Was ist los in unseren Schulen? - Christian Klar - E-Book

Was ist los in unseren Schulen? E-Book

Christian Klar

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Beschreibung

Immer wieder erzählt der erfahrene Lehrer und Schuldirektor Christian Klar Geschichten aus seinem Berufsalltag, manche nicht ohne Komik, andere abenteuerlich und erschreckend zugleich. In diesem Buch warnt er vor den aktuellen Entwicklungen. Und seine Schulgeschichten illustrieren diese Warnung in lebendigen Farben. In 40 Jahren als Lehrer und Schulleiter hat er einiges erlebt: Wir lernen Ramazan kennen, der unbedingt einen Schulabschluss machen wollte und dann doch bei Nacht und Nebel nach Syrien aufbricht, um für den islamischen Staat zu kämpfen. Oder die intelligente Zoe, die sich mit jungen Tschetschenen anfreundet und für sie Drogen verkauft. Und Aleksandar, der, als er in eine neue Schule versetzt wird, in seine WhatsApp-Gruppe schreibt: "Egal, ich stech Direktor ab." Besonders in Ballungszentren gibt es Schulen mit hohem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, sogenannte Brennpunkt-Schulen. Kann hier Integration noch gelingen oder ist die Schule damit überfordert? Wie verändert sich die Gesellschaft, und wie beeinflusst das die Schule? Welche Rolle spielen Kultur und Religion? Fragen, die laut Klar gestellt werden müssen. Denn aus dem "Wir schaffen das!" ist längst ein "Schaffen wir das?" geworden.

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WAS IST LOS IN UNSEREN SCHULEN?

EIN SCHULREPORT

CHRISTIAN KLAR

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2024 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover): 2024

ISBN: 978-3-904123-96-9

ISBN Print: 978-3-904123-89-1

Umschlaggestaltung: Davor Kujundzic, unter Verwendung eines Fotos von Richard Schuster

Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]

www.seifertverlag.at

facebook.com/seifert.verlag

INHALT

Vorwort

Einleitung

1. Veränderung in den Schulen

Niveauabfall in den Schulen

Heterogene Klassenzusammen­setzung durch überaltrige Kinder

Das Handy, soziale Medien und andere Veränderungen

Zu hoher Anteil an Kindern mit ­Migrationshintergrund

Die Gesellschaft verändert sich

2. Integration

Integration von Kindern mit SPF (Sonderpädagogischem Förderbedarf)

Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten

Integration von Kindern aus anderen Ländern & anderen Kulturkreisen

3. Pflichtschule – mehr als nur Vermittlung von Wissen

4. Auch das ist Schule

Schulverweigerer

Störungen verhindern den Unterricht

In der Schule wird es immer prekärer

5. Gewalt in der Schule

Was so passiert

Waffen

Polizei

Suspendierungen

6. Spezielle Gewalt

Mobbing

Sexualisierte Gewalt

Gewalt und Unterstellungen ­gegenüber Lehrpersonen

7. Islam als Herausforderung in der Schule

Das Kopftuch und seine Bedeutung

Verachtung anderer Religionen

Wie der Islam die Schule verändert

Gleichstellung von Mann und Frau

Beleidigung des Propheten

Islamische Feiertage

Beten in der Schule, das Freitags­gebet und die Rolle der Moschee

8. Islam – Spezielle Probleme

Konvertieren zum Islam

Religionsfreiheit und andere Regeln

Kinderehe, Zwangsehe und FGM

Antisemitismus und Judenhass

Das Darura-Prinzip

9. Schule ist ein Ausblick auf ­unsere Gesellschaft von morgen

Grundhaltungen

Menschenrechte sind immer gleich, stimmt das?

Symbole und ihre Bedeutung

10. Schule ­funktioniert über Beziehung

Begegnungen mit Ehemaligen

Was macht einen guten (Pflichtschul-)Lehrer aus?

11. Ausblick

Wohin steuert unsere Gesellschaft, und welchen Beitrag kann die Schule leisten?

12. Anhang

VORWORT

Seit fast vierzig Jahren bin ich im Schuldienst tätig und davor natürlich selbst Schüler gewesen. Das sind dann nochmals zwölf Jahre zusätzliche Berufserfahrung, schließlich ist es mit der Bildung ähnlich wie im Fußball: Jeder, der schon mal selbst Fußball geschaut hat, kennt sich besser aus als der jeweilige Teamchef der Fußballnationalmannschaft. Genauso ist jeder, der schon mal selbst in die Schule gegangen ist, eigentlich Bildungsexperte. Oder Bildungsexpertin natürlich, ich werde mich bemühen, das Gendern durchzuhalten, kann es aber nicht versprechen. Ich halte es grundsätzlich für wichtig, aber dadurch werden Texte manchmal schwer lesbar. Wenn man sich zum Beispiel Interviews im TV ansieht, fällt übrigens auf, dass es fast niemand schafft, durchgängig zu gendern. Spätestens beim dritten oder vierten zu gendernden Wort wird darauf vergessen, oder es wird zum Beispiel ein schnelles „Lehrer und Lehrer“ draus, das klingt zwar lustig, aber es bleibt dann doch ungegendert.

Immer wenn ich in Gesellschaft ein paar Anekdoten zum Besten gegeben habe, wurde ich gefragt, ob ich über meine Erlebnisse aus dem Schulalltag ein Buch schreiben möchte. 2016 erhielt ich eine Anfrage von einem Journalisten, der für einen Artikel im Standard ein Interview mit mir führen wollte. Ich sagte zu, das Interview erschien in der Wochenendausgabe. Am gleichen Wochenende wurde ich als Gast für eine Publikumswortmeldung zu „Im Zentrum“ eingeladen. Es folgten viele weitere Medienauftritte. Dadurch kamen wiederum vermehrt Fragen, ob ich nicht alles niederschreiben wolle, diesmal vor allem von Journalisten, aber auch von Kollegen und Kolleginnen, die meine Sorgen und Ängste, was die aktuellen Entwicklungen im Schulwesen anbelangt, teilten. Das hat mich bestärkt, und nun ist es so weit, ich habe mich entschieden, das Buch zu schreiben.

Alle Geschichten in diesem Buch sind wahre Geschichten, alle vorkommenden Personen gibt es wirklich. Selbstverständlich werden die Persönlichkeitsrechte aller gewahrt. Die Namen aller Schülerinnen und Schüler wurden geändert, und es gibt keine Schuljahres- oder Klassenangaben, um die Anonymität zu gewährleisten. Lediglich die Angabe der Schulstufe sowie des Geschlechts ist immer korrekt, weil diese im Zusammenhang mit den jeweiligen Geschichten wichtig sind. Auch bei erwachsenen Personen wurde der Name geändert oder auf eine Namensangabe verzichtet. Eine Ausnahme bildet Waris Dirie, die Wüstenblume. Mit ihrem Einverständnis und ein bisschen Stolz, sie kennen und als Freundin bezeichnen zu dürfen, nenne ich ihren Namen, weil er im Zusammenhang mit dem Thema FGM (Female Genital Mutilation / weibliche Genitalverstümmelung) wichtig ist (dazu mehr in Kapitel 7.3).

Selbstverständlich ist Kritik an der Situation sowie Vorschläge für notwendige Maßnahmen immer politisch. Gleichzeitig habe ich versucht, Parteipolitik, bildungspolitische Ideologie und Haltungen so weit wie möglich aus diesem Buch herauszuhalten. Ich erzähle reale Geschichten und versuche damit, ein Bild von der aktuellen Situation in der Schule zu zeichnen. Die beschriebenen Lösungsvorschläge und Forderungen sind meine persönliche Meinung.

Dieses Buch zielt auch darauf ab, vor einigen aktuellen Entwicklungen zu warnen. Besonders in Ballungszentren gibt es Schulen mit hohem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, sogenannte Brennpunktschulen. Kann hier Integration noch gelingen oder ist die Schule damit überfordert? Wie verändert sich die Gesellschaft, und wie beeinflusst das die Schule? Welche Rolle spielen Kultur und Religion? Fragen, die ohne Tabuisierung gestellt werden müssen.

Denn aus dem „Wir schaffen das!“ ist längst ein „Schaffen wir das?“ geworden.

EINLEITUNG

WARUM ICH LEHRER WURDE

Schon als Jugendlicher dachte ich darüber nach, ob ich denn ein besserer Lehrer wäre als so manche, die ich erleben durfte. In der Schule hatten wir viele autoritäre Lehrerinnen und Lehrer. Das gefiel mir natürlich gar nicht, da ich als Lausbub, der ich auch sein konnte, manchmal ihre Strenge zu spüren bekam. Wir hatten aber auch einige Lehrpersonen, die unglaublich nett, aber ohne jede Autorität waren. Die hatten kein Durchsetzungsvermögen und wurden von uns Schülern nicht ernst genommen. Dann gab es da noch einige wenige, die mich tief beeindruckten. Diese besaßen eine natürliche innere Autorität, etwas, was man vermutlich nur begrenzt lernen kann.

Nach der Matura begann ich dann doch, Psychologie zu studieren, da ich Zweifel hatte, ob ich über diese natürliche Autorität verfügte. Ich war gerade 22 Jahre alt, als mein Sohn zur Welt kam, und so musste ich mir über meine berufliche Zukunft Gedanken machen und kam einerseits zum Schluss, dass mit dem Lehrerberuf Familie und Kinder sehr gut vereinbar wären und ich inzwischen überzeugt war, dass ich diese natürliche Autorität doch besitze. So begann ich im folgenden Herbst an der pädagogischen Akademie Hauptschullehramt für Mathematik und Sport zu studieren. Drei Jahre später schloss ich mein Lehramtsstudium ab und unterrichtete ab Herbst 1988 an einer öffentlichen Hauptschule in Floridsdorf.

Meine weiteren Stationen: zwölf Jahre jüdische Privatschule, neun Jahre Polytechnische Schule, zwei Jahre an der pädagogischen Hochschule. Nach 23 Jahren kehrte ich als Schulleiter nach Floridsdorf zurück. Nun liegen bereits 12 Jahre Leitung einer Wiener Mittelschule mit besonderen Herausforderungen hinter mir, und ein paar werden wohl noch dazukommen. Inzwischen ist mein Sohn bereits erwachsen und wie sein Vater Mittelschullehrer für Sport und Mathematik und kommt sogar in diesem Buch vor.

PÄDAGOGIK ODER VERWALTUNG

Als Schulleiter muss man sich entscheiden, ist man nahe bei den Kindern, den Eltern, den Lehrpersonen oder hat man eine perfekt verwaltete Schule. Allem gerecht zu werden, ist nahezu unmöglich. Meine Entscheidung war keine bewusste. Von meinem ersten Tag an als Schulleiter hatte ich fast täglich so viele größere und kleinere Probleme zu lösen oder mir zumindest anzuhören, dass der Arbeitstag oft vorüber war, bevor ich mit Verwaltungsarbeiten beginnen konnte. Eines Tages führte ich meine direkte Vorgesetzte (damals noch Bezirksschulinspektorin) auf einen Rundgang durch meine Schule. Natürlich hatten wir uns vorbereitet und konnten ein schönes Schulleben mit tollen Projekten präsentieren. Gleichzeitig war aber auch der Alltag zu bewältigen. Ich beendete im Vorbeigehen eine kleine Rauferei, fragte ein Kind, warum die Mutter nicht zum vereinbarten Termin erschienen war, und vieles mehr. Auch die Kinder unterbrachen den Rundgang mit dem hohen Besuch und fragten allerlei Dinge. Bis sich meine Vorgesetzte verblüfft zu Wort meldete: „Sag mal, kennst du alle Kinder in der Schule beim Namen, weißt, wer sie sind und in welche Klasse sie gehen?!“ Die einfache Antwort war: „Ja, manchmal verwechsle ich schon einzelne, aber im Großen und Ganzen, ja.“ Diese Anekdote soll beschreiben, was mir als Schuldirektor wichtig ist, nämlich einen Ort zu schaffen, an dem sowohl die Kinder als auch Lehrerinnen und Lehrer ein gutes Lernklima vorfinden und die Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder in der Schule gut aufgehoben sind. Nach den vielen Jahren sind mir vielleicht nicht mehr alle Namen so geläufig, was aber nicht daran liegt, dass das Interesse an den Kindern abgenommen hätte.

IN DER SCHULE ERKENNT MAN, WIE SICH DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERT

„Die Schülerinnen und Schüler sind die Erwachsenen von morgen“ ist ein gerne verwendeter Satz. Natürlich muss man die Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen und damit einhergehende Veränderungen in Einstellung, Haltung und Lebensweise mitbetrachten. Trotzdem: Aus den Trends und Veränderungen in den Grundhaltungen, die wir in den Schulen beobachten, können wir auch Auswirkungen auf die Gesellschaft der Zukunft ableiten. Der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff hat vor Kurzem den Satz geprägt: „Die Kinder von heute werden nicht arbeitsfähig sein, wenn wir nicht sofort gegensteuern.“ Auch wenn dies überspitzt klingen mag, ich mache mir aufgrund meiner Beobachtungen Sorgen. Sind es auf der einen Seite die Work-Life-Balance und der Weg des geringsten Widerstandes, so steht dem manchmal der Selbstbedienungsladen des Sozialstaates gegenüber. Während in Schulen wie der meinen oft das Bildungsinteresse fehlt und manche nach dem Abschluss nur rudimentäre Rechen-, Schreib- und Lesekenntnisse erworben haben, scheitern andere am Leistungsdruck ihrer Eltern. Aber auch Rücksichtslosigkeit, Egoismus und Gewaltbereitschaft nehmen zu. Waren es vor Jahren harmlose Raufereien, so wird heute mit unglaublicher Brutalität gekämpft. In der Schule ist man mittendrin in der Gesellschaft, und man muss erkennen: Nationalismus, Rassismus und religiöser Fanatismus werden immer stärker. Die Möglichkeiten der Schule, bei all diesen Entwicklungen gegenzusteuern, verringern sich dabei immer mehr. Wir brauchen klare Regeln und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber jenen, die sich nicht an diese Regeln halten wollen. „Systemsprenger“, die allen anderen das Leben in der Schule und auch später in der Gesellschaft schwermachen, passen nicht in das System. Integration heißt Anpassung, woran, muss die Schule vorgeben.

Der Staat hat die Aufgabe, einen Rahmen und für jeden und jede alle Möglichkeiten für ein erfolgreiches Leben zu bieten. Diese Möglichkeiten zu nutzen, ist die Verantwortung jedes Einzelnen!

WARUM DIESES BUCH

Ich habe mich für das, was ich tue, immer mit viel Kraft eingesetzt, für meine Haltung und Einstellung bin ich lautstark eingetreten. Immer wieder habe ich dafür viel Zustimmung, aber auch viel Widerstand erlebt.

Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft, aber auch ein Ort, an dem man noch steuern kann, wenn man den Mut hat, für seine Haltung einzutreten, statt verzweifelt aufzugeben. Das Buch soll Mut machen aufzustehen, es soll aber auch eine Warnung sein, wohin wir uns gerade entwickeln.

Christian Klar

KAPITEL1

VERÄNDERUNG IN DEN SCHULEN

Schule verändert sich, und es gab noch keine Zeit, in der nicht Lehrpersonen und andere den guten alten Zeiten nachtrauerten. Aber ist es diesmal auch reine Nostalgie, oder sollten uns die Veränderungen nicht doch Sorgen machen?

Wenn man die Ursachen genauer betrachtet, sollte man diese Sorgen nicht einfach wegwischen.

NIVEAUABFALL IN DEN SCHULEN

Darf ich zu Hause gehen?

Immer wieder kommt es vor, dass Kinder sich krank fühlen und nach Hause geschickt werden möchten. Um zu verhindern, dass dies bei einem Kind zu oft geschieht, wird die Entscheidung letztlich vom Klassenvorstand oder mir in Absprache mit den Eltern getroffen. Daher kommen relativ häufig Kinder zu mir und bitten, heimgeschickt zu werden. Handelt es sich nicht um bekannte Dauerschwänzerinnen oder Dauerschwänzer, ist das grundsätzlich ein Routinevorgang. Meistens bitte ich das Kind, das Handy aus dem Spind zu holen, es anzuschalten, auf Lautsprecher zu gehen und die Eltern anzurufen. Meistens folgt dann auf die Frage „Darf ich zu Hause gehen?“ meine Rückfrage „Darfst du schon, aber wie kommst du hin?“ Lange Zeit war die Reaktion häufig ein verwirrter Blick, inzwischen folgt die Antwort in korrektem Deutsch meistens schnell: „Mir ist schlecht, darf ich nach Hause gehen?“

Immer wieder korrigiere ich das Deutsch meiner Schülerinnen und Schüler. Eines Tages sitze ich wieder im Speisesaal, zwei Burschen kommen zu spät zum Essen. Die zuständige Lehrerin fragt streng, warum sie zu spät kommen. „Ich war Müll“, erklärt sofort einer der Burschen. „Du warst also Müll, aber was bist du jetzt? Und wo warst du?“, lautet meine Antwort. Der Bursche schaut verdutzt, sein Freund reagiert schneller. Bevor ich etwas sagen kann, antwortet er in korrektem Deutsch: „Ich war den Müll hinaustragen, deshalb bin ich zu spät gekommen, aber jetzt bin ich da.“

Es gibt viele weitere Beispiele: „Ich geh Billa“ oder „Mein Vater ist AMS, ich werde auch AMS“ auf die Frage nach dem Berufswunsch sind bittere Realität. Auch unter österreichischen Kindern kann die Frage nach den Plänen am Nachmittag zur Antwort führen: „Zuerst ich mache Hausübung und dann ich gehe Park.“

Fehlende Schulreife und fehlende Deutschkenntnisse bei der Einschulung

Hat ein Kind vor dem 1.  September eines Jahres den sechsten Geburtstag, so ist es ab diesem Herbst schulpflichtig. Zu diesem Zeitpunkt sollte es bereits zumindest ein, besser zwei Jahre Kindergarten hinter sich haben.

Bei der Einschulung wird die Schulreife festgestellt. Kinder, die altersmäßig schulpflichtig, aber noch nicht schulreif sind, sollten einen Platz in einer Vorschulklasse bekommen. Jene Kinder, die schulreif sind, aber nicht ausreichend Deutsch können, bekommen einen Platz in einer Deutschförderklasse. Beides bedeutet letztlich bereits den ersten Schuljahresverlust. Leider gibt es immer mehr Kinder, welche die Schulreifekriterien nicht oder schlecht erfüllen. Da es aber viel zu wenige Plätze für Vorschulkinder gibt, werden diese Kriterien immer weniger beachtet. Ich habe mich darüber mit einer Volksschullehrerin unterhalten, die hauptsächlich in einer Vorschulklasse sowie einer Deutschförderklasse für Schulanfängerinnen und Schulanfänger unterrichtet. Ihre Beschreibung ist ernüchternd: Viele in Österreich geborene Kinder können nicht ausreichend Deutsch, um sich verständigen zu können. Zusätzlich erbringen sie die für die Schulreife erforderlichen Kriterien nicht: Diese Kinder können keinen Stift halten, und sie können keine Flächen ausmalen. War es früher üblich, dass viele Kinder bei der Einschulung ihren Namen schreiben konnten, so können sie nun häufig keinen einzigen Buchstaben schreiben oder lesen. Auch einfache Rechnungen zu lösen, wie zum Beispiel zwei plus zwei oder Ähnliches, war früher durchaus üblich. Heute können die Kinder oft nicht bis zehn zählen. Sogar Basisfertigkeiten, wie sich alleine anziehen oder ausziehen, die Schuhe mit einer Masche zubinden oder dergleichen, darf man nicht mehr erwarten.

Bedenkt man, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf hinweisen, dass die vorschulische Entwicklung entscheidend für das weitere Leben ist, wurde hier bereits Grundlegendes versäumt. Bevor man über die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen nachdenkt, sollte man sich damit befassen, wie man bei der Einschulung mit diesen fast nicht mehr aufholbaren Defiziten von bis zu drei Entwicklungsjahren umgehen soll und welche Folgen daraus für die weitere Schulkarriere resultieren. Abgesehen davon ist die Mittelschule inzwischen eine Schule der 10- bis 17-Jährigen.

Ein Faktor, der die Schwierigkeiten im Bereich der Einschulung verstärkt, ist die unterschiedliche Kompetenz an dieser Schnittstelle. Während die Volksschulen in die Kompetenz der Bildung und damit des Bildungsministeriums gehören, sind Kindergärten nicht Teil der Bildungseinrichtungen und fallen damit in die Länderkompetenz. Es gibt daher keinen Datenaustausch zwischen Kindergarten und Volksschule. Wird also bei einem Kind im Kindergarten ein sonderpädagogischer Förderbedarf oder eine Entwicklungsverzögerung festgestellt, so darf diese Information nicht weitergegeben werden. Es bedarf eines neuen Feststellungsverfahrens nach der Einschulung. Zusätzlich ist die Anzahl zu vergebender SPFs (Sonderpädagogischer Förderbedarf) in den Bundesländern gedeckelt. Unabhängig vom Bedarf der Kinder darf nur ein sehr geringer Prozentsatz eines Jahrgangs einen SPF zuerkannt bekommen. Eigentlich würden aber wesentlich mehr Kinder diese Förderung benötigen. So ist bereits in der Volksschule, noch mehr aber in der Mittelschule klar, dass es nur durch Anpassung der Anforderungen an diese Schülerinnen und Schüler gelingen kann, ihnen eine erfolgreiche Schulkarriere zu ermöglichen und den Schulen zu viele Repetenten zu ersparen. Trotzdem nimmt die Zahl der Kinder, die mit ein, oft sogar zwei Jahresverlusten in die Mittelstufe kommen, zu. Sie benötigen bereits für die Volksschule bis zu sechs statt der vorgesehenen vier Jahre. Dass diese Entwicklung für jene Kinder, die gute Voraussetzungen mitbringen, nicht förderlich ist, muss hier nicht extra erwähnt werden.

HETEROGENE KLASSENZUSAMMEN­SETZUNG DURCH ÜBERALTRIGE KINDER

Viele Kinder sind in Österreich geboren, sprechen beim Schuleintritt jedoch nicht ausreichend Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können.

Immer wieder werden die unzureichenden Sprachkenntnisse in Österreich geborener Schulanfänger in den Medien thematisiert. Oft wird dies als Aufhänger genutzt, um eine ideologische Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Deutschförderklassen in der Volksschule zu führen. Das eigentliche Problem ist die Auswirkung: Unabhängig davon, ob die Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse in einer Regelklasse oder ob sie in einer Deutschförderklasse sitzen, egal, ob sie mit sechs, acht, zwölf oder zwanzig speziellen Förderstunden unterstützt werden, mit ungenügenden Deutschkenntnissen können sie nicht in die zweite Klasse aufsteigen. Mit diesem Jahresverlust benötigen sie schon zumindest fünf statt der vorgesehenen vier Jahre für die Volksschule. Kommt dann noch ein weiterer Jahresverlust hinzu, sind diese Kinder beim Einstieg in die Sekundarstufe bereits zwei Jahre älter als vorgesehen. So starten in den Mittelschulen nicht selten Klassen, in denen weniger als die Hälfte der Kinder im regulären fünften Jahr der Schulpflicht ist. Etwa zwei Drittel der anderen Hälfte befindet sich bereits im sechsten und ein Drittel sogar im siebten Jahr der Schulpflicht.

Im Schuljahr 23/24 waren an meinem Standort, einer Mittelschule in Wien, in den vier ersten Klassen (also in der fünften Schulstufe) 16 Kinder bereits im 7. persönlichen Schuljahr, weitere 44 Kinder waren im 6. persönlichen Schuljahr. Lediglich 43 der insgesamt 105 Kinder waren regulär im fünften persönlichen Schuljahr. Für die Mathematiker: Stimmt, es fehlen noch zwei Kinder, die waren im 8. persönlichen Schuljahr, hätten also vom Alter her in den Abschlussklassen sitzen müssen.

Auch in den weiteren Klassen sind viele überaltrige Kinder, manche ohne Interesse an Schule und daher letztendlich ohne Pflichtschulabschluss.

Farhad ist 13 Jahre und geht in die erste Klasse

Farhad ist schon in der Volksschule verhaltensauffällig und schulisch sehr schwach. Er ist in Österreich geboren, seine Mutter kann kaum Deutsch, seinen Vater kennt er nicht. Farhad benötigt sechs Jahre, um die Volksschule abzuschließen. Als er dann in die Mittelschule kommt, wird er der Mutter bereits vom Jugendamt abgenommen. Nun wohnt er in einer Wohngemeinschaft.

Farhad ist in der Mittelschule von allem überfordert, er kann dem Unterricht nicht folgen, seine Hefte und Bücher hat er wenige Wochen nach Schulbeginn bereits verloren. Da er größer und kräftiger ist als die anderen Kinder in der Klasse, regiert er die Klasse mit Gewalt. Er hat keine Schuljause mit, also muss sie ihm jemand anderer abgeben, wenn er sich etwas kaufen möchte, fordert er Geld. Die Mädchen der Klasse versuchen, Abstand zu halten, seine obszönen Gesten und seine Berührungen stoßen sie ab, verhindern können sie sie nicht.

Zweimal im Laufe des Schuljahres wird Farhad suspendiert, als er zurückkommt, benimmt er sich unverändert. Es liegt nicht daran, dass Farhad sich nicht bemühen und einfügen möchte, er kann es nicht. Farhad schafft die erste Klasse ein weiteres Mal nicht. Im kommenden Schuljahr wäre er in der vierten Klasse, wird aber noch einmal die erste wiederholen müssen, in seinem achten persönlichen Schuljahr und schulpflichtig.

Im Park ist Lucian der Chef

Lucian ist in Österreich geboren, seine Eltern kommen aus Rumänien. In seiner Volksschulzeit kümmert sich niemand um ihn. Seine Eltern sind zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, es gibt auch Gewalt in der Beziehung der Eltern.

Als Lucian in die Mittelschule kommt, hat er bereits zwei zusätzliche Schuljahre absolviert, er ist also dreizehn. Er kann sich keinem Ordnungsrahmen unterordnen, das hat er nie gelernt. Er geht ohne Erlaubnis in der Klasse spazieren, auch hat er nicht gelernt, fremdes Eigentum zu respektieren. Was er haben möchte, nimmt er sich einfach. Wer sich dagegen wehrt, muss erkennen, dass Lucian größer und stärker ist. Es gibt fast täglich Vorfälle mit ihm, meistens sind es Kleinigkeiten, aber die Summe der Vorfälle belastet die Klasse sehr.

Es gibt viele Gespräche mit der Mutter. Da sie kein Deutsch spricht, bringt sie immer ihre Nachbarin zum Übersetzen mit. Verständnis für die schwierige Situation ihres Sohnes, aber auch der anderen Kinder, die durch Lucian in Mitleidenschaft gezogen werden, bringt sie nicht auf.

Das Jugendamt wird eingeschaltet und übernimmt die Familie in seine Betreuung. Erst dadurch wird die Gewalt des Vaters bekannt, es gibt eine Wegweisung. Für die Mutter ist das nur teilweise eine Erleichterung. Nun muss sie keine Angst mehr haben, aber sie muss lernen, selbstständig zu leben. Für Lucian und seine Probleme hat sie keine Kraft.

Lucian ist mit der Schule völlig überfordert, auf der Straße und im Park kennt er sich aber aus, da ist er der Chef. In die Schule kommt er nur, weil im Park am Vormittag noch nichts los ist.

Lucian schafft daher die erste Klasse nicht, er wird sie wiederholen müssen, im kommenden Schuljahr wird er wieder ein Jahr älter sein, aber seine Aussichten auf einen positiven Abschluss der ersten Klasse werden nicht besser sein.

Ceylon kommt aus der AHS zurück, jetzt ist er zwei Jahre zu alt und frustriert

Ceylons Vater ist ehrgeizig, nach der Volksschule will er seinen Sohn unbedingt ins Gymnasium schicken. Ohne ausgestellte AHS-Reife aus der Volksschule muss Ceylon einen Aufnahmetest machen. Den Test schafft er und erhält auch einen Platz in einer AHS. Dort stellt sich schnell heraus, dass es schwer für Ceylon werden würde, die Klasse zu schaffen. Nachhilfe und die Strenge des Vaters helfen dabei auch nicht. Ceylon beendet die erste Klasse mit mehreren „Nicht genügend“.

Für die Wiederholung der ersten Klasse wird Ceylon uns zugewiesen, doch nun kommt der Frust der Misserfolge vom letzten Schuljahr richtig zum Vorschein. Ceylon fühlt sich älter, überlegener und stärker als die anderen Kinder in der Klasse. Als darauf auch in der Mittelschule schlechte Noten folgen, gibt der Vater der Schule die Schuld. Er ist oft bei uns in der Schule und erklärt mir, was welche Lehrperson falsch gemacht hätte, welche Qualitäten sein Sohn hätte und wie ungerecht unsere Schule wäre. Das ist ganz in Ceylons Sinn, nun wird er auch im Verhalten auffälliger, es wird schwieriger, ihn unter Kontrolle zu halten.

Am Ende des Schuljahres wird es immer deutlicher, dass es in dieser Konstellation nicht weitergehen kann. Der Vater bittet um einen Schulwechsel, was ich befürworte. Ceylon passt vom Alter her nicht noch einmal in eine erste Klasse, und irgendwie schaffen wir es, ihn zu ausreichenden Schulleistungen zu motivieren, um die positiven Noten rechtfertigen zu können. Ceylon wird in einer anderen Schule in die zweite Klasse gehen.

Zum dritten Mal in der ersten Klasse

Bekhan kommt, ohne ein Schuljahr zu verlieren, an unsere Schule. Er ist von Anfang an in seinem Verhalten problematisch. Seine alleinerziehende Mutter ist von Beginn an nicht unterstützend. Jedes Elterngespräch aufgrund eines Vorfalls mit Bekhan endet in Diskussionen, wie unschuldig ihr Kind sei und wie gemein alle anderen zu ihrem Sohn wären. Bekhan zeigt auch keinerlei Interesse am Unterricht, wenn er nicht stört, ist er geistig abwesend. Letztlich muss Bekhan die erste Klasse wiederholen.

Schnell fühlt er sich beim Wiederholen der Klasse den Neueinsteigern überlegen, er zeigt noch weniger Interesse am Unterricht. Befreundet mit anderen, ebenfalls nicht am Lernen interessierten Kindern, stört er den Unterricht und provoziert die Lehrpersonen.

Bekhans Mutter erkennt weiterhin nicht, dass ihr Sohn einen wesentlichen Anteil an der Situation hat. So verbessern sich seine Noten nicht, wovon er völlig unbeeindruckt ist. Zu seinen Prüfungen am Ende des Schuljahres tritt er nicht an. Bekhan wird die erste Klasse noch ein drittes Mal machen.

Valton ist mit der Schulpflicht ­fertig, die dritte Klasse schafft er nicht

Valton geht in die erste Klasse, als wir seine Eltern vorladen, weil seine Schulleistungen nicht entsprechen. Ich kenne die Eltern gut, bereits beide älteren Schwestern waren bei uns in der Schule, beide waren schwache Schülerinnen, letztlich haben sie die Schule aber abgeschlossen.

Vater und Mutter nehmen Platz, ich zeige ihnen Valtons Hefte, die ich vorbereitet habe, um zu belegen, wie katastrophal seine Arbeiten aussehen.

„Was sagen Sie dazu?“, frage ich die Mutter.

„Gar nichts“, ist die überraschende Antwort. Gerade möchte ich darauf reagieren, da setzt sie fort: „Gar nichts, weil ich kann nicht lesen und nicht schreiben.“

Ich versuche, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, wechsle das Thema und erzähle über Valtons Verhalten und seine fehlenden Leistungen in der Schule. Seine Eltern wollen unbedingt, dass er wie seine Schwestern die Schule schafft, er soll es einmal besser haben als sie selbst.

Wir bemühen uns sehr, ihn bis in die dritte Klasse mitzunehmen, aber dann tauchen viele negative Einflüsse in der Freizeit auf. Er interessiert sich schließlich gar nicht mehr für die Schule, und es wird auch immer schwieriger, ihn disziplinär zu führen. Er belästigt Mädchen und regelt seine Konflikte mit Mitschülern mit Gewalt. Valton wiederholt die dritte Klasse, schafft aber auch beim zweiten Mal keinen positiven Abschluss. Danach ist seine Schulpflicht beendet.

Valton beginnt mit einem negativen Zeugnis der dritten Klasse eine Lehrstelle. Manchmal treffe ich ihn dort, er ist zufrieden und bewährt sich in seiner Arbeit weit besser als in der Schule. Als ich ihn mit Freunden auf der Straße treffe und auf die Arbeit anspreche, wechselt er sofort verlegen das Thema. Gegenüber seinen Freunden scheint er sich für seine ordentliche Arbeit zu schämen.

Mehrstufenklassen in der Mittelschule als mögliche Lösung

Aktuell gibt es die sogenannten „Perspektivklassen“ für Kinder mit wenig Aussichten. Allerdings ist eine der Voraussetzungen, um in eine dieser Klassen aufgenommen zu werden, die Beendigung der Schulpflicht. Man muss also bereits sein 9. persönliches Schuljahr absolviert haben und ein freiwilliges 10. Schuljahr beantragen, um einen Platz in einer dieser Perspektivklassen zu bekommen.

Das trägt nicht zur Entspannung in der Mittelschule bei. Problematisch sind hier Kinder im 7., 8. oder 9. persönlichen Schuljahr, die überaltrig, aber noch schulpflichtig sind und ohne Chance auf einen Pflichtschulabschluss in der Regelschule eine 1., 2. oder 3. Klasse besuchen. Viele dieser überaltrigen Jugendlichen belasten durch ihr problematisches Verhalten und ihre Störungen das Schulsystem enorm. Für diese Kinder braucht es eine Lösung außerhalb der Regelklassen.