Was ist katholisch? - Gerhard Kardinal Müller - E-Book

Was ist katholisch? E-Book

Gerhard Kardinal Müller

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Beschreibung

Während der schicksalhaften Erfahrungen mit einer weltweiten Pandemie beschreibt Gerhard Kardinal Müller das Wesen des Katholischen. Die Themenkreise Vernunft des Glaubens, sakramentale Vermittlung, das Glauben und Beten der Christen, das Spezifisch Katholische, die zentrale Mitte in der Feier der Eucharistie findet ihren Ausgangspunkt und ihre Zielsetzung in der menschheitsgeschichtlich alles entscheidenden Frage: Ist Jesus der Sohn Gottes? Dabei verliert er die großen Gemeinsamkeiten mit anderen christlichen Konfessionen nicht aus dem Auge und zeigt Reformwege auf, die immer tiefer zum Wesen der Kirche, zum Leben im Glauben und im Denken führen können. Der Autor gibt eine Hilfe zum Verstehen dessen, was wir im Credo immer wieder bekennen und mit den großen Gebeten verinnerlichen.

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Gerhard Kardinal Müller

Was ist katholisch?

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag HerderUmschlagmotiv: © Elvir TabakovićSatz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN Print 978-3-451-39074-6ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83826-2ISBN E-Book (epub) 978-3-451-83051-8

Meiner katholischen FamilieIn ewiger Dankbarkeit

Inhalt

HinführungJetzt ist die Zeit nach dem Sinn von Katholisch zu fragen

1. KapitelKatholisch-Sein in der geistigen Situation der Zeit

Pandemische Sinnkrisen und das rettende Serum

Ärgernisse und Skandale

Katholisch im »nachmetaphysischen Zeitalter«

Das Katholische ist der kategorische Indikativ der Bejahung des Seins

Die Kirche auf dem Spielfeld der Welt?

Die Schicksalsfrage der Menschheit: Ist Jesus wirklich der Sohn Gottes?

Die Katholische Kirche: Gottes Stiftung oder globale Wohlfahrtsorganisation?

2. KapitelKatholisches Leben mit Gott in Seiner Kirche

Wie kommt man zum Katholischen Glauben?

Katholisch im täglichen Leben

Katholischer Lifestyle

Eucharistie: die katholische Lebensmitte

3. KapitelDas Katholische in Ursprung und Profil

Das Katholische: im Anfang seiner Geschichte

Wie ein katholisches Bewusstsein entsteht: ein Selbstexperiment

»Katholisch«: gesehen mit den Augen des Glaubens. Sentire cum ecclesia

Das Katholische Profil: derselbe Glaube – in der gesamten Kirche – auf der ganzen Welt

Die Herzmitte des katholischen Glaubens

Das Mysterium der Heiligsten Dreifaltigkeit

Das Mysterium der Menschwerdung Gottes in Christus

Das Mysterium der Gotteskindschaft der Getauften

Prinzipien des Katholischen

4. KapitelKatholisch: das konfessionsverbindende Attribut der Kirche

Katholisch: ein konfessionell enggeführter Begriff?

Katholisch: eine nur im Glauben zu erfassende Eigenschaft der Kirche Christi

Die ökumenische Suche nach der katholischen Einheit

5. KapitelQuo vadis, ecclesia catholica?

Katholische Reform oder: Wie kommt die Kirche wieder in Form?

Eine zweite »Reformation« aus Deutschland?

Das Schifflein Petri auf Schlingerkurs

Katholisch in der Zeit kreativer Minderheiten

Epilog

ὅπου ᾖ Χριστός Ἰησοῦς,ἐκεῖ ἡ καθολικὴ ἐκκλησίαWo Christus Jesus ist, da ist die katholische KircheIgnatius von Antiochien († um 110 n. Chr.),Brief an die Smyrnäer 8, 2

Christianus mihi nomen est – catholicus vero cognomen.Christ ist mein Name – Katholisch mein BeinamePacian von Barcelona († 390 n. Chr.),Epistola 1, 4

Catholicus non est,qui a Romana ecclesia in fidei doctrina discordatKatholisch ist nur, wer mit der Glaubenslehreder Römischen Kirche übereinstimmt.Grabinschrift des KardinalsStanislaus Hosius († 1579) in S. Maria Trastevere

HinführungJetzt ist die Zeit nach dem Sinn von Katholisch zu fragen

Katholische Christen nehmen ihre – in der geistigen und sittlichen Natur des Menschen verwurzelte – Gewissens- und Religionsfreiheit1 in Anspruch, wenn sie bekennen:

»Jesus Christus ist der Sohn Gottes« (Mk 1, 1)und »wirklich der Retter der Welt« (Joh 4, 42).

Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils erklärten das Selbstverständnis der katholischen Kirche so: »Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzige und wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten. Er sprach ja zu den Aposteln: ›Darum geht und macht alle Völker zu meine Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles zu befolgen halten, was ich euch geboten habe.‹ (Mt 28, 19f.) Alle Menschen sind ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit, besonderes in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren.«2

Das Bekenntnis der Kirche zu ihrem Erbauer und Fundament beruht auf der Verheißung Jesu an den Ersten der Apostel und seinen Nachfolger, den Bischof von Rom: »Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.« (Mt 16, 18)

Die Kirche als Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes in Jesus Christus ist sowohl Subjekt als auch Gegenstand des katholischen Glaubens. Das Apostolische Glaubensbekenntnis, auf das wir bei der Taufe unser Leben bauen, wie auch das Große Symbolum der Konzilien von Nizäa und Konstantinopel enthalten den Satz: Credo ecclesiam catholicam.

Deshalb versteht sich katholische Kirche keineswegs als ein der Welt immanentes Politikum oder eine von Menschen gemachte Organisation zur Verbesserung der irdischen Lebensverhältnisse, sondern als das »von Gott eingesetzte universale Sakrament des Heils«.3

Die Kirche, zu der wir uns im Glauben bekennen, ist eine Wahrheit der heilsgeschichtlichen Selbstoffenbarung des dreifaltigen Gottes. Ihr inneres Sein und Wesen kann nur im Licht des übernatürlichen Glaubens erkannt werden. Ihre zeitlichen Auswirkungen auf die Weltgeschichte, die Nationen und Kulturen sind primär zu messen an ihrer Sendung zum Dienst am ewigen Heil der Menschen und nicht umgekehrt.

Auf die existentiellen Grundfragen »Was ist der Mensch, was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen und des Todes?« hat die katholische Kirche für fortschrittsgläubige Gesellschaften nur die gleiche Antwort parat wie für die Völker in Untergangsstimmung: »Christus, der für alle starb und auferstand, schenkt dem Menschen Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann.«4

Hält dieser hoffnungsfrohe Glaube an Gott als Ursprung und Ziel der ganzen Schöpfung aber den brutalen Realitäten der Menschheitsgeschichte stand, in der ganz andere Mächte den Takt schlagen? Menschen beugen ihre Knie lieber vor falschen Göttern und verehren sie unter wechselnden Namen wie Ruhm und Macht, Reichtum und Luxus, statt in der Versuchung mit Jesus zu sagen »Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen« (Mt 4, 10).

Das wahre Ranking spiegelt sich eher im Heiligen-Kalender der Kirche als in der Forbes-Liste der Milliardäre. »Aber Geld regiert doch die Welt« – sagt der Volksmund. Die Heilige Schrift hält dem entgegen: »Die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Und nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet.« (1 Tim 5, 10) Aber das Streben nach Profit ist nur der Treibriemen des »Willens zur Macht«, in dem der Nihilismus seine unentrinnbare Sinnlosigkeit manifestiert. Die Stunde kommt, da Gott zu dem reichen Mann, der sich nach einem Traumgewinn seiner Sorgenfreiheit rühmt, sagt: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wenn wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?« (Lk 12, 20) Und Jesus beschließt das Gleichnis mit der Feststellung: »So geht es einem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber bei Gott nicht reich ist.« (Lk 12, 21).

Das Gesetz der Weltgeschichte erscheint vielen als der endlos wogende »Kampf ums Dasein« zwischen Macht und Geist, in dem am Ende die Macht über den Geist und der Tod über das Leben zu triumphieren scheinen.

»Nun erst kreißt der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe«5. Von den Dächern des Posthumanismus pfeifen die Spatzen dieses Liedchen ihrem Geistes-verstörten Propheten gedankenlos nach. Wenn – wie Nietzsche meinte – das Christentum vergeblich Herr zu werden versuchte über das »Raubtier Mensch«6, wie kann dann eine solche Missgeburt auf dem Weg »vom Wurm über den Affen« schließlich den Sprung zum »Übermenschen« schaffen, welcher »der Sinn der Erde« sein will.7

Angesichts dieses ver-rückten Menschenbilds, das sich zwischen den Bildern von Tier und Engel abarbeitet, bleibt der Christ doch lieber geerdet und erfreut sich seiner von Gott geschenkten Einheit des Leibes und der Freiheit seines Geistes. Er steht mit beiden Füßen auf dem Boden der Erde, die Gott ihm als sein »Haus mit schönem Garten« zugewiesen hat (Gen 2, 8). Bei aufrechtem Gang ist der Kopf stets oben, damit wir die Welt erkennen und sie empirisch-wissenschaftlich in ihren immanenten Ursachen und metaphysisch in ihren transzendenten Seins- und Erkenntnis- Prinzipien durch das Denken begreifen. Mit unseren Ohren können wir das Wort Gottes hören und mit unseren Augen seine Heilstaten sehen und sogar »das Wort des Lebens mit unseren Händen anfassen« (1 Joh 1, 1). »Meine Augen haben das Heil geschaut, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel« (Lk 2,  30ff.) – so pries Simeon bei der Darstellung Jesu im Tempel Gott, als er das Kind in seine Arme genommen und in ihm den verheißenen Messias Israels erkennt hatte.

Bei der Erschaffung »formte Gott, der Herr, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7). Am Anfang war nicht der Zwitter eines anarchisch-animalischen Triebwesens, das zu idealistischen Höhenflügen ansetzte, sondern der »mit Pracht und Herrlichkeit gekrönte Mensch« (Ps 8, 6). Er ist im Denken und Handeln Herr seiner selbst und als Person Träger seiner geist-leiblichen Einheit – unter den Bedingungen der sozialen und geschichtlichen Daseinsweise des Menschen in der Welt.

Das Gesetz des Reiches Gottes ist der Geist der Liebe, die Gott selbst ist, und durch die wir ihn verehren (vgl. 1 Joh 4,  8.16). »Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.« (Joh 4, 24) »Der Geist aber ist die Wahrheit.« (1 Joh4, 6) Nur wer die Wahrheit erkennt, den macht sie auch frei (vgl. Joh 8, 32). Die Wahrheit kam in die Welt durch Jesus Christus (vgl. Joh 1, 17). Er erlöst die weltliche Macht aus ihrem Widerspruch zur menschlichen Freiheit und verwandelt sie zu einer konstruktiven Potenz, indem er »allen, die ihn aufnahmen, die Macht gab, Kinder Gottes zu werden, die nicht aus dem Willens des Fleisches, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12f.).

Mag in der untergeistigen Natur das »Recht der Stärkeren« zum Überleben um jeden Preis gelten, so ist es doch die unendlich verschwenderische Gnade, mit der Gott seiner Schöpfung Leben einhaucht (Gen 1, 2; 2, 7), welche die wahre Dynamik der Menschheitsgeschichte entfaltet und die einzige Hoffnung weckt, die niemals enttäuscht wird: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.« (Joh 3, 16)

Das Reich Christi kommt nicht aus der Macht und den Möglichkeiten dieser Welt und ist nicht von der Art staatlicher, militärischer, ökonomischer, ideologischer »Macht von Menschen über Menschen«. Jesus übertrumpfte den Pilatus, der als Statthalter des Welt-Reiches das Reich Gottes frech herausgefordert hatte, nicht mit noch größerer imperialer Macht und brachialer Gewalt, sondern offenbarte souverän die befreiende Macht Gottes über Lüge und Tod: »Ja, Ich bin ein König. Dazu bin Ich in die Welt gekommen, dass Ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf Meine Stimme.« (Joh 18, 37)

All jene, die auf seine Stimme hören, gehören zur Gemeinschaft seiner Jünger, der »Kirche des lebendigen Gottes, Säule und Fundament der Wahrheit« (1 Tim 3, 15; vgl. Mt 16,  18).

Die Mit-Glieder der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche bilden eine Communio des Glaubens an den dreifaltigen Gott. Sie bezeugen in der Fortsetzung der Missio Christi das Evangelium der Wahrheit Gottes, »der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« (1 Tim 2, 4).

Von Anfang an stellte der Name Jesu Christi jeden Menschen vor die Entscheidung über das Ganze seines Daseins. »Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.« (Apg 4, 12) Die positive oder negative Reaktion fällt auf die Boten und Zeugen des Evangeliums zurück.

Nicht weil Christen diese oder jene politische Option oder wissenschaftliche Position vertreten, werden sie beargwöhnt, lächerlich gemacht und blutig verfolgt. Sie ecken an, weil Jesus der Eckstein und Fels ist, auf dem man das Haus des Lebens aufbaut, oder an dem man anstößt und zu Fall kommt (Apg 4, 11; Petr 2,  8). Und darum sagte Jesus kurz vor seiner Passion zu den Jüngern: »Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden.« (Lk 21, 17) Und bis heute sind die Christen die am meisten unterdrückte und bekämpfte Religionsgemeinschaft. Wie schon beim Großen Brand von Rom (68 n. Chr.) zur Zeit des Kaisers Nero scheinen die Christen das Hassobjekt des Pöbels geblieben zu sein oder man spricht sie bis heute schuldig »einer hasserfüllten Einstellung gegenüber dem Menschengeschlecht – odio humani generis convicti«8. Wie der Unheils-Prophet des postmodernen Nihilismus verurteilte Friedrich Nietzsche die Kirche als »die Höchste aller denkbaren Corruptionen« der Menschheitsgeschichte: »Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, den Einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, – ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …«9. Und er würde sich von den Führern der neuen Weltordnung bestätigt fühlen.

Im bevölkerungsreichsten Land der Erde werden die Christen mit einer rücksichtslosen Sinisierung in ihrer Identität als Jünger Jesu bedroht.10 Fanatische Hinduisten verdächtigen sie des Verrates an der indischen Kultur. In den meisten islamisch dominierten Ländern gelten sie als Bürger – wenn es gut geht – zweiter Klasse. Die Macht- und Geld-Eliten in Kanada, den USA, Australien und in den meisten Ländern der Europäischen Union führen mit methodischer Raffinesse die Agenda einer kulturellen Entchristlichung durch. Anpassungswillige Katholiken bis in die Reihen ihrer Hirten springen auf den Zug der Säkularisierung auf in der vagen Hoffnung, dass er die Kirche in eine neue Zukunft hineinfährt. Den verweltlichten Christen, deren Glaube sich auf eine Kirche als eine weitere Organisation der Weltbeglückung ausgedünnt hat, zieht – in Hans Urs von Balthasars Schrift »Cordula oder der Ernstfall« – der dialogbreite Kommissar der sozialistischen Internationale und Eine-Welt-Ideologie selbst das Fazit ihrer Anpassung an eine Welt ohne Gott: »Ihr habt euch selbst liquidiert und erspart uns damit die Verfolgung.«11

Was ein genialer Mathematiker und christlicher Denker der am Anfang des 17. Jahrhunderts einsetzenden strukturellen Entchristlichung Europas konstatierte, ist heute noch aktuell:

»Die Menschen verachten die Religion, sie hassen sie und fürchten, dass sie wahr sei. Um sie davon zu heilen, muss man zunächst zeigen, dass die Religion der Vernunft nicht widerspricht; dass sie verehrungswürdig ist, um ihr Achtung zu verschaffen; sie alsdann liebenswert machen, damit die Guten wünschen, dass sie wahr sei, und dann zeigen, dass sie Wahrheit ist. Verehrung verdient sie, weil sie den Menschen so gut gekannt hat; liebenswert ist sie, weil sie das wahre Gut verheißt.«12

Blaise Pascal (1623–1662) meinte hier mit Religion den katholischen Glauben. Damals wie heute ist die Botschaft des Glaubens umstritten. Die einen lehnen jede Wahrheit ab, die sich auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus stützt, weil sie spezifisch den katholischen Glauben für einen Anschlag auf die Toleranz halten.

Thomas Hobbes (1588–1679), einer der führenden englischen Empiristen, begründete die Religion nicht in der Offenbarung Gottes oder der geistig-sittlichen Natur des Menschen, sondern in den Gesetzen des Staates, so dass diesem das Recht zukomme, die dem Gemeinwohl der Bürger unverträglichen Lehren einzelner Religionsgemeinschaften zu verbieten.13 Eine pluralistische Gesellschaft müsse – so folgert heute die totalitäre Einheitsdenken der political correctness – eine Wahrheit mit universaler Geltung als unerträglich empfinden und als intellektuell unredlich und nicht mehr vermittelbar definitiv ablehnen. Abweichendes Denken wird mit gesellschaftlicher Ächtung und sogar mit Mitteln des Strafrechtes geahndet.14

John Locke (1632–1704), der wegweisende Theoretiker des englischen Liberalismus, schloss in seiner Schrift »A Letter concerning Toleration« (1685/86) ausgerechnet die Katholiken von der allgemeinen Religionstoleranz aus. Abweichend vom katholischen Selbstverständnis deutete er den religiösen Gehorsam gegenüber dem Papst gewaltsam um in einen Loyalitätskonflikt zwischen dem eigenen und einem fremden »Staatsoberhaupt.«15 Noch heute sieht die Kommunistische Parteiführung im »Reich der Mitte« das Verhältnis der chinesischen Katholiken zum Papst als Beziehung zum einem fremden »Staatsoberhaupt«. Leider gelingt es der vatikanischen Diplomatie nicht, ihr den fundamentalen Unterschied zwischen Politik und Religion, Macht und Wahrheit zu erklären.

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution, merkte nicht, dass er – indem er zu Recht jeden Zwang im Glauben ablehnt – die Freiheit zum Glauben gerade an einen totalitären Staat ausliefert, wenn er sagt: »Aber wer zu sagen wagt, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gebe, gehört aus dem Staat ausgestoßen; es sei denn, der Staat sei die Kirche und der Fürst sei der höchste Priester.«16

Derselbe Autor lehnte im »Contrat social« (1762) die religiösen Dogmen der Kirche als Gipfel der Intoleranz ab, forderte aber zugleich für die Ablehnung des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses die Todesstrafe. Denn einer, der die Dogmen des sozialen Gewissens als den höchstem Souverän nicht glaubt, »hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen gelogen«17. Damit begründeten die Jakobiner den Grande Terreur (1792–1794), dem mindestens 200.000 Menschen zum Opfer fielen, und ihr Recht, das Denken der Menschen nach ihrem Maß gleichzuschalten oder sie um ihren Kopf kürzer zu machen. Faschisten18 und Stalinisten verehrten sie durch die überbietende Nachahmung ihrer Kirchenfeindschaft und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.19

Als in der ersten Phase der Loslösung des Abendlandes20 von seiner christlichen Überlieferung21 die neuen Ungläubigen über das Christentum daher schwadronierten, seufzte Pascal: »…  dass sie wenigstens die Religion, die sie bekämpfen, kennen würden, bevor sie sie bekämpften.«22

Und er hatte Recht. Denn auch seither hat sich die Religionskritik mehr an der Widerlegung selbstfabrizierter Karikaturen berauscht, als dass sie zur Herzmitte des Christlichen vorgedrungen wäre: die Liebe zu Gott über alles (Dtn 6, 5) und die Liebe zum Nächsten nach dem Maß der Liebe zu sich selbst (Mt 22, 34– 40) als Bild und Gleichnis Gottes (Gen 1, 27).

Die Theologie hat in der Katholischen Tübinger Schule23 und mit bedeutenden Denkern des 20. Jahrhunderts intellektuell tragfähige Antworten gegeben auf die Herausforderung der Aufklärungsphilosophie und der Christentums-Kritik.24 Die Beiträge der katholischen Soziallehre zur Lösung der mit der industriellen Revolution entstandenen Probleme sind ebenso beachtlich wie die Reflexionen zur ethischen Bewältigung der Chancen und Risiken der modernen Medizin, Ökonomie und Ökologie.25 Nicht zu vergessen ist der Einsatz bis zum Martyrium von Priestern, Ordensleuten und Laien für die Freiheit der Kirche, die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, rechtsstaatliche Demokratie und den Frieden in der Welt.26

Es bleibt eine Daueraufgabe des neuzeitlichen Christentums, das Gleichgewicht zu wahren zwischen der Identität des Glaubens und seiner Relevanz für den modernen Menschen, zwischen der notwendigen Treue zur Tradition und der erforderlichen Innovation, zwischen der »Weltlichkeit und Christlichkeit der Kirche«27. Denn Gott-Orientierung und Welt-Verantwortung bilden in der Religion Christi, des Gott-Menschen, eine unauflösbare Beziehungseinheit. Damit stellt sich die Frage: Was ist katholisch? jenseits der – in mehreren Variationen auftretenden – ideologischen Extreme. Da steht auf der einen Seite der an zeitbedingten Formen klebende »Traditionalismus« und auf der anderen Seite ein die Substanz auflösender »Modernismus«. Man kann es auf einer höheren Reflexionsebene mit dem klassischen Gegensatzpaar auch so formulieren: der klassische Fideismus steht gegen den Rationalismus. Beide Positionen wurden vom Ersten Vatikanischen Konzil (1870) als unvereinbar mit dem katholischen Glauben zurückgewiesen, weil die Natur dynamisch auf die Gnade hin geordnet ist und ihr nicht dialektisch entgegenwirkt.28 So kann der Glaube zwar nicht aus der menschlichen Vernunft abgeleitet werden, aber dort, wo er frei im Licht von Gottes Wort und Gnade angenommen wird, leuchtet seine »göttliche Logik«29 der Vernunft des Glaubenden ein und vermittelt ihr die Freude an der Erkenntnis der Wahrheit.30 Darum konnte Paulus in all seinen Leiden und Prüfungen als Apostel sagen: »… ich weiß, wem ich geglaubt habe« (2 Tim 1, 12). »Christlicher Gottesdienst sei dem Logos gemäß – ein rationabile obsequium.« (Röm 12, 1)

Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert hatte der bedeutende Würzburger Theologe Hermann Schell (1850–1905) Reformschriften herausgebracht mit den bezeichnenden Titeln »Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts« (1897) oder »Der alte und der neue Glaube« (1898).31

Man kann auch den Kirchenhistoriker Albert Ehrhard (1862– 1940) nennen, der – »reformkatholisch«, nicht »modernistisch« gesinnt – ein Buch schrieb mit dem Titel: »Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit.«32

Eine positive Gesamtdarstellung versuchte auch 1924 Karl Adam (1876–1966) in seinem Buch »Das Wesen des Katholizismus.«33

Von Kardinal Henri de Lubac (1896–1991) stammt das patristisch durchtränkte Werk »Catholicisme. Les aspects sociaux du dogme«34, das mit seinen anderen Schriften über Eucharistie und Kirche stark auf das II. Vaticanum wirkte.

In der Zeit der nach-konziliaren Auf- und Abbrüche veröffentlichte der geniale Hans Urs von Balthasar (1905–1988) das hellsichtige Büchlein »Katholisch. Aspekte des Mysteriums«35, in dem er das Profil des katholischen Glaubens, seine Denkstile und Lebenshaltungen herausarbeitete: das incarnatus est, die Sakramentalität und Apostolizität der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Mit seiner berühmten »Einführung in das Christentum« (1968) hat Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI. (2005–2013) nach der 68er-Kulturrevolution eine wegweisende Orientierung des Katholischen in der modernen Welt gegeben.36

Bemerkenswert ist insbesondere die Darstellung der gesamten »Katholischen Glaubenswelt«37, die wir Kardinal Leo Scheffczyk (1920–2005) verdanken.

Die Ursachen und Folgen einer inneren Auflösung der Katholizität und die Chancen zur Überwindung der Krise aus der Tiefe des katholischen Glaubens analysiert der Bonner Dogmatiker Karl-Heinz Menke in seinem grundlegenden Werk: »Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus.«38

Angesichts der Notwendigkeit, die Balance von Substanz und Relevanz des Katholischen zu halten und stets neu zu justieren, geht es in den folgenden Überlegungen nicht um einen Katechismus39 oder ein Lehrbuch der katholischen Dogmatik40, sondern um eine Navigationshilfe in all den Konfusionen und Krisen, Spannungen und Spaltungen, Enttäuschungen und Hoffnungen in der Kirche von heute und morgen. Das Katholische ist nicht nur ein Lehrinhalt, sondern auch eine Geistesverfassung und eine Lebensweise.

In fünf Themenfeldern wird die Frage behandelt: »Was ist katholisch?

I. Katholisch-Sein in der geistigen Situation der Zeit

II. Katholisches Leben mit Gott in Seiner Kirche

III. Das Katholische in Ursprung und Profil

IV. Katholisch: das konfessions-verbindende Kirchenattribut

V. Quo vadis, ecclesia catholica?

Nicht wankelmütige Menschen reformieren mit ihren Visionen und Utopien, Resolutionen und Beschlüssen die Kirche oder machen sie mit der Besetzung der Schlüsselstellen und ihren gruppendynamischen Machtspielen anschlussfähig – an welchen Zug und in welche Richtung auch immer. Christus allein ist die Zukunft jedes Menschen und das Ziel unserer Pilgerschaft zum »neuen Jerusalem«. Die heilige Stadt kommt von Gott her aus dem Himmel herab und Menschen werden nie »einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Offb 21, 1f.) erschaffen.

Mit dem hl. Augustinus41 beschrieb das II. Vaticanum den Weg der pilgernden Kirche in der Welt-Geschichte bis zu ihrer Vollendung jenseits der Zeit: »Die Kirche ›schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin‹ und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt. Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um durch die Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar wird.«42

Anmerkungen

1 II. Vaticanum, Dignitatis humanae 2.

2 Dignitatis humanae 1.

3 II. Vaticanum, Lumen gentium 48.

4 II. Vaticanum, Gaudium et spes 10.

5 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV. Vom höheren Menschen: Sämtliche Werke 4, München 1980, 357.

6 Ders., Der Antichrist 22: Sämtliche Werke 6, 189.

7 Ders., Also sprach Zarathustra I: Sämtliche Werke 4, 14.

8 Tacitus, Annalen XV, 44.

9 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum 62: Sämtliche Werke 6, 253.

10 Clive Hamilton/Mareike Ohlberg, Hidden Hand. Exposing how the Chinese Communist Party is Reshaping the World, Melbourne; dt.: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet, München 22020.

11 Hans Urs von Balthasar, Cordula oder der Ernstfall, Einsiedeln 1966, 112.

12 Blaise Pascal, Pensée, Frag. 187: Oeuvres complètes, ed. J. Chevalier, Paris 1954, 1089 f.

13 Thomas Hobbes, De Cive, cap. 6 § 11 (= PhB 158), Hamburg 1977, 136.

14 Vgl. Alfredo Mantovano (Hg.), Omofobi per Legge? Colpevoli per non aver commesso il fatto, Siena 2020.

15 John Locke, Ein Brief über Toleranz (= PhB 289), Hamburg 1975, 92 f.

16 Jean-Jacques Rousseau, Contrat social IV, 8; dt.: ders., Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, Frankfurt 22017, 188.

17 Ebd.

18 Markus von Hänsel-Hohenhausen, Hitler und die Aufklärung. Der philosophische Ort des Dritte Reiches. Beitrag zur Theorie der modernen Despotien und zum Mythos der politischen Religion, Frankfurt a. M. 2013.

19 Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman (1940), Wien 1983; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde, Stalins Herrschaft der Gewalt, München 22012.

20 Peter Brown, Die Entstehung des christlichen Europas, München 1999.

21 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts: ders., Sämtliche Schriften, Stuttgart 1988, 1–490.

22 Pascal, Pensée, Frag. 192.

23 Joseph Rupert Geiselmann, Die katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg 1964.

24 Heinrich Fries/Georg Kretschmar, Klassiker der Theologie II, München 1983.

25 Papst Franziskus, Enzyklika »Laudato Si«. Über das gemeinsame Haus (24. Mai 2015).

26 Gustavo Gutièrrez/Gerhard L. Müller, An der Seite der Armen. Theologie der Befreiung, Augsburg 2004.

27 Dietrich Bonhoeffer, Vorlesung: Das Wesen der Kirche (1932): DBW 11, München 1994, 239–303, hier: 298–301.

28 Vgl. dazu Eberhard Mechels, Analogie bei Erich Przywara und Karl Barth. Das Verhältnis von Offenbarungstheologie und Metaphysik, Neukirchen-Vluyn 1974; Jan Bentz, Das Sein und die Geschichte des Seins bei Gustav Siewerth, Aachen 2019.

29 Henri Bouillard, Logik des Glaubens (= QD 29), Freiburg 1966.

30 I. Vatikanum, Dogmatische Konstitution »Dei Filius« (DH 3000–3045).

31 Paul-Werner Scheele, Hermann Schell im Dialog. Beiträge zum Werk und zur Wirkung von Hermann Schell, Würzburg 2006.

32 Stuttgart – Wien 1902; ders., Liberaler Katholizismus? Ein Wort an meine Kritiker, Stuttgart – Wien 1902.

33 Karl Adam, Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 131957.

34 Henri de Lubac, Glauben aus der Liebe. »Catholicisme«, Einsiedeln 1970.

35 Einsiedeln 1975.

36 Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum (= JRGS 4), hg. von Gerhard Ludwig Müller, Freiburg 2014, 31–342.

37 Leo Scheffczyk, Katholische Glaubenswelt. Wahrheit und Gestalt, Paderborn 32008; Karl-Heinz Menke, Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Regensburg 2012; Max Seckler, Die schiefen Wände des Lehrhauses. Katholizität als Herausforderung, Freiburg 1988.

38 Regensburg 2012.

39 Catechismo della Chiesa Cattolica. Testo integrale, Milano 2017; VELKD, Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 72001.

40 Gerhard Kardinal Müller, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg 102016; Mauro Gagliardi, La Verità è sintetica. Teologia dogmatica cattolica, Siena 2017.

41 Augustinus, De Civitate Dei 18, 51,2.

42 II. Vaticanum, Lumen gentium 8.

1. KapitelKatholisch-Sein in der geistigen Situation der Zeit

Pandemische Sinnkrisen und das rettende Serum

Unter den fast acht Milliarden Erdenbewohnern im Jahre 2021 sind 18 % katholischen Glaubens. Geistig verwandt sind den Katholiken die Christen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften im Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes und Retter der Welt1. Diese – laut päpstlichem Jahrbuch 20182 – weltweit präsente und global agierende Gemeinschaft von 1,3 Milliarden Menschen, die im römischen Bischof und Nachfolger des Apostels Petrus den höchsten Repräsentanten ihrer Einheit erkennt3, nennt sich selbst:

die katholische Kirche.

Sie ist eine Gemeinschaft der »Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit« (Joh 4, 23), durch die der gütige und barmherzige Gott in Zeit und Geschichte das Kommen seines ewigen Reiches vorbereitet.

Ein einzigartiges Nahe-Verhältnis besteht zwischen Christen und Juden, weil sie innerlich verbunden sind im Glauben an denselben, einzigen und wahren Gott, der Israel als sein Volk erwählt und mit ihm einen Bund geschlossen hat. Juden und Christen sind eins im Glauben an den transzendenten und geschichtsmächtigen Gott, der den Unterdrückten und Armen zu ihrem Recht verhilft. Sie teilen den Glauben an die messianisch-eschatologische Verheißung einer Vollendung der Welt in der Zukunft Gottes, der jede zyklisch-mythische und materialistisch-nihilistische Sicht von Geschichte oder eine utilitaristische Ethik »des größten Glücks für die höchste Zahl« ausschließt. Denn Gott ist Ursprung und Ziel der Schöpfung und jedes individuellen Menschen in und nach der Geschichte – und nicht des Abstraktums unter dem Begriff »die Menschheit«.4 Die Kirche hat den gesamten Psalter und andere alttestamentliche Hymnen in ihren Gebetsschatz aufgenommen und betet voller Vertrauen zu Gott dem Vater durch Seinen Sohn und unseren Bruder Jesus Christus im Heiligen Geist, »durch den Gottes Liebe ausgegossen ist in unsere Herzen« (Röm 5, 5).5

In Gebet und Liturgie zeigt sich, dass der Glaube nicht eine Theorie über Gott ist, sondern dass der Beter sein ganzes Dasein in allen seinen Höhen und Tiefen, Freuden und Leiden in Gott dankend, lobend, bittend, klagend, frohlockend hinein aussprechen, ja sogar schreien kann – in der letzten Gewissheit, dass sein Schöpfer und Erlöser ihn hört und erhört. Am Kreuz rief Jesus mit lauter Stimme zu seinem Vater: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15, 34; Ps 22, 2) Er sprach seine Verlassenheit aus mit den Worten des Psalms, dessen Beter fortfährt: »Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie … Denn dem Herrn gehört das Königtum … Er herrscht über die Nationen. Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird.« (Ps 22,  25.29.32)

Katholische Christen fühlen eine tiefe Verbundenheit mit allen Menschen auf dieser Welt, die an den einen personalen Gott glauben (Röm 1, 20)6 oder die eine mystische Ehrfurcht haben vor dem Leben oder die wenigstens die Wahrheit suchen und eine Verantwortung spüren, die über die eigenen Interessen hinausgeht (Apg 14, 15; 17, 23).7 Möglich und geboten ist – trotz aller Differenzen in Glaubensfragen – eine Zusammenarbeit aller Menschen für das Gemeinwohl in den einzelnen Staaten und in der Weltgesellschaft – bei der »Suche nach einer besseren Welt« jenseits von Krieg und Hass und ohne das Elend der Armut und all der schreienden Ungerechtigkeiten.8

Im Hinblick auf die Nicht-Glaubenden steht der Katholik auf dem Standpunkt: Ein widerspruchsfrei durchgeführter Atheismus ist nicht möglich9, weil »jeder Mensch sich selbst vorläufig eine ungelöste Frage bleibt, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutendsten Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen. Auf diese Frage kann nur Gott die volle und sichere Antwort geben: Gott, der den Menschen zu tieferem Nachdenken und demütigerem Suchen aufruft.«10

Zu keinem Kompromiss sind die Katholiken allerdings bereit bei der Leugnung und Missachtung der Würde der menschlichen Person in ihren unveräußerlichen Rechten: vorgeburtliche Kindstötung, Euthanasie an Kranken, Alten und Lebensmüden, Rassismus, Versklavung und Menschenhandel, unmenschlicher Strafvollzug, individuelle und staatliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegstreiberei und Völkermord. So widerstreiten sie auch jeder Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit in totalitären Ideologien und in den von Einheitsparteien geknebelten Überwachungs-Staaten und in der Gegenwart der den Familien und Kindern feindseligen Propaganda.

Denn statt sich zu beschränken auf die Gewährleistung der Infrastruktur des gesellschaftlichen Lebens (d. h. dem »zeitlichen Wohl)« definieren die ideologischen Vertreter des totalitären Staates den Menschen als einen Roboter oder als ein biologisches Triebbündel und behandeln die »Massen des einfachen Volkes« als Menschenmaterial. Jeder individuelle Mensch ist hingegen immer Zweck und Sinn an sich. Niemals und unter keinen Umständen darf er zum Mittel für wissenschaftliche oder ökonomische Zwecke degradiert und der Würde seines Person-Seins beraubt werden. Das ist der Grund der absoluten Unvereinbarkeit des katholischen Glaubens mit jeder totalitären Ideologie.

Trotz des ökumenischen, interreligiösen und wissenschaftlich- interdisziplinären Dialogs und der damit verbundenen Kultur der Versöhnung und Toleranz hat der Anti-Katholizismus seit den religionsfeindlichen Zirkeln der Popular-Aufklärung des 18.  Jahrhunderts, in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts, in den politisch-totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts überlebt.11 Im Neoatheismus mit dem »Hass auf alles Katholische« feiert heute er »fröhliche Urstände« in den internationalen Abtreibungs- und Genderlobbies, im Agenda-Journalismus und in katholikenfeindlichen »christlichen Sekten«, die in der hatespeech des 16. Jahrhunderts stecken geblieben sind und dem Gebet Jesus um die Einheit seiner Jünger (Joh 17, 21) Hohn sprechen.

Der verstorbene Antitheist Christopher Hitchens (1949–2011), dessen Seele dennoch Gott empfohlen sei, formulierte verbittert und aggressiv: »Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet«12, während sein Gesinnungsgenosse Richard Dawkins (* 1941) in seinem Buch »Der Gotteswahn«13 den Glauben auf einen genetischen Defekt oder eine Störung der Gehirnfunktionen zurückführen will. Auf ideologisch verkürzter darwinistischer Grundlage bietet er eine innerweltliche Heilslehre an unter dem Titel: »Atheismus für Anfänger. Warum wir Gott für ein sinnerfülltes Leben nicht brauchen.«14 Ihm sekundiert der französische Privat-Philosoph Michel Onfray mit seinen in deutscher Übersetzung noch provozierender aufgemachten Titeln »Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss«15 oder »Die Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird.«16

Es ist der Dauer-Brenner vom »Ende des Christentums«, das Friedrich Nietzsche (1844–1900) auf den Begriff vom »Tod Gottes« brachte, dem er in seiner Schrift »Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum«17 den Laufpass gab. In bebendem Zorn forderte er die Umwertung aller christlichen Werte in ihr Gegenteil. Er erlässt ein »Gesetz wider das Christentum«, das unter anderen die Bestimmung enthält: »Man soll die ›heilige‹ Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte ›Gott‹, ›Heiland‹, ›Erlöser‹, ›Heiliger‹ zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen machen.«18 Und er unterschreibt mit »Der Antichrist.«

Erschütternd ist aus christlicher Sicht nicht allein die Blindheit für die symbolische und transzendentale Dimension des Daseins, sondern vielmehr noch der intellektuelle Sinkflug, der den literarisch und politisch gewaltbereiten Antiklerikalismus so lange beflügelte, bis er schließlich seine Bruchlandung mit einer »Erdung« des Menschen ohne Gott im Bodenlosen verwechselte. »Für die Tatsache, dass im 18. Jahrhundert ein Geschlecht von Menschen geboren wurde und sich dann fortpflanzte, das als geistige Nahrung nur den Antiklerikalismus hatte und diesen zu seinem einzigen Programm machte; ein Geschlecht, das glaubte, dass der Antiklerikalismus genüge, die Regierungen umzuschmelzen, die Gesellschaft vollkommen zu machen und zum Glück zu führen: für diese Tatsache sind viele verantwortlich, und nicht alle standen im Lager der Enzyklopädisten. Aber keiner ist dafür in dem Maße verantwortlich wie Voltaire.«19

Der Marquis René Louis d’Argenson (1694–1757), ein großer Freund Voltaires, beschreibt – wie im Vorgriff auf die westliche Welt heute – schon im Jahr 1753 scharfsichtig die Wirkung der anti-kirchlichen Propaganda: »Der Priesterhass ist hoch gestiegen. Die Geistlichen dürfen sich kaum auf den Straßen zeigen, wenn sie nicht ausgepfiffen werden wollen. Da unsere Nation in unserem Jahrhundert weit aufgeklärter ist als zur Zeit Luthers, wird sie auch weiter gehen und alle Priester, Offenbarungen und Mysterien abschütteln … Man wagt es in guter Gesellschaft nicht mehr, für den Klerus einzutreten; wer es dennoch tut, wird verhöhnt und für einen Vertrauten der Inquisition gehalten … Das Jesuitenkollegium wird leer … Auf den Pariser Maskenbällen erscheinen mehr Bischofs-, Abbé-, Mönchs- und Nonnenkostüme als je.«20

Friedrich Nietzsche (1844–1900) wollte pünktlich zum 100.  Todestag Voltaires am 30. Mai 1878 dem »größten Befreier des Geistes«21 ein Denkmal setzten mit einer noch radikaleren Christentums-Kritik. Es bleibt nur das Rätsel ungelöst, warum die von ihren beiden mausetoten Abgöttern erweckten »freien Denker« jede historisch-kritische Rückfrage nach der Konsistenz ihrer Kritik von Bibel und Kirche als eine Art Gotteslästerung verdammen. Welcher Christ – sei er ein Gelehrter oder der einfache Pilger auf der Straße des Lebens –, der das Evangelium Christi existentiell erfasst hat, könnte in dem von Voltaire und Nietzsche fabrizierten Zerrbild den Glauben erkennen, auf den er sein Leben aufbaut? Das glauben (!) nur die, welche den Hass für das bessere Erkenntnisvermögen halten als die Liebe. Mag die Liebe zeitweise blind machen, so macht der Hass doch das Herz für immer blöd.

Anzuerkennen ist – in einer differenzierten historischen Betrachtung – Voltaires Kampf gegen Aberglauben und religiöses Schwärmertum22, gegen die brutalen Methoden der Justiz seiner Zeit, denen er entgegentrat in seinem Traité sur la Tolerance (1763) im Verlauf der Affäre um den unschuldig verurteilten und entsetzlich zu Tode gequälten Jean Calas (1698–1762). Aber das zeichnet die »Aufklärung« nicht allein aus. Widerspruch zum Hexenwahn und zur menschenverachtenden Folter als Verhör- und Hinrichtungsmethode23 oder zum fanatischen Antijudaismus gab es schon vorher aus christlichen und humanitären Gründen bei den deswegen auch angefeindeten Jesuiten Adam Tanner (1572–1632), Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) oder bei Richard Simon (1638–1712), des ersten Vertreters der historisch-kritischen Bibelauslegung.24 Der Absolutismus Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. im damals politisch und kulturell dominierenden Frankreich und die den Jansenisten freundliche Politik der Parlements (= Gerichte) war den Päpsten und der Kirche selten von Nutzen und meist von schwerstem Schaden (Gallikanismus als Staatsdoktrin 1682; Verbot der Jesuiten in Frankreich 1764; Jansenisten-Streit).25

Die Kirche ist auf kein Staatsmodell und keine Regierungsform festgelegt, die sie sich im Laufe der Jahrhunderte und bei den vielerlei Gesellschaftsformen, in denen sie präsent ist, ohnehin nicht aussuchen kann. Aber, wo sie kann, muss sie sich prinzipiell für einen Staat auf der Grundlage der Menschenrechte einsetzen und unter den konkreten Bedingungen die relativ beste Regierungsform unterstützen.26

Die nicht von der Willkür der Machthaber abhängige Würde und Freiheit aber ist die philosophisch und religionsgeschichtlich unterscheidende Erfahrung der Christen schon seit der Befreiung Israels aus der Sklaverei des Pharao und der Errettung des Gerechten aus aller Bedrängnis, dass in Jesus Christus das Reich Gottes in die Welt gekommen ist. Jesus offenbart sich durch die Wunder des nahe gekommenen Gottesreiches als die erlösende Gnade, die Leib und Seele heilt und die zerstrittene Menschheit mit Gott versöhnt. Darum ereignet sich das Heil schon in diesem Leben und nicht geistig in einem platonischen Ideenhimmel und erst später in einem religiös erträumten Jenseits. Wer die Menschwerdung Gottes ernst nimmt, der kann nicht das Christentum mit einer Jenseitsreligion verwechseln. Auch die in Christus Verstorbenen sind mit uns im neuen Leben verbunden, das am Ende in seiner ganzen Fülle offenbar werden wird. Sie dämmern nicht dahin im Schattenreich des Hades und sind keineswegs darauf angewiesen, im vergesslichen Gedächtnis ihrer Nachfahren dahinzuvegetieren. »Habt ihr nicht gelesen, was Gott über die Auferstehung der Toten mit den Worten gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist nicht der Gott der Toten, sondern von Lebenden.« (Mt 22, 31f.)

Alles drängt sich in die kurze Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod. Ganz realistisch stellt der Psalmist fest: »Des Menschen währt siebzig Jahr, wenn es hochkommt achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin« (Ps 90, 10). Um der Würde des Menschen aber bleibt auf der Tagesordnung des aktuellen Geisteslebens: »Der Glaube an Gott im säkularen Zeitalter.«27

Angesichts der ideologischen Spaltung vieler vormals christlicher Gesellschaften seit der Französischen Revolution in Girondisten und Jakobiner, »Rechte« und »Linke«, »Konservative« und »Liberale« – sei es in gemäßigter oder radikaler Form – ist es die Aufgabe der katholischen Kirche, die Menschen zusammenzuführen auf der Grundlage der Anerkennung der Menschenwürde und des natürlichen Sittengesetzes als Basis aller Humanität. Denn die Kirche Christi ist außer dem Wirken für die Gemeinschaft der Menschen mit Gott auch »Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschen« – sacramentum mundi.28

Die Kirche ist in Christus »das allumfassende Sakrament des Heiles«29. Sie strebt nach dem einen Ziel, nach der Ankunft des Reiches Gottes und der Verwirklichung des Heils der ganzen Menschheit.30 Nicht der Humanismus ohne Gott stiftet Zukunft, sondern nur der neue Humanismus durch »Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit« (Tit 3, 4) bietet den rettenden Impfstoff aus dem pandemischen Chaos der Entfremdung von Gott und der Selbstabschaffung des Menschen. »Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die Erfüllung unserer seligen Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus. ER hat sich für uns dahingegeben, damit er uns von aller Ungerechtigkeit erlöse und für sich ein auserlesenes Volk schaffe, das voll Eifer danach strebt, das Gute zu tun.« (Tit 2, 11–14).

Die Achtung, die der Katholik vor dem Wahrheitsgewissen der Menschen anderer christlichen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen hat, kann er auch für sich erwarten und einfordern. Ohne Selbstzweifel, Minderwertigkeitskomplexe und Angst vor dem Konformitätsdruck einer postchristlichen oder sogar antikatholischen Umgebung vertritt er seinen Glauben auch in den Punkten, die von andern Konfessionen abweichen, gerade auch wenn sie von deren Voraussetzungen nicht ohne weiteres verstanden werden können: Wesen und Siebenzahl der Sakramente31, der Opfercharakter der Messe32 und die eucharistische Realpräsenz33, die hierarchische Verfassung der Kirche34, die Unfehlbarkeit des Papstes und der Ökumenischen Konzilien in Glaubens- und Sittenfragen35, die evangelischen Räte von Armut, Keuschheit und Gehorsam (das monastische Leben in vita activa und contemplativa)36, die Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe37, der Zölibat der Priester38, die Marien- und Heiligenverehrung39, eine von der Person-Würde her bestimmte Sexual-Ethik.40

Die realistische Sicht auf die Offenbarung und den Heilswillen Gottes, der den ganzen Menschen umfasst, impliziert eine realistische Erkenntnistheorie und die Einsicht in die Identität von Wahrheit und Wirklichkeit. Sie schließt a priori jeden Nihilismus in der Metaphysik aus, »die das Seiende als Seiendes untersucht«41 und jeden Relativismus in der Ethik, die das »Gute bestimmt, wonach alles strebt.«42

Christi Reich ist nicht von dieser Welt oder von der Art einer politischen Herrschaft mit polizeilicher und juristischer Zwangsvollstreckung oder imperialer Unterwerfungsgewalt. Die Kirche verfügt nicht über militärische, technisch-wissenschaftliche, finanzielle und ökonomische Macht oder Kontroll- und Überwachungsinstrumente. Und wenn sie ihr angeboten würden, müsste sie dieses Ansinnen um der Freiheit des Glaubens und der Würde der Person zurückweisen. Sie lehnt im Gegenteil ein betreutes Denken in einer digitalen Meinungs-Diktatur ab, die etwa mittels implantierter Chips ein totales Mainstreaming betreibt. Sie tritt nicht wichtigtuerisch auf wie die Philanthropen und Potentaten dieser Welt, die mit milliardenschweren »Stiftungen« ihre Weltbeglückungsideen und Programme den Armen dieser Welt aufdrängen und sie mit dem Luxus und Glimmer ihres Reichtums gefügig machen wollen.

Gottes Wahrheit zwingt nicht, sondern macht frei. »Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von den Vätern ständig verkündet, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll, dass entsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf.«43 Die Christen wenden sich an Gott und beten: »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden.« (Mt 5,  9–11)

Im Dienste des Kommens von Gottes Reich und Herrschaft steht die von Jesus berufene Gemeinde seiner Jünger, die aufgrund der pfingstlichen Sendung des Geistes als die Kirche Gottes in Erscheinung tritt. Die »Dogmatische Konstitution über die Kirche« des Zweiten Vatikanischen Konzils (1964) beginnt mit folgenden Worten: »Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16, 15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.«44

Ihr Bekenntnis (= Credo) zum drei-einen Gott, das in ihre apostolischen und biblisch gut bezeugten Ursprünge zurückreicht, ist zusammengefasst im Römischen Tauf-Symbolum (Apostolikum) und dem Großen Credo gemäß den Ökumenischen Konzilien von Nicäa (325) und Konstantinopel I (381). Darin bekennt der einzelne Katholik mit der ganzen Kirche seinen Glauben an Gott den Vater, und den Sohn und den Heiligen Geist, auf den er getauft ist und wodurch er in Christus Sohn oder Tochter Gottes und Bürger seines Reiches geworden ist (= Kirchengliedschaft).

Der personale Glaube an den drei-einigen Gott umfasst auch die Erkenntnis Seines Heilswirkens in der Geschichte der ganzen Menschheit und besonders des auserwählten Volkes Israel. Mit dem historischen Auftreten Jesu von Nazareth als verheißener Messias (griech.-lat.: Christus) ging die Kirche der Endzeit als seine Gründung hervor, welche die Gläubigen aus dem erwählten Gottesvolk und aus allen nun auch zum Heil berufenen Heidenvölkern umfasst (vgl. Eph 2, 16). Auf die Versöhnung der Menschen mit Gott durch den Erlösungstod Christi am Kreuz, seine Auferstehung von den Toten und die universale Ausgießung des pfingstlichen Geistes Gottes »über alles Fleisch« (Apg 2, 17) folgte als erste Wirkung die Versöhnung der »Juden und Heiden« und ihre Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in der einen Kirche Christi. »Denn durch Christus haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater. Ihr seid also nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus selbst. In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist mit erbaut.« (Eph 2, 18–22) Und noch vor dem finalen Bekenntnis zur Auferstehung der Toten und zum ewigen Leben, erscheint die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche als universale Heilsgemeinschaft und allgemeines Heilsmittel, der Impfstoff gegen die Sinnlosigkeit des Daseins.

Selbst von den Außenstehenden wird sie mit diesem Namen »katholische Kirche« identifiziert und mit diesem Attribut von anderen christlichen Gemeinschaften, nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen unterschieden. Schon Kaiser Konstantin († 337 n. Chr.) hatte nach der Anerkennung der allgemeinen Religionsfreiheit im Römischen Reich – einschließlich der Christen – in einem Brief an Papst Miltiades (311–314 n.  Chr.), »den Bischof der Römer«, von der »anerkannten katholischen Kirche«45 gesprochen.

In modernen demokratischen Staaten, die auf dem Boden der Menschenrechte stehen, wird sie als Körperschaft öffentlichen Rechtes anerkannt. Ihr steht folglich das natürliche Recht zu, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, d. h. unbehindert zu sein von staatlichen und ideologischen Pressionen auf ihre Liturgie, ihre Glaubens- und Sittenlehre und ihr sakramentales Ordnungsgefüge göttlichen Rechtes.

Die Eigenschaften und Prädikate, die ihr im Glaubensbekenntnis zugelegt werden, sind nicht Ansprüche, die die Kirche gegenüber ihren Mitgliedern oder gar Außenstehenden erhebt, sondern innere Wirkungen der »göttlichen Weisheit, die Jesus Christus für uns zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung gemacht hat« (1 Kor 1, 31).

Die Kirche ist das Werk des dreifaltigen Gottes, des Vaters. Als Leib Christi, seines Sohnes, ist sie aufs engste durch Christus mit ihm verbunden, indem er seine Sendung zum Heil der Welt geschichtlich ausführt. Aufgrund der paulinischen Aussage, dass alle Getauften in Christus einer (Gal 3 28) sind, d. h. eine unteilbare Person, findet der hl. Augustinus die glückliche Formel: »Haupt und Leib, der eine und ganze Christus – caput et corpus, unus et totus Christus.«46

Damit läuft auch der protestantisch-reformatorische Vorwurf ins Leere, die Kirche habe sich in der Gestalt von Priestern und Sakramenten als menschlich-geschöpflicher Instanzen »zwischen Gott und den Menschen gedrängt«. Hinter dieser Anklage steht die Befürchtung, das Dogma der Kirche hindere den personalen Glaubensakt zu Gott, oder der sakramentale Ritus mache aus der Gegenwart der Gnade im Wort Gottes eine Art magischer Bemächtigung des Heils und der menschliche Priester dränge sich an die Stelle Jesu Christi des einzigen göttliche Priesters. Damit sei die Unmittelbarkeit der Menschen im Glauben und Gewissen verhindert und »die Laien« abhängig gemacht worden von den Launen und Machtansprüchen »der Priester«. Dagegen stehe das in der Taufe gegebene allgemeine Priestertum, so dass alle im gleichen Sinn ein Lehr- und Verkündigungsamt haben und der »Priester« nur ein Mandatsträger der Gemeinde von Gleichen sei. So behauptete es streitbar Martin Luther in seinen reformatorischen Hauptschriften von 1520 »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung«, »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen«.

Der Leib Christi, der die Kirche ist, in der Gemeinschaft der Gläubigen und ihrer Hirten, kann sich – in katholischer Sicht – gar nicht zwischen Gott und die Menschen drängen, weil Christus als Haupt der einzige Mittler zwischen Gott und uns ist, der aber durch seinen Leib und in ihm wirkt. Die Menschen leben vom Wort aus dem Mund Gottes und von Jesus, der sich ihnen als Brot des Lebens darbietet; aber den Jüngern sagt es im Hinblick auf die hungernden Leute: »Gebt ihr ihnen zu essen.« (Lk 9, 13) Sie drängen sich also so wenig zwischen Gott und die Menschen wie – ein wenig salopp formuliert – im Restaurant der Kellner zwischen den Koch und den Gast.

Die kirchliche Gemeinschaft der Gläubigen ist in der Vielheit ihrer Glieder die Kirche Gottes, in der Christus seine Diener »einsetzte als Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer, um die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum vollkommenen Menschen, zur vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht« (Eph 4, 11–13).

Der vermeintliche Gegensatz zwischen der kirchlich-sakramentalen Vermittlung und der personalen Unmittelbarkeit des Christen zu Gott war der eigentliche Grund, der den hl. John Henry Newman (1801–1890) lange zurückgehalten hatte, von der reformatorisch-anglikanischen Kirche von England zur katholischen Kirche zu konvertieren. Schließlich stellte er fest: »Nur eines weiß ich jetzt, was ich damals nicht wusste, dass die katholische Kirche kein Bild irgendwelcher Art, sei es materiell oder immateriell, kein dogmatisches Symbol, keinen Ritus, kein Sakrament und keinen Heiligen, nicht einmal die allerseligste Jungfrau zwischen die Seele und ihren Schöpfer treten lässt. Der Mensch steht seinem Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber, ›solus cum solo‹. Er allein ist Schöpfer und Erlöser; vor seinen erhabenen Augen gehen wir in den Tod, und sein Anblick ist unsere Seligkeit.«47

Schon der hl. Thomas von Aquin hatte deutlich gemacht, dass der Akt des Glaubens sich unmittelbar auf Gott bezieht, während die dogmatische Lehre der Kirche nur seine begriffliche Gestalt ist, auf die aber ein endlicher Geist auch bei der Vermittlung des natürlichen Erkenntnisse durch die Wissenschaft nicht verzichten kann: »Actus credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem«48, so wie mein Durst vom Wasser gelöscht wird, das ich aber nur mit einem Gefäß aus der Quelle schöpfen und trinken kann. Oder wie Kardinal Newman im Hinblick auf das Dogma von der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria – Maria Immaculata (1854) – sagen konnte: »Die Katholiken glauben nicht an diese Lehre, weil sie definiert wurde, sondern sie wurde definiert, weil sie an dieselbe glauben.«49

So glauben wir heilsnotwendig nicht an das Dogma von der Menschwerdung als Definition an sich. Wir glauben in personaler Hingabe des Verstandes und Willens vielmehr an den dreifaltigen Gott, der in seinem Sohn Mensch geworden worden ist, wie es freilich im Dogma unfehlbar und irrtumsfrei ausgesagt wird. Deshalb sprechen wir beim Empfang der Sakramente und bei jeder hl. Messe an Sonn- und Feiertagen das Glaubensbekenntnis mit der ganzen Gemeinde explizit-satzhaft (= enuntiable) unmittelbar zu Gott hin.50

Da die kirchliche-sakramentale Heilsvermittlung den Menschen in die personale Unmittelbarkeit zu Gott in den Akten der Erkenntnis Gottes und der Einheit mit ihm in Liebe setzt, nimmt sie die leiblich-soziale Natur des Menschen als ihr Medium in Anspruch. Der menschliche Geist beginnt aufgrund seiner leiblichen Verfasstheit immer bei der Sinnenerkenntnis. Er benutzt die Worte der menschlichen Sprache, um mit anderen und auch mit Gott zu kommunizieren. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, kann er allein weder leiblich noch seelisch noch geistig existieren und sich entfalten, wenn er nicht in eine Gemeinschaft aufgenommen wird, in ihr heranwächst, an ihrer Kultur teilhat und sie durch eigene Beiträge fördert. Die personale, sinn-volle Kommunikation mit Gott setzt die sprachlichen, sinnenhaften, sozialen Vollzüge der menschlichen Natur voraus. Und darum hat Gott den von ihm so geschaffenen Menschen nicht an seiner Natur und seiner Vernunft vorbei unmittelbar auf sich bezogen, sondern die Kirche als Gemeinschaft des Heils in Wort und Sakrament begründet. Wenn das WORT Fleisch geworden ist, wohnt es auch sichtbar, hörbar und anfassbar unter uns in der Kirche als Haus und Volk Gottes (Mt 13, 13–17). »Was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom WORT des Lebens … das Verkünden wir euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen ist.« (1 Joh 1–4)

Indem Jesus Grund und Quelle von Sein und Sendung der Kirche ist, ergeben sich ihre Wesenseigenschaften als Wirkungen und Darstellungen des Heilswillens Gottes, der sich den Menschen als Wahrheit und Leben mitteilt. So wie Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, so ist die von ihm berufene Gemeinschaft »die Kirche des lebendigen Gottes, Säule und Fundament der Wahrheit« (1 Tim 3, 15) der Offenbarung »des Sohnes vom Vater in Wahrheit und Liebe« (2 Joh 3).

In der Einheit der Kirche – als der eine Leib Christi in der Vielheit seiner Glieder – stellt sich die Einheit des dreifaltigen Gottes dar (Röm 12, 4; 1 Kor 10, 17; 12, 4; 12), ebenso wie er seine Heiligkeit durch das Evangelium, die Taufe und die Eucharistie in der Kirche aufstrahlen lässt. Die Katholizität (= Universalität) der Kirche ergibt sich aus dem universalen Heilswillen Gottes, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen: »Denn Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld dahin gegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, als dessen Verkünder und Apostel ich (Paulus) eingesetzt wurde … als Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit.« (1 Tim 2, 4–7) Und ihre Apostolizität (apostolisch = missionarisch), empfängt sie von Jesus »dem Apostel und Hohepriester unseres Bekenntnisses« (Hebr 3, 1). Er ist der Gesandte (= Apostel) des Vaters, der seine Sendung und Vollmacht an seine Gesandten, seine von ihm ausgewählten Apostel, weitergibt. Der auferstandene Herr sagt zu den Jüngern und damit auch den Bischöfen als den Nachfolgern der Apostel: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch … und indem er sie anhauchte, sagte er zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist. Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.« (Joh 20,  21)

Ärgernisse und Skandale

Freilich bleibt der Unterschied bestehen zwischen der Kirche, insofern sie Christi Leib ist, und der Kirche in ihren Gliedern, die auf dem irdischen Pilgerweg auch wieder zu Sündern werden und durch Skandale die Glaubwürdigkeit der ganzen Kirche beschädigen. Darum gilt: »Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig. Sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung.«51 Allen Gliedern seines »Leibes, der die Kirche ist« (Kol 1, 18), und besonders den Priestern (= Bischöfen und Presbytern), kommt – als »Vorbildern für die Herde« (1 Petr 5, 3) im Glauben und Leben – höchste Verantwortung für das ewige Heil der Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche zu.

Sie geraten in Widerspruch zu ihrer Sendung und Vollmacht, wenn sie durch eine unchristliche Lebensführung und unsittliches Verhalten dem Nächsten Ärgernis und Anstoß zu geben. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen ist wie die Eintrittsstufe in das Haus Gottes der menschliche Zugang zum göttlichen Glauben. Ein unchristliches Leben der Zeugen kann für viele zum Stein des Anstoßes, zur Stolperfalle, werden. Jedem Diener der Kirche müssen die Worte Jesu in den Ohren klingen: »Wer einem von diesen Kleinen (= den einfachen Menschen), die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde. Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar Ärgernisse geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!« (Mt 18, 6f.)

Der Priester muss der gute Hirte, der wohl vorbereitete Lehrer und kluge Hausvater sein und nicht der Mietling, »dem an den Schafen nichts liegt oder der flieht, wenn er den Wolf kommen sieht« (Joh 10, 12). Aber umgekehrt wird auch den Gläubigen die Mahnung ans Herz gelegt, nicht mit pseudo-emanzipativen Gehabe den Frieden und die Einheit der Gemeinde zu stören. »Gehorcht euren Vorstehern und ordnet euch ihnen unter, denn sie wachen über eure Seelen und müssen Rechenschaft darüber ablegen; sie sollen das mit Freude tun, nicht mit Seufzen, denn das wäre zu eurem Schaden.« (Hebr 13, 17)

Die Kirche als endzeitliche Heils-Gemeinde, die aus Gottes Wort und Geist geboren ist, hat keine Grenzen wie ein Staat oder einen partikulären Zweck wie ein Produktionsbetrieb oder ein internationaler Wirtschaftskonzern. Ihre Bischöfe sind keine ideologisch vorbelasteten weltlichen Potentaten oder Oligarchen, die Lobbyarbeit im Sinne ihrer Weltverbesserungsideologie betreiben (Umerziehungsprogramme mit betreutem Denken; Finanzierung von Abtreibungsprogrammen in armen Länder, um den Zuwachs der Weltbevölkerung zu regulieren; Bekämpfung der Armut durch Dezimierung der Armen).

Sie ist aber auch nicht ohne sichtbares gesellschaftliches Gefüge wie eine Ideen- oder Interessengemeinschaft. Sie verdankt sich nicht wie eine Weltanschauung der theoretischen Spekulation eines genialen Philosophen (Platon, Aristoteles, Plotin, Kant, Hegel, Marx, Heidegger), der mit einem gewaltigen Gedankensystem und seiner Schule die Geistesgeschichte mitprägt oder »verändernd« in die Gesellschaftsentwicklung eingreift. Sie ist auch keine »Religion«, die von einem Propheten oder Mystiker gestiftet wurde, um vom Menschen her das Verhältnis zum transzendenten Gott oder einem a-personalen Seinsgrund in Ordnung zu bringen. Und die Kirche ist schon gar nicht zu verwechseln mit einer nationalen oder internationalen Sammlungsbewegung, die dem Ruf eines Ideologen oder Gurus folgt, dass sich die Proletarier aller Länder, die Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigen aller Zeiten, die idealistischen Utopisten und Existenz-Erheller oder die materialistischen Weltverbesserer und irdischen Paradieses-Bauer endlich zusammenschließen sollen, um mit einem Great Reset den Neuen Menschen zu erschaffen und um Welt-immanent die Geschichte zu vollenden in einem Paradies auf Erden nach ihrer Fasson. Die kirchliche Heilsgemeinde hat schließlich gar nichts zu tun mit den gnostisch-esoterischen Praktiken meditativer Selbsterlösung (New Age) oder der spirituellen Auflösung des Selbst im Nirwana jenseits des Gegensatzes von Sein und Nichts.

In der personalen Begegnung mit Gott in Welt und Geschichte kommt es nicht zur Auf-lösung des Personseins des nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen, sondern zur Er-lösung von den Sünden und damit zur Erkenntnis Gottes als Ziel der gesamten geistigen und sittlichen Existenz des Geschöpfs. In der dramatischsten Stunde seines irdischen Lebens, der Passion, betete Jesus zu Gott seinem Vater und offenbarte uns Mitte und Ziel des christlichen Lebens: »Vater, die Stunde ist gekommen. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht! Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben, dass sie dich den einzigen und wahren Gott erkennen und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.« (Joh 17, 2f.)

Die Kirche bleibt aber die demütige Gemeinde »der Lämmer und Schafe« (Joh 21, 15ff.), die Jesus an seiner Stimme erkennen (Joh 10, 2.14). Er versammelt sie als der gute Hirte Israels wie die Herde Gottes, indem er »das Leben hingibt für die Schafe« (Joh 10, 11). Die erste Seligpreisung Jesu gilt den »Armen im Geiste, denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5, 3). Den »Weisen und Klugen dieser Welt« bleibt die Erkenntnis der Einheit von Vater und Sohn verborgen und die Tatsache, dass Jesus uns den Vater offenbart und er sich als der Sohn des Vaters offenbart (Mt 11, 25–30). Die Kirche tritt nicht triumphierend und mit imperialem Gestus unter die Völker, sondern in der Torheit der Verkündigung des Evangeliums vom Kreuz Christi. »Wir verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen (= Heiden), Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.« (1 Kor 1, 23ff.)