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Warum Protest viel mehr kann, als wir denken – und jeder Einzelne entscheidet Der Mensch kann brutal egoistisch sein, selbstgerecht und rücksichtslos. Dennoch: Wenn erst einmal eine kleine kritische Masse für ein größeres Ziel in Bewegung kommt, kann sie unaufhaltsam werden in ihrer Wirkmacht und revolutionäre Veränderungen schaffen. Kaum eine Errungenschaft unserer Demokratien wäre ohne kollektiven Mut denkbar gewesen. Viele der heute drängenden Kämpfe ‒ allen voran den um unsere Lebensgrundlagen ‒ haben die meisten jedoch nicht einmal begonnen. Politik und die eigene Einwirkung darauf scheint für zu viele Menschen zu weit entfernt. Wie lässt sich das ändern? Dafür müssen wir uns entscheidenden Fragen widmen: Was kann und will Aktivismus und Protest? Welche Mechanismen stehen dahinter? Wie organisiert sich effizientes Engagement? Wann setzen sich Menschen in Bewegung? Und wie viele müssen sich trauen, um die anderen mitzureißen? Mit Verve und Humor durchmisst Friedemann Karig Theorie und Praxis des Aufbegehrens. Er betrachtet historische wie aktuelle Protestbewegungen: von Mahatma Ghandi über Rosa Parks bis Greta Thunberg. Ihre und andere Beispiele zeigen, dass hartnäckiger Protest und ziviler Ungehorsam Fundamentales ausrichten können. Karigs Buch verdeutlicht unsere riesige Chance, viel mehr erreichen zu können, als heute möglich scheint ‒ auch, weil es vom vielleicht kostbarsten Gut unserer Tage erzählt: der Hoffnung.
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Was ihr wollt
Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schrieb u. a. für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler von funk, dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast Piratensender Powerplay. Das von beiden verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. 2023 erschien Karigs zweiter Roman Die Lügnerin. Er lebt in Berlin.
Der Mensch kann brutal egoistisch sein, selbstgerecht und rücksichtslos. Dennoch: Wenn erst einmal eine kleine kritische Masse für ein größeres Ziel in Bewegung kommt, kann sie unaufhaltsam werden in ihrer Wirkmacht und tiefgreifende Veränderungen schaffen. Denn kaum eine Errungenschaft unserer Demokratien wäre ohne kollektiven Mut denkbar gewesen. Mit Verve und Humor durchmisst Friedemann Karig Theorie und Praxis des Aufbegehrens. Er betrachtet historische wie aktuelle Protestbewegungen wie etwa jene von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Fridays For Future – Beispiele, die zeigen, dass hartnäckiger Protest und ziviler Ungehorsam Fundamentales ausrichten können. Viele der heute drängenden Kämpfe – allen voran den um unsere Lebensgrundlagen – haben die meisten von uns noch nicht einmal begonnen. In diesem Buch steht, wie es gelingen kann, mit den richtigen Mitteln friedlich die Welt zu verändern.»Befreien statt festketten – Karigs Vorstoß ist alles andere als eine intellektuelle Sitzblockade.«Wolfram Eilenberger
Friedemann Karig
Wie Protest wirklich wirkt
Ullstein
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© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Lektorat: Ludger IkasUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgAutorenfoto: © Marie StaggatE-Book powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-3165-2
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog Werfen Sie mit diesem Buch eine Scheibe ein
I Es kommt in Wellen
II Die dreieinhalb Prozent der Revolution
III Die Psychologie der Gegenwehr
IV Held:innen und andere Probleme
V Schwankende Säulen
VI Das größte Opfer
VII Welcher Zweck heiligt welche Mittel?
VIII Die Ökologie der Aufmerksamkeit
IX Ein Ziel namens Dilemma
X Macht kaputt, was euch kaputt macht: Protest und Gewalt
XI Verkümmerte Muskeln
Epilog Die unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins
Dank
Ausgewählte Literatur
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog Werfen Sie mit diesem Buch eine Scheibe ein
Protest spricht laut und deutlich. Über den legendären Harvey Milk, US-amerikanischer Aktivist für die gleichgeschlechtliche Ehe, existiert die so hübsche wie kaum nachprüfbare Geschichte, wonach er auf den Straßen von San Francisco der 1970er-Jahre angeblich einen homosexuellen, am gemeinsamen politischen Kampf aber demonstrativ desinteressierten Mann mit folgenden Worten zum Mitstreiter konvertieren wollte: »Du solltest das machen, was du am besten kannst: ein Arschloch sein. Aber sei es wenigstens bei uns!«
Die meisten Menschen glauben, Protest, Aktivismus und Widerstand seien etwas für wenige, spezielle Individuen. Sie denken, es bräuchte einen Mahatma Gandhi oder eine Greta Thunberg, einen Martin Luther King Jr. oder einen Harvey Milk, sprich, charismatische Anführer:innen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und unendlich viel Mut, um etwas zu verändern. Für den Rest bleibe höchstens die Rolle als Statist:in, aber auch das nur in historischen Ausnahmen; seltenen, flüchtigen Augenblicken, in denen man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müsse, ehe sie als rasch vergilbende Nachrichtenbilder in die Archive wandern. Die Vorstellung, selbst für oder gegen etwas die Stimme zu erheben, erscheint den meisten Menschen in unseren freien westlichen Demokratien so fern wie das eigene Parlament oder das Oberste Gericht. Sie existiert, hat aber kaum etwas mit ihnen persönlich zu tun. Wieso sollten sie sich auch mit Protest befassen, wo sie doch nicht zu jener seltenen Spezies gehören, die für die historischen Momente gemacht ist? Und außerdem nicht in einer dieser besonderen Zeiten leben, mit klingenden Jahreszahlen wie 1968 oder 1989, in denen viele Regeln aufgehoben sind?
Zum Glück ist diese Vorstellung von Protest und Widerstand nicht wahr. Wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, ist sogar das Gegenteil wahr. Umstürze und Umschwünge, Revolutionen und Revolten werden immer und ausschließlich von vielen Menschen getragen, von denen die wenigsten in irgendeiner Form herausstechen. Wenn es um solche sozialen Prozesse geht, sind die vermeintlichen Statist:innen sehr wohl Hauptdarsteller:innen. Man muss dazu nicht einmal besondere Fähigkeiten besitzen oder übermenschlich tapfer sein. Denn erfolgreicher Protest lebt nicht von Heldenmut oder Exzellenz, sondern von Verbindlichkeit und Gemeinsinn, Kommunikation und Koordination, kurz: von einer Gruppe, die zusammenhält – und einen Plan hat. Die Vorstellung, Protest sei in der Regel bloß ein mehr oder weniger spontaner emotionaler Ausbruch, trifft auf kaum eine der großen Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte zu. Effektiver Protest war in der Regel strategisch ausgeklügelt und sehr gut geplant – und entfaltete genau deshalb seine Wirkung. Was also, wenn diese scheinbar wie Gewitter aufziehenden, mal reinigenden, mal verwüstenden Protestereignisse nicht nur vorhersehbar, sondern sogar steuerbar wären?
In der öffentlichen Diskussion über Protest begegnet man jedoch jeder Menge Missverständnisse, Widersprüche oder schlicht falscher Annahmen. Da heißt es etwa, er ziele darauf ab, eine Mehrheit zu überzeugen, denn ohne diese könne man keine Veränderung herbeiführen. Dabei deutet empirisch alles darauf hin, dass eine kleine, aber überzeugte Minderheit genügt, um großes zu bewirken. Viele glauben außerdem, Protest sei immer nur einen Schritt von einer gewaltsamen Radikalisierung entfernt. Dabei sind die allermeisten Bewegungen bewundernswert friedlich geblieben, egal wie hart sie angegangen wurden. Und schließlich wird immer wieder suggeriert, es gäbe für Protest genau einen richtigen, aber viele falsche Wege – dabei weiß die Protestforschung längst, dass eine Vielzahl von ineinandergreifenden und sich potenzierenden Taktiken am meisten Erfolg verspricht. Fail better, das wiederkehrende Scheitern zum Erfolg, scheint das vorherrschende Muster.
Rosa Parks, die mit ihrem Sitzstreik in einem Bus von Alabama für einen der Schlüsselmomente der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA sorgte, sagte später einmal: »Das Einzige, was mich ärgert: dass wir so lange mit diesem Protest gewartet haben.«[1] Auch ihr Protest war nicht spontan, sondern wohlgeplant. Sie war an diesem 1. Dezember 1955, anders als später gerne nacherzählt, nicht zu müde, für einen Weißen aufzustehen. Sie hatte sich gezielt dafür entschieden. Sie und ihre Mitstreiter:innen wussten: Es gibt nicht den perfekten Zeitpunkt, um aktiv zu werden, nicht den einen unzweifelhaften Anlass und erst recht keine Erfolgsgarantie. Das ist freilich eine gute Nachricht, denn sie bedeutet im Umkehrschluss: Wir können uns jederzeit dafür entscheiden, uns zu entscheiden; nicht mehr nur zu klagen, sondern auch zu handeln. Protest wartet nicht auf seinen historischen Moment, er schafft ihn selbst. Deshalb bereute Rosa Parks es, nicht früher mit dem Scheitern zum Erfolg begonnen zu haben. Vieles an erfolgreichem Protest stellt unser gewohntes Denken regelrecht auf den Kopf. Um zu gewinnen, muss man oft erst einmal verlieren, wie Mahatma Gandhi es sagt: »Unser Triumph besteht darin, eingesperrt zu werden, obwohl wir nicht das geringste Unrecht getan haben.«
Was man über Protest wissen muss, ist zwar oft überraschend und durchaus komplex, aber keine Quantenphysik. Deshalb ist dies kein dickes Buch geworden. Es folgt natürlich mit den besagten Gandhis, Parks’ und Kings den großen Protestgestalten durch die Historie. Es erzählt aber auch weniger bekannte Geschichten wie die von Emily Davison, die sich vor das Pferd des britischen Königs warf, um für das Frauenwahlrecht zu kämpfen, und dabei starb. Es berichtet von dem eingangs zitierten Harvey Milk und seiner Ermordung, von einer Gruppe serbischer Student:innen, die es mit einem von Europas letzten Diktatoren aufnahmen, von den Ukrainer:innen und ihrem folgenreichen Maidan. Wir tauchen ein in die einschlägige Forschung, denken nach mit Philosoph:innen wie John Rawls, Hanna Arendt und Jürgen Habermas, erfahren von den magischen 3,5 Prozent der Revolution, die eine berühmte Studie beschreibt. Und nicht zuletzt lernen wir viel über uns selbst.
Meine eigene politische Haltung werde ich dabei nicht ganz außen vor lassen können, denn der Zweck von Protest und seiner Betrachtung beeinflusst immer seine Mittel und Bedingungen. Ich werde in diesem Buch also zu erklären versuchen, warum mir eine tiefgreifende Veränderung unseres Verhältnisses zu Politik und Gesellschaft unausweichlich erscheint, wie sie vonstattengehen könnte und was sie erfordert. Und ich werde davon erzählen, wie ich selbst relativ spät erfuhr, was für ein großes Glück diese Entscheidung zur Entscheidung bedeuten kann. Man tritt dabei in die Fußstapfen von Giganten: Gewerkschaften, Wahlrecht für Frauen, Ehe für alle – viele große Errungenschaften unseres Zusammenlebens verdanken wir weniger einem gesetzgebenden Prozess als dem stetigen Druck von Protest. Der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht behauptet sogar: »Wir hätten keine freiheitliche, repräsentative Demokratie ohne Protest. […] Protest hat Demokratie im Wortsinn erzwungen.«[2] Ließe sich auf diese Weise nicht noch mehr »erzwingen«, was die Welt besser machen würde? »I have a dream«, sagte mal jemand, der mit friedlichem Protest den Lauf der Geschichte verändert hat. Was wäre Ihr Traum?
Oder Ihr Albtraum? Sie können dieses Buch gerne mit einem konkreten Missstand im Hinterkopf lesen. Vielleicht ist es etwas Lokales – das Ausbluten einer kaputtgesparten sozialen Einrichtung, die Umwidmung von Grünflächen zu Baugrund zugunsten eines steuervermeidenden Konzerns, die eklatante Unterversorgung von Schulen, das Sterben an den Außengrenzen Europas oder die Diskriminierung einer marginalisierten Gruppe. Anlässe für Klagen und Anklagen gäbe es genug. Eine Weile habe ich deshalb mit dem Gedanken gespielt, diesem Buch einen etwas aktiveren Titel zu geben: Werfen Sie mit diesem Buch eine Scheibe ein (von einem Ölkonzern oder Ähnlichem). Oder Werfen Sie dieses Buch Ihren Abgeordneten vor die Füße. Aber dann dachte ich: Aggressivität und schlechte Nachrichten haben wir mehr als genug. Ja, wir drohen momentan den Kampf um eine gute Zukunft zu verlieren. Die gute Nachricht lautet jedoch: Wir haben noch nicht einmal angefangen, wirklich zu kämpfen. Wir wissen nur leider nicht so richtig, wie das geht. Damit meine ich: Wir wissen kaum, wie Protest wirklich wirkt, wie er tatsächlich im Innern funktioniert. Weil friedlicher Protest meist als spontaner Akt verstanden wird und selten im Handumdrehen die Welt verändert, erscheint er eher hilflos als mächtig. Dieses Buch versucht ihn hingegen als kühle Strategie zu ergründen, als effizientes Medium gemeinsamer Selbstermächtigung, als intelligentes Instrument der politischen Teilhabe. Je besser wir verstehen, was viele einzelne Bürger:innen, die zu einer Bewegung werden, auszurichten vermögen, desto mächtiger wird jede:r einzelne – und werden damit auch Sie, die Sie das hier lesen.
Begreifen Sie die folgenden Seiten also bitte als suchenden Essay, zu Seiten geronnene Neugierde und, ja, auch als eine Art Kochbuch. Ich spreche hier nämlich nur über die Zutaten, die Gerichte, die Vorbilder für Protest. Die wahre Kraft all dessen werden Sie erst erfahren, wenn Sie es selbst ausprobieren. Nach der Lektüre haben Sie, das verspreche ich, einige Geschichten und Argumente mehr für die nächste Party auf Lager. Und vor allem einige Ausreden weniger, nicht selbst tatkräftig zu protestieren. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.
»Das tritt nach meiner Kenntnis, äh, ist das sofort, unverzüglich.« Die Worte, die Günter Schabowski, der damalige Sekretär für Informationswesen der DDR, am 9. November 1989 auf einer Pressekonferenz sprach, sind in die Geschichte eingegangen. Etwas geschliffener eröffnete Tagesschau-Sprecher Jo Brauner abends die Sendung mit dem Satz: »Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen.«[3] Kurz darauf stürmten DDR-Bürger:innen die Grenzübergänge an der Berliner Mauer, und der Bundestag in Bonn sang die Nationalhymne. Es war der Anfang vom Ende der Deutschen Demokratischen Republik.
Was war passiert? Im Gegensatz zu den erfolglosen Massenprotesten 1953, bei denen in der DDR zuerst gegen die Normenerhöhung der sozialistischen Planwirtschaft, generell aber für Demokratie und Wiedervereinigung demonstriert wurde, ist der politische Kontext im Sommer 1989 ein anderer. Der Kalte Krieg scheint für den Westen politisch wie ökonomisch gewonnen, sozialistische Staaten wie die DDR sind am Rande der Pleite, und die Sowjetunion als Hegemonialmacht ist offenbar weder fähig noch willens, sie länger unter den Schirm des Warschauer Paktes zu zwingen. Vor allem aber gehen in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten Zigtausende auf die Straße, und das ausdauernd und regelmäßig. Unter den Slogans »Wir sind das Volk« und »Keine Gewalt« fordern sie am 3. September 1989, einem Montag, vor der Leipziger Nikolaikirche zum ersten Mal öffentlich ein Ende des Unrechtsstaates. Diese »Montagsdemonstrationen« werden in der Folge Sammelbecken für Oppositionelle und Unzufriedene. Sie finden nicht nur in Leipzig statt, sondern auch in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin. Trotz anderweitiger Befürchtungen setzt das Regime keine Gewalt ein. Auch die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen bleiben in ihren Kasernen. Am 2. Oktober sind es in Leipzig laut Hamburger Abendblatt schon 20 000 Demonstranten, am 9. Oktober 70 000 Menschen. Sie fordern Meinungsfreiheit, politische Mitsprache und ein Ende der SED-Herrschaft. Am 16. Oktober versammeln sich in Leipzig 120 000 Demonstranten, am 23. Oktober 250 000, am 30. Oktober schließlich über 300 000. Ihre Unzufriedenheit hat sich über Jahrzehnte angestaut, und so nutzen die Bürger:innen nun die günstigen Umstände und sorgen für eine echte friedliche Revolution.
Auch wenn man solche Massendemonstrationen, die »Abstimmung mit den Füßen«, wie sie 1989 in der DDR zu beobachten war, zweifellos als »Protest« bezeichnen kann, muss man zugleich differenzieren – einerseits in Bezug auf seinen Kontext, andererseits auf seine Mittel. Zuerst der Kontext des politischen Systems: Zwischen Protest in Demokratien und Protest in autoritären Regimes bestehen natürlich grundlegende Unterschiede. In Ersteren sind einige Arten von Protest erlaubt und geduldet, wenngleich die drastischeren Aktionsformen oft kontrovers diskutiert und als reine Störung oder gar »Terrorismus« abgewertet werden. In autoritären Regimes ist Protest grundsätzlich verboten; die Versammlungsfreiheit, eines der Grundrechte jeder Demokratie, gilt hier nicht. Deshalb sind Beispiele wie die Montagsdemonstrationen in der DDR besonders bemerkenswert, was den Mut der Menschen und die Wirkkraft des Protestes angeht. In ihnen kam nicht nur eine inhaltlich-politische Unzufriedenheit mit den akuten Zuständen zum Ausdruck, sondern auch eine philosophisch-humanistische mit einem unterdrückerischen System an sich. In autoritären Kontexten bedeutet Protest immer auch Kommentar und Klage in Bezug auf seine eigene Verunmöglichung von oben, da er in erster Linie für die eigene Existenzberechtigung kämpft.