Was mir wichtig ist - Martin Schulz - E-Book

Was mir wichtig ist E-Book

Martin Schulz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Martin Schulz hat frischen Wind in die deutsche Politik gebracht, das attestieren ihm selbst politische Gegner. Seine immense Erfahrung hat er außerhalb der Bundes- und Landespolitik gesammelt, bevor er sich jetzt um das wichtigste politische Amt in Deutschland bewirbt, das ist neu und ungewöhnlich. Gleichzeitig führt das zu der Frage: Wer ist Martin Schulz? Welche Ziele verfolgt er, was treibt ihn an? In diesem Buch formuliert Martin Schulz seine Positionen, wie es in kurzen Zeitungs- oder Fernsehinterviews nicht möglich ist. In elf Kapiteln legt er dar, was er gegenwärtig richtig findet und was falsch; was er für notwendig hält, um Deutschland erfolgreich in die Zukunft zu führen. Auf sehr persönliche Weise, oft durch prägende Begebenheiten aus seinem Leben und Geschichten über die Menschen, denen er begegnet ist, macht er deutlich, welche Politik er verfolgen will. Wer wissen möchte, wer der Mann ist, der der nächste Bundeskanzler sein will, erfährt es hier aus erster Hand: In «Was mir wichtig ist» gibt Martin Schulz Auskunft über seine Pläne, seine Motive, seine Biographie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 191

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Schulz

Was mir wichtig ist

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Martin Schulz hat frischen Wind in die deutsche Politik gebracht, das attestieren ihm selbst politische Gegner. Seine immense Erfahrung hat er außerhalb der Bundes- und Landespolitik gesammelt, bevor er sich jetzt um das wichtigste politische Amt in Deutschland bewirbt, das ist neu und ungewöhnlich. Gleichzeitig führt das zu der Frage: Wer ist Martin Schulz? Welche Ziele verfolgt er, was treibt ihn an?

 

In die‡sem Buch formuliert Martin Schulz seine Positionen, wie es in kurzen Zeitungs- oder Fernsehinterviews nicht möglich ist. In elf Kapiteln legt er dar, was er gegenwärtig richtig findet und was falsch; was er für notwendig hält, um Deutschland erfolgreich in die Zukunft zu führen. Auf sehr persönliche Weise, oft durch prägende Begebenheiten aus seinem Leben und Geschichten über die Menschen, denen er begegnet ist, macht er deutlich, welche Politik er verfolgen will. Wer wissen möchte, wer der Mann ist, der der nächste Bundeskanzler sein will, erfährt es hier aus erster Hand: In «Was mir wichtig ist» gibt Martin Schulz Auskunft über seine Pläne, seine Motive, seine Biographie.

Über Martin Schulz

Martin Schulz, geboren 1955 nahe der deutsch-niederländisch-belgischen Grenze, arbeitete lange als selbständiger Buchhändler, war elf Jahre Bürgermeister und wurde 1994 ins Europäische Parlament gewählt. Dort stieg er 2004 zum Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion auf. Von 2012 bis Januar 2017 war er Präsident des Europäischen Parlaments. Im März 2017 wurde er zum Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden der SPD gewählt.

Vorwort

Deutschland im Jahr 2017. Nachdem ich Anfang des Jahres mein Mandat als Abgeordneter des Europäischen Parlaments niedergelegt habe, reise ich kreuz und quer durch unser Land. Ich treffe viele Menschen, die mir von ihrer Arbeit und ihrem alltäglichen Leben berichten. Ich diskutiere und höre viel zu in diesen Tagen, weil ich auf diesen Gesprächen vor Ort mein Programm aufbauen möchte, mit dem ich mich im September 2017 als Bundeskanzler bewerbe.

Ich habe unzählige Geschichten erzählt bekommen und spannende Einblicke erhalten, dabei eine Menge gelernt, oft gestaunt und gelacht. Habe von Hoffnungen, Träumen und Wünschen erfahren, aber auch Verzweiflung, Sorge, manchmal Trauer gespürt. Da gab es Geschichten, in denen es um den Stolz ging, etwas erreicht zu haben, sei es im Beruf oder im Privaten; zum Beispiel, dass die Kinder oder Enkel eine gute Ausbildung geschafft oder den ersehnten Studienplatz bekommen hatten. Oder die Freude darüber, endlich die passende Wohnung gefunden zu haben oder dass der Kauf eines eigenen Hauses geklappt hat. Ich habe Kreative getroffen, Handwerker in kleinen oder mittelständischen Betrieben und Unternehmer, die mit ihren Produkten Weltmarktführer sind, auch wenn man sie kaum kennt. Sie alle waren stolz auf das Erreichte, und sie erwarteten zu Recht, dass man ihnen Respekt und Anerkennung für ihre Lebensleistung entgegenbringt. Dasselbe gilt für diejenigen, die sich engagieren, sei es im sozialen Bereich, in der Nachbarschaft oder in der Schule ihrer Kinder, im Sportverein oder beim Umweltschutz, in der Kirche, im kulturellen Bereich, in der Flüchtlingshilfe, in einer Partei oder Gewerkschaft. Mit ihnen allen habe ich geredet, und sie haben mir von ihrem Leben erzählt.

Diese Menschen sind in der Regel froh, in Deutschland zu leben. Ohne jeden falschen Nationalismus empfinden sie das, was viele auch im Ausland sehen: Nur wenige Länder sind so frei, so demokratisch, wohlhabend und sozial sicher wie Deutschland. Und nichts von dem, was wir bei uns so schätzen, kam von selbst. Alles ist erarbeitet und nicht selten auch erkämpft worden. Deshalb ist die erste Erwartung vieler Menschen, dass wir Politiker ihre Leistungen und ihre Fähigkeiten würdigen. Aber natürlich gibt es auch bei uns in Deutschland vieles, was besser sein könnte. Und deshalb müssen wir, die wir in Parlamente und Regierungen gewählt wurden, offen sein für Vorschläge und Ideen, wie wir dort, wo es ungerecht zugeht, die Dinge ändern können.

Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, mir Offenheit, Neugier und einen wachen Blick zu bewahren, immer zuzuhören und mich von einem guten Argument überzeugen zu lassen. Ideologische Scheuklappen habe ich schon als junger Mensch abgelehnt, weil dadurch die Weite und Tiefe verlorengeht – und ehrlicherweise auch der Spaß an vielen Dingen.

Aber neben dem, was in Deutschland getan werden muss, um es gerechter, toleranter und zukunftsfester zu machen, gibt es auch eine internationale und europäische Erwartung an unser Land: Das Jahr 2017 ist das Jahr, in dem Großbritannien seine Mitgliedschaft in der EU aufgekündigt hat und in manchen europäischen Staaten die Demokratie hart herausgefordert wird. Es ist das Jahr, in dem mit Donald Trump ein unverbesserlicher Populist Präsident der USA geworden ist. Die Krisenherde der letzten Jahre im internationalen Umfeld werden immer schwieriger – man muss nur einmal nach Syrien, in den Nahen und Mittleren Osten, nach Russland oder in die Türkei schauen. Das heißt: Es kommt nun auch stärker als in der Vergangenheit darauf an, welche Rolle Deutschland in den kommenden Jahren international spielen wird. Ob wir ein fairer Vermittler in Europa und weltweit werden und dadurch eine Brücke zwischen bislang unversöhnlichen Kontrahenten bauen können. Ob wir die westlichen Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten im eigenen Lager hochhalten und verteidigen und mit einer wertegeleiteten europäischen Demokratie das friedliche, soziale, ökologische und tolerante Gegenmodell zu den autoritären Regimen werden. Auch darüber will ich in diesem Buch schreiben, über meine langjährigen Erfahrungen im internationalen Kontext und welche Erkenntnisse ich daraus für die deutsche Politik gewonnen habe.

Nur auf Sicht zu fahren und Herausforderungen durch Abwarten lösen zu wollen, reicht in diesem Jahrzehnt ganz bestimmt nicht mehr. Da können wir anspruchsvoller werden – und genau das erwarten die meisten Menschen, davon bin ich überzeugt, auch von der Politik. Denn 2017 ist ebenso das Jahr, in dem sich wieder mehr Menschen für Politik interessieren, vor allem viele junge Frauen und Männer, die durch den Brexit und andere Ereignisse gelernt haben, dass sie nicht beiseitestehen dürfen. Das sind Menschen, die sich einmischen, gegen rechts aufstehen und Europa als unsere Zukunftschance sehen. Das ist eine gute Entwicklung. Meine Reisen durch Deutschland machen mir auch deshalb so große Freude, weil ich so viele dieser Engagierten treffen kann.

Denn wenn man als Spitzenpolitiker in gepanzerten Fahrzeugen durch die Gegend braust, wenn man von Referenten und Pressesprechern umgeben ist, die den ganzen Tag darauf achten, dass man nichts Falsches sagt, dann geht etwas von der eigenen Offenheit, der Bodenhaftung und der Spontaneität verloren. Das ist ein enormes Risiko. Aber es gibt Strategien, diese Vereinsamung und Abgehobenheit zu vermeiden: zum Beispiel ein Team, das selbstbewusst genug ist, einem auch mal den Kopf zu waschen, wenn man in einer Sachfrage oder bei einer Äußerung danebengelegen hat. Für mich sind es vor allem meine Familie, meine Nachbarn und Freunde, die mir die Bodenhaftung ermöglichen. Da gibt es kein «Herr Vorsitzender» oder «der Kandidat», sondern da bin ich einfach «der Martin».

Aber ich habe noch eine weitere Strategie: Seit über dreißig Jahren führe ich Tagebuch. Ich habe über dreißig Bände, für jedes Jahr einen und für jeden Tag genau eine Seite. Dieses Tagebuchführen ist für mich eine Art des rituellen Nachdenkens, eine Reflexion über den Tag. Meist abends in meinem Arbeits- oder Hotelzimmer schreibe ich diese eine Seite als meinen persönlichen Tagesabschluss. Das ist mir wichtig. Als ich gefragt worden bin, ob ich nicht in diesem – für mich außergewöhnlichen – Jahr ein politisches Buch schreiben wolle, dachte ich natürlich zuerst: «Das ist verrückt. Dafür hast du weiß Gott keine Zeit, in diesem Wahlkampfjahr.» Aber dann fiel mir auf, dass vielleicht genau das Gegenteil richtig ist: dass ich mir die Zeit nehmen muss, um aufzuarbeiten, was ich erlebt habe, was mich bewegt hat und was mir Sorgen macht. Darum gibt es nun dieses Buch, in dem ich erzähle, was mir wichtig ist und warum. Es will kein abschließendes politisches Programm sein, dafür ist es nicht der richtige Ort. Vielmehr enthält es Geschichten und Gedanken, zeigt auf, wo ich in unserem Land Probleme sehe, und macht Vorschläge. Es versammelt die Themen, über die ich in den vergangenen Wochen und Monaten nachgedacht habe, und Erlebnisse, die für mich von Bedeutung waren. Es ist auf diese Weise ein persönliches Buch geworden, das zugleich sehr politisch ist, weil es deutlich machen will, wer ich bin und wofür ich stehe.

 

Martin Schulz

im Mai 2017

Kapitel 1Hier komme ich her

Eine Kleinstadt als Heimat

Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Heimat zu haben, ist eines der wichtigsten Dinge in unserem Leben. Für mich persönlich ist es unvorstellbar, dieses Gefühl zu verlieren. Denn zu spüren, wo meine Heimat ist, gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Nur an einem Ort kann ich richtig zur Ruhe kommen. Nur an einem Ort kann ich zu hundert Prozent ich selbst sein. Nur an einen Ort kehren meine Gedanken immer und immer wieder zurück.

Für mich ist Würselen der zentrale Fixpunkt in meinem Leben geblieben, als ich in Brüssel im Europäischen Parlament tätig war und auch jetzt, wo ich in Berlin eine neue Rolle eingenommen habe. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich die Schule besucht. Hier habe ich angefangen, Fußball zu spielen, habe bei der Rhenania versucht, es bis zu den Profis zu schaffen. Hier habe ich meine eigene Buchhandlung eröffnet und zwölf Jahre lang geführt. Hier habe ich bei der Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten oder «Jusos», die ersten Schritte in der Politik unternommen. Hier wurde ich 1987 zum Bürgermeister gewählt und übte dieses Amt fast elf Jahre lang aus. Ich habe meine Familie in Würselen gegründet und immer noch viele enge Freunde hier.

So wie jeden Menschen seine Herkunft prägt, so bin auch ich von dieser Region geprägt worden. Meine Eltern haben mich und meine vier Geschwister hier großgezogen. Sie haben hier den Krieg durchlebt. Mein Bruder Erwin war gerade einen Tag alt, als er mit meiner Mutter und meinem Großvater im Keller unseres Hauses das Bombardement der Amerikaner überstehen musste. Mir geht es wie den meisten Menschen: Unsere Heimat hat eine Fülle von Geschichten zu erzählen, und ich kenne viele davon. Denn Würselen ist für mich nicht nur ein Ort, es ist mein Netz aus Familien- und Freundesbanden, aus Erinnerungen und Beziehungen.

Ich habe in dieser aus Berliner Sicht kleinen Stadt so viel gelernt. Am meisten vielleicht während meiner Zeit als Bürgermeister. Wer einmal Bürgermeister war, egal, ob von einer Gemeinde, einer kleinen Stadt oder einer Millionenmetropole, der weiß, dass alle Probleme irgendwann im Rathaus landen. Würselen ist mit knapp vierzigtausend Einwohnern eine mittlere Stadt. Auch dort ist es so: Irgendwann sind die Probleme, ob sie beim Arbeitsamt auftreten, bei der Polizei, beim Jugend- und Sozialamt, in den Schulen und Altenheimen, bei den Mittelständlern und kleinen Ladenbesitzern, im Sportclub, der lokalen Kulturszene oder bei der Feuerwehr, auf dem Tisch des Bürgermeisters. Ich selbst habe es nicht selten erlebt, dass Menschen zu mir kamen und sagten: «Wir waren schon überall. Sie sind unsere letzte Hoffnung.» Oft konnte ich helfen. Manchmal auch nicht. Immer aber habe ich zugehört, ein offenes Ohr gehabt. Im direkten Kontakt mit den Menschen und ihren Hoffnungen, Wünschen und Sorgen zu sein, hat mich für mein Leben geprägt.

Politik aus der Bürgerperspektive

Ich denke heute noch oft an diese Situationen. Aus ihnen sind viele Leitbilder meiner politischen Philosophie entstanden: An erster Stelle steht hier der Respekt vor den Menschen und ihren Schicksalen. Die Menschen, die zu mir ins Bürgermeisterbüro kamen und mir erzählten, sie seien schon überall gewesen und niemand hätte ihnen helfen können: Sie waren häufig an anderer Stelle wie Nummern behandelt worden. Oft weitergeschickt, der «Fall» weitergeleitet, dann zum Warten verdammt. Nie hatte jemand richtig zugehört. Deshalb tat ich zuerst immer das: Ich hörte zu, versuchte, das Problem zu verstehen. Für mich muss das Zuhören immer der erste Schritt sein. Aus diesem Grund habe ich auch die Erarbeitung meines Wahlprogramms als Bundeskanzler so angelegt: Ich reise durch Deutschland, um zu hören, was die Menschen bewegt. Denn nur, wenn ich konkret erfahre, wo die Chancen und Risiken liegen, wenn ich weiß, wie sich – oft gutgemeinte – Gesetze im Alltag möglicherweise gegenteilig auswirken, nur dann kann ich Politik machen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und die die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten, ins Zentrum rückt.

Ich wurde von einigen Medien und von anderen Parteien in Deutschland für dieses Vorgehen kritisiert. Ich hätte ja an meinem ersten Tag keine Inhalte präsentiert. Man erwartete wohl, dass ich über Nacht in meinem stillen Kämmerlein eine Art Masterplan für Deutschland entworfen hätte. Das habe ich nicht getan, und zwar bewusst. Ich entwickle mein Programm aus Geschichten, die ich in der ganzen Republik höre.

Denn wenn man den Menschen zuhört, erfährt man schnell, wann sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stoßen und wo sie sich Unterstützung wünschen. Ich habe zum Beispiel bei einer Veranstaltung in Leipzig eine alleinerziehende Mutter getroffen, die mit ihrem Halbtagsjob 1300 Euro verdient. Davon bleiben dann am Monatsende weniger als 1000 Euro übrig. Von diesem Geld muss sie die Miete bezahlen, den Strom, das Wasser, die Heizung, die Windeln, das Essen und auch noch die Kitagebühren, wenn die Stadt ihr keine Ermäßigung genehmigt oder ihr die Gebühren ganz erlässt. Es ist absurd, aber in vielen Fällen Realität. Menschen gehen arbeiten, damit sie von dem Einkommen die Kitagebühren bezahlen können. Eigentlich müsste es doch umgekehrt sein: Wir brauchen kostenfreie Kitaplätze, damit man arbeiten gehen kann und mehr Geld für die Familie zusammenbekommt. Das muss geändert werden, und deshalb sind kostenfreie Kitaplätze für mich nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch einfach logisch.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Es zeigt aber, was mir wichtig ist, wenn ich von guter Politik oder meiner politischen Philosophie spreche. Am Ende zählt bei unserem politischen Handeln das, was bei den Menschen ankommt. Ich wünsche mir, dass dieses Denken immer im Vordergrund steht, wenn wir über eine Maßnahme beraten. Auch dass wir wegkommen von dem Denken in Milliarden, das heute Usus geworden ist. Jeden Tag müssen in Berlin wichtige Entscheidungen über Milliarden getroffen werden. In den letzten Monaten schlug die Union beispielsweise folgende Maßnahmen vor: zwanzig Milliarden Euro oder mehr für die Aufstockung der Rüstungsausgaben mit gleichzeitigen Kürzungen bei den Sozialausgaben. Fünfzehn Milliarden Euro an Steuererleichterungen und die Abschmelzung des Solidaritätszuschlags, durch die Bund und Länder noch einmal über fünfzehn Milliarden an Einnahmen verlieren werden. Ich halte diese Vorschläge in dieser Form aus einer Reihe von Gründen für falsch. Aber sie illustrieren am besten, was ich hier unterstreichen möchte: Wenn wir Politik machen, dann sollten wir nicht nur in Milliarden denken. Wir sollten es von der anderen Seite betrachten, von der Seite der Bürgerinnen und Bürger. Was zählt, ist die Frage nach den zehn, hundert oder tausend Euro, die am Ende direkt bei den Menschen im Portemonnaie ankommen. Für viele Menschen wäre es eine enorme Erleichterung, wenn der Kitaplatz kostenfrei wäre. Und für die meisten Bürger ist es sehr wichtig, dass es eine funktionierende Infrastruktur gibt, also eine gutsortierte Bibliothek, Beratungsstellen beim Jugend- und Sozialamt, Jugendzentren und sichtbare Polizei auf der Straße. Hier zu kürzen, um massiv aufzurüsten, halte ich für falsch. Deshalb: Was man im Rathaus lernt, ist, dass Politik den Menschen direkt zugutekommen muss. Steuergeschenke mit der Gießkanne, von denen am Ende nur die profitieren, die eh am meisten haben, wird es mit mir nicht geben. Eher Maßnahmen, die unsere Gemeinschaft stark machen. Im Grunde sind es Maßnahmen, die zum Beispiel jemanden in Würselen direkt erreichen würden. Oder in einem anderen Ort in Deutschland, den kaum jemand auf der Karte finden würde, außer den Menschen, die dort ihre Heimat haben. Maßnahmen, die dort das Leben besser machen, wo Menschen leben. Denn Leben ist lokal.

In der Stadt und auf dem Land

Ich selber bin mein ganzes Leben lang an einem Fleck verwurzelt geblieben. Aber ich bin mir bewusst, dass das bei weitem nicht jedem so geht. Ich habe viele Menschen getroffen, die fernab von ihrem Geburtsort ein zweites Zuhause gesucht und gefunden haben. Man muss aber nicht sein Leben lang an ein und demselben Ort gelebt haben, um ein spezielles Heimatgefühl zu entwickeln. Manchmal reicht eine prägende Erfahrung, ein bestimmter Geruch, eine Erinnerung oder eine Begegnung.

Heimat existiert heute nicht mehr nur da, wo Menschen ihr Leben lang an ein und demselben Ort leben. Schaue ich in meinen Freundeskreis, dann ist es eher eine Seltenheit geworden, dass die eigenen Kinder noch dort ihren Lebensmittelpunkt haben, wo sie in ihrem Elternhaus aufgewachsen sind. Für Ausbildung, Studium oder den Beruf gehen sie oft in andere Städte; in Deutschland, aber auch immer häufiger im Ausland. Manchmal kehren sie zurück, aber oftmals bleiben sie an den neuen Orten. Mit der fortschreitenden Vernetzung, im Transportwesen wie im Kommunikationsbereich, und durch manchen Strukturwandel, der Menschen zum Umzug zwingt, hat sich die Mobilität in Deutschland noch erhöht.

Das bietet unendlich viele Möglichkeiten und hat uns als Volkswirtschaft stark gemacht. Es stellt uns allerdings auch vor Herausforderungen. Ich möchte zwei davon beschreiben. Zum einen geht es darum, überall die gleichen Standards anzubieten. Denn egal, wo man lebt: Jeder Ort sollte einem die Chance bieten, Heimat zu werden. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass das Angebot – sei es im sozialen Bereich oder bei der Infrastruktur – sich nicht von Ort zu Ort fundamental unterscheidet. Selbstverständlich liegen einige Bereiche wie etwa die Bildung vor allem im Kompetenzbereich der Bundesländer. Es ist Folge unseres Föderalismus, dass nicht alles überall gleich gehandhabt wird. Das verlange ich auch nicht. Es geht darum, gemeinsame Ziele für unser Land zu definieren. Sicherzustellen, dass es gerecht zugeht und dass die Menschen eine faire Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Und zwar überall.

Zum anderen müssen wir vermeiden, dass wir ein Land der überforderten Ballungszentren werden und dass wir den ländlichen Raum, die kleinen und mittleren Städte in ihrem Potenzial nicht richtig entwickeln. Ich denke, wir können zu Recht stolz auf unsere dezentralisierte Kultur in Deutschland sein. Hier ist nicht alles nur in der Hauptstadt konzentriert, wie das zum Beispiel in Frankreich der Fall ist. Wir sind ein Land, in dem jede Region ihre ganz eigene Stärke hat. Wir können unzählige regionale Erfolge vorweisen, ob in Nord, Süd, Ost oder West. Da wird manches zunächst lokal oder regional ausprobiert, was später dann von anderen Bundesländern übernommen wird. Unser Föderalismus ist ein Erfolgsmodell. Wir erleben allerdings einen Trend hin zum Urbanen. Immer mehr Menschen zieht es in immer größere Städte und Ballungszentren. Dort finden sie neben Arbeit ein vielfältiges Kulturprogramm, ein abwechslungsreiches und dynamisches urbanes Leben und viele Freizeitmöglichkeiten. Städte haben eine enorme Anziehungskraft auf Menschen, und sie leben dort meistens sehr gerne. Dass immer mehr Menschen in Städte ziehen, bringt aber auch enorme Herausforderungen mit sich: Schon heute ist der Wohnraum in manchen Metropolen knapp geworden. Bei Wohnungsbesichtigungen bilden sich Menschenschlangen, die bis auf die Straße reichen. Den Zuschlag bekommt dann oft der, der die beste Einkommenssituation vorweisen kann: Ein Arbeitsvertrag mit gutem und stabilem Einkommen, ein möglichst makelloser Lebenslauf, eine Schufa-Auskunft, eventuell noch eine Bürgschaft – all das wird heute vielerorts gefordert, wenn man einfach nur eine Wohnung mieten möchte. Man könnte die Liste der Probleme der Über-Urbanisierung beliebig fortführen: Umweltprobleme, Anonymisierung und Vereinsamung, längere Anfahrtswege und dadurch hoher Stress für die Betroffenen, überfüllte öffentliche Verkehrsmittel, Knappheit bei sozialen Leistungen, Gentrifizierung und so weiter.

Es ist deshalb wichtig, dass es Alternativen gibt. Der erste Grund, in eine Stadt zu ziehen, ist bei den meisten eine berufliche Entscheidung oder der Zugang zu Bildung. Gäbe es diesen Druck nicht, so mancher würde es bevorzugen, auf dem Land zu leben. Schaffen wir es, ländliche Regionen stark zu machen und die ländlichen Regionen, die schon stark sind, auch stark zu halten, ist das gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland und gut für die Menschen in Deutschland. Wer auf dem Land leben möchte, der soll dort die gleichen Chancen haben wie jemand, der in der Stadt wohnt. Klar, die Anforderungen sind andere, aber das Prinzip muss das gleiche sein. Wir werden auf Dauer nicht in jedem Ort eine eigene Schule oder ein eigenes Kulturzentrum erhalten oder errichten können. So ehrlich sollten wir sein. Aber solche Einrichtungen dürfen nicht weit entfernt sein. Wenn nicht direkt vor Ort, dann gut zu erreichen durch eine bezahlbare Anbindung im öffentlichen Personennahverkehr.

Bei allen Trends hin zur Urbanisierung lebt heute noch immer mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in ländlichen Regionen, in Dörfern oder kleineren Städten. Für mich ist daher ganz klar, dass wir diese Regionen stärker in den Blick nehmen müssen. Politik für den ländlichen Raum muss als Zukunftspolitik begriffen werden. Hier geht es auch darum, die Landwirtschaft, die nach wie vor in vielen Orten ein kultureller und wirtschaftlicher Fixpunkt ist, zukunftsfest und nachhaltig zu machen. Es lohnt sich, landwirtschaftliche Familienbetriebe zu erhalten, zu stärken und zu fördern. Denn hier sind oft das Wissen und die Erfahrung ganzer Jahrhunderte konzentriert. Aber es geht noch um viel mehr: um die Weiterentwicklung ländlicher Regionen zu modernen Lebensräumen, die mit den urbanen Regionen Schritt halten können. Und auch das ist eine Frage des Respekts. Viele Menschen, die – so wie ich – aus kleineren Städten oder Dörfern kommen, werden von manchen Metropolenbewohnern als Provinzler belächelt. Weil sie nicht die Kleidung tragen, die gerade in Großstädten hip ist, weil sie sich den heimischen Dialekt bewahrt haben, weil sie nicht nur Sushi, sondern auch die lokale Küche mögen. Für mich ist Provinz kein Schimpfwort. Die Provinz hat Deutschland stark gemacht. Und: Die Provinz ist für die allermeisten Menschen eben nicht «provinziell», sondern höchst lebenswert.

Deshalb möchte ich eines betonen: Wenn wir vom Respekt und der Würde der Menschen sprechen, dann ist dies auch ein Prinzip, das sich in einer energischen Politik für die Erhaltung ihrer Lebensräume ausdrücken muss. Ich möchte einen zentralen Auftrag, den uns unser Grundgesetz in Artikel 72 vorgibt und der anscheinend etwas in Vergessenheit geraten ist, wieder in den Vordergrund rücken: den Auftrag des Bundes, «gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland» zu schaffen.

Um den ländlichen Raum zu erhalten und fit für die Zukunft zu machen, brauchen wir Investitionen: in die lokale Infrastruktur, in die Bildung und Qualifizierung vor Ort und in die Schaffung und Modernisierung der digitalen Anschlüsse. Es darf uns nicht passieren, dass ganze Landstriche von der Digitalisierung ausgeschlossen werden und sich die Menschen abgehängt fühlen. Wir brauchen einen Plan für die Organisation der ländlichen Daseinsvorsorge. Wir brauchen Kriterien, die über das Wirtschaftliche hinausreichen und das Soziale und Kulturelle stärker in den Blick nehmen. Es ist eine große Aufgabe, aber eine, die sich lohnt. Ich will diese Aufgabe anpacken. Weil ich aus meiner eigenen Erfahrung als Kommunalpolitiker weiß, wie wichtig sie ist. Weil es ein Thema ist, das mir selbst sehr am Herzen liegt. Und weil Menschen einfach eine Heimat brauchen.

Kapitel 2Der Kampf gegen rechts und den Ultranationalismus

Ein Kind in einem Nachkriegselternhaus

Das Leid, das durch die Nationalsozialisten über Deutschland und ganz Europa gebracht wurde, hat auch vor der Geschichte meiner Familie nicht haltgemacht. Ich möchte diese hier nicht in Gänze ausbreiten. Aber ich möchte exemplarisch vom Schicksal eines Mannes erzählen.