Was letztlich bleibt - Marcus Czamay - E-Book

Was letztlich bleibt E-Book

Marcus Czamay

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Beschreibung

"Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen" Deutschland 1923: Abel, ein völlig unbekannter, bettelarmer Maler, findet Unterschlupf auf einem Bauernhof nahe Berlin. Der Not geschuldet stellt er der jungen lebenslustigen Hofbesitzerin Elfriede Dietz (Elli) sein künstlerisches Talent und seine Arbeitskraft zur Verfügung. Von Egozentrik und dem Wunsch nach Anerkennung beseelt setzt diese ihre Unterschrift unter dessen Gemälde und gelangt so zu bescheidener lokaler Berühmtheit. Schweiz 1961: Hannah, eine dynamische, an der Enge ihrer Zeit leidende junge Frau, veröffentlicht mit ihrem Ehemann eine fiktionale Biografie über die vermeintliche Künstlerin Elfriede Dietz. Deren Name etabliert sich allmählich am nationalen Schweizer Kunstmarkt. U.S.A 1976: Hannah lässt ihre Familie in der Schweiz zurück und folgt ihrem neuen Lebenspartner Simon nach New York. Dort etabliert sich der Name "Elfriede Dietz" endgültig am Kunstmarkt. Der Mythos wird zur Realität. Ein mitreißender Roman über wahre Kunst und den Kunstmarkt, Ruhm und Nachruhm sowie Wertvorstellungen im Wandel der Zeit - so skurril wie das Leben selbst

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Seitenzahl: 517

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Dieser Roman ist allen schöpferischen Menschen gewidmet, die niemals gesehen werden, deren Werk aber weiterbesteht, wenn die anderen längst nicht mehr sind.

Als tragische Satire wendet er sich gegen jede Form von Ideologie und Dogmatismus, sei sie politischer oder wirtschaftlicher Natur.

Namen, Personen und Handlung sind vom Autor frei erfunden. Ausgenommen davon sind die in den „Anmerkungen/Quellennachweisen“ genannten Personen, Orte und Ereignisse.

Zum Autor: Marcus Czamay, geboren 1970 in Wien, studierte Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und diplomierte 1995 mit seiner Abschlussarbeit „Die Etablierung des Mediums Fernsehen als vierte Gewalt“. Er ist seit dem Jahre 1996 in mehreren amerikanischen und deutschen Unternehmen in internationalen Vertriebs- und Marketingpositionen tätig gewesen.

Marcus Czamay ist verheiratet und hat einen zwanzigjährigen Sohn.

„Was letztlich bleibt“ ist sein erster Roman und spiegelt sein lebenslanges Interesse für Geschichte, Kunst, Philosophie und Mediensoziologie wider.

WIDMUNG & DANKSAGUNG

Für Ulli, Anna & meine Eltern

Folgenden Personen möchte ich herzlich für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Niederschrift des Romans „Was letztlich bleibt“ danken:

Robert Körmer, Elena Nöst, Naida Devletoukaeva, Valentina Komissarova sowie Victor Jensen

Besonderer Dank gilt Lara Melcher für die graphische Umsetzung des Buchcovers (basierend auf einem Foto der US-Schauspielerin Clara Bow (1905-1965))

Inhaltsverzeichnis

BERLIN – Wie es sich wirklich zutrug

Zusammenbruch und Neubeginn

Wo die Liebe hinfällt

Erste Werke

Alte Feindschaft rostet nicht

Erste Berühmtheit

Man lebt nur einmal

Dunkle Wolken am Horizont

Alle Kunst ist politisch

Gute, schlechte, tödliche Kunst

LUZERN – Was daraus folgte

Neuanfang in Luzern

Willkommen im „Zu Ferdinand“

Geister der Vergangenheit

Alte Werke, Neue Preise

Neue Zeiten & Stiller Protest

Amerika ist anders

Zwei Welten treffen aufeinander

Von der Kunst sich selbst zu erkennen

NEW YORK – Was letztlich blieb

Verbrannte Erde und erste Erfolge

Ungetrübte Lebenslust

Weiter, weiter, immer weiter

Ein neues Zeitalter bricht an

Man erkennt die Absicht und ist verstimmt

Zurück in die Zukunft

ANMERKUNGEN / QUELLENNACHWEISE

Berlin

„Es lassen Schein und Sein sich niemals einen,

Nur Sein allein besteht durch sich allein

Wer etwas ist, bemüht sich nicht zu scheinen

Wer scheinen will, wird niemals etwas sein.“

Friedrich Rückert (1788 – 1866)

„Wie haben die Kunst, damit wir nicht an der

Wahrheit zugrunde gehen.“

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)

BERLIN – Wie es sich wirklich zutrug

Zusammenbruch und Neubeginn

„Raus aus deinem Loch, Abel – die Schweine füttern sich nicht von selbst!“

Diplomatisches Feingefühl und eine geschliffene Sprache gehörten in den Wintermonaten des Jahres 1923 nicht wirklich zu den Kardinaltugenden eines deutschen Bauern. Heinrich Dietz, seines Zeichens Großgrundbesitzer in Berlin-Lichtenrade, verfügte über diese jedenfalls bedingt.

Fünf Jahre war der große Krieg nun schon vorbei, und mehr recht als schlecht war es der Bevölkerung seither ergangen. Beim Versuch, halb Europa unter ihr Joch zu zwingen, waren Deutschland und Österreich 1918 jämmerlich gescheitert, und der Bevölkerung blieb nun nichts anderes übrig, als sich mit dem Zusammenbruch alter Selbstverständlichkeiten abzufinden. Den Krieg hatte man verloren, der Kaiser war im Exil und die Bevölkerung litt Hunger. Im Vergleich zu den meisten anderen war es Heinrich Dietz aber gut ergangen. Zu essen gab es auf seinem Hof genug, die Dorfbewohner schätzten und fürchteten ihn, und seit nunmehr drei Wochen unterstützte ihn zudem ein recht einsilbiger Mann bei der Hofarbeit.

„Komm endlich raus, Abel – wie oft denn noch, fauler Sack!“, herrschte er ihn auch an diesem Februarmorgen an, und dieser antwortete wie gewohnt müde und schlaftrunken: „Ein Kaiserreich für eine Stunde Schlaf – aber mit dem Reich ist es ja bekanntlich auch vorbei.“

Dietz schüttelte den Kopf.

„Immer dasselbe mit Dir! Bist ein guter Kerl, aber selbst, wenn Du Dir ab und an die Finger schmutzig machst: Ein echter Bauer wirst Du nie werden! Was treibt Euch Künstler eigentlich an: Schönheit, Ruhm, Ehre?

Oder ist es tatsächlich nur eure „Reinheit“? „Na, bei der hast Du´s ja tatsächlich weit gebracht“, murmelte er. „Also komm jetzt endlich raus. Knapp vor fünf ist es schon. Viel zu tun heute!“

Selbst als Dietz längst außerhalb Abels Hörweite war, schimpfte er lautstark weiter.

„Für wahr, in zehn Minuten fütterst Du die verdammten Schweine, machst den Stall sauber, und am Nachmittag hast Du dann frei für Deinen Unsinn! Mal mit der Elli aber diesmal was Vernünftiges! Ich lass mich da nicht hinters Licht führen! Ein Wald ist nun mal ein Wald, ein Teich ein Teich, und wenn Du glaubst, dass Du beim alten Dietz mit krausen Linien und Pünktchen durchkommst, liegst Du falsch! Du kannst Gott danken, dass meine Elli an Dir einen Narren gefressen hat!

Bei mir würde das nicht durchgehen! Vorher sind aber ohnehin die Pferde und Schweine dran. Und erst wenn der Stall sauber ist – hörst Du - erst wenn er wirklich sauber ist, kannst Du ihr dann bei dieser „Kunst“

helfen! Lichtenrade liegt schließlich nicht am Potsdamer Platz – so sehr sich die Elli das auch wünscht!“

Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Holztür der Gartenhütte, und ein in spärlicher Dienstkleidung gehüllter, blasser Mann mit schütterem blondem Haar trat heraus. Abel schloss die Tür hinter sich und trottete müde zur Hauptscheune des Hofs, wo er für gewöhnlich die Arbeitsanweisungen für den Tag in Empfang nahm. In diesen ersten Arbeitsstunden war Heinrich Dietz für gewöhnlich am gesprächigsten und ließ Abel regelmäßig an persönlichen Anekdoten, Lebensweisheiten, vor allem aber seinem höchstpersönlichen Geschichtsverständnis teilhaben. Bei diesem sprang er für gewöhnlich wild zwischen der seiner Meinung nach zu Recht untergegangenen Monarchie, dem Berlin des Jahres 1923 und dem unvermeidlichen Untergang des Abendlands hin und her. Auch an diesem milden Septembermorgen war es nicht anders. Heinrich dozierte mit hochrotem Kopf über Gott und die Welt, während Abel schweigend die Tiere am Hof fütterte und ab und an pflichtbewusst nickte.

„Wer hätte gedacht“ begann Dietz auch an diesem Tag, „dass ein gottverdammter Bauer wie ich – Heinrich Dietz aus Berlin Lichtenrade – 1923 tatsächlich am Höhepunkt angekommen ist! Fürwahr, weit haben wir´s gebracht! Zuerst dieses „Serbien muss Sterbien“1, dann drei verdammte Jahre im Schützengraben, dann der Steckrübenwinter und als krönender Abschluss noch die spanische Grippe…“

Bei den Worten „Spanische Grippe“ stockte sein Wortschwall für gewöhnlich. 1919 hatte er wegen dieser heimtückischen Krankheit seinen einzigen Sohn und danach auch seine Frau verloren. Das Leben war nicht fair zu ihm gewesen, aufgegeben hatte er sich aber nie – auch als die Monarchie vor die Hunde gegangen war, Deutschland alles verloren hatte und es auch keinen Kaiser Wilhelm2 mehr gab.

„Gott hab ihn selig - oder auch nicht!“, erzählte er Abel für gewöhnlich. „Gerecht war er ja nicht gerade – uns kleinen Leuten hat er nie was gegönnt. Ja, die Reichen – mit denen konnte er! Aber da frag ich mich: Braucht man dafür einen Kaiser? Krümel hat er uns hingeworfen, nicht mehr. Und dann hat er gebuckelt vor denen, die was hatten. Aber ist doch egal. Ist ja eh längst über alle Berge. In Holland soll er sich nun ja aufhalten, Holz hacken und Fotos seiner ehemaligen Herrlichkeit verteilen, während Deutschland vor die Hunde geht“.

An dieser Stelle hatte sich Heinrich Dietz zumeist müde geredet und ließ Abel dann alleine im Stall zurück – so auch an diesem Morgen. Dieser blickte ihm schweigend nach, strich sich durch das zerzauste Haar und trottete dann lustlos von einer Stallung zur nächsten. Mindestens zwei Stunden würde er brauchen, um die Schweine und die Pferde am Hof zu füttern, dann ging es ans Ausmisten der Ställe, und den Nachmittag würde er mit der Feldarbeit verbringen.

Abel war vor mehr als einem halben Jahr am Hof der Dietz´ untergekommen. Im Februar hatte sich der polternde Dietz auf Drängen seiner Frau bereit erklärt Abel bei freier Kost & Logis aufzunehmen. Im Gegenzug hatte dieser sich verpflichtet, jeden Tag zehn Stunden seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Dass Abel eine miserable Hilfskraft war, erkannte Dietz sehr bald. Im Laufe der Zeit hatte er sich aber an seine stille Zurückhaltung gewöhnt und zog ihn all den Tagelöhnern und Hilfsarbeitern am Hof bei weitem vor. Dietz mochte Abel, weil dieser niemals seine Anweisungen hinterfragte, geschweige denn widersprach. Ob der stille Mann tatsächlich ein guter Zuhörer war oder seine Wortkargheit einem tiefen seelischen Schmerz geschuldet war, beschäftigte Dietz nicht. Dessen zurückhaltender Charakter war ihm aber angenehm, und er bildete einen Gegenpol zum Wesen seiner jungen, temperamentvollen Frau. Abel hatte sich ebenfalls sehr bald an Dietz gewöhnt. Wohl empfand er dessen Auftreten und Ausdruck als plump und primitiv, doch empfand er auch Mitleid für den reichsten Großgrundbesitzer von Berlin Lichtenrade.

Jedes „Wo hat sich denn der große Künstler jetzt wieder versteckt“ von Dietz war eine Mischung aus Neid, aber auch eines hoffnungslosen Ausgeschlossenseins, das auf seine Frau Elli zurückging. Abel hatte dieser aber wiederum seine Stelle am Hof zu verdanken und vermied daher tunlichst, für den einen oder anderen Stellung zu beziehen.

Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg hatte es Abel nach Berlin verschlagen. Zu Ende war es mit dem deutschen Kaiserreich. Aus dem anfangs erwarteten Blitzkrieg waren zunächst mehrere Wochen, dann Monate und schließlich vier Jahre geworden. Bereits 1915 durfte Abel als „Freiwilliger“ an der Front dienen. Er wurde nach Frankreich versetzt und teilte sich dort mit dem deutschen Maler Franz Marc3 einen Schützengraben. Marc war ein guter Mensch. Wie viele andere Künstler und Intellektuelle war er aus „moralischen Gründen“ in den Krieg gezogen. Den Ursprung dieser Moral konnte Abel zwar nicht ansatzweise verstehen, und sehr bald glaubte Abel auch bei Marc Zweifel zu erkennen, ein guter Lehrmeister war dieser aber ganz gewiss gewesen. Während der oft so langen und gespenstig stillen Kriegsnächte griff Marc regelmäßig zu Kohle und Bleistift und brachte großartige Tier- und Landschaftsmotive zu Papier. „Die Schönheit will ich einfangen, doch sie scheint mir zunehmend zu entgleiten. Europa ist krank – erstickt von der Industrialisierung, durchdrungen von Verrohung und Barbarei“, pflegte er zu sagen, während beide in den Schützengräben von Braquis lagen und neben ihnen Splittergranaten explodierten.

Monate des sinnlosen Tötens, der Feuerpausen, des Wartens und dann wieder des sinnlosen Tötens reihten sich so aneinander. Im März 1916 wurde Marc schließlich während eines Erkundungsritts von einer Splittergranate getroffen. Es war kein schmerzhafter Tod. Abel war angesichts des plötzlichen Ablebens seines lieben Freundes aber so verstört, dass man ihn in das Heereslazarett versetzen musste. In diesem gab es für ihn erst recht nicht viel Schönes zu sehen. Abel kümmerte sich um Verletzte und Verstümmelte, und gewiss waren es die vielen schrecklichen Kriegseindrücke, die ihn zunehmend verstummen ließen. Lange Monate trauerte er um seinen Freund, und vieles von dem, was Marc ihm über das Leben und das Malen gelehrt hatte, brannte sich für immer in seinem Herzen ein. Einen Nachruf auf seinen Freund, den er in einer Kunstzeitschrift entdeckt hatte, schnitt er unter Tränen aus und trug ihn in den letzten beiden Kriegsjahren stets bei sich.

„Nun ist ein Künstler gefallen“, schrieb der deutsche Galerist Herwarth Walden, „der nicht fallen kann. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Aber die Erde war ihm heimisch. Die Erde, die Lebendiges erzeugt und Lebendiges trägt. Ihm schien die Erde, ihm redeten die Tiere, die Wälder und die Felsen.“

Abel selbst fiel aber nicht. Als der Krieg im November 1918 mit der Kapitulation Deutschlands endete und die Soldaten in die Freiheit entlassen wurden, ging Abel - seelisch schwer getroffen, aber physisch unversehrt - nach Berlin. Dort versuchte er sich als Maler. An die Marc´sche Schönheit konnte er nicht mehr so recht glauben. Die eben erlebten Kriegsgräuel waren für ihn zu schrecklich, um sich in „farbenfrohen Eskapismus“ – wie er es nannte - zu flüchten. Und somit entschied er sich für den „ehrlicheren“, wenn auch wenig tröstlichen Weg. Als Maler wollte er der Nachwelt die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führen – nicht aber durch subtile, abstrakte Andeutungen, sondern durch eine schonungslose Liebe zur Wahrheit. Anfangs dachte er, dabei verrückt zu werden, und wähnte sich in seinem Streben nach künstlerischer Wahrheit alleine. Erst 1920 stieß er auf Zustimmung in seinem Denken. „Das ist es!“, rief er aus, als er das erste Mal über die Kunstrichtung der „Verismus“ las, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte der Realität nicht nur furchtlos ins Auge zu blicken, sondern diese sogar übersteigert darzustellen.

Künstler wie George Grosz4 wurden in diesen Jahren berühmt. Man lobte ihr künstlerisches Talent, noch mehr aber ihre Fähigkeit der Wirklichkeit ihre hässliche Fratze vorzuführen. Bisweilen empfand Abel ihre Kunst als plakativ, doch fühlte er sich nun zumindest verstanden – so, als hätte er in seinem künstlerischen Streben nach Wahrheit endlich eine Heimat gefunden. Und so hielt er an seinem künstlerischen Weg fest – in seiner rechten Jackentasche den Nachruf auf seinen Freund, in seiner linken ein Zitat von Friedrich Nietzsche, der geschrieben hatte „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“. Egon Schieles, Ernst Ludwig Kirchners und Erich Heckels Mut zur Hässlichkeit beeindruckten ihn in diesen ersten Nachkriegsjahren zutiefst. Sie schienen völlig ohne Kalkül auszukommen, und durch sie fand er den Mut und die Kraft sich zu Beginn des neuen Jahrzehnts tapfer durch die Straßen Berlins durchzukämpfen.

„Ist es nicht seltsam?“, fragte sich Abel in diesen Jahren oft, „dass uns wahre Kunst sowohl eine tiefe Wahrheit offenbart und gleichzeitig Heilmittel gegen diese Wahrheit ist?“ Er selbst lebte damals von der Hand im Mund und verdiente gerade genug, um nicht zu verhungern. Einen festen Wohnsitz hatte er nicht. Die Kohlezeichnungen, die er zumeist hastig zu Papier brachte, signierte er nicht, da er dies als Eitelkeit empfunden hätte.

„Ein Leben – mag es gelungen oder misslungen sein – kann man auch nicht signieren. Warum sollte es sich bei einem Bild anders verhalten?“ pflegte er zu sagen, wenn er auf seine fehlende Signatur angesprochen wurde. Seine Kohlezeichnungen verkaufte er für ein paar Pfennige, eine warme Mahlzeit oder ein Dach überm Kopf. Im Inneren als auch Äußeren lebte er so in einer Wahrheit, die völlig auf den Schein verzichtete, und diese brachte er auch bei seiner Kunst ungeschönt zu Papier. Selbst der Versuchung sich mit Alkohol kurzfristig Erleichterung zu verschaffen, widerstand er. Noch Jahre später verarbeitete er die Erlebnisse im Schützengraben in immer wiederkommenden Albträumen. Sein Entschluss die Realität anzuerkennen und ungeschminkt darzustellen blieb aber stärker als der Drang sie mit Schnaps zu ertränken.

So blieb Abel trotz aller Armut in Berlin, zeichnete Kriegsversehrte, ausgezerrte Kinder, Witwen und versuchte rund um den Potsdamer Platz Kohleskizzen und Postkarten mit gängigen Berliner Motiven zu verkaufen.

„An Klientel mag es mir oft fehlen, an Motiven aber bestimmt nicht“. Mehr schlecht als recht lief das Geschäft, und Abel erkannte sehr rasch, dass sich die „Wahrheit“ schlechter verkauft als das Gefällige. Dennoch blieb er sich und seiner Kunst weiterhin treu. Er wollte nicht lügen. Erst zwei Jahre später musste er, wie auch das krisengebeutelte Deutschland, endgültig kapitulieren. Die Reparationszahlungen, die Deutschland seit dem Ende des ersten Weltkriegs an Frankreich zu entrichten hatte, mussten aus finanzieller Not eingestellt werden, und Frankreich besetzte im Januar 1923 das deutsche Ruhrgebiet. Abel las, dass Weimar mit seinen Zahlungen nur geringfügig in Rückstand geraten war, Frankreich aber umgehend sechzigtausend Soldaten in das Ruhrgebiet geschickt hatte. Dann folgte der folgenschwere Entschluss der deutschen Regierung „passiven Widerstand“ zu leisten, die deutschen Streikenden aber dennoch zu entlohnen. Geld wurde gedruckt - viel Geld. Und schließlich geriet alles außer Kontrolle. Abel nahm mit Bestürzung zur Kenntnis, dass sich die Preise fast täglich vervielfachten, und im Februar 1923 musste er dem Potsdamer Platz und den Linden endgültig den Rücken zukehren. Ein echtes Ziel hatte er zu dieser Zeit des endgültigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs nicht, Berlin wollte er aber auch nicht verlassen. Und so strandete er schließlich in Lichtenrade – dem äußersten Süden von Berlin, das erst zwei Jahre zuvor Teil des Bezirks Tempelhof geworden war und nicht ganz fünftausend Einwohner zählte.

Lichtenrade war zu Beginn des neuen Jahrzehnts zutiefst ländlich. Kleine und etwas größere Bauernhöfe reihten sich aneinander, und es gab gewiss keinen künstlerischen Grund, warum es Abel ausgerechnet dorthin verschlagen hatte. Er hoffte einfach, in diesem Teil Berlins dem sicheren Hungertod zu entkommen. Irgendwann findet selbst der reinste Künstler im Hunger seinen Meister.

„Wir versaufen uns’rer Oma ihr klein´ Häuschen - Und die erste und die zweite Hypothek.“, grölten einige Jungs lautstark, als Abel im Februar nach Lichtenrade kam. Der Gassenhauer des Jahres 1923 drückte ironisch aus, was Berlin in diesem Jahr heimgesucht hatte: Inflation, Verarmung und Hunger. Innerhalb von nur vier Monaten hatte die deutsche Mark so sehr an Wert verloren, dass man für einen Dollar ganze fünfzigtausend Mark zahlen musste. Familien stürzten in bittere Armut, weil sich ihre Ersparnisse über Nacht in Luft auflösten, und Hunger hielt Einzug in den Straßen Berlins.

Als Abel im Februar Lichtenrade erreichte, besaß er außer ein paar wertlosen Mark lediglich einen alten, notdürftig geflickten Wanderrucksack, seine Zeichenmappe mit Kohleskizzen, einen alten Militärmantel und seine alte Baskenmütze, die ihn schon die Winter zuvor vor dem sicheren Erfrierungstod bewahrt hatten. Der Himmel stand tief und grau, und Abel suchte erstmals seit dem Kriegsende ein Gefühl der Verzweiflung heim. Ohne einem konkreten Ziel schlich er schmale Straßen und Feldwege entlang, versuchte mit dem Mantelkragen sein Gesicht vor dem peitschenden Wind zu schützen und erreichte schließlich einen schneebedeckten, ausgetretenen Feldweg, auf dem kein einziges Haus zu sehen war. Nachdem er weitere fünfhundert Meter gegen den Wind angekämpft hatte, erreichte er aber zu seiner großen Verwunderung schließlich einen stattlichen, gepflegten Bauernhof. Aus der Zeit und aus der Umgebung gefallen wirkte der Hof. Vor ihm stand tatsächlich ein nagelneuer, roter Maybach und bildete einen surrealen Kontrapunkt zur trostlosen Umgebung. Nach einem kurzen Moment des Staunens ignorierte Abel die Luxuslimousine aber, ging auf das schwere Eingangstor zu und läutete an der schweren Messingglocke. Dann wartete er.

Einige Sekunden passierte nichts, dann hörte er eine aufgebrachte weibliche Stimme. „Mein Gott Heinrich, was ist denn jetzt wieder“, schallte es ihm entgegen. Dann öffnete sich das massive Eingangstor, und eine zierliche, junge Frau mit pechschwarzem Haar, grellrot geschminkten Lippen und einem enganliegenden schwarzen Cocktailkleid stand plötzlich vor ihm.

„Heinrich, ich sag Dir zum hundertsten Male, stör mich nicht bei….“.

„Sie wünschen?“ hielt sie inne, nachdem sie erkannt hatte, dass es sich offensichtlich nicht um ihren Mann handelte.

Abel schaute die junge Frau verwundert an. Dann räusperte er sich und sagte kaum hörbar: „Haben Sie Arbeit? Ganz egal was, bitte...Ich habe seit 2 Tagen nichts mehr gegessen. Lieben Sie Kunst – ich hätte Kohleskizzen, die sie vielleicht interessieren…“

Schon wollte er der jungen Frau eine seiner Zeichnungen reichen, als ihn diese energisch unterbrach und wütend entgegnete: „Wie oft muss ich noch betonen, dass Landstreicher bei uns unerwünscht sind! Wenn Sie Arbeit suchen, kommen Sie morgen um fünf zur Scheune da hinten. Was sollen wir denn für Leute wie Sie noch tun? Die Zeiten sind schlecht, ich weiß! Aber wir sind auch keine Samariter!“

Gerade als ihm Elli die Tür vor der Nase zuschmeißen wollte, blockierte Abel – wohl der Not und dem Hunger geschuldet – nun aber mit seinem rechten Fuß die Tür.

„Bitte!“, sagte er erneut laut und deutlich, entnahm seiner Zeichenmappe ein kleines Aquarell und überreichte dieses der ungewöhnlich gekleideten jungen Frau. Das Aquarell zeigte das Nelson-Theater in Berlin-Mitte umringt von grell erleuchteten Reklametafeln. Ganz oben auf dem bekannten Nachtclub thronte eine beleuchtete Reklametafel „Noris Weinbrand“, und vor dem hellerleuchteten Gebäude herrschte reges Treiben. Menschen gingen ein und aus, vor dem Gebäude lungerte ein Bettler herum, der um Almosen bat, und eine Tänzerin machte sich offensichtlich für einen Auftritt im Tanzclub bereit.

Als Abel die Haustür mit seinem Fuß blockierte, wollte Elli zunächst losschreien. Situationen wie diese kannte sie nur zu gut. Jeden Tag strömten Tagelöhner und Bettler auf den Hof, baten um Arbeit oder um eine Mahlzeit, und nicht selten kam es zu unangenehmen Zwischenfällen. Manche der Bettler ließen sich nicht abwimmeln, und zweimal hatte Elli schon den Wachhund auf die Eindringliche losgelassen. Dieser Gast war aber anders. In seinem Blick spiegelte sich Verzweiflung, aber auch Güte und Ehrlichkeit. Elli schrie daher nicht los. Und als sie die kunstvoll und detailliert angefertigte Skizze, die ihr Abel überreicht hatte, betrachtete, änderte sich ihr Gesichtsausdruck.

„Haben Sie das gemalt?“, fragte sie sichtlich überrascht. „Waren Sie selbst im Nelson-Theater?

Nun veränderte sich auch Abels Ausdruck. Vorsichtig setzte er seinen rechten Fuß einen Schritt zurück, setzte seine Mütze ab und räusperte sich:

„Nein, drinnen war ich nie, aber das Nelson-Theater habe ich sicherlich fünfzig Mal gemalt. Ich mag das Motiv. Das Theater strahlt so schön, wenn es Nacht wird in Berlin. Die Stadt ist so schön. Vielleicht ist es aber auch nur meine Erinnerung, in der sie schön ist. An Geld fehlt es halt an allen Ecken und Enden. Arm ist Deutschland geworden. Gefeiert wird noch, aber mir scheint, dass nur mehr die Franzosen, die Amerikaner und die Engländer das Geld dafür haben.“

„Ich war gestern dort“, unterbrach ihn Elli. „Mit meinem Mann“ wobei sie beim Wort „Mann“ einen leicht verzweifelten Blick aufsetzte.

„Sagen Sie – kennen Sie die Berber?“, fuhr sie fort, korrigierte sich aber auf der Stelle selbst. „Ach, was frag ich denn Sie?“, seufzte sie. „Sie kennen doch weder Stil noch Tanz. Sie waren nie drinnen! Und es nur von außen anzuglotzen, was kann das schon? Ich war“ - und an dieser Stelle hob Elli triumphierend ihre rechte Hand - „FÜNF Mal drinnen!“.

Sogar der Kurt Tucholsky5 war damals dort. Nicht einmal zwei Meter neben mir ist er gesessen…ein feiner Mann kann ich Ihnen sagen, einen edlen Zwirn hat er getragen und den ganzen Tisch hat er unterhalten, obwohl er immer wieder sagte, dass alles so traurig ist. Aber wer versteht schon die Männer? Sie lachen und unterhalten den ganzen Tisch, und dann stellt sich heraus, dass sie in Wahrheit ganz traurig sind.…und dabei sagt man doch immer, dass die Frauen so schwierig sind. Naja, aber ein Spaß war es jedenfalls, und alles haben gelacht. Aber was wollte ich jetzt eigentlich sagen?“

Nach wie vor stand Abel vor der halb geschlossenen Tür und starrte Elli, die sich in ihrem Redeschwall verloren hatte und nun nicht mehr wusste, was sie eigentlich sagen wollte, ungläubig an. Zu lange hatte er mit niemanden mehr gesprochen, und ihm fehlte vollends die Übung.

So sagte er nur leise „Wollen Sie die Skizze kaufen?“ und dann „Wer ist denn diese Berber?

Elli schüttelte den Kopf.

„Na, die Anita Berber natürlich“, sagte sie – die ordinärste, verkommenste Frau von Berlin! Einen Skandal hat es erst letzte Woche wieder gegeben. Einem Mann, der ihr irgendetwas Ordinäres nachgerufen hat, soll sie eine Champagnerflasche drübergezogen haben. Dabei hat SIE sich pudelnackt ausgezogen und alle provoziert. Aber wie ich schon gesagt habe: Die ist einfach verkommen. War sie schon immer und ist sie wahrscheinlich heute noch mehr als vor drei Jahren!“

Natürlich wusste Abel nicht ansatzweise, wovon die junge Hausherrin sprach. Elli schien das aber nicht im Geringsten zu stören. Theatralisch blickte sie nach oben, und dann fuhr sie angeregt fort:

„Aber ansonsten trifft man dort ganz reizende, feine Menschen! Die ganze Nacht wird Champagner getrunken, und im Separee wird sogar dieses neumodische weiße Pulver kredenzt. Kennen Sie das? Es macht einen fröhlich, es lässt einen die ganze Nacht durchtanzen, und wenn man am nächsten Morgen aufwacht, möchte man gleich weitertanzen.“

Endlich hielt Elli inne, blickte Abel an und sagte, als wäre ihr die Absurdität der Situation bewusst geworden: „Ach was red´ ich denn, so wie sie aussehen! Sie können sich ja nicht mal einen Apfel leisten, geschweige denn ins Nelson gehen.“

Abel stand noch immer stumm an der Türschwelle und wartete. Und vielleicht war es diese stille Zurückhaltung, die letztlich alles änderte.

„Hören Sie“, sagte sie, „Ihre Skizze ist gut - Warten Sie vor der Tür und geben Sie mir kurz ihre Mappe! Vielleicht kann ich ja was für Sie tun.“

Abel nickte, und da er ihr dann tatsächlich schweigend seine Mappe aushändigte, zog sie sich ins Haus zurück und ließ Abel weiter vor der Türe frieren. Fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten vergingen, und endlich öffnete sich die Eingangstüre wieder. Mit einer feierlichen Geste überreichte Elli dem frierenden Abel seine Mappe und sagte mit einem leicht nasalen Ton: „Also möglicherweise finden wir am Hof etwas für Sie. Für das Nelson-Theater würde ich Ihnen….“

„Ich habe Hunger“, sagte Abel. „Haben Sie etwas zu essen für mich?“

„Ja“, sagte Elli. Und als sie sich diesmal ins Haus zurückzog, ließ sie sogar die Tür leicht offen. Als sie zurückkam, reichte sie Abel einen Laib Brot, etwas Speck und Käse, drei Eier und sogar eine Kanne Tee. Die Situation hatte etwas Skurriles an sich. Abel konnte eindeutig erkennen, dass sich die junge Frau im Haus die Lippen nachgezogen hatte. Immerhin hatte sie ihn aber nicht weggeschickt, ihm etwas zu essen gegeben und ihn sogar nach seinem Namen gefragt. „Abel“, hatte er geantwortet.

Und obwohl er es nicht gewagt hätte nach ihrem zu fragen, stellte sie sich an diesem kalten Februarnachmittag schließlich ebenfalls vor.

„Dietz, Elfriede Dietz heiße ich.“ Und zu guter Letzt wiederholte sie: „Kommen Sie morgen nochmals genau hier her. Vielleicht finden wir etwas für Sie. Punkt fünf Uhr - Hören Sie! Gehen Sie nicht zu den Tagelöhnern, die sich bei der Scheune anstellen. Und vergessen Sie ihre Mappe nicht! Und die hier“ – Elli zeigte dabei auf die Skizze, die ihr Abel überreicht hatte – „behalte ich bis morgen bei mir. Ihr Schaden soll´s nicht sein, versprochen!“

Dann gab sie ihm seine Mappe zurück, schloss die Tür und ließ ihn mit seinem kleinen Proviant auf der Terrasse zurück. Gierig verschlang Abel den Laib Brot, den Speck, den Käse und die Eier, presste seine kalten Finger an die warme Teekanne und verließ dann – vorbei am roten Maybach – diesen seltsamen Ort. Einen Platz für die Nacht würde er gewiss irgendwo finden. Lichtenrade hatte ihn zumindest nicht gleich am ersten Tag wieder ausgespuckt. Vielleicht war es doch richtig gewesen seine Zelte in Berlin-Mitte abzubrechen. Erstmals nach Tagen des ziellosen Herumirrens keimte jedenfalls ein Gefühl der Hoffnung in ihm auf.

Wo die Liebe hinfällt

Ellis Ehemann konnte etwas für Abel tun. Genauer gesagt, hatte Heinrich Dietz am nächsten Morgen der Einstellung Abels zuzustimmen. Einige Minuten vor fünf Uhr fand sich dieser vor dem Eingangstor des Hofes ein, und ein sichtlich nervöser Hausherr begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. Elli sagte nichts. Sie folgte den beiden stumm in eine kleine Gaststube, die direkt neben dem Eingang lag, streifte gelegentlich ihren Rock zurecht und warf ihrem wesentlich älteren Mann immer wieder strenge Blicke zu. Auf dem Tisch des alten Eichentisches lag jene Skizze, die Abel Elli am Tag zuvor überlassen hatte.

Heinrich Dietz war kein großer Redner. Er bat Abel sich zu setzen, und dann gab er unumwunden zu, dass er von der hohen Kunst keine Ahnung habe.

„Schau Dir diese Farben an, Heinrich“, ist sie mir gestern immer und immer wieder in den Ohren gelegen“, begann er…Schau Dir diese Farben und die Strichführung an. Und bei Gott, ich hab geschaut und versteh beim besten Willen nicht, was es mit dieser Kunst auf sich hat. Aber das tut hier ja nichts zur Sache. Auf jeden Fall soll ich dem Burschen, der morgen kommt „eine Chance“ geben, hat sie gemeint. Und genau hier beginnt ja das Problem. Ich weiß weder, was Du für ein Geselle bist, noch, ob Du eine Heugabel halten kannst! Der einzige Grund, warum Du hier bist, ist, weil Du meiner Elli beim Malen ein wenig über die Schulter schauen sollst – und das geht eben nur, wenn Du am Hof bleibst! „Eine Schnapsidee ist das“, hab ich ihr geantwortet, „aber ganz Lichtenrade weiß ja, dass der alte Dietz seiner Elli keinen Wunsch abschlagen kann.

Und genau deswegen sitzt Du heute hier, verstehst Du? Obwohl ich das Ganze eigentlich für einen Humbug halte! Hörst Du mir eigentlich zu?!“

Abel nickte.

„Ich möchte nur arbeiten“, sagte er leise.

„Gut“ meinte Heinrich, „eine Woche kannst Du in Gottes Namen hierbleiben, und wir tun mal so, als könntest Du eine Heugabel halten. Säufst Du?“

Abel schüttelte den Kopf.

„Gut, nicht saufen ist schon mal die halbe Miete! Ich hab hier einen verdammten Bauernhof zu führen, und manchmal denke ich, dass das die Penner, die hier ein- und ausgehen, nicht verstehen wollen. Also, die Regeln sind einfach: Tagwache ist um fünf Uhr. Zuerst werden die Hühner gefüttert. Dann kommen die Schweine dran. Dann werden die Pferde gestriegelt, und die ganze Scheiße der Viecher muss natürlich auch weg.

Das Heu muss in den Stall, und das Fleisch muss auch irgendwann in den Schlachthof. Bist Du schon mal auf einem Traktor gesessen?“

Abel nickte.

„Hab ich fast befürchtet“, seufzte Heinrich Dietz. „Lohn gibt’s am Anfang natürlich keinen, aber zu essen hast Du bei uns, und in der alten Hütte da hinten kannst Du schlafen. Und am wichtigsten: Wenn Du am Hof irgendwelche Herumstreuner, Kommunisten oder sonstige Verbrecher siehst, verjag sie mit der Heugabel! Wenn sie was zum Fressen wollen, frag sie, was sie anbieten können. Wenn sie Deutsche Mark haben, schick sie weg. Die Scheine sind ja seit der Ruhrbesetzung nur noch zum Heizen gut! Aber der Cuno6 hört ja nicht auf, wie wild Papier zu drucken! Wenn Sie aber Dollar oder Pfund haben, sind wir im Geschäft, verstehst Du? Oder sie haben Schmuck oder etwas Gold und Silber - dann nur her damit! Hörst Du? Du kommst dann zu mir, und alles andere macht der alte Dietz, hörst Du mir eigentlich zu?“

Wieder nickte Abel.

In knapp zwei Minuten war alles erledigt, und er wusste, was er in den nächsten Tagen am Hof zu tun hatte. Auch Elli, die dem Monolog teilnahmslos zugehört hatte, sagte kein Wort. Erst als der Hofherr wieder zu den Schweinen und der wertlosen Mark zurückkehrte, wurde sie unruhig, stampfte mit dem Fuß auf und rief mit erboster Miene „Heinrich, Du hast vergessen, ihm das mit der Kunst zu sagen! Der Abel soll mir zeigen, wie man so schön malt!“.

Jeder Mensch möchte um seiner selbst geliebt werden. Wie oft bilden in Beziehungen aber Eigenliebe, Geld und Hörigkeit eine unheilvolle Einheit und ketten Menschen unter dem Deckmantel der Liebe aneinander?

Die Verbindung zwischen Heinrich und Elli Dietz schien jedenfalls einer solchen „Liebe“ geschuldet zu sein – das erkannte Abel bereits an diesem ersten Tag am Hof. Allzu deutlich wurde ihm auch, dass er seinen Verbleib am Hof einzig und alleine Elli zu verdanken hatte und Mitleid bei seiner Einstellung eine denkbar geringe Rolle gespielt hatte. Nicht im Traum wäre es Heinrich Dietz eingefallen, Abel am Hof zu behalten, und nicht im Traum hätte seine junge Frau Abel geholfen, wenn sie daraus keinen persönlichen Nutzen gezogen hätte. Eine seltsame Leidenschaft verband sie allerdings zur Kunst. Das war offensichtlich, und eben diese Leidenschaft hatte ihm indirekt die Stelle am Hof beschert. Ihr Mann hatte mit Kunst und Malerei nichts zu schaffen. Das hatte er freimütig zugegeben. Doch er liebte seine Frau. Und so ergänzte er – nachdem ihn Elli lautstark daran erinnert hatte – augenblicklich, dass Abel seine liebe Frau nach der Stallarbeit auch in ihrem Atelier zu unterstützen hätte.

„Hab ich das richtig gesagt?“, fragte er Elli unsicher, nachdem er Abel seine Aufgabe als „Kunstberater“ erklärt hatte und ihn dieser sichtlich irritiert angeblickt hatte.

„Ganz richtig Heinrich!“, entgegnete ihm Elli vergnügt, und ein Ausdruck der Genugtuung legte sich über ihr Gesicht. Sorgfältig streifte sie sich ein letztes Mal ihren Rock zurecht, nickte Abel zu und ließ die beiden Männer dann in der kleinen Stube zurück. Seltsam seelenverwandt blickten sich beide an.

„Ach leck mich doch am Arsch“, sagte Heinrich Dietz und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn. „Morgen um fünf fängst Du an! In der kleinen Gartenhütte da hinten kannst Du schlafen. Gewand findest Du neben dem Bett, etwas Brot und Eier sind auch noch da. Und wasch Dich verdammt noch mal. Du stinkst! Und dabei hast Du noch nicht einmal zu arbeiten begonnen!“

Wieder nickte Abel, sagte aber kein Wort. Erst als ihn Heinrich aufgefordert hatte, zu gehen, stand er auf und trottete zur kleinen Gartenhütte, die mehr als zwei Jahre sein Zuhause sein würde. Heinrich Dietz hatte in der Hütte tatsächlich schon alles vorbereitet. Auf dem alten Bett lag eine braune Wolldecke. Daneben fand er ein Leinenhemd, einen Pullover, eine Arbeitshose, Stiefel und ein Lavor mit Wasser und Seife. Neben dem Bett hatte Dietz auf einem alten Tisch einen Laib Brot, Eier und sogar Schinken und Käse kredenzt. Abel wusch sich, vertilgte alles, was Heinrich Dietz vorbereitet hatte, und dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

Das erste Mal seit vielen Monaten hatte er ein Dach über dem Kopf und schlief in einem richtigen Bett.

Pünktlich um fünf Uhr klopfte Dietz am nächsten Morgen an Abels Gartenhütte. Stockdunkel war es noch, und als Abel aufschreckte, benötigte er einige Sekunden, um sich einigermaßen zurechtzufinden. Nach Monaten auf der Straße hatte er erstmals wieder in einem Bett geschlafen.

Geträumt hatte er, wie fast jede Nacht, von den Schützengraben in Braquis, und wieder war Franz Marc von einem tödlichen Granatensplitter getroffen worden. Im Traum war er ziellos durch die Straßen Berlins geirrt, hatte Kohleskizzen verkauft und versucht irgendwo eine Mahlzeit herzubekommen. Als Heinrich Dietz um fünf Uhr an seinem Fenster geklopft hatte, hatte er noch tief geschlafen.

„Zehn Minuten hast Du – hörst Du? Komm dann rüber zur alten Scheune - viel zu tun heute!“, rief ihm Dietz zu, und in diesem Moment begriff Abel, dass er soeben nicht auf einer Parkbank am Kurfürstendamm aufgewacht war, sondern in Lichtenrade, einem ländlichen Teil Südberlins, das gerade mal fünftausend Seelen zählte. Das erste Mal seit Monaten verspürte er keinen Hunger mehr. Doch war er auch kein selbstbestimmter Künstler mehr, sondern eine einfache Hilfskraft, über die man frei bestimmen konnte. Und diese Hilfskraft schlurfte nun ohne sonderliche Erwartungen in Richtung Scheune, wo Dietz schon auf ihn wartete.

„Lichtenrade, hörst Du Abel“, begann dieser „ist vielleicht der letzte Fleck Berlins, wo noch was geht, wo es noch was zum Fressen gibt! Die feinen Herren in Berlin – dieser Pappkanzler und der Rest vom linken Gesindel – denken ja, dass Papiergeld Drucken das Schlamassel von Versailles7 beenden wird. Nun denn, sollen sie nur! Ich bin nur ein Bauer, aber ich schwör´s bei Gott. Das geht nicht gut aus – Papier kannst´e nicht fressen! Ganze 4 Mark 20 hat man im Vierzehnerjahr für einen Dollar hinlegen müssen. Da war noch alles irgendwie normal. Aber dann hat uns der der alte Wilhelm ja in diesen verdammten Krieg geschickt und die Kriegsanleihen sollten´s richten! Die anderen sollten die Zeche zahlen! Aber mach die Rechnung nie ohne den Wirt! Nicht, dass in Berlin zuvor alles eitel Wonne war, aber die ganzen Krüppel gab´s noch nicht!

Und kaufen kannst Du Dir von unserer „Papiermark“ heute ja gar nichts mehr! 1918 haste dann schon 8 Mark 20 für ´nen Dollar gezahlt. Und dann kam Versailles, und das gab uns bekanntlich den Rest. Aber was sag ich Dir denn: Du bist ja der Künstler und kommst aus der Stadt! Erzähl doch mal: wieviel hast du denn für Deine Bildchen die letzten Monate bekommen? Weißte denn, wieviel Mark die feinen Herren aus Amerika heute für gerade mal einen Dollar einstreifen? Ich werd´s Dir sagen!

Ganze 3.600 Mark bekommen die dafür! Nochmals, im Vierzehnerjahr waren wir gerade mal bei 4 Mark Zwanzig, im Zwanzigerjahr waren es schon 42 Mark und heute ist die Deutsche Mark nicht mal mehr das Papier wert, auf dem es gedruckt ist. Und Ende ist auch keins in Sicht!“

Dietz spuckte auf den Boden, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und blickte Abel fragend an.

„Hast Du verstanden?“. Da Abel aber erneut nur stumm nickte, schüttelte Dietz den Kopf und sagte: „Also hör zu – Deine Brötchen verdienst Du bei mir damit, dass Du nach den Schweinen siehst, die Hühner fütterst, den Stall säuberst, aber vor allem eins sicherstellst: Dass hier niemand auf den Hof kommt und klaut! Fünftausend Seelen hat unser schönes Lichtenrade mittlerweile, und die meisten kenn ich persönlich.

Niemand von denen würde den alten Dietz beklauen. Von den hundert Hektar gehören mir ganze sechzig mir. Und wenn man sich´s mit mir verscherzt, wird man den nächsten Winter ohnehin nicht überleben.

Aber auf die Landstreicher musst Du aufpassen und auf die armen Teufel, die als Krüppel aus dem Krieg zurückgekommen sind. Regel Nummer zwei: wenn jemand kommt und Dir für ein paar Mark Eier, Schinken oder Milch abkaufen will, sag erstmals immer „Nein“! Und dann schick den Burschen zu mir. Wie ich´s Dir gestern schon gesagt habe: Wenn der Kerl Schmuck, Gold oder Silber hat, können wir vielleicht drüber reden. Ansonsten schick ihn weg! Mich findest du immer irgendwo am Hof! Entweder ich arbeite den ganzen Halunken am Hof hinterher, oder ich bin drinnen in der Stube. Ansonsten frag die Elli! Hast Du verstanden?“

Als Heinrich Dietz den Namen seiner jungen Frau nannte, blickte Abel auf und fragte:

„Und das Malen? Wann kann ich malen? Wann soll ich malen?“. Er sah am Blick des Bauern, wie sehr ihm das Hobby seiner Frau zuwider war und wie wenig er mit dieser „Zeitverschwendung“ – wie er es nannte - anfangen konnte. Dass er die Stelle am Hof ausschließlich Elli zu verdanken hatte, war ihm bewusst.

„Um Fünf Uhr ist Schluss“, antwortete Dietz knapp. „Dann gehst Du zurück in Deine Hütte und machst Dich zurecht! Ich meine so, dass Du einigermaßen wie ein Mensch aussiehst und nicht mehr stinkst! Und dann kannst Du Elli eben diesen Kunstkram zeigen“

Abel nickte.

„Um Neun ist dann Schluss im Atelier, aber was das Ganze soll, ist mir sowieso schleierhaft! Was sich die Elli von dieser Kunstsache verspricht, werde ich nie verstehen. Aber mein Problem soll´s nicht sein. Jedenfalls stehst Du am nächsten Tag um fünf wieder Gewehr bei Fuß! Haben wir uns verstanden?“

Wieder Nicken. Warum der mächtigste Mann von Lichtenrade an seiner jungen Frau einen solchen Narren gefressen hatte, war ihm unverständlich. Höchstwahrscheinlich hatte ihr Interesse an Kunst Abel aber vor dem Hungertod bewahrt, und so wollte er alles tun, um zumindest die letzten Wintermonate des Jahres 1923 bleiben zu können.

Wie einflussreich Dietz in Lichtenrade war, wurde ihm bereits in den ersten Tagen am Hof bewusst. Das Areal, das er zu betreuen hatte, war riesig. Auf dem unmittelbaren Hof tummelten sich manchmal bis zu hundert Hilfsarbeiter und Tagelöhner – einfache Arbeiter und auch Krüppel, die oft nur wenige Stunden am Hof blieben, um etwas Essbares zu bekommen, und dann wieder weiterzuziehen. Abel gewöhnte sich rasch an die ständig wechselnden Gesichter, zog es aber vor, für sich alleine zu bleiben. Gewissenhaft und ernst führte er die Stallarbeit aus, tat, was man von ihm verlangte, und nur selten mischte er sich unter die anderen Arbeiter. Dietz stand für gewöhnlich schon um vier Uhr morgens auf und ließ den ganzen Hof lautstark wissen, dass er wie immer der Erste war. Meistens verzog er sich dann in die kleine Gaststube, in der er auch Abel kennengelernt hatte, frühstückte und las die Morgenzeitung. Heinrich Dietz und Abel sahen sich am Hof nur selten. Zu sehr war Dietz in die Hofarbeit eingespannt. Hunderte Arbeiter mussten koordiniert werden, und so hörte Abel in der Regel nur seine lautstarken Anweisungen an die „Idioten vom Hof“ oder seine gelegentlichen Ausfälle über das „linke Gesindel im Reichstag“.

Auf welchen Umwegen Elli den Weg nach Lichtenrade gefunden hatte, erfuhr Abel nach und nach. Aus Heinrichs zumeist ruckartig vorgebrachten Monologen entnahm er aber, dass dessen junge Frau sein Ein und Alles war und dass er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie glücklich zu machen – ganz egal, was auch kommen mochte.

Kennengelernt hatte sich das ungleiche Paar achtzehn Monaten zuvor im damals neueröffneten Nelson-Theater am Kurfürstendamm. Heinrich trauerte damals noch um seine erste Frau und seinen Sohn und verirrte sich oft in einem der zahlreichen Berliner Nachtclubs, um zu vergessen.

Elli arbeitete wiederum im Nelson-Theater als Varieté-Tänzerin, und aufgrund ihrer Schönheit und ihres tänzerischen Talents gehörte sie zu den Hauptattraktionen jeder Revue. Jedenfalls war ihr der Hals über Kopf verliebte Heinrich eines Abends bis zur Garderobe gefolgt und hatte ihr den größten Rosenstrauß überreicht, den sie je bekommen hatte.

Schüchtern war er anfangs gewesen. Dann hatte er ihr aber direkt ins Gesicht gesagt, dass sie die schönste Frau der Welt war.

Elli war von dem etwas untersetzten Heinrich, der nicht nur zwölf Jahre älter, sondern auch schon fast kahlköpfig war, anfangs ganz und gar nicht angetan. Seine Beharrlichkeit hinterließ aber Eindruck. Und als er ihr noch am ersten Abend eröffnet hatte, dass ihm ein großer Bauernhof im Süden Berlins gehöre, willigte sie schließlich doch ein, Heinrich privat zu treffen.

Dann ging alles sehr schnell. Schon drei Wochen nach ihrer ersten Begegnung zog Elli nach Lichtenrade, und im Sommer 1921 wurde Hochzeit gefeiert. Zwei Wochen lang weigerte sie sich standhaft, ihre Karriere als Cancan-Tänzerin im Nelson-Theater aufzugeben. Dann erkannte sie aber, dass sie unmöglich jeden Tag zwischen dem Kurfürstendamm und Lichtenrade hin und her tingeln könne und sich daher entscheiden müsse. Heinrichs feierlicher Schwur „Berlin geht vielleicht vor die Hunde, neben mir geht die Elli aber niemals zugrunde!“ brachte dann aber Klarheit.

Noch im Jahre 1938 – als sich längst ein Schatten über ihrer beider Leben gelegt hatte und sie niemand mehr am Hof besuchte - erinnerte sie sich überschwänglich an diese kurze, aber so lebendige Periode ihres Lebens.

„Und ich war die Schönste von allen! Sogar die Berber8 – dieses schamlose Luder – verblasste neben mir, wenn wir zum Abschluss den Offenbach-Cancan getanzt haben. Aber was gab mir das Schicksal – den Heinrich aus Lichtenrade!“ Heinrich war hingegen sein gesamtes Leben lang stolz, eben diese „Schönste“ aus dem Nelson-Theater geheiratet zu haben.

Im Juli des Jahres 1921 wurden sie jedenfalls getraut. Mindestens zweihundert Gäste - Freunde, Verwandte, Bauern, Geschäftskollegen Heinrichs und ehemalige Tanzkolleginnen Ellis - waren zur Hochzeit und zur anschließenden Feier ins Adlon gekommen, und es wurde die ganze lange Nacht getanzt, gelacht und getrunken. Die „Berber“, von der Elli schon vor der Hochzeit immer und immer wieder erzählt hatte, war selbstverständlich auch gekommen, und sehr rasch entwickelte sich zwischen den beiden Frauen ein regelrechter Wettbewerb in Sachen „exzessiver Lebensfreude“ – einen Wettbewerb, den Anita Berber um drei Uhr morgens endgültig für sich entschied. Um diese Zeit legte Heinrich seine völlig betrunkene, am Hochzeitstisch eingeschlafene Frau über seine Schulter, brachte sie zum Wagen und ließ sich und Elli dann von seinem Fahrer zurück nach Lichtenrade chauffieren. Viel bekam Elli zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit. Allerdings erinnerte sie sich noch Monate später an das höhnische „Und jetzt geht’s ab in die Provinz“, das ihr ihre ehemalige Tanzkollegin angeblich nachgerufen hatte. Richtig verziehen hatte Elli ihrem Mann diese „Niederlage“ sehr lange nicht.

„Meine Hochzeit hat er damals ruiniert, der alte Miesepeter. Blamiert hat er mich bis auf die Knochen, und der Berber musste ich kampflos das Feld überlassen“, erzählte sie jedenfalls ihren Freundinnen in den ersten Monaten ihrer Ehe immer wieder. Heinrich verteidigte sich stets standhaft und meinte, dass er seine besinnungslos betrunkene, soeben angetraute Frau niemals alleine auf der Hochzeit zurücklassen hätte können, aber Elli beharrte darauf, dass nur ein „ewig gestriger Monarchist“ so denken könne, und im Berlin der 20er der Exzess die einzige Form der Wahrheit sei.

Der erste Disput der frisch Vermählten zog jedenfalls einen längeren Schatten über die junge Ehe. Elli gefiel sich in der Rolle der lebenslustigen, kreativen aber leider verhinderten Künstlerin, und Heinrich übernahm die Rolle des fürsorglichen, väterlichen Beschützers. Sehr lange beschäftigte Elli dieser seltsame Disput, bis sie schließlich eines Tages einen feierlichen Schwur ablegte, den Heinrich aber nur mit einem Kopfschütteln quittierte.

„Heinrich, ich schwöre Dir“, sagte sie, „so wahr wie ich einen Spießer geheiratet habe und so wahr Du mich vor der Berber lächerlich gemacht hast – Die Kunst wird Dir nicht erspart bleiben! Und selbst, wenn ich nicht mehr im Nelson-Theater tanze - in Lichtenrade wird noch große Kunst entstehen. Und diese Kunst wird eines Tages ganz Deutschland kennen!“

Und dann knallte sie die Schlafzimmertür hinter sich zu.

Hinter vorgehaltener Hand scherzte man in Lichtenrade recht bald, dass zwischen den beiden eine Zweckgemeinschaft bestanden hätte, bevor sie sich überhaupt getroffen hatten. Warum die junge, lebenslustige Frau einen weit älteren Bauern aus der Vorstadt geheiratet hatte, war für jedermann offensichtlich, und tatsächlich bezog Elli schon nach wenigen Wochen ein eigenes Zimmer, das sie zu einem „Malatelier“ umgestaltete.

Heinrich war Ellis Liebe zur Kunst bis zur Hochzeit verborgen geblieben, und erst ihre verunglückte Hochzeit und ihr feierlicher Schwur ließen sie eine solche künstlerische Entschlossenheit entwickeln. Gar oft hörte man die junge Braut in den ersten Wochen, nachdem sie ihr Atelier bezogen hatte, jedoch verzweifelt über den Hof rufen: "Wie kann eine wahre Künstlerin wie ich in diesem Hinterland nicht zugrunde gehen?“

Ob Ellis Ehrgeiz sich im Bereich der Malerei zu beweisen wahrer Kreativität oder eher ihrer Sturheit geschuldet war, war schwer zu sagen. Die Fortschritte in ihrem Atelier hielten sich in den ersten Monaten jedenfalls in Grenzen, und nicht einmal schmiss sie ihre Farbpalette gegen die Leinwand. Heinrich versuchte sie in dieser schwierigen Anfangszeit zu beruhigen und redete ihr zu, dass gut Ding eben Weile brauche. Da sich ihm der Sinn des Malens aber schlichtweg nicht erschließen wollte, gab er es nach wenigen Wochen auf. Was das ganze sollte, blieb ihm ein komplettes Rätsel, und wenn er n an seiner jungen Frau nicht einen solchen Narren gefressen hätte, hätte er für ihr Tun wohl andere Worte gefunden. So ließ er sie aber einfach gewähren. Nur sehr selten - wenn Elli in ihrem Atelier allzu laut wurde - klopfte er an ihre Ateliertür und sagte vorsichtig

„Aber Elli, jetzt sei doch nicht so“. So hart und geschäftstüchtig er Hausierern, Landstreichern und Taglöhnern gegenüber auch war, so gutmütig war er seiner jungen Frau gegenüber. Mehr als ein verzweifeltes „Ach Heinrich, Du verstehst das alles nicht“ bekam er aber selten zur Antwort.

Leider währte diese künstlerisch recht unglückliche Phase, in der Elli kaum das Zimmer verließ, sich kistenweise Kunstbücher ins Atelier bringen ließ und mit Champagner Inspiration suchte, recht lange. Weder die Kunstbücher noch der Champagner halfen, da entweder „das Personal zu laut“ war, sie an der „künstlerischen Ignoranz“ ihres Mannes litt oder „Lichtenrade auch bei der größten Künstlerin den letzten Funken Kreativität ersticken musste“. Letztlich blieb ihr daher nur mehr die Flucht nach vorne - beziehungsweise nach Berlin Mitte. Schon sehr bald nach ihrer Hochzeit bekniete sie Heinrich, doch wieder öfter in die Stadt zu fahren, um in der Kakadu-Bar, im Nelson-Theater oder dem Alexander-Palast ein bisschen zu feiern und die „Spießigkeit dieser jämmerlichen Republik“ zu verlachen. Begeistert war Heinrich von dieser Lebenslust gewiss nicht. Da er seine junge Frau aber nicht alleine lassen wollte, erklärte er sich doch zumeist einverstanden und begleitete sie nach Berlin.

Ihm selbst war das ganze Nachtleben ein Gräuel – jeden Tag stand er gewissenhaft um vier Uhr auf, während Elli zumeist bis Mittag schlief und weiterhin von einer Karriere als Künstlerin träumte. Auch auf die Anschaffung eines Grammophons bestand Elli damals, da sie hoffte, mit Musik bald von der Muse geküsst zu werden. Leider ließ diese aber auch weiterhin auf sich warten, und so entstand allmählich unter den Arbeitern am Hof der Eindruck, dass die junge lebenslustige Frau einfach liebend gerne Schlager hörte und dazu sang.

„Jawoll, jawoll, jawoll

Wir versaufen unsrer Oma ihr kleines Häuschen

Ihr klein Häuschen, ihr klein Häuschen

Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen

Und die erste und die zweite Hypothek“

tönte es im Inflationsjahr 1923 fast täglich aus Ellis Atelier, und es war auch jenes Lied, das Abel bei seiner Ankunft in Lichtenrade entgegenkam. So fröhlich der Gassenhauer aber auch klang: Deutschland erstickte förmlich an seinen Kriegsschulden. Nur einigen Bauern und geschickten Spekulanten war es in dieser Zeit der Not gelungen, ein Vermögen zu machen. Während die Berliner für ein Stück Fleisch Schlange standen, wurde Heinrich jedoch immer wohlhabender. Mit billigen Krediten war es ihm gelungen, seinen Grundbesitz stetig zu vergrößern, wobei er die Kredite mit dem täglich frischgedruckten Geld wenige Wochen später schon zurückzahlen konnte. Nur Grund und Boden, Gold, Schmuck und Nahrungsmittel zählten in diesem vermaledeiten Jahr, und genau diese Sachgüter gelangen damals zuhauf in Heinrichs Besitz. Elli fehlte es an nichts. Selbst wenn der künstlerische Durchbruch weiterhin auf sich warten ließ, floss auf dem Hof der Dietz – und auch in Ellis Atelier - der Champagner in Strömen. Nicht anders verhielt es sich auch an jenem Abend, an dem Abel seinen ersten Stalldienst beendet hatte und, wie vereinbart, um etwa halb sechs an Ellis Ateliertür klopfte.

Erste Werke

Sehr viel erhoffte sich Elli von diesem ersten Treffen mit Abel. Die Monate zuvor waren künstlerisch enttäuschend gewesen, und die Muse hatte sie nicht geküsst. Zu offensichtlich wollte sie dies dem neuen Stallarbeiter aber gewiss nicht zeigen, und so ließ sie diesen – wie schon bei ihrem ersten Treffen - recht lange vor ihrem Atelier warten. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden vergingen, bis sie schließlich mit einem langgezogenen „Sie wünschen?“ die Tür öffnete.

„Ihr Gemahl hat mich geschickt“, sagte Abel zur Begrüßung leise und reagierte erleichtert, als sie ihn endlich in ihr Atelier bat und hinter sich die Tür schloss.

Ellis Auftreten wirkte auch an diesem Abend ähnlich deplatziert wie der rote Maybach, den Abel zwei Tage zuvor vor dem Hof entdeckt hatte.

Sie trug ein langes schwarzes Abendkleid aus Matelasse-Seide, und ihr Dekolleté war von einer silbrigen Schleppe drapiert, die bis zu ihren Hüften reichte. Auf dem Kopf trug sie einen modischen silbrigen Turban, der ihr pechschwarzes Haar fast vollständig verdeckte, und wie schon bei ihrem Kennenlernen hatte sie einen dunkelroten Lippenstift und pechschwarze Wimperntusche aufgetragen. Im Atelier stapelten sich kistenweise Schellacks, und auf dem hölzernen Grammophon lag jener Schlager, den man zwei Stunden zuvor bis zum Schweinestall hat vernehmen können.

„Wish I could shimmy like my sister Kate“ und „Yes! We have no bananas” konnte er auf einem rotgehaltenen Umschlag entziffern. Dann entdeckte er noch zwei Sektpfeifen und eine ungeöffnete Flasche Champagner.

Elli sprach in diesen ersten Minuten ungewöhnlich wenig. Ab und zu zog sie lässig an einer silbrig-schwarzen Zigarettenspitze und versuchte – erfolglos – zu ergründen, was in Abel vorging. Da dieser aber nur ausdruckslos dastand und schwieg, übernahm sie bald die Initiative und begann über den eigentlichen Grund des Treffens zu erzählen.

„Sie werden sich“, begann sie recht theatralisch „wahrscheinlich fragen, warum diese Frau an einem so schönen Wintertag schwarz trägt, wenn doch Weiß die neue Modefarbe ist, korrekt? Und ich werde es Ihnen verraten! Ich schwimme nun mal gerne gegen den Strom“ Berlin kann sich in sommerliche weiße Unschuld flüchten so viel es will, ich sage es Ihnen aber in aller Deutlichkeit: Das echte Berlin steht für den Exzess, für den Tanz auf dem Vulkan, für das „Zuviel“ – das ist echt!“ Und wenn Sie sich fragen, was das mit Ihnen zu tun hat, dann werde ich es Ihnen sagen: „Sie“, und an dieser Stelle zeigte sie mit viel Pathos auf den stummen Abel, „verstehen es, das wahre Gesicht unseres geschundenen Berlins widerzugeben! Mein Gott, wie Sie mich gestern mit Ihren Kohlezeichnungen berührt haben! Das Adlon, das Nelson-Theater, der Alexanderplatz, das Brandenburger Tor... diese Linienführung, diese Eleganz. Das ist….Kunst! Das ist Kunst, lieber Abel! Ja, echte Kunst!“

Abel hörte Elli aufmerksam zu, fühlte sich aber sichtlich unwohl. Erst als sie auf „das Echte“ zu sprechen kam, erhellte sich sein Blick.

„Sie denken also auch, dass echte Kunst stets ein Diener der Wahrheit zu sein hat, selbst wenn diese Wahrheit hässlich ist und schmerzt? Sie denken auch, dass es die Aufgabe eines Berliner Künstlers ist, auch das geschundene Berlin zu zeigen?“, fragte er nun fast eifrig.

„Ja natürlich, lieber Herr Abel“, antwortete sie, „die Wahrheit liebe ich, aber noch viel mehr liebe ich die Lebendigkeit und die Schönheit! Denn was sind denn das für ihr Zeiten, in denen wir leben! Die Menschen schleichen durch die Straßen wie Scheintote! Niemand lacht mehr so richtig, und immer wird nur über das langweilige Geld geredet. Auch mein lieber Mann kennt kein anderes Thema – dauernd erzählt er von den Landstreichern, die ihn bestehlen wollen, und den Taglöhnern, die nur an ihren Lohn denken! Aber wissen Sie was: es ist alles eine Frage der Einstellung! Wir leben alle in einem Energiefeld. Gestern habe ich erst wieder davon gelesen. „Elli“, denk ich mir immer, wenn mir schwer ums Herz ist und ich nicht ein, noch aus weiß, „Elli, denk immer an das Helle, das Positive und an die Schönheit - denn nur das Schöne führt zur Wahrheit! Aber vielleicht liegt´s auch an den Sternen! Also ich bin Wassermann, Herr Abel! Und was sagt man über die? Voller Ideen und Optimismus soll´n sie sein, voller Energie und Tatendrang, und immer denken sie an die Zukunft! Darf ich Ihnen etwas anvertrauen?“ Irritiert nickte Abel.

„Wissen Sie“, fuhr Elli fort, „ich glaube, dass uns tatsächlich nur die Kommunisten retten können! Schauen Sie sich doch um - wer möchte außer ihnen denn noch für eine gerechtere Welt eintreten? Oh, was hatten der Heinrich und ich dazu schon Diskussionen! Immer wieder erzählt er mir von den alten Zeiten, und dann meint er, dass einer mal aufräumen müsste in diesem Saustall Berlin. Und ich sag ihm dann „Heinrich, der Kaiser ist fort, aber mit dem neuen Menschen9 wird alles anders sein. Ein Ende wird´s haben mit dem Trübsal Blasen, dem ewigen Reden übers Geld, der ewigen Trauer um den Kaiser.“

„Altmonarchist schimpf ich ihn immer“ kicherte Elli, und dann erklärte sie Abel, dass der Kommunismus sogar mit der Lehre der kosmischen Einheit im Einklang stünde und bald ein neues Zeitalter beginnen würde. Darauf folgte eine Einführung in die Philosophie des neuen Menschen, und erst als sie Abels ratloses Schweigen sah, kehrte sie zum eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens zurück.

„Also erst gestern“, sagte sie, „nachdem wir uns – verwandte Seelen wie mir scheint, lieber Abel – durch Zufall getroffen hatten, sind mein lieber Gemahl und ich ins Metropoltheater nach Berlin gefahren, und der Grund war denkbar einfach: der Verband der deutschen Modeindustrie hatte geladen, und es waren tatsächlich alle da - Lil Dagover, Mady Christians, Lucy Kieselhausen, Hans Albers, Hermann Böttcher. Egal, ich will Sie nicht mit Details belästigen, wie wichtig all diese Leute sind.

Aber was denken sie, was all diesen berühmten Menschen am meisten am Herzen liegt? Na, was meinen Sie?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Abel leise, „vielleicht die Wahrheit?“

„Fast“, rief Elli, aber denken Sie weiter, Abel! Wie kommt man zur Wahrheit? Was liegt am Weg zur Wahrheit, nah, nah, nah“, insistierte Elli weiter.

„Ich weiß nicht, Frau Dietz, vielleicht über….“

„Ich werde es Ihnen sagen, lieber Abel! Über die Schönheit, über das Helle, über die Freude! Denn Wahrheit und Schönheit sind eins! Ich bin eine Geberin! Und so ist es mir auch bestimmt meinen Heinrich zu unterstützen, wo immer es auch nur geht. Bei Gott, ich hätte andere haben können. Die Schönste war ich im Nelson-Theater, aber mir war eben ein anderes Schicksal beschieden! Was denken Sie, lieber Abel? Welchem Schicksal muss sich die Elli Dietz stellen – ohne „Wenn und Aber“ – weil es eben aus dem Herzen kommt und sie der Schönheit zu dienen hat?“

Wieder schwieg Abel. Er war mittlerweile restlos überzeugt, dass Elli es ihm ohnehin gleich sagen würde. Und so geschah es auch.

Schnellen Schrittes verschwand sie hinter dem mit Rosen und Lilien verzierten Paravent in der Mitte des Raumes, und dann vernahm Abel ein kratzendes Geräusch – so also würde jemand einen schweren Gegenstand über einen Holzboden ziehen. Gleich darauf schob Elli den besagten Paravent mit einem strahlenden Gesicht zur Seite, und Abel erblickte eine noch fast weiße Leinwand auf einer schwarzen Malstaffelei. Umrisse einer Figur konnte er erkennen, und beim näheren Betrachten glaubte er, dass es sich bei dieser um eine Tänzerin handelte, die ihr linkes Bein zum Kopf hochgeschlagen hatte und der vom Publikum frenetischer Applaus entgegenschlug. Die Umrisse der Tänzerin und des Publikums waren mit Kohlestift gezeichnet, und die Proportionen erinnerten an eine Kinderzeichnung. Elli schien aber mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.

„Ich sagte es ja – der Schönheit ergeben, auf Gedeih und Verderben! „Ein Abend im Metropoltheater“ soll es heißen. „Und die Bühne soll beben, die Menschen sollen fröhlich sein, und man soll förmlich den Applaus hören! Und genau hier“, und an diese Stelle strich Elli zärtlich über die tanzende Figur in der Mitte“ soll ich stehen und die Menschen mit meinem Tanz glücklich machen!“

Erneut schaute Abel irritiert und betrachte die Umrisse der Tänzerin etwas genauer. Die Figur kam ihm bekannt vor. Als er aber zu einem „Aber diese Tänzerin…“ ansetzen wollte, hatte ihn Elli schon unterbrochen und verschwand erneut hinter dem Paravent. Mit einer Kohlenskizze in der Hand kehrte sie zurück, und Abel erkannte nun Parallelen zwischen ihrer Tänzerin und der Kohleskizze, die er ihr zwei Tage zuvor überlassen hatte. Sie hatte seine Kohlezeichnung als Vorlage für ihre eigenes Bild verwendet. Doch war alles aus dem Zusammenhang gerissen und falsch. Abel hatte seine Tänzerin als zynische Nebenfigur gezeichnet, die einen grotesken Kontrapunkt zum verkrüppelten Clochard bildete. Auf Ellis Skizze war der Clochard verschwunden, und die Tänzerin war der leuchtende Mittelpunkt des Geschehens. Ihr Tanz wurde von einer gesichtslosen Menge frenetisch beklatscht, und jegliche Gesellschaftskritik, die Abel mit seinem Werk ausdrücken wollte, war verschwunden.

„Aber der Clochard?“, wollte er schon sagen, als er das Strahlen in Ellis Blick sah, unterließ es aber, da der Unterschied zwischen seinem und Ellis Motiv nicht größer hätte sein können.

„Abel“ – Elli blickte ihn nun mit einem fast gütigen, wissenden Blick an - „Sie und ich wissen, dass nur die Schönheit Wahrheit schafft. Elend zieht stets weiteres Elend an. Schönheit und Grazie führen uns aber ans Licht. Und als diese Dienerin des Lichts sehe ich mich“.

Dann räusperte sie sich, blickte ihm ernst in die Augen und stellte ihm die entscheidende Frage: „Abel, wollen Sie mit mir die Berliner Kunst für immer verändern? Wollen Sie der persönliche Kunstberater von Elli Dietz werden?“

Abel blickt ein letztes Mal irritiert auf die junge Frau, die szenisch perfekt an ihrer Zigarettenspitze zog und scheinbar gelangweilt auf seine Antwort wartete. Und diese war im Winter des Jahres 1923 erstaunlich vorhersehbar und klar.

„Ja, ich möchte mit Ihnen die Berliner Kunst für immer verändern“, sagte Abel kurz.

„Ich wusste es“, antwortete sie zufrieden. „Ich kannte Ihre Antwort schon, als ich Sie vor unserem Eingangstor sah. Es ist alles im Universum angelegt. Und darum erwarte ich Sie morgen im Atelier. Wir haben viel vor. Wenn Sie mich jetzt aber entschuldigen - Heinrich und ich haben heute eine wichtige Abendveranstaltung im Adlon“.

Dann forderte sie Abel auf, das Atelier zu verlassen.

Schlecht, äußerst schlecht, war Ellis erste Skizze ausgefallen. Abel erkannte kein wirkliches Talent in ihrer Strichführung, und so verließ er das Atelier ratlos und unsicher, ob er sich trotz aller Skurrilität an diesem Abend nicht das erste Mal selbst verraten hatte. Wie er die offensichtlich wenig talentierte junge Dame unterrichten sollte, war ihm ein Rätsel, doch war er ihr indirekt zu Dank verpflichtet. Als „kunstschaffender Tagelöhner“ oder als „Schweine fütternder Kunstlehrer“ würde er zumindest die nächsten Monate überleben können. Das Schicksal geht oft seltsam Wege – dies wurde Abel an diesem Abend schmerzlich bewusst.

Auch wusste er, dass es in den folgenden Monaten seine Aufgabe sein würde, das fragile Gleichgewicht zwischen ihm und dem ungleichen Paar nicht zu gefährden. Untertags würde er Heinrich Dietz fortan seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen, und abends würde er sich als Kunstberater seiner jungen Frau verdingen.

An die Stallarbeit gewöhnte er sich zu seiner eigenen Überraschung recht bald. Die Abende hingegen entpuppten sich bald als belastender, als er es ursprünglich angenommen hatte.

Geduldig brachte er Elli anfangs die Grundbegriffe der Farbenlehre, der künstlerischen Komposition und des goldenen Schnitts bei. „Marc“, erzählte er Elli immer wieder, „maß jeder Farbe eine besondere Bedeutung zu. Er malte die Natur und die Tiere nicht einfach so, wie sie waren, sondern versuchte, den Charakter von Bäumen und Tieren farblich