen größer als sie. Ihr hattet beide die gleichen blonden Locken. Es war schwer zu sagen, wo sie aufhörte und du begannst.

»Da war ich vierzehn.« Du hast einen Blick über meine Schulter auf das Foto geworfen.

»Du warst süß«, sagte ich. »Mein vierzehnjähriges Ich hätte sich sofort in dein vierzehnjähriges Ich verknallt.«

Du hast gelächelt und mein Bein gedrückt. »Zwar habe ich kein Foto von dir mit vierzehn gesehen, bin aber sicher, dass ich genauso gedacht hätte.«

Nun war ich mit Lächeln an der Reihe. Ich legte das Foto wieder auf den Boden. »Warum soll es wie ein Kaleidoskop aussehen?«, fragte ich noch einmal.

Du hast dir die Locken aus Stirn und Augen gestrichen. »Diese Geschichte habe ich noch niemandem erzählt«, sagtest du sehr leise.

Ich schaute mir noch ein paar Fotos an. Du und deine Mutter, wie ihr Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblast. Deine Mutter mit dir an der Hand vor einem mexikanischen Restaurant. »Du musst es mir nicht erzählen.« Ich fragte mich, ob dein Dad die Fotos von deiner Mutter und dir aufgenommen hatte, bevor du zehn geworden warst – und wer die danach gemacht hat.

»Das weiß ich«, sagtest du. »Aber ich möchte es dir gern erzählen.« Du drehtest dich zu mir um, sodass sich unsere Knie berührten und wir uns direkt ansahen.

»Nachdem meine Eltern sich getrennt hatten, war das Geld bei uns zu Hause wirklich knapp. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, weinte meine Mutter öfter, als dass sie malte. Mir war klar, dass es total unpassend gewesen wäre, wenn wir in diesem Jahr meinen Geburtstag groß gefeiert hätten. Ich sagte ihr, dass ich keine Party mit Freunden wollte. Sie sollte sich keine Sorgen wegen der Kosten machen.«

Wieder einmal wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr sich deine Kindheit von meiner unterschied. Ich hatte mir niemals Gedanken darüber machen müssen, ob meine Eltern meine Geburtstagsfeier bezahlen konnten.

»Aber meine Mom …«, sagtest du. »Ich hatte ein Kaleidoskop, das ich sehr liebte. Stundenlang habe ich hindurchgesehen und die sich ändernden Muster betrachtet. Es hat mich abgelenkt. In dem Moment habe ich vergessen, wie traurig meine Mom, wie traurig ich war. Dass ich sie nicht glücklich machen konnte. Wie wütend ich auf meinen Dad war.«

Während du sprachst, konntest du mich nicht ansehen, du konzentriertest dich ausschließlich auf deine Worte. Ich legte meine Hand auf dein Knie und drückte dich sanft. Ein kurzes Lächeln von dir. »Und?«, fragte ich.

Du holtest tief Luft. »Sie hat das ganze Haus in ein Kaleidoskop verwandelt«, erzähltest du. »Es war … es war unglaublich. Sie hängte bunte Glasscheiben an die Decke, dann stellte sie den Ventilator an und das Glas drehte sich langsam. Das sah fantastisch aus.«

Ich versuchte mir ein Haus vorzustellen, das in ein Kaleidoskop verwandelt worden war.

»Meine Mom und ich legten uns auf den Boden und blickten hinauf in das bunte Glas. Mit meinen zehn Jahren hielt ich mich für einen großen Jungen, schließlich kümmerte ich mich um meine Mutter, so gut ich konnte. Trotzdem fing ich an zu weinen. Sie fragte mich, was los wäre. Ich antwortete, dass ich das nicht wüsste und dass ich glücklich wäre. Sie meinte: Das ist die Kunst, mein Engel. Ich glaube, einerseits hatte sie recht. Es war die Kunst, aber andererseits … ich weiß nicht.«