Was mit Demenz noch alles geht - Ruth Wetzel - E-Book

Was mit Demenz noch alles geht E-Book

Ruth Wetzel

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Beschreibung

Menschen mit Demenz erleben im Verlauf der Krankheit unterschiedlichste Phasen, die für sie selbst und für ihr Umfeld nicht immer einfach sind. Dabei brauchen sie zunehmend Unterstützung bei vielen Alltagstätigkeiten. Wie können Fachkräfte mit ihrer Pflege Sicherheit und Geborgenheit vermitteln? Wie können sie die gemeinsame Zeit nutzen, um Fähigkeiten zu erhalten, die Persönlichkeit zu stärken und Erinnerungen hervorzulocken? Dieses Buch vermittelt die theoretischen Grundlagen einer personzentrierten Pflege bei Demenz. Es zeigt Schritt für Schritt, wie sie im Alltag umgesetzt werden kann. Vielfältige Methoden, von der biografischen Schatzkiste bis zur tiergestützen Intervention, werden mit Fallbeispielen in jeweils sechs Phasen von der Bedarfsermittlung bis hin zur Dokumentation vorgestellt.

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Reinhardts Gerontologische Reihe

Band 59

Ruth Wetzel

Was mit Demenz noch alles geht

Personzentrierte Aktivierung Schritt für Schritt

Mit 29 Abbildungen, 39 Tabellen und Online-Arbeitsblättern

2., aktualisierte Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Ruth Wetzel, Balzheim, Krankenschwester, Altentherapeutin, Gerontopsychiatrische Fachkraft, Gedächtnistrainerin, Referentin für Generationen- und Altenarbeit ist freiberuflich tätig als Dozentin und Referentin mit dem Schwerpunkt Demenz in Weiter- und Fortbildungen.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03063-7 (Print)

ISBN 978-3-497-61949-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61950-4 (EPUB)

ISSN 0939-558X

 

2., aktualisierte Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

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Printed in EU

Covermotiv: © iStock.com / romrodinka (Frau mit Gießkanne) / Nikada (Bilderrahmen) / marlenka (kleines Schwarz-Weiß-Foto). Agenturfotos. Mit Model gestellt

Satz: Sabine Ufer, Verlagsherstellung, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Aktivierung im Alter

1.1 Was verstehen wir unter Aktivierung und Motivation?

1.2 Warum brauchen wir Aktivierung?

1.3 Individuell sinnvolle Aktivierung

1.4 Wie öffnen wir Türen zu Menschen mit Demenz?

2 Was Sie über Demenz wissen müssen

2.1 Hauptsymptome der Demenz

2.2 Diagnostik

2.3 Demenzarten

2.4 Krankheitsverlauf

3 Personzentrierte Pflege nach Tom Kitwood

3.1 Was heißt es, eine Person zu sein?

3.2 Identität als notwendiges Persönlichkeitsgerüst

3.3 Welche Bedürfnisse hat ein Mensch mit Demenz?

3.4 Psychische Bedürfnisse nach Tom Kitwood

4 Das Prinzip der Geborgenheit

5 Biografie und Leibgedächtnis

5.1 Biografiearbeit

5.2 Besonderheiten des Leibgedächtnisses

6 Allgemeine Situationsanalyse der Aktivierung

6.1 Eingeschränkte Alltagskompetenz

6.2 Bedarfsanalyse der sozialen Betreuung

6.3 Sogenanntes herausforderndes Verhalten

6.4 Interventionsmöglichkeiten bei Demenz

7 Wohn- und Lebensformen für Menschen mit Demenz

8 Methodische Ansätze in der Alltagsbetreuung Schritt für Schritt

8.1 Erinnerungsarbeit

8.2 10-Minuten-Aktivierung

8.3 Die biografische Schatzkiste

8.4 Milieutherapie / Milieugestaltung

8.5 Musik – „der Königsweg“

8.6 Gartentherapie / Naturerleben

8.7 Tiergestützte Intervention

8.8 Esskultur

8.9 Feste feiern

8.10 Bewegung in der Wohngruppe

8.11 Rituale

8.12 Kreativität im Alter

8.13 Spiritualität

9 Kooperationsarbeit

9.1 Angehörigenarbeit

9.2 Ehrenamt

9.3 Vereine

9.4 Kindergärten, Schulen, Musikschulen und Hochschulen

Nachwort und Danksagung

Literatur

Sachregister

 

 

Die Online-Arbeitsblätter zum Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie die Online-Arbeitsblätter unter den Produktanhängen.

Vorwort

„Und was tun wir jetzt …?“ Dieser Satz hat mich in meiner Arbeit als Altentherapeutin in einem integrativen Pflegeheim vor einigen Jahren wachgerüttelt und neugierig gemacht. Warum, fragen Sie sich bestimmt. Darüber möchte ich Ihnen gerne berichten.

Eine attraktive und gebildete Bewohnerin, die einen Doktortitel der Physik trug, war an einer mittlerweile fortgeschrittenen Demenz erkrankt. Ihre Tochter war sehr überrascht, dass eine so gebildete Person an dieser Alzheimer-­Demenz erkrankt. Sie pflegte trotz der Demenz weiterhin eine gute Beziehung zu ihrer Mutter. Die Mobilität der Mutter war bereits sehr eingeschränkt. Vom Rollstuhl aus konnte sie aber ihre wichtigen sozialen Kontakte erfahren und ihre Neugier stillen.

Im Kontakt mit dem Personal, mit mir, stellte sie immer wieder die Frage: „Und was tun wir jetzt?“ Ich antwortete angepasst an die Tagessituation, langsam, deutlich und in Blickkontakt mit ihr. Dabei hatte ich den Eindruck, dass sie mich verstand. Ein paar Minuten später erklang aber die gleiche Frage wieder, und das konnte sich immer öfter wiederholen. Es war klar: Ihr Denkvermögen war eingeschränkt. Dieses dauernde Fragen kann einen mächtig herausfordern! Insbesondere, wenn man die Krankheit Demenz mit all ihren Eigenheiten nicht kennt.

Aus der Biografie wusste ich, dass die Bewohnerin als promovierte Physikerin viele Jahre in Paris und in Prag gearbeitet hatte. Ihre Tochter erzählte mir immer wieder, dass sie viele Fremdsprachen wie Französisch, Englisch, Tschechisch fließend sprechen konnte. Und jetzt stellte sie immer wieder dieselbe Frage. Dieses Verhalten traf die Tochter schon sehr.

Eines Tages kamen vier Gymnasialschülerinnen zu einem einwöchigen sozialen Praktikum zu mir. Ich erfuhr in unserer Kennenlernrunde, dass zwei von ihnen Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hatten. Die Schülerinnen erlebten natürlich auch die Situation mit der Frau Doktor und fragten mich, warum sie immer wieder dasselbe sagte. Ich erklärte ihnen die Erkrankung mit ihren Phasen und fortschreitenden Symptomen. Während dieses Gesprächs kam mir eine zündende Idee.

Nach Absprache mit den zwei Schülerinnen, die Französisch lernten, besuchten wir Frau Doktor am nächsten Tag gemeinsam. Ich hatte die beiden Schülerinnen gebeten, sie auf Französisch zu begrüßen, sich so vorzustellen und ein Gespräch zu führen. Kaum erklang „Bonjour“, reichte die Bewohnerin den Schülerinnen ihre Hand zur Begrüßung. So wie ich es beobachtete – ich verstehe leider kein französisch – entstand eine angenehme Atmosphäre. Das Gespräch wurde stark von der Frau Doktor geprägt, sie fühlte sich verstanden und wirkte sehr zufrieden.

Was war denn da passiert? Die beiden Schülerinnen erzählten mir nach dem Besuch mit Begeisterung, was sie alles von der Bewohnerin erfahren hatten – natürlich auf Französisch: dass sie in Paris gearbeitet habe und Paris liebe. Es sei eine wunderbare Stadt mit vielen schönen Sehenswürdigkeiten. Das Schönste, was Frau Doktor erzählte – und worüber die Schülerinnen auch schmunzeln mussten – war, dass sie von den hübschen „Franzosen“ schwärmte.

Eine Schülerin meinte: „Sie kann ja besser Französisch als ich“. Ja, das kann natürlich sein! Denn in diesem Moment hatten die beiden Schülerinnen eine wichtige Tür geöffnet und ihre sprachliche Ressource geweckt. Die Frage „Und was tun wir jetzt?“ war ausgeschaltet, da die Frau Doktor in ihrer Zeit in Paris leben durfte.

Wenn eine ehemalige Nachbarin – die in Tschechien geboren war – die Dame besuchte, war der Kontakt über die tschechische Sprache gewährleistet. Auch hier konnte man ein wunderbares soziales Miteinander erleben. Beide lachten viel und zeigten sichtbare Freude.

Diese Erfahrung öffnete die Tür zu meiner Neugier und weckten mein Interesse, mich mit dem Krankheitsbild „Demenz“ intensiver zu befassen. Dies habe ich durch eigene Weiterbildung, einige Projekte und meine derzeitige freiberufliche Tätigkeit in der Bildungsarbeit mit ihren Aus,- Fort,- und Weiterbildungen erarbeiten dürfen.

Was geschieht in dem Menschen? Was berührt ihn? Was bewegt ihn? Es ist mir deutlich geworden – und der Trigger war die beschriebene Erfahrung mit der Frau Doktor – dass ihre dauernde Frage „Und was tun wir jetzt?“ auf die vielen Möglichkeiten hinwies, mit den Menschen mit Demenz etwas zu tun.

Ich wünsche Ihnen beim Lesen und Durcharbeiten dieses Buches viele Augenblicke des Verstehens! Bleiben Sie neugierig!

Balzheim, Juli 2021

Ruth Wetzel

Einleitung

Demenz ist eine Krankheit, die jeden treffen kann. Wir werden mit diesem Thema in unserem privaten und beruflichen Umfeld häufiger und intensiver konfrontiert. Dank der medizinischen Weiterentwicklung und unserer Lebensweise werden wir immer älter; das freut uns sehr. Statistiken zeigen aber, dass Alterserkrankungen sowie Demenz deutlich ansteigen.

„Im Jahr 2021 wurden deutschlandweit rund 1,7 Millionen Demenzkranke über 65 Jahre gezählt. Davon waren rund zwei Drittel weiblich. Frauen haben nicht nur aufgrund einer höheren Lebenserwartung eine größere Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Eine zentrale Rolle fällt hierbei den weiblichen Sexualhormonen zu, insbesondere den Östrogenen“ (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/246028/umfrage/anzahl-der-demenzkranken-in-deutschland-nach-alter-und-geschlecht/, 10.06.2024).

Jedes Jahr werden deutschlandweit rund 430.000 Demenz-Neuerkrankungen gezählt: Infolge des demografischen Wandels nimmt die Anzahl der Betroffenen weiter zu. Gelingt kein Durchbruch der Prävention oder Therapie, könnten nach aktuellen Schätzungen in Deutschland im Jahr 2050 bis zu 2,8 Millionen Menschen im Alter 65+ erkrankt sein.

Eine Demenz kann in jeder Altersgruppe auftreten, besonders häufig ist sie aber im höheren Alter. Nach Hochrechnungen der WHO werden im Jahr 2050 weltweit 139 Millionen Menschen mit Demenz leben (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2022).

Welches Schicksal mag uns treffen? Könnte es auch Demenz sein? Dieses Krankheitsbild fordert alle, die mit dem betroffenen Menschen zu tun haben.

Doch wie fühlt ein Mensch mit Demenz? Wie können wir mit ihm umgehen? Wie lässt sich die gemeinsame Situation erleichtern?

In diesem Buch möchte ich, ganz wie der Titel „Was mit Demenz so alles geht“ ankündigt, Ihnen „Handwerkszeug“ mit auf den Weg geben.

Einige Schwerpunkte liegen mir in diesem Buch besonders am Herzen: Wenn ich verstehe, wie sich ein Mensch mit Demenz fühlt, kann ich mit zahlreichen methodischen und alltagsorientierten Aktivierungen diesen Menschen in „seiner Welt“ begleiten. Außerdem habe ich das Wohngruppenkonzept aufgegriffen, denn diese Wohn- und Lebensform wird die Zukunft prägen. Dort wird man gemeinsam mit anderen – wie in einer „Großfamilie“ – als demenziell betroffener Mensch den Alltag erleben.

Durch meine jahrelange therapeutische Erfahrung in der Altenpflege, Gerontopsychiatrie und Bildungsarbeit gebe ich Ihnen anhand von Fallbeispielen eine „Gebrauchsanweisung“ an die Hand. Diese Vorgehensweise können Sie dann für jede Person nutzen und personzentriert erarbeiten.

Im letzten Kapitel greife ich noch die Kooperationsarbeit zu diesem Thema auf. Denn die Unterstützung durch zahlreiche Institutionen erweitert den Horizont in unserer Gesellschaft nach dem Motto: Wir müssen lernen, mit Demenz zu leben!

1 Aktivierung im Alter

BEISPIEL

Frau Zimmer, 99 Jahre alt, sitzt daheim in ihrem Ohrensessel; ihre Füße liegen bequem auf einem bunt gepolsterten Hocker. Es ist Montag, 9.30 Uhr – eigentlich ein gewohnter Arbeitstag für eine Hausfrau, Mutter und Großmutter. Die zeitliche Orientierung bietet ihre Armbanduhr. Das Anlegen dieser Uhr ist am Morgen Pflicht. Das selbständige Richten der Mahlzeiten kann sie nicht mehr übernehmen. Sie lebt bei ihrer Tochter im Haus, die diese Unterstützung liebevoll übernimmt.

8.00 Uhr ist Frau Zimmers gewohnte Frühstückszeit. Kommt das Frühstück einmal nicht pünktlich, ruft Frau Zimmer ihre Tochter oder klopft mit ihrem Gehstock auf den Fußboden.

Das Problem ist, sie sitzt und sitzt und sitzt. Die Kontinenz der Blase aktiviert sie noch zum selbständigen Toilettengang. Aber was ist dann? Sie sitzt wieder, nickt vielleicht ein. Sie kann ihren Alltag nicht mehr selbst gestalten; sie sitzt tagein, tagaus.

Wenn ihre Tochter nicht gewohnte Reize setzen würde im geistigen, physischen und sozialen Bereich, würde Frau Zimmer langfristig verkümmern, was unterschiedliche Probleme nach sich zöge. Sie leidet alters­bedingt an arthritischer Schmerzproblematik, insbesondere in den Hüftgelenken, einem Altersdiabetes und einer Alzheimer-Demenz im mittleren Stadium. Sie ist zeitlich, örtlich und zur Person orientiert, aber die Alltagskompetenz ist eingeschränkt.

In diesem Fallbeispiel spürt man deutlich: „Das ist nicht die Normalität!“ Aber was heißt Normalität? Erwin Böhm (2012) nutzt in seinem psychobiografischen Pflegemodell den Begriff des Normalitätsprinzips. Er beschreibt es so, dass jeder Mensch durch seine Herkunft, Sozialisation, Kultur und Erfahrungen eine eigene Lebensform entwickelt hat. Diese ergibt sein Bild eines normalen Verhaltens und Handelns.

Wer sich mit dem Thema intensiver beschäftigen möchte, dem empfehle ich das Buch: „Verwirrt nicht die Verwirrten – neue Ansätze geriatrischer Krankenpflege“ von Erwin Böhm.

Zu den persönlichen Lebensformen eines Menschen zählen z. B.,

  worin er den Sinn des Lebens sieht,

  womit er sich beschäftigt,

  welche sozialen Kontakte er pflegt,

  wie er sich kleidet,

  wie und was er isst,

  usw.

Ist dies nun aufgrund physischer, psychischer und sozialer Einschränkungen durch unterschiedliche Ursachen nicht mehr selbständig möglich, können Defizite entstehen, die im Alter die Lebensqualität stark einschränken. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wird die Unterstützung bei den gewohnten Lebensformen eines alten Menschen sehr wichtig. Das erkennt man auch deutlich im Beispiel von Frau Zimmer: Würde die Tochter ihr nicht jeden Morgen die Armbanduhr anlegen, könnte Frau Zimmer ihren normalen gewohnten Alltag nicht „aktiv“ erleben.

Warum und in welchen Situationen Menschen, insbesondere alte Menschen, Aktivierung brauchen, möchte ich Ihnen in den nächsten Kapiteln verdeutlichen.

1.1 Was verstehen wir unter Aktivierung und Motivation?

DEFINITION

Aktivierung geht auf das Adjektiv aktiv (lateinisch: activus „tätig, wirksam“) zurück. Unter Aktivierung versteht man allgemein ein In-Tätigkeit-setzen, ein In-Gang-bringen. Aktivität und Beschäftigung sind menschliche Grundbedürfnisse.

Der Mensch bewegt sich in seinem ganzen Leben immer zwischen

  Aktivität und Passivität,

  Anspannung und Entspannung,

  Tun und Lassen.

Für das körperliche und seelische Wohlbefinden ist ein Gleichgewicht zwischen diesen Polen sehr wichtig. Kommt aus irgendeinem Grunde ein Ungleichgewicht zustande, spürt das jeder Mensch anders. Er kann sich unwohl, unausgeglichen, angespannt, unzufrieden, missmutig, zornig oder ängstlich fühlen – was bis hin zur depressiven Verstimmung und / oder Depression führen kann

Um einem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, hat jeder gesunde Mensch die Möglichkeit, über die Motivation wieder ein Gleichgewicht herzustellen.

Abb. 1.1: Der Prozess der Motivation

Motivation kann durch Instinkte, Bedürfnisse, innere und äußere Reize und die persönlichen Erwartungen positiv aktiviert werden. Ein kranker Mensch aber braucht Unterstützung durch einen anderen Menschen, der das Ungleichgewicht erkennt und diesem durch Aktivierung entgegenwirkt.

Am Bedürfnis von Frau Zimmer, „pünktlich zu frühstücken“, lässt sich der Motivationsprozess gut darstellen.

Abb. 1.2: Der Motivationsprozess am Beispiel von Frau Zimmer

1.2 Warum brauchen wir Aktivierung?

In seiner Hierarchie menschlicher Bedürfnisse (Abb. 1.3) nannte der Psychologe Abraham Maslow die unteren vier Stufen essenzielle oder Defizitbedürfnisse. Ihre Erfüllung ist für ein gesundes Leben in jedem Alter notwendig und wichtig.

Abb. 1.3: Bedürfnispyramide orientiert an Maslow (2010)

Unsere Bedürfnisse haben wichtige Eigenschaften:

  sie variieren je nach Lebensalter, Herkunft (Stadt oder Land) und Kultur,

  sie sind größtenteils universell, d. h. alle Menschen brauchen die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse,

  sie sind formbar, z. B. durch Werbung,

  und sie sind Energiequellen für unsere Handlungen.

In unserer Gesellschaft ist für jeden Einzelnen sehr wichtig, die größtmögliche Selbständigkeit zu erhalten. Die Freizeit nach seinen Vorstellungen zu verbringen, den Aufenthaltsort zu wählen oder den Personenkreis, mit dem ich in Kontakt treten möchte, ist eine individuelle freie Entscheidung.

Das ändert sich, wenn ein Mensch durch geistige und / oder körperliche Defizite – durch ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege – von anderen abhängig ist.

  Alle möglichen Funktionen reduzieren sich auf den Heimbereich oder die häusliche Umgebung.

  Alles Tun vollzieht sich in unmittelbarer Gegenwart einer Gruppe, die eine gleiche Art von Betreuung erwartet.

  Der Tagesablauf ist weitgehend vorprogrammiert.

Das Zuhause eines alten, kranken Menschen verändert sich, die gewohnte Normalität kann nicht immer gelebt werden. Rückzugsgedanken werden deutlich sicht- und hörbar. Man erlebt in solchen Situationen häufig Verhaltensmerkmale wie Initiativverlust und geringes Interesse an der eigenen Zukunft. Dem soll entgegengewirkt werden durch individuell angepasste und sinnvolle Aktivierung.

1.3 Individuell sinnvolle Aktivierung

Wir nutzen das Wort „sinnvoll“ in unserem Sprachgebrauch sehr häufig. Das Leben soll Sinn haben, soll sinnvoll sein! Das ist natürlich bei jedem Menschen – ob jung oder alt – unterschiedlich besetzt. Jeder hat individuelle, für ihn sinnvolle Bedürfnisse und Vorlieben, die durch seine Sozialisierung, Kultur und Erfahrungen geprägt sind. Diese Bedürfnisse zu erkennen, Ressourcen zu wecken und diese sinnvoll zu nutzen ist bei körperlicher, psychischer und sozialer Pflegebedürftigkeit die wichtigste Aufgabe unserer personzentrierten, aktivierenden Pflege und Betreuung.

Bei Frau Zimmer wissen wir von ihren Vorlieben und Erfahrungen sehr wenig. Wir kennen ihre Anamnese. Durch Verknüpfung der Symptome ihrer Erkrankungen können wir die geistigen und körperlichen Einschränkungen verstehen. Aber was hat Frau Zimmer früher gerne gemacht? Was waren für sie sinnvolle Tätigkeiten? Um dies im Sinne einer professionellen Betreuung herauszufinden, brauchen wir weitere Informationen aus ihrer Biografie (vgl. Kap. 5).

1.4 Wie öffnen wir Türen zu Menschen mit Demenz?

Wie erreiche ich einen Menschen mit Demenz? Wie öffne ich die Tür zu seiner Welt? Diese Fragen stellen sich tagtäglich die Personen, die mit ihnen im ambulanten oder (teil-)stationären Bereich zu tun haben, aber natürlich auch die betroffenen Angehörigen in der häuslichen Umgebung.

Es ist eine herausfordernde Aufgabe, da jeder betroffene Mensch mit Demenz seine individuellen Lebenserfahrungen und Gewohnheiten hat. Situationen aus seiner Lebensgeschichte haben seine Erfahrungen geprägt. Hinzu kommen die Verhaltensweisen, die durch das Krankheitsbild der Demenz auftreten können.

Daraus wird deutlich, dass neben den Grundlagen der Erkrankung Demenz und den methodischen Ansätzen die geschichtlichen Hintergründe, die Kultur und die Biografie bei jedem zu betreuenden Menschen wichtig sind.

Abbildung 1.4 macht deutlich, wie viele Schlüsselreize oder Trigger ich als Zugang zu Menschen mit Demenz nutzen kann. Dadurch will ich jedem Menschen Lebensfreude und Lebensqualität vermitteln und erreichen, dass er sich verstanden fühlt und sich sinnvoll beschäftigen kann.

Abb. 1.4: Türöffner

2 Was Sie über Demenz wissen müssen

Der Begriff Demenz stammt aus dem Lateinischen („dementia“) und bedeutet übersetzt „ohne Geist“ oder „ohne Verstand“. Es ist eine Gruppe von Krankheitsbildern, bei denen wichtige Gehirnfunktionen wie das Gedächtnis, die Orientierung, die Sprache, das Rechnen, das Denken, die Auffassungsgabe und die Lernfähigkeit nach und nach unwiderruflich verloren gehen. Dadurch verändert sich manchmal die Persönlichkeit der Betroffenen, was sich sehr unterschiedlich äußert: Sie können einen heiteren Gemütszustand aufweisen, aber auch antriebslos wirken oder sogar in unkontrollierte Gefühlsausbrüche verfallen.

2.1 Hauptsymptome der Demenz

Folgende Symptome können bei einer Demenz auftreten:

  Gedächtnisabnahme

  Orientierungsstörungen (zeitlich, örtlich, situativ, personenbezogen)

  reduziertes Denkvermögen

  reduzierte Aufmerksamkeit und Konzentration

  soziale Beeinträchtigung, Verhaltensänderungen, Aggression und Wut

  Halluzinationen (die Menschen riechen, sehen oder hören etwas, was gar nicht da ist)

  Wahnvorstellungen (z. B. bestohlen werden, Postbote unterschlägt wichtige Briefe)

  Schlafstörungen, nächtliches Herumlaufen

  Wandern, Ruhelosigkeit (ich muss heim, ich bin am falschen Ort, Langeweile oder Unwohlsein)

  reduzierte Intelligenz

  Beeinträchtigung der Alltagstätigkeiten (eingeschränkte Alltagskompetenz)

Abbildung 2.1 zeigt, wie sich im Krankheitsverlauf durch Zunahme der Symp­tome die individuell erworbenen Lebenspuzzle-Teile reduzieren können. Es wird dabei deutlich, dass die aktuellen Erfahrungen zuerst entschwinden. Die persönlichen Entwicklungen und Interessen aus der Kindheit bleiben am längsten erhalten.

Abb. 2.1: Veränderungen im Lebenspuzzle

2.2 Diagnostik

Da die genannten Symptome auch bei anderen Krankheiten auftreten können, ist es dringend angezeigt, eine Differenzialdiagnostik durchführen zu lassen.

Anlaufstellen und Methoden für die Differenzialdiagnostik

  Facharzt für Neurologie oder Psychiatrie

  Gedächtnissprechstunde in einer Memoryklinik

  psychodiagnostische Verfahren (Uhrentest, Mini-Mental-Status-Test (MMST), …)

  Computer- oder Kernspintomografie

  Ausschlussverfahren verschiedener Ursachen

  Früherkennung durch Biomarker in Blut und Liquor

2.3 Demenzarten

Schnell kommt es im alltäglichen Sprachgebrauch zu der Aussage, wenn man mal den Schlüssel verlegt hat, „ich glaube, ich habe Alzheimer“. Diese Aus­sage zeigt, wie bekannt Alzheimer-Demenz in unserer Gesellschaft mittlerweile ist. Die Alzheimer-Demenz ist mit bis zu 70 % die häufigste Demenzerkrankung. Der früher bezeichnete „Altersblödsinn“ wurde schon seit Jahrtausenden im Alter wahrgenommen und beschrieben. Dieses änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Im Jahr 1907 beschrieb der deutsche Psychiater und Neuro­pathologe Alois Alzheimer den ersten Fall der Krankheit, welche später als Alz­heimer-­Krankheit bekannt wurde.

Die Patientin Auguste Deter war eine 50 Jahre alte Frau, die Alois Alzheimer nach der Aufnahme in die Frankfurter Nervenklinik medizinisch begleitete. Auguste Deter wies damals eigenartige schwere Erkrankungsprozesse der Hirnrinde auf. Sie blieb in der Klinik bis zu ihrem Tode im Jahr 1906. Durch Obduktionsbefunde stieß Alzheimer erstmals auf spezifische neuropathologische Veränderungen im Gehirn der Verstorbenen. Diese beschriebenen Erkenntnisse sind heute noch weitgehend die Grundlagen der Alzheimer-Demenz.

Im Gehirn bilden sich typische Eiweißablagerungen (Amyloidplaques), die zwischen den Nervenzellen verklumpen, welche dadurch absterben und Signale nicht mehr richtig weiterleiten können. Sinnesreize werden wahrgenommen, können aber durch die Störungen in den Nervenzellen nicht mehr verarbeitet werden. So kommen die Defizitsymptome zustande, die den betroffenen Menschen zunächst in die Unsicherheit drängen. Werden die Symptome von dem Menschen mit Demenz nicht mehr bewusst wahrgenommen, handelt dieser, ohne zu bewerten oder abzuwägen. Man könnte in dieser Situation meinen: „Der Mensch ist frei.“

Angehörigen ohne Kenntnisse der Erkrankung fällt es schwer, dies zu verstehen. Häufig erleben sie dann „herausforderndes Verhalten“ seitens des Kranken, denn die Realität des Menschen mit Demenz ist nicht die ihre.

Schaut man sich nochmals das bröckelnde Lebenspuzzle an (Abb. 2.1), erkennt man, dass die letzten aktuellen Erfahrungen und Lebensinhalte ausgeblendet sein können. Das heißt, Kommunikation über diese Bereiche kann durch die Feststellung der Defizite Spannungssituationen hervorrufen.

Abbildung 2.2 zeigt, welche Krankheiten mit einer Demenz verbunden sind, je nach Ursache unterteilt in primäre (90 %) und sekundäre (10 %) Demenzen.

Abb. 2.2: Krankheiten mit Demenz (nach Charlier 2012, 243)

2.4 Krankheitsverlauf

Die an Alzheimer-Demenz erkrankten Menschen leiden durchschnittlich 7–10 Jahre an dieser Krankheit, es gibt aber auch Patienten, die bis zu 20 Jahre mit ihr leben. Sie wird in drei Phasen eingeteilt, leichtgradige Demenz, mittelschwere Demenz und schwere Demenz. Bei der Dauer dieser Phasen spricht man von ca. drei Jahren pro Phase.

Leichtgradige Demenz: Alzheimer-Demenz kündigt sich fast immer mit einer Vergesslichkeit an, die im weiteren Demenzverlauf zunimmt. Meist ist das Kurz­zeitgedächtnis zuerst betroffen, ein vor kurzem geführtes Gespräch wird schnell vergessen. Die Betroffenen erinnern sich nicht daran, wo die Brille oder die Schlüssel sind, und wissen nicht mehr, ob sie heute schon einkaufen waren. Gesprächen können sie zunächst nur noch teilweise folgen. Sie verlieren die zeitliche und örtliche Orientierung, wissen nicht mehr, wo sie sind und wie spät es ist. Termine können daher nicht mehr selbständig wahrgenommen werden. Die Betroffenen merken, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist. Sie erleben Einschränkungen in der Alltagskompetenz, welcher jeder Betroffene unterschiedlich begegnet. Der eine zieht sich zurück, schämt sich. Ein anderer kann es gut überspielen.

Frau Zimmer wird von ihrer Tochter gefragt: „Was für einen Tag haben wir heute?“ Mit überzeugter Stimme antwortet sie: „Wie kannst du mich das fragen, schau doch selber auf den Kalender!“

Darüber kann man lächeln … Aber es gibt auch Personen, die sich aus Angst und Scham zurückziehen.

Mittelschwere Demenz: Die Symptome des Frühstadiums werden immer stärker. Zusätzlich leiden viele Betroffene an plötzlichen Stimmungsschwankungen, die oft sogar in Aggressivität münden. Der Biorhythmus gerät durcheinander, so dass viele Betroffene erst nachts aktiv werden. Die „normalen“ Bewegungsabläufe werden schwieriger, sie verlieren zunehmend ihre Selbständigkeit. Hilfe beim Essen, Waschen und Anziehen wird notwendig. Die richtige Reihenfolge der Kleidungsstücke beim Anziehen haben die Menschen vergessen. In fortgeschrittenem Stadium leiden einige Alzheimer-Patienten unter Wahnvorstellungen.

Schwere Demenz: In dieser Phase kommt es zum kompletten Gedächtnisverlust. Die engsten Freunde und Verwandte werden nicht mehr erkannt. Gespräche sind nicht mehr möglich. Die Betroffenen wiederholen Worte oder Satzteile, die sie zuvor gehört haben, oder murmeln Fantasiewörter, manchmal auch nur noch Silben. Auch die Motorik verschlechtert sich. Die betroffenen Menschen verlieren ihre Mobilität, Gelenke versteifen (eine Embryonalstellung kann entstehen), und es kommt zur Inkontinenz. Sie sind teilnahmslos, bewegen sich nicht mehr ohne Aufforderung. Bettlägerigkeit und künstliche Ernährung können folgen, die schließlich zu einer geschwächten Immunabwehr führen können, wodurch sich Infektionen schneller ausbreiten. Am Ende sterben die meisten Betroffenen, zusätzlich bedingt durch Schluck- und Atembeschwerden, an Lungenentzündungen oder anderen Atemwegserkrankungen.

3 Personzentrierte Pflege nach Tom Kitwood

Im Rahmen meiner beruflichen Laufbahn als Altentherapeutin und gerontopsychiatrische Fachkraft in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie bin ich in zahlreiche Situationen geraten, habe viele Dinge beobachtet und teilweise beängstigende Bilder gesehen, bei denen ich mir dachte: Da muss sich etwas ändern.

Alte Menschen werden durch den Alterungsprozess häufig in eine Klassifizierung gesteckt. Die Folge ist, dass sie dementsprechend behandelt werden, obwohl sie Personen sind, die ihr individuell Mögliches zum Wohle unserer Gesellschaft erbracht haben. Zum Alter können aber körperliche und psychische Erkrankungen hinzukommen, und dann vielleicht auch noch Demenz. Was tun wir dann? 

Abb. 3.1: Personzentrierte Pflege bei Demenz verleiht den Bedürfnissen neues Gewicht

Menschen mit Demenz scheinen Vielen in unserer Gesellschaft nicht in ihr Bild von Normalität zu passen. Als betroffener Angehöriger, Zugehöriger verknüpfen wir leider sehr schnell die Symptome des Krankheitsbildes und die Ängste, was passieren kann, mit Scham: „Was redet man in meinem privaten Umfeld?“ Aber wo bleibt dabei der Mensch? Wo bleibt die PERSON mit Demenz?

Als Pionier nahm Tom Kitwood sich des Themas der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz an, verbunden mit dem Paradigma der Personzentrierung.

Kurze Biografie Tom Kitwoods (nach Kitwood 2016, 267–269)