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Verse verhalten sich zur Prosa wie Singen zum Sprechen, wie Tanzen zum Gehen, wie Festtage zum Alltag. Nicht nur jedes Wort, jeder Laut hat in einem Gedicht seinen festen Platz in einer vom Dichter geplanten Ordnung. Alle Kunst, auch die Dichtkunst, entsteht durch Abweichung vom Gewöhnlichen. Der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Gelfert ergründet in 33 Schritten, was die Qualität eines guten Gedichts ausmacht. Er fragt nach dem Grund für das Vergnügen an Versen und demonstriert an 80 Beispielen aus den verschiedenen Genres von Hymne bis Haiku die Kunstmittel der Dichter und deren Wirkung auf die Leser. Sprachliche Dichte, innere Spannung, Vieldeutigkeit, Ambivalenz, Authentizität und Originalität lauten die Stichwörter. Und am Schluss verrät der Autor, was im Kopf eines Menschen geschieht, wenn sich das Durchschauen der komplexen Ordnung eines Textes in ästhetisches Vergnügen verwandelt.
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Hans-Dieter Gelfert
Was ist ein gutes Gedicht?
Eine Einführung in 33 Schritten
Verlag C.H.Beck
Alle Kunst, auch die Dichtkunst, entsteht durch Abweichung vom Gewöhnlichen. Der Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert ergründet in 33 Schritten, was die Qualität eines guten Gedichts ausmacht. Er fragt nach dem Grund für das Vergnügen an Versen und demonstriert an 80 Beispielen aus den verschiedenen Genres von Hymne bis Haiku die Kunstmittel der Dichter und deren Wirkung auf die Leser. Sprachliche Dichte, innere Spannung, Vieldeutigkeit, Ambivalenz, Authentizität und Originalität lauten die Stichwörter. Und am Schluss verrät der Autor, was im Kopf eines Menschen geschieht, wenn sich das Durchschauen der komplexen Ordnung eines Textes in ästhetisches Vergnügen verwandelt.
Hans-Dieter Gelfert war bis zu seiner Pensionierung Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin und ist seither freier Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm bei C.H.Beck: William Shakespeare in seiner Zeit (2014).
Vorwort
1. Was ist ein Gedicht?
2. Wiederholung und Variation
3. Das Wie und das Was
4. Das angemessene Sprachkleid
5. Muss Poesie lyrisch sein?
6. Objektivierung und Authentizität
7. Abweichung vom Gewöhnlichen
8. Dichte und innere Spannung
9. Kunst und Kunstgriff
10. Kunst und Kunsthandwerk
11. Poesie mit doppeltem Boden
12. Das Gedicht als Lied
13. Ausdruck von Gefühlen
14. Naturlyrik
15. Der Dichter als «Weltkind»
16. Der Dichter als Visionär
17. Der Dichter als Magier
18. Der Dichter als Prophet
19. Authentizität durch Ironie
20. Realistische Lyrik
21. Balladen
22. Der Krieg im Gedicht
23. Die Ohnmacht der Dichter
24. Lyrik nach Auschwitz
25. Zeitkritische Lyrik
26. Prosagedichte
27. Witz, Humor und tiefere Bedeutung
28. Christian Morgenstern
29. Joachim Ringelnatz
30. Kitsch
31. Lyrik von heute
32. Ästhetische Wirkung
33. Das Geschmacksurteil
Fazit
ANHANG
Quellen
Gedichte
Literatur (chronologisch)
Anthologien
Appetizer
Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart
20. Jahrhundert
Gegenwart
Englische Lyrik
Sekundärlitertatur
Zur Geschichte der deutschen Lyrik
Zur Geschichte der englischen Lyrik
Zu Theorie, Wirkung und Wertung von Lyrik
Interpretationen deutscher Gedichte
Interpretationen englischer Gedichte
Zu Marvell: «To His Coy Mistress»
Zu Goethe: «Harzreise im Winter»
Zu Coleridge: «Kubla Khan»
Zu Shelley: «Ode to the West Wind»
Zu Heine
Zu Rilkes Grabspruch
Zu Paul Celan, «Todefuge»
Wozu, Dichter, drehst du deine Seele
durch den Wolf zu lyrischen Buletten?
Spiele Tennis oder Ukulele,
Doch verschon’ uns bitte mit Sonetten.
Lass den Heckmeck! Ranzige Gefühle
schmieren nicht das Räderwerk der Welt.
Fortschritt durch Konsum ist die Kanüle,
die uns subkutan bei Laune hält.
Ob es Gott gibt, Leben nach dem Tode?
Daran denkt nur wer, bei dem es piept.
Geistiges ist heute nicht mehr Mode.
Wer gesund ist und das Leben liebt,
schreibt darüber nicht erst groß ’ne Ode,
sondern nimmt sich, was man ihm nicht gibt.
Ist dieser ironische Stoßseufzer des Verfassers berechtigt? Die Lyrik, die einst der Goldstandard der Sprachkunst war, fristet in der heutigen Literatur ein Nischendasein. Im «Land der Dichter und Denker» hielt sich die Wertschätzung für sie noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch nach der 1968er Bewegung geriet dieses Bildungsgut unter den Verdacht, Bestandteil einer bürgerlichen Kulturideologie zu sein, die es zu hinterfragen galt. Theodor Adorno meinte sogar, dass das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz «barbarisch» sei. Im Deutschunterricht werden Gedichte zwar weiterhin interpretiert, doch die erste Bekanntschaft mit Lyrik machen Schüler in der Regel nicht mit klassischen Versen, sondern mit solchen von Kinderbuchautoren wie Josef Guggenmos und James Krüss. Das beweist zumindest, dass das Lesen von Versen Vergnügen bereiten kann, denn anderenfalls würden Kinder weder die Gedichte dieser beiden Autoren noch den Struwwelpeter oder Max und Moritz lesen. Sensationellen Erfolg hatte und hat bei amerikanischen Kindern auch «Dr. Seuss» (alias Theodor Seuss Geisel, 1904–1991), dessen Verse mit ihrer zwischen Nonsense und Lebensklugheit oszillierenden Sprachkomik selbst Erwachsene erfreuen. Was ist der Grund des Vergnügens an Versen, worin liegt ihr Wert und warum ist das Interesse an ihnen so stark zurückgegangen? Das Vergnügen findet im Kopf jedes Einzelnen statt. Wie es entsteht, lässt sich bisher nur durch Selbstbeobachtung ergründen, solange Neurologen noch keine Erklärung dafür gefunden haben, wie eine Wahrnehmung im Gehirn ästhetische Lust auslöst. Da es aber eine große Anzahl von Gedichten gibt, die über lange Zeiträume hinweg von einer Mehrheit von Lesern, wenn auch mit unterschiedlicher Rangfolge, genossen und somit für gut befunden werden, kann es sich dabei nicht um rein subjektive Urteile handeln. Vielmehr muss der Anlass zum Genuss in spezifischen Aspekten der Form und des Inhalts der betreffenden Gedichte liegen. Solche Aspekte freizulegen ist Ziel des vorliegenden Buches. Zum subjektiven Vergnügen und seinen objektiven Auslösern kommt als Drittes aber noch der kulturell geprägte und somit zeitbedingte Geschmack hinzu, der dafür sorgt, dass manche Gedichte, die einmal hochgeschätzt wurden, spätere Generationen nicht mehr ansprechen. Auch diese Relativität des Geschmacksurteils muss im Folgenden immer mitgedacht werden.
Als empirische Basis bieten sich einige Anthologien an, die schon durch ihre Titel signalisieren, dass die darin gesammelten Texte geliebt und geschätzt werden. Im Mai 2000 startete der Hörfunk des Westdeutschen Rundfunks zusammen mit dem Patmos Verlag eine Aktion mit der Frage an die Hörer nach ihren Lieblingsgedichten. Aus ca. 3000 Einsendungen, die per Brief, Telefon oder E-Mail eingingen, wurde eine Rangliste der hundert beliebtesten ermittelt, die im Jahr darauf unter dem Titel Die Lieblingsgedichte der Deutschen in Buchform herauskam. Der Literaturwissenschaftler Lutz Hagestedt schrieb dazu im Nachwort, dass eine Hörerin Rilkes «Der Panther» mit nur geringen Abweichungen hersagen konnte, aber vergessen hatte, wer das Gedicht schrieb. Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass einem Gedicht, unabhängig vom Ruhm des Autors, allein auf Grund seiner sprachlichen Qualität Wert beigemessen wird? Im gleichen Jahr erschien im C.H.Beck Verlag die von Dirk Ippen herausgegebene Anthologie Des Sommers letzte Rose. Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte. Auch sie ermittelte eine Rangliste, doch nicht aus den Köpfen von Lesern und Leserinnen, sondern aus den 50 beliebtesten Anthologien des 20. Jahrhunderts. Darin taucht der Spitzenreiter der Lieblingsgedichte, Hermann Hesses «Stufen», gar nicht auf. Der eigene Spitzenreiter, Ludwig Uhlands «Frühlingsglaube», fehlt wiederum in dem Band Die besten deutschen Gedichte, den Marcel Reich-Ranicki zwei Jahre später im Insel Verlag herausgab. Dabei enthält diese Anthologie fast dreimal so viele Gedichte. Ein weiteres Jahr später erschienen im Kröner Verlag Die berühmtesten deutschen Gedichte, die Hans Braam aus 200 Anthologien mit einer Gesamtzahl von 34.000 Gedichten herausfilterte. Die 239 darin versammelten Gedichte sind in drei Jahrhunderten durch so viele kritische Filter gegangen, dass man annehmen darf, dass sie nicht nach persönlichen und zeitbedingten, sondern nach allgemeingültigeren Kriterien ausgewählt wurden. Doch wenn man dann feststellt, dass das «berühmteste» deutsche Gedicht, nämlich das «Abendlied» von Matthias Claudius, unter Reich-Ranickis «Besten» fehlt, bekommt diese Erwartung einen Dämpfer. Deshalb wurden für das vorliegende Buch auch noch Gedichte außerhalb der vier Anthologien und als zusätzliches Korrektiv einige englische herangezogen. Für Letztere stand ebenfalls eine Anthologie der 100 beliebtesten Gedichte zur Verfügung, die im Jahr 1996 von der BBC ermittelt und zwei Jahre später unter dem Titel The Nation’s Favourite Poems herausgegeben wurden.
Das vorliegende Buch schlägt Erklärungen vor, weshalb bestimmte Gedichte höher geschätzt werden als andere und wodurch das Vergnügen ausgelöst wird, dessentwegen sie gelesen werden. Ob Leser und Leserinnen diesen Überlegungen zustimmen, bleibt natürlich jedem und jeder selbst überlassen. Manche werden es vielleicht mit Marie von Ebner-Eschenbach halten, deren kleines Gedicht unter den 100 Lieblingsgedichten der Deutschen den 54. Platz belegt:
Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an
Dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.
Andere mögen es mit Bertolt Brecht halten, der «Auf einen chinesischen Theewurzellöwen» schrieb:
Die Schlechten fürchten deine Klaue.
Die Guten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Hörte ich gern
von meinem Vers.
Wer es mit keinem der beiden hält, findet vielleicht dennoch an einigen der hier kritisch vorgestellten Gedichte Gefallen.
Der Flügelflagel gaustert
Durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert,
und grausig gutzt der Golz.
Ist dieses «Gruselett» von Christian Morgenstern ein Gedicht? Kein Zweifel, es ist gereimt und metrisch durchgeformt, hat also formal das, was jeder spontan mit einem Gedicht assoziiert. Aber ist es auch ein gutes? Bevor die Frage nach der Qualität beantwortet werden kann, muss erst einmal klargestellt werden, was die spezifischen Merkmale eines Gedichts sind. Eine anschauliche Definition könnte lauten: Ein Gedicht ist ein sprachlicher Text in kristalliner Form.
Durch das Kristalline unterscheidet es sich von den Milliarden «amorpher» Texte, die die Menschen auf der Erde tagtäglich produzieren und untereinander austauschen. «Amorphe» Texte sind nicht formlos, denn sie gehorchen den Regeln der Grammatik und sind mit Sprachsignalen versehen, die z.B. Ergebenheit, Höflichkeit, Nachdruck oder Ähnliches ausdrücken. Doch die dafür bewusst oder unbewusst eingesetzten formalen Mittel führen so gut wie nie zu einer «kristallinen» Ordnung. Man kann solche Texte umformulieren, ohne dass ihre Aussage oder die intendierte Wirkung verändert werden. Es mag sein, dass eine von diesen Umformulierungen als die stilistisch eleganteste empfunden wird, das wäre dann aber schon ein Urteil über etwas Poetisches. Solange es nur auf die inhaltliche Information ankommt, können selbst Gesetzestexte umformuliert werden, ohne dass ihre rechtliche Aussage in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird.
In einem Gedicht hat nicht nur jedes Wort, sondern jeder einzelne Laut einen festen, absichtsvoll gewählten Platz. Wenn die geringste Veränderung der Anordnung den ästhetischen Reiz des Gedichts mindert, lässt sich seine Formalisierung offensichtlich nicht weiter verbessern. Es gleicht dann einem reinen Kristall, in dem jedes Molekül seinen Platz im Kristallgitter einnimmt und kein fremdes Element die Ordnung stört. Allerdings hat dieses Bild erkennbare Grenzen, denn Kristalle bestehen aus gleichartigen Elementen, während Gedichte ihren Reiz gerade aus der Vielfalt der Elemente beziehen, die in die Kristallstruktur eingefügt sind. Insofern bezeichnet ‹kristallin› nur die unveränderliche Ordnung, in die ein sprachlicher Text gebracht wurde.
Weshalb «kristalline» Texte Hörern und Lesern ästhetisches Vergnügen bereiten, soll erst am Schluss dieses Buches erörtert werden. Außer diesem Vergnügen haben sie aber noch andere praktische Wirkungen. In Zeiten schriftloser Kultur fassten die Menschen das, was nachfolgenden Generationen überliefert werden sollte, in so streng formalisierte Texte, dass diese für die mündliche Weitergabe durch professionelle Sänger nicht nur leicht zu memorieren waren, sondern zudem jeden Kopierfehler sogleich als Fehler in der Ordnung erkennen ließen. Solche Texte überlieferten als nüchterne Merkverse die Genealogien der Adelsfamilien und in ausgeschmückter Form deren Heldentaten sowie die Mythen und Sagen des ganzen Volkes. Mit Merkversen lernen selbst heute noch viele Schüler Regeln der lateinischen Grammatik oder die Nebenflüsse der Donau.
Streng formalisierte Texte sind aber nicht nur leichter zu behalten, sie scheinen außerdem auf Zuhörer eine bannende Wirkung auszuüben. Noch heute werden Kinder, die sich verletzt haben, mit Versen wie «Heile, heile, Gänschen» getröstet. Vor zweitausend Jahren waren Zaubersprüche gängige Praxis, um Schmerzen zu lindern, Schaden abzuwehren oder anderen Menschen Schaden zuzufügen. Die beschwörende Kraft, die von formalisierter Sprache ausgeht, wird von der Werbung, von politischen und religiösen Rednern, vor allem aber von den Dichtern unvermindert ausgenutzt. Dichter wollen mit ihren Texten Wirkung erzielen, sie wollen beeindrucken, bewundert werden oder bestimmte Gedanken mit größtmöglichem Nachdruck mitteilen. Sie sind Prediger in eigener Sache und schöpfen dabei aus der gleichen Quelle wie die unbekannten Verfasser der berühmten Merseburger Zaubersprüche, die zu den ältesten poetischen Texten in deutscher Sprache zählen. Der kristallinen Struktur verdanken Gedichte ihre erstaunliche Langlebigkeit.
Die Sprache selbst hat etwas Kristallines, denn sie besteht aus Wörtern, die in äußerst komprimierter Form eine Bedeutung oder eine Funktion ausdrücken, wobei in der Regel schon die Veränderung eines einzigen Lautes eine Störung oder Entstellung der Wortbedeutung bewirkt. Insofern ist ein vollständig durchgeformtes Gedicht wie ein hochkomplexes Wort in einer Art Superzeichensprache, die etwas darzustellen versucht, was sich mit der normalen Sprache nicht so umfassend ausdrücken lässt. Für ein gutes Gedicht gilt, was Gottfried Benn mit großer Prägnanz vom Wort als solchem sagt:
Ein Wort
Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Ein Kristall ist ein vollständig geordnetes Gebilde. Ordnung entsteht dadurch, dass sich etwas wiederholt. Erst wenn man in einem Text das jeweils nächstfolgende Element mit einer größeren als der Zufallswahrscheinlichkeit vorausahnen kann, nimmt man darin eine Ordnung wahr. Die größtmögliche Ordnung wäre demnach die Wiederholung des Immergleichen. Das zeigt die bereits erwähnte Grenze unseres Bildes, denn in einem Gedicht wäre die Wirkung einer solchen Ordnung nicht ästhetisches Vergnügen, sondern Monotonie und Langeweile. Was den Reiz der Poesie – wie auch den der Musik – ausmacht, ist das Spiel mit der Erwartung von etwas Wiederholtem und dem Eintreffen des Erwarteten in einer unerwarteten Variation. Shipleys Dictionary of World Literature zählt unter dem Stichwort repetition über 40 Begriffe aus der antiken Rhetorik auf, die unterschiedliche Möglichkeiten der Variation von Wiederholtem bezeichnen.
Das Zusammenspiel von Wiederholung und Variation zeigt sich auf engstem Raum am Reim, wo sich beim Endreim eine Silbe mit variiertem Anfangskonsonanten, beim Stabreim ein Anfangskonsonant mit variiertem Silbenrest wiederholt. Durch Binnenreime können auch zwei Zeilenhälften fester verbunden werden. Selbst ein reimähnlicher Gleichklang zweier Wörter trägt als Assonanz zur inneren Bindung eines Textes bei. Ähnliches gilt für das Metrum. Reim und Metrum sind die klassischen Bindemittel der Versdichtung, weshalb man diese zur Unterscheidung von Prosa als «gebundene Rede» bezeichnet. Ein Versmaß beruht auf der regelmäßigen Wiederholung eines Versfußes. In der altgriechischen Dichtung wurde er wie ein musikalischer Takt aus langen und kurzen Silben zusammengesetzt. Das war nötig, weil Gedichte und dramatische Texte wie Gesänge vorgetragen wurden. Man spricht hier von quantitierender Metrik. Auch die altgermanische Dichtung folgte anfangs diesem Prinzip, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass in jener Zeit Dichter als Sänger bezeichnet wurden. Später wurden dann im Deutschen wie im Englischen die Längen eines Versfußes durch betonte Silben, so genannte Hebungen, und die Kürzen durch Senkungen ersetzt. Die vier klassischen Versfüße sind:
Jambus: Senkung – Hebung
Trochäus: Hebung – Senkung
Daktylus: Hebung – Senkung – Senkung
Anapäst: Senkung – Senkung – Hebung
Eine gleichmäßige Wiederholung der Versfüße hat eine leiernde Wirkung, Deshalb ist es wichtig, die Betonungen zu variieren. Eine Zeile wie die folgende wirkt monoton und langweilig:
Ich kenn ein Land, wo die Zitronen blühn.
Ganz anders dagegen Goethes Zeile:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
Diese Zeile hat ein fünfhebiges jambisches Grundschema, beginnt aber statt mit einer Senkung mit einer Hebung und hat danach nur zwei Betonungsgipfel. Der fünfhebige Jambus, dessen reimlose Form durch Shakespeare auch für die deutschen Dichter zum Standardmetrum des Versdramas wurde, hat bei Könnern selten mehr als zwei Betonungsgipfel und wird außerdem meist noch durch eine Zäsur innerhalb der Zeile rhythmisch gegliedert, so dass der Eindruck des Ansteigens und Abfallens entsteht. Ein weiteres Kunstmittel zur Vermeidung von Monotonie ist das Enjambement. Man versteht darunter den fortlaufenden Satzfluss über das Versende hinaus in die nächste Zeile. Auch auf der Wortebene lässt sich mit Wiederholung und Variation spielen. Hier gibt es die so genannte Vielfallfigur, griech. Polyptoton, bei der ein Wort in unterschiedlichen Fällen und Ableitungsformen verwendet wird wie in Rilkes Sonette an Orpheus, 2. Teil, Nr. 13:
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Auf der Satzebene kann Wiederholung durch parallelen Satzbau und Variation durch dessen Umkehr erreicht werden. Solche Satzumkehr nennt man Kreuzstellung oder Chiasmus. Der nächste Schritt ist die Wiederholung ganzer Verse. Das ist der Fall bei einem Refrain am Ende der Strophen. Die Strophe ihrerseits ist ein wiederholter Baustein eines Gedichts, wobei Monotonie dadurch vermieden werden kann, dass sich zwei unterschiedliche oder gegensätzliche Strophenformen abwechseln. Es gibt Gedichtformen, die selbst für das Variieren einer vorgegebenen festen Strophenform strenge Vorschriften haben. Eine der kompliziertesten ist die Sestine, die aus sechs sechszeiligen Strophen besteht. Die letzten Wörter der Zeilen, die sich innerhalb der Strophe nicht reimen, müssen in den darauffolgenden Strophen nach einem raffinierten Permutationsschema als Schlusswörter wiederholt werden, worauf dann in einer abschließenden dreizeiligen Strophe die sechs Schlusswörter jeweils zur Hälfte im Innern und am Zeilenende wiederkehren müssen. Es ist klar, dass solches Raffinement schnell zu kunstgewerblicher Spielerei werden kann. Doch in Stilepochen wie der Renaissance und dem Barock setzten die Dichter ihren ganzen Ehrgeiz darein, Gedichten eine extrem formalisierte Gestalt zu geben. Da Bindung das spezifische Formprinzip der Lyrik ist, gleicht ein Gedicht in diesem Punkt eher einem kunstvoll geknüpften Teppich als einem Kristall, allein schon deswegen, weil ein Kristallgitter kaum Variation zulässt, während der Reiz geknüpfter Teppiche gerade in der Fülle der Variationen eines Grundmusters besteht. Beide Bilder haben ihre Berechtigung. Ein Gedicht darf wie ein reiner Kristall keine formalen Mängel aufweisen, während der Teppich außer den Standardbindungen durch Reim und Metrum – vergleichbar mit Kette und Schuss des Gewebes – innere Verknüpfungen durch Stab- und Binnenreime sowie durch Wortechos, assoziative Analogien und Kontrastierungen zulässt. Die Wirkung solcher «Knüpfkunst» lässt sich am besten an einem fremdsprachlichen Text zeigen, dessen Inhalt man erst mit Hilfe eines Wörterbuchs richtig versteht, denn dann springt die formale Kunstfertigkeit noch vor dem Verständnis des Textes ins Auge. Schon das Wort ‹Text› legt den Vergleich mit einem Teppich nahe, denn es geht auf lat. textus, ‹Gewebe›, zurück. Das folgende Gedicht erschien 1578 in dem Band Gorgeous Gallery of Gallant Inventions und wird dem nahezu unbekannten Dichter Thomas Proctor zugeschrieben:
A Proper Sonnet, how Time consumeth All Things
Ay me, ay me! I sigh to see the scythe afield:
Down goeth the grass, soon wrought to withered hay.
Ay me, alas! ay me, alas! that beauty neeeds must yield,
And princes pass, as grass doth fade way.
Ay me, ay me! that life cannot have lasting leave,
Nor gold take hold of everlasting joy.
Ay me, alas! ay me, alas! that time hath talents to receive,
And yet no time can make a sure stay.
Ay me, ay me! that wit cannot have wished choice,
Nor wish can win that will desires to see.
Ay me, alas! ay me, alas! that mirth can promise no rejoice,
Nor study tell what afterward shall be.
Ay me, ay me! that no sure staff is given to age,
Nor age can give sure wit that youth will take.
Ay me, alas! ay me, alas! that no counsel wise and sage
Will shun the show that all doth mar and make.
Ay me, ay me! come Time, shear on and shake thy hay;
It is no boot to balk thy bitter blows.
Ay me, alas! ay me, alas! come Time, take every thing away,
For all is thine, be it good or bad that grows.
Diese Klage über die Vergänglichkeit wirkt zugleich wie ein lehrbuchhaftes Muster für rhetorische und poetische Kunstgriffe. Außer Stab-, Binnen- und Endreimen werden auch Wortbedeutungen wiederholt, variiert und kontrastiert. So wird in der dritten Zeile mit wit, wish, win, will, desire eine Steigerung des Begehrens in der Form einer rhetorischen Klimax ausgedrückt, während in der vierten Strophe die ersten beiden Zeilen einen Chiasmus darstellen. Dann folgt mit den sinngleichen Wörtern wise and sage ein Pleonasmus und mit mar and make ein Paradoxon, denn ‹zerstören› wird mit ‹erschaffen› gleichgesetzt. (Die kursiven Hervorhebungen stammen vom Verfasser.)
Da das Gedicht nur ein einziges Thema hat und dieses Thema nur variiert, ohne ihm einen neuen Aspekt abzugewinnen, ist sein künstlerischer Wert gering, weshalb es zurecht nur selten in Anthologien aufgenommen wird. Es zeigt aber seine Kunstmittel mit so lehrbuchhafter Vollständigkeit, dass es sich zur Illustration poetischer Knüpfkunst förmlich anbietet. Ein ‹Sonett›, wie der Titel verspricht, ist es allerdings nicht. Doch diese Bezeichnung, die wörtlich «Klinggedicht» bedeutet, wurde in jener Zeit auch auf sonettähnliche Gedichte ausgedehnt.
Kunst ist geformter Ausdruck von Bewusstseinsinhalten. Ohne das Wie der Form wäre das Ausgedrückte keine Kunst, ohne das Was des Inhalts gäbe es nichts Geformtes. Die Qualität der Form beurteilt man nach ihrem ästhetischen Wert, die des Inhalts nach seiner Bedeutung. Goethes kleines Gedicht «Über allen Gipfeln» gehört zu den formal vollendetsten Werken der deutschen Lyrik, denn darin lässt sich keine einzige Silbe zum Besseren verändern. Demgegenüber darf man sich bei Faust II durchaus fragen, ob diese Dichtung nicht durch Streichungen gewinnen würde. Dennoch ist sie unzweifelhaft bedeutender als das kleine Gedicht. Das Verhältnis von Form und Inhalt ist das zentrale Problem aller Künste, insbesondere aber der Literatur, denn deren Material sind Wörter, die einerseits aus sinnlich wirksamen Lauten bestehen und andererseits Bedeutung kommunizieren. Da eine getrennte Betrachtung von Form und Inhalt dazu verführt, sich die Form als ein Gefäß vorzustellen, in das ein Inhalt gefüllt wurde, werden in der Literaturwissenschaft die beiden Begriffe gern durch Gestalt und Gehalt ersetzt, weil damit eine festere Verbindung zwischen beiden ausgedrückt wird. Entscheidend ist, die Gestalt eines Kunstwerks als Teil seines Gehalts zu verstehen.
Für die Musik ist das selbstverständlich, denn deren Gehalt besteht ausschließlich aus der hörbaren Gestalt. Auch in der bildenden Kunst nehmen wir zuerst die sichtbare Gestalt wahr, und erst, wenn uns diese beeindruckt, denken wir über den Gehalt nach. Selbst in der Lyrik haben sich die Gedichte, die in Anthologien von Generation zu Generation weitergereicht werden, vor allem auf Grund ihrer formalen Vollendung gegen die vielen vergessenen durchgesetzt. Dennoch besteht hier in stärkerem Maß als in Musik und Malerei die Tendenz, dem Inhalt mehr Beachtung zu schenken. Unter den Lieblingsgedichten der Deutschen kam das folgende von Hermann Hesse auf den ersten Platz:
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan, denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Die hohe Wertschätzung für das Gedicht bezeugt nicht nur das Votum der Hörer des WDR, sondern auch die Tatsache, dass daraus der Satz «jedem Anfang wohnt ein Zauber inne» oft zitiert wird. Doch Literaturkritiker werden dem Urteil des Publikums kaum beipflichten. Das Gedicht ist nicht schlecht, aber auch kein Spitzenwerk, sondern gut gemachte Erbauungslyrik und genau deswegen so beliebt. Viele Leser erwarten von Gedichten das, was man Lebenshilfe nennt. Als gut empfinden sie solche, die auf prägnante Weise gute Gefühle ausdrücken und zu guten Taten anhalten. Doch man sollte bedenken, dass sich diese Erwartung leicht manipulieren lässt. In Kriegszeiten wurde mit populären Versen der Patriotismus beflügelt und in ideologischen Auseinandersetzungen wurden sie zur Propaganda eingesetzt. Auch den gutgemeinten religiösen Texten haftet oft etwas an, das nichtreligiöse Menschen als falsche Tröstung empfinden. Wann also ist ein Gedicht nicht nur ethisch gut gemeint, sondern auch im ästhetischen Sinn gut gemacht? Vielleicht hilft ein Beispiel von Goethe weiter. Im West-östlichen Divan findet sich das folgende, das in seiner Kernaussage dem Gedicht Hesses nahekommt und doch von ganz anderer Art ist.
Selige Sehnsucht
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Hier wird nicht das optimistische Vertrauen in Stufen, die zu höherem Sein führen, verkündet, es geht vielmehr um das risikobereite Wagnis dem Licht zuzustreben, auf die Gefahr hin, in der Flamme zu verbrennen. Das Gedicht ist ambivalenter als Hesses. Zudem vertraut es mehr auf die Kraft des Poetischen. Hesses Gedicht «redet» mit poetischen Mitteln, Goethes «bildet» das Auszudrückende gemäß seiner eigenen Forderung, die er in einem anderen Gedicht ausspricht:
Bilde Künstler, rede nicht,
nur ein Hauch sei dein Gedicht.