Was, wenn wir fliegen - Kim Nina Ocker - E-Book
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Was, wenn wir fliegen E-Book

Kim Nina Ocker

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Beschreibung

Eine Liebe in schwindelerregender Höhe ...

Sophie war Luftartistin - bis zu einem tragischen Sturz. Danach hatte sie sich geschworen, nie wieder an einem Trapez zu turnen. Als bei einem Zirkus ein Mädchen für alles gesucht wird, bewirbt sich Sophie spontan und bekommt prompt den Job - von ihrer Vergangenheit erzählt sie jedoch nichts. Ihr altes Leben geheim zu halten wird allerdings schwieriger als gedacht. Denn plötzlich steht Bo vor ihr: ein charmanter Feuerkünstler, den sie von der Artistenschule kennt. Langsam kommen sich Sophie und Bo näher, und sosehr sie es auch versucht, sie kann seiner Anziehung nicht widerstehen. Doch ihre Vergangenheit holt sie ein. Denn jemand will um jeden Preis verhindern, dass Sophie wieder auf der Bühne steht.

LESER-STIMMEN

"Eine wirklich schöne Geschichte, die zum Träumen einlädt und in eine Welt voller Glitzer und Magie entführt. Bo und Sophie sind toll zusammen und es macht Spaß ihre Geschichte zu lesen." (Schoppi124, Lesejury)

"Was, wenn wir fliegen ist ein Buch über Neuanfänge, Freundschaft, innere Stärke mit einer Liebesgeschichte fürs Herz, das vor einer ungewöhnlichen Kulisse spielt und mit viel Humor und Emotion geschrieben wurde. Lest dieses Buch und lasst euch verzaubern!" (Sarahs_Leseliebe, Lesejury)

"Dieses Buch ist etwas Besonderes. Es entführt die Leser in eine zauberhafte, fast schon magische Welt. Ganz großes Kopfkino!" (LittleCat, Lesejury)

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Seitenzahl: 498

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Über dieses Buch

Als bei einem Zirkus ein Mädchen für alles gesucht wird, bewirbt sich Sophie spontan und bekommt prompt den Job – von ihrer Vergangenheit als Luftartistin erzählt sie jedoch nichts.

Ihr altes Leben geheim zu halten wird allerdings schwieriger, als sie im Zirkus den charmanten Feuerkünstler Bo wiedertrifft, den sie von der Artistenschule kennt. Langsam kommen Sophie und Bo sich näher – doch ihre Vergangenheit scheint sie einzuholen … Denn jemand will um jeden Preis verhindern, dass Sophie wieder auf der Bühne steht.

Über die Autorin

Kim Nina Ocker, geboren 1993, wuchs im beschaulichen Büren in Nordrhein-Westfalen auf und lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Hannover. Ihr erster Roman, die Romantic Fantasy »Dark Smile – Lächle, Mona Lisa«, erschien 2014 bei Ullstein Forever, gefolgt von »Rise«, einer zweiteiligen Dystopie-Reihe, im Frühjahr 2015 und 2016, und dem Liebesroman »Eliza will Fahrrad fahren« Anfang 2017. Im Sommer 2017 erschien mit »Nothing Like Us« der erste Teil ihrer Upper-Eastside-Reihe bei LYX.digital.

Kim Nina Ocker

Was, wenn wir fliegen

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Redaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © buto/iStockphoto, © Christophe BOISSON/shutterstock, ©keri_aa/shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-4654-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

»There is freedom waiting for you,On the breezes of the sky,And you ask›What if I fall?‹Oh but my darling,What if you fly?«

– Erin Hanson –

Kapitel 1

Hannover

Ich hatte mal gehört, dass echte Abenteuer oft entweder mit einer exzellenten Abkürzung beginnen oder mit einer dummen Idee. Wenn Letzteres stimmte, befand ich mich gerade auf dem Weg in das Abenteuer meines Lebens. Und das bezweifelte ich ernsthaft. Ich starrte auf den Laptop vor mir, der bereits zum vierten Mal den Bildschirmschoner eingeschaltet hatte. Seit einer ganzen Weile, gefühlt seit Stunden, saß ich hier und las die wenigen Sätze der E-Mail:

3. April, 10:25 Uhr

Amelie Dupont <[email protected]>

Re: Freie Stelle

Liebe Frau Wolff,

vielen Dank für Ihre E-Mail und Ihr Interesse an unserem Unternehmen. Sehr gern laden wir Sie zu einem persönlichen Kennenlernen in Hannover ein.

Würde es Ihnen am Donnerstag gegen 15 Uhr passen? Bitte informieren Sie uns rechtzeitig über Ihr Kommen, dann nehmen wir Sie in Empfang.

Wir wünschen Ihnen noch einen sonnigen Tag.

Liebe Grüße,

Amelie & Hugo Dupont

Sie bedankten sich für meine Mail – das war der Witz des Jahrhunderts. Diese Nachricht war an einem Abend mit zu viel Wein und vielleicht dem ein oder anderen Tequila entstanden. Sie hätte niemals abgeschickt und niemals gelesen werden sollen. Doch jetzt hatte ich die Antwort, und sie löste eine Vielzahl von Gefühlen in mir aus – von denen zu meinem eigenen Ärger nicht alle negativ waren. Als ich den Namen des Absenders gelesen hatte, war mein Herz vor Aufregung ein paar Sekunden stehen geblieben, ganz sicher. Und jetzt befand ich mich noch immer in einer Art Schockstarre und war mir nicht sicher, ob ich mich allein wieder daraus befreien konnte.

Ich starrte auf die Mail, und in meinem Kopf begann es unaufhaltsam zu rattern. Heute war Dienstag, in zwei Tagen sollte ich mich bei ihnen vorstellen. Falls ich denn hingehen würde. Was ich nicht vorhatte. Warum sollte ich? Dieses Kapitel meines Lebens hatte ich abgeschlossen. Verdrängt und vergessen und in die hinterste Schublade meines Gehirns verbannt, damit es sich nicht ständig wieder in mein Bewusstsein schob. Wobei sich in diesem Fall natürlich die Frage stellte, wie mein weingetränktes Hirn es gestern Nacht geschafft hatte, einen Text zu formulieren, der Amelie und Hugo Dupont dazu bewegt hatte, sich mit mir treffen zu wollen.

Ich kniff ein Auge zusammen und hielt die Luft an, als ich auf die Mail klickte, die ich an [email protected] geschickt hatte.

3. April, 1:54 Uhr

Sophie Wolff

Freie Stelle

Sehr geehrte Damen oder Herren,

ich heiße Sophie Wolff, bin 25 Jahre alt und würde gerne für Sie arbeiten. Ich bin gerne schmutzig und wurde von meiner Mutter gut erzogen, ich passe also perfekt zu der Stelle. Ich bewerbe mich übrigens als Mädchen für alles. »Allroundkraft«, wenn Sie fancy sein wollen. Würde ich »Arsch vom Dienst« sagen, spräche das natürlich gegen besagte Erziehung.

Antworten Sie mir, wenn Sie mich wollen. Zum Arbeiten, natürlich.

Mit freundlichsten Grüßen

Sophie Wolff (mit zwei F)

Ich schob den Laptop beiseite und ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen. Das konnte einfach nicht wahr sein! Wie zur Hölle konnten diese Menschen mich nach solch einem Text zu einem Vorstellungsgespräch einladen? Das sprach eindeutig gegen das Unternehmen. Was mussten dort für Vollidioten arbeiten? Ich wollte definitiv nicht Teil dieses Teams werden.

Oder doch?

Stöhnend richtete ich mich auf und löste die Tastensperre auf meinem Handy. Das Display leuchtete auf. Nach kurzem Zögernd wählte ich die Nummer meiner Schwester und wartete ungeduldig darauf, dass sie abnahm.

»Was willst du?«, bellte sie ins Telefon.

Ich schielte auf die Uhr an meinem Laptop. Es war mindestens eine Stunde zu früh für einen Anruf bei Eileen. »Warum hast du mich diese Bewerbung schreiben lassen?«

Einen Augenblick blieb es still. »Was für eine Bewerbung?«

»Du erinnerst dich nicht mehr?«, fragte ich ungläubig.

»An was soll ich mich erinnern?«

Ich seufzte schwer und drückte mein Gesicht erneut auf den Tisch. »Wie viel Wein haben wir getrunken?«

»Keine Ahnung«, sagte sie, klang jetzt aber immerhin wacher. »Zwei oder drei Flaschen?«

»Mindestens zwei zu viel!«

Sie gähnte, und ich hörte Bettfedern quietschen. »Also, erzählst du mir jetzt, was los ist, oder hast du mich einfach nur zum Spaß geweckt?«

»Ich hab gestern Nacht um kurz vor zwei eine Mail an den Wonderland-Zirkus geschrieben und mich als Handlangerin beworben«, berichtete ich mit zusammengekniffenen Augen. »Und das mit der Ausdrucksweise einer verwöhnten Zehnjährigen.«

Eileen prustete, doch ich konnte ihre Belustigung beim besten Willen nicht teilen.

»Das ist nicht witzig, ehrlich!«

»Wieso nicht? Du wirst bestimmt nichts von denen hören, also was soll’s?«

Ich richtete mich auf. »Sie haben mich eingeladen, du Mängelexemplar! Sie wollen mich kennenlernen!«

»Nein!«, rief sie und gackerte los. Ich musste das Handy ein Stück von meinem Kopf weghalten, um ein unangenehmes Klingeln in meinen Ohren zu verhindern. »Sophie, sorry, aber das ist echt witzig!«

»Ist es nicht!«, entgegnete ich empört, aber sie hörte mir überhaupt nicht zu. »Was haben die denn jetzt für einen Eindruck von mir?«

Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder auf mich konzentrieren konnte. Ich erhob mich mit einem undamenhaften Grunzen von meinem Stuhl, lief hinüber in mein Schlafzimmer und ließ mich rücklings aufs Bett fallen. »Das ist so peinlich!«

»Warum?« Eileen riss sich zusammen, sie gluckste nur noch ab und zu. »Was stört es dich? Du hast die Bewerbung nicht ernst gemeint, oder?«

Am liebsten hätte ich sofort verneint. Es war die logische Antwort, die am leichtesten nachvollziehbare. Doch etwas hielt mich davon ab. Es war dasselbe Gefühl, das mich heute Morgen, als ich die E-Mail geöffnet hatte, vor Aufregung die Luft hatte anhalten lassen. Diese kleine, aber hartnäckige Flamme der Leidenschaft, die der Vorfall vor zwei Jahren nicht gänzlich zu ersticken vermocht hatte. Ich liebte und hasste dieses Feuer gleichermaßen. Manchmal lagen diese Gefühle so nahe beieinander, dass ich sie einfach nicht voneinander unterscheiden konnte.

»Sophie?«, hakte Eileen nach und riss mich damit aus meinem inneren Monolog. In ihre Stimme hatte sich ein neugieriger Unterton gemischt, der mich Böses ahnen ließ.

Ich kniff die Augen zu. »Natürlich habe ich das nicht ernst gemeint.«

»Ha! Das war eine Lüge!«

»War es nicht!«

»Du kaust auf deinem Daumennagel.«

Wütend riss ich die Hand von meinen Lippen. Verdammt, sie kannte mich einfach zu gut. »Es wäre lächerlich, zu dem Bewerbungsgespräch zu gehen, Eileen. Ich habe mich für einen Aushilfsjob für alles und nichts beworben. Ich bin eindeutig überqualifiziert!«

Eileen schnaubte. »Du hast seit zwei Jahren keine Bühne mehr betreten, Schwesterchen. Ich kenn mich mit dem Ganzen vielleicht nicht so gut aus, aber ich könnte schwören, dass eine so lange Auszeit sich nicht gerade positiv auf den Lebenslauf auswirkt.«

Autsch, falsches Thema. Allein bei der Erwähnung von Bühnenluft vollführte mein Herz die Salti, die mein Körper in den vergangenen beiden Jahren vermieden hatte. Als wollte es mich daran erinnern, was ich verpasste. Doch das würde nicht funktionieren. Ich hatte mich dafür entschieden, der Bühne fernzubleiben, und an diesem Entschluss würde ich festhalten.

»Es wäre keine glorreiche Rückkehr«, erinnerte ich meine Schwester bestimmt. »Ich würde den Boden fegen und Karten abreißen.«

»Aber du wärst zurück«, beharrte sie. »Irgendwie. Sieh es als sanfte Wiedereingliederung in die Gesellschaft.«

»Ich habe einen Job. Ich habe Freunde. Ich muss nicht eingegliedert werden.«

Sie schwieg ein paar Sekunden, und ich konnte beinahe hören, wie sie sich im Kopf die Worte zurechtlegte. Diese Unterhaltung hatten wir in den letzten Jahren schon zu oft geführt.

»Du magst ein Leben haben, Sophie, aber du warst definitiv schon mal glücklicher. Und im Ernst, was hast du zu verlieren?«

»Meinen Job? Meine Wohnung?«

»Du arbeitest als Kellnerin, das wäre kein Verlust. Und eine Wohnung findest du wieder«, argumentierte sie. »Du könntest es versuchen. Nur für eine Weile. Dir das Ganze aus der Nähe anschauen und dann entscheiden, wie es weitergeht.«

»Es ist ein Zirkus, Eileen«, sagte ich und fuhr mir stöhnend mit den Händen übers Gesicht. »Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt zu einem Zirkus gehören möchte.«

»Vielleicht kannst du ja umsatteln oder so«, überlegte sie, und ich konnte nur hoffen, dass sie es nicht ernst meinte. »Elefanten reiten vielleicht.«

»Es ist ein Artistenzirkus, es würde mich also wundern, wenn ich auch nur einen Elefanten zu Gesicht bekomme.«

Sie lachte leise, doch es klang schon lange nicht mehr so überschwänglich wie noch vor ein paar Minuten. »Ich will dich zu nichts drängen, Sophie, es ist deine Entscheidung. Aber wenn du auf ein Zeichen des Schicksals gewartet hast – hier ist es.«

In dem Wissen, dass sie mich nicht sehen konnte, verdrehte ich die Augen und legte mit einer knappen Verabschiedung auf. Keine Ahnung, was ich mir von diesem Telefonat erhofft hatte. Doch eigentlich hätte ich mir denken können, dass meine Schwester direkt die Pompons herausholen und einen kleinen Freudentanz veranstalten würde. Während meine Mutter der ganzen Artistenwelt mit ihrer üblichen Sorge gegenüberstand, war Eileen immer diejenige gewesen, die mich lautstark zurück ins Rampenlicht hatte drängen wollen. Sie konnte nie wirklich akzeptieren, dass ich ein neues Leben hatte, auch wenn ich unermüdlich versuchte, ihr zu erklären, dass ich ihre Zustimmung dafür auf keinen Fall brauchte. Aber so war es schon immer gewesen.

Eileen war zwei Jahre älter als ich, und im Gegensatz zu mir stand sie mit beiden Beinen im Leben. Sie hatte einen beneidenswert tollen Ehemann namens Alex und eineinhalb perfekte Kinder; ein bereits existierendes und eines in Planung. Sie ernährte sich gesund – wenn man von unserem kleinen Saufgelage einmal absah, das im Grunde lediglich eine Reaktion auf einen weiteren negativen Schwangerschaftstest gewesen war – und trieb tatsächlich jeden Tag Sport. Eileen war eine von diesen Muttis, die man sich in Werbespots ansah und hasste.

Ich hingegen arbeitete fünf bis sechs Mal die Woche als Kellnerin, war bis spät in der Nacht unterwegs und verschlief dafür meist den ganzen Vormittag. Ich lebte von der Hand in den Mund, hatte kaum ein nennenswertes finanzielles Polster, ich war Single und ernährte mich hauptsächlich von Dingen, die man in der Mikrowelle aufwärmen kann. Ich war der Teil der Familie, den man bei Erzählungen immer übersprang, um die traurige Geschichte nicht preisgeben zu müssen. Denn meine Geschichte war wirklich traurig – und auch noch selbst verschuldet. Deshalb dachte ich lieber nicht so oft darüber nach.

Stöhnend rollte ich mich auf den Bauch und warf einen schnellen Blick auf meine Uhr, bevor ich mein Gesicht, so fest ich konnte, in die Kissen drückte. Es waren noch drei Stunden, bevor ich mich für die Arbeit fertig machen musste. Also hatte ich noch zweieinhalb Stunden, um zu entscheiden, was ich Amelie und Hugo Dupont antworten sollte. Diese Deadline setzte ich mir selbst, denn ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich Dinge gern auf die lange Bank schob. Immerhin hatte man mich gebeten, rechtzeitig Bescheid zu geben, und ich war der Meinung, dass ich diese Höflichkeit aufbringen konnte, wenn sie schon auf meine Nachricht geantwortet hatten. Was immer noch an ein Wunder grenzte.

Zweieinhalb Stunden, in denen ich über mein zukünftiges Leben entscheiden musste.

Eineinhalb Stunden später war ich fertig geduscht, hatte zwei Aspirin eingeworfen und saß auf meinem Schreibtischstuhl, während ich den blinkenden Cursor anstarrte, als wäre die ganze Situation allein seine Schuld. Vor zehn Minuten hatte ich die leere E-Mail geöffnet, doch außer einer schnöden Begrüßung nichts zustande bekommen. Ich knurrte frustriert und lehnte mich zurück. Man hätte meinen können, dass ich mich für eine Geschlechtsumwandlung entscheiden musste oder dafür, eine meiner Nieren zu spenden. Dabei ging es lediglich um einen Job! Zugegeben, um einen Job, für den ich meine Wohnung aufgeben müsste – und sicherlich nicht nur das.

Nein, falsch. Es ging ja nicht mal um einen Job. Es ging lediglich um ein Vorstellungsgespräch. Selbst wenn ich diese Menschen von meiner Person überzeugen könnte, hieße das noch lange nicht, dass ich morgen umziehen müsste. Ich könnte immer noch ablehnen. Ich musste mich dringend beruhigen und aufhören durchzudrehen.

Mein Blick wanderte über die gerahmten Fotos an der Wand hinter meinem Schreibtisch. Es war die obligatorische Ansammlung von Freunden und Familie, wobei die Freunde in meinem Fall locker an einer Hand abzuzählen waren. Als ich vor zwei Jahren mit meinem Beruf gebrochen hatte, waren damit auch die meisten meiner Freunde aus meinem Leben verschwunden. Ich hatte nicht auf ihre Anrufe oder Mails reagiert, bis mir irgendwann aufgefallen war, dass sich niemand mehr meldete. Und ich konnte ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen. Ich selbst hätte vermutlich auch nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.

Ich stand von meinem Stuhl auf und streckte mich, um das einzige Foto zu betrachten, das darauf hinwies, dass ich nicht immer eine Kellnerin gewesen war. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, etwas unterbelichtet, und der untere Rand war verschwommen, da die Bühne mit Nebel gefüllt gewesen war. In der Mitte des Bildes war ich zu sehen, in einem meiner weniger aufwendigen Kostüme. Ein schwarzer Body, den ich gewöhnlich bei den Proben getragen hatte. Meine Haare waren stramm zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, mein Körper war gestreckt bis in die Zehenspitzen, und meine Hände umklammerten die Stange des Trapezes, als würde mein Leben von ihr abhängen. Und genauso war es damals gewesen. Diese Aufnahme war bei einer Probe gemacht worden; damals hatten wir ausgetestet, inwieweit der Nebel meine Sicht beeinträchtigte. Und obwohl zu diesem Zeitpunkt kaum Publikum anwesend gewesen war, konnte man das Glück von meinem Gesicht ablesen. Auch wenn ich die Stirn konzentriert in Falten gelegt hatte und die Muskeln an meinen Armen vor Anstrengung hervortraten, wirkte mein Gesicht vollkommen ruhig. Sorgenfrei.

Mit einem Ruck riss ich mich von dem Foto los und ließ mich wieder auf den Schreibtischstuhl fallen. Mein Laptop war in der Zwischenzeit schlafen gegangen, sodass ich mein eigenes undeutliches Spiegelbild im schwarzen Display erkennen konnte. Selbst so war der Unterschied zu damals deutlich zu erkennen. Während meiner aktiven Karriere hatte ich mir die Haare aufgehellt, heute hatten sie einfach diese schreckliche grau-blonde Farbe. »Straßenköterblond« nannte meine Mutter das. Unter meine Augen hatten sich die typischen Nachtschichtringe gegraben, die mich vermutlich für den Rest meines Lebens begleiten würden. Statt des dicken Show-Make-ups gab es höchstens noch ein bisschen Mascara und Puder. Ich rümpfte die Nase. Ich sah langweilig aus. Prüfend hob ich einen Arm und spannte ihn an, um die Kraft meiner Muskeln zu testen. Eileen hatte recht: Ich war aus der Übung, und das merkte man meinem Körper an.

Ich rüttelte an der Maus, und der Bildschirm erwachte zum Leben. Dann beugte ich mich vor und tippte eine rasche Antwort, während meine Gedanken sich überschlugen. Bevor ich darüber nachdenken konnte, klickte ich auf Senden, vergrub das Gesicht in den Händen und stieß einen stummen Schrei aus.

Halleluja, ich hatte es getan!

Kapitel 2

Meine Hände schienen zwischen dem Beifahrersitz und meinen Oberschenkeln festgewachsen zu sein. Ich hatte mich einfach draufgesetzt, um zu verhindern, dass ich mir vor Nervosität sämtliche Nägel abkaute. Eileens auffordernde Blicke ignorierte ich geflissentlich, während ich auf das unscheinbare Schild starrte, das das Gelände des Winterquartiers kennzeichnete. Hinter dem hohen Zaun konnte ich Menschen umherwuseln sehen, die Lastwagen beluden und allerhand Kram durch die Gegend schleppten. Es war Anfang April, und ich ging davon aus, dass der Zirkus allmählich seine Sachen zusammenpackte, um das Winterquartier zu verlassen. Um auf Tournee zu gehen.

Oh mein Gott!

Mein Herz begann zu rasen. Diese kleinen Panikattacken überfielen mich regelmäßig, seit ich am Dienstag die Zusage abgeschickt und daraufhin eine freundliche Einladung für den heutigen Tag erhalten hatte. Zu behaupten, dass ich mich furchtlos und selbstsicher fühlte, wäre eine riesengroße Lüge gewesen. Ich schwitzte an sehr undamenhaften Stellen, meine Hände juckten, und ich hatte das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden.

Ich benahm mich absolut lächerlich.

»Du benimmst dich absolut lächerlich!«

Ich kicherte hysterisch, als Eileen meine Gedanken aussprach. Sie hatte darauf bestanden, mich zu fahren, vermutlich weil sie fürchtete, ich würde doch noch einen Rückzieher machen. Tatsächlich war ich mir sicher, dass ich längst gekniffen hätte, wenn ich auf mich allein gestellt gewesen wäre.

»Was, wenn sie mich wirklich nehmen?«, fragte ich immer noch kichernd. »Ich glaube, ich habe diese Sache nicht zu Ende gedacht.«

Sie verdrehte die Augen. »Du hast mehr darüber nachgedacht, als gut für dich ist. Und jetzt schwing dich aus dem Wagen, du hast nur noch zwei Minuten.«

Ich sah sie hoffnungsvoll an. »Vielleicht wollen sie mich gar nicht, wenn ich zu spät komme.«

»Genau deswegen steigst du jetzt aus, bevor ich dich eigenhändig da reinschleife!«

»Das wäre ziemlich peinlich.«

»Eben drum!«

Ich atmete einmal tief durch und öffnete die Beifahrertür. Ganz souverän. Total selbstsicher. Als ich ausstieg, landete Eileens Hand mit einem lauten Knall auf meinem Hintern, und sie zwinkerte mir zu, als ich ihr einen bösen Blick zuwarf.

»Du machst das schon«, flötete sie und stellte demonstrativ das Radio lauter, um mir klarzumachen, dass das Gespräch damit beendet war.

Schnaubend knallte ich die Autotür hinter mir zu und strich meine Bluse glatt. Es war unglaublich, wie viel Zeit ich heute Morgen vor dem Spiegel und in meinem Kleiderschrank verbracht hatte, wenn man bedachte, für welchen Job ich mich hier gerade bewarb. Vermutlich hätte ich sogar in Jogginghose erscheinen können. Doch ich hatte mir die Haare geglättet, die nun offen über meinen Rücken fielen, mir tatsächlich Mühe mit meinem Make-up gegeben und mich für eine schwarze Jeans und eine Bluse mit V-Ausschnitt entschieden. Ich hätte mich auch als Sekretärin bewerben können.

Ich versuchte, einen entschlossenen Gang hinzulegen, während ich auf die Tür im Zaun zuschritt, dennoch hatte ich das Gefühl, als würde ich leicht torkeln. Ich hatte die unschöne Angewohnheit, meinen Körper ständig zu kontrollieren – ein Überbleibsel aus meiner Artistenzeit. Ich war mir meiner irgendwie nutzlos herunterhängenden Arme deutlich bewusst. Mein ganzer Körper kribbelte und erinnerte mich an das Lampenfieber, das mich jedes Mal vor einem Auftritt überfallen hatte.

Reiß dich zusammen, rief ich mich selbst zur Ordnung.

Ich sah mich nach einem Gebäude um, aber anscheinend gab es lediglich Baucontainer, die vermutlich als Büros benutzt wurden. Das Gelände, auf dem der Zirkus in Hannover sein Winterquartier hatte, lag etwas außerhalb von der Innenstadt, und ich hatte bisher nie einen Grund gehabt, hier rauszufahren.

Nach ein paar Sekunden, in denen ich unschlüssig herumstand, sprang neben mir eine junge Frau von der Ladefläche eines der Lieferwagen und kam stirnrunzelnd auf mich zu. Sie hatte gebräunte Haut, geradezu lächerlich viele Sommersprossen, ausgeprägte Augenbrauen und einen kahl rasierten Kopf. Auch wenn ich mit meinen eins zweiundsiebzig nicht gerade winzig bin, überragte sie mich deutlich. Bereits auf den ersten Blick konnte ich an ihrem Körper erkennen, dass sie Artistin war.

»Kann ich dir helfen?«, fragte sie mich mit amerikanischem Akzent.

Ich straffte die Schultern und zwang mein Gesicht zu einem hoffentlich freundlichen Lächeln. Wenn ich diesen Job tatsächlich bekommen und auch annehmen würde, musste ich mich mit den Künstlern gut stellen. »Ich bin auf der Suche nach den Duponts«, sagte ich und klopfte mir innerlich selbst auf die Schulter, weil meine Stimme ziemlich selbstsicher klang. »Ich heiße Sophie.«

Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen, als sie mich von Kopf bis Fuß musterte. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Ob sie wohl meine Bewerbungsmail gelesen hatte? Gott, wo war das Loch, in dem ich verschwinden konnte?

Als sie mit ihrer Begutachtung fertig war, deutete sie auf einen bunt bemalten Container im hinteren Teil des Geländes. »Die beiden sind da hinten. Geh einfach rein, sie erwarten dich schon.«

Und damit wirbelte sie herum und tänzelte davon. Eindeutig Artistin. Und mir war nicht entgangen, dass sie sich nicht vorgestellt hatte.

Während ich mich fragte, ob dieses erste Aufeinandertreffen nun gut oder schlecht gelaufen war, ging ich über den gepflasterten Platz auf die Container zu. Aus der Richtung, in der die Kahlköpfige verschwunden war, hörte ich Stimmen, doch die Lastwagen und Kistenberge versperrten mir die Sicht. Vermutlich berichtete sie ihren Kollegen gerade, dass die Durchgeknallte tatsächlich hier aufgetaucht war.

Ein Gedanke ließ mich plötzlich stolpern, bevor ich meine Füße wieder unter Kontrolle bekam und weiterlaufen konnte. Was, wenn dieses Bewerbungsgespräch überhaupt nicht ernst gemeint war? Wenn Amelie und Hugo lediglich die Frau sehen wollten, die die Dreistigkeit besaß, ihnen eine solche Mail zu schicken? Tja, wenn es so war, konnte ich ihnen kaum einen Vorwurf machen.

Als ich vor dem Container stand, atmete ich noch einmal tief durch, strich erneut meine Bluse glatt und klopfte mehrmals an die Metalltür. Ein paar Sekunden wartete ich mit wild pochendem Herzen, dann wurde die Tür aufgestoßen und knallte mir gegen den Kopf.

Autsch!

Ich kniff die Augen zusammen, als der Schmerz hinter meiner Stirn explodierte, und musste kurz gegen die Tränen anblinzeln.

»Oh mein Gott, das tut mir so leid!«, ertönte eine weibliche Stimme. Die Person dazu konnte ich jedoch durch den Schleier vor meinen Augen nicht genau erkennen. Eine warme Hand legte sich auf meinen Oberarm. »Ich vergesse immer, dass sie nach außen aufschwingt. Verdammt, das gibt eine Beule. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Ich hätte ihr gern gesagt, dass es dafür ein wenig zu spät war, aber immerhin hatte ich in meiner E-Mail mit meiner exzellenten Erziehung angegeben, also verkniff ich mir jeden Kommentar. Ich wischte mir schnell über die Augen, bevor ich hochsah und mein Gegenüber musterte. Vor mir stand eine Frau mittleren Alters. In ihrem braunen Haar schimmerten helle Strähnen, und sie hatte ein freundliches Gesicht mit Fältchen um Augen und Mund. Sie sah mich erschrocken an.

»Es geht mir gut!«, versicherte ich, da mir ihre Sorge etwas unangenehm war. »Wirklich, machen Sie sich keine Gedanken!« Ich lächelte tapfer und streckte ihr meine Hand entgegen. »Ich bin Sophie Wolff, ich hätte mich vor drei Minuten bei Ihnen vorstellen sollen.«

Sie nahm meine Hand, doch anstatt sie zu schütteln, zog sie mich vorwärts, sodass ich zur Krönung fast über die drei Stufen gestolpert wäre, die in den Container hineinführten.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Sophie. Die meisten Leute wissen inzwischen, dass sie ausweichen müssen, wenn ich die Tür öffne.«

Ich runzelte die Stirn, während ich ihr ins Innere folgte. Das war eine derart merkwürdige Aussage, dass ich einen Moment lang befürchtete, der Schlag hätte ernsthafte Auswirkungen auf mein Gehirn gehabt. War sie etwa bekannt dafür, Leuten die Tür an den Kopf zu knallen, die bei ihr klopften?

»Das ist Hugo, mein Mann«, stellte die Frau, offensichtlich Amelie, mir den Mann vor, der sich hinter einem Schreibtisch erhob, als wir eintraten. Er schien deutlich älter zu sein als seine Frau. Seine Haare waren grau, jedoch so voll, dass manch Jüngere vor Neid erblassen würden. Seine Haut war gebräunt, seine Augen blickten warm und freundlich. Sie verengten sich, als er mich musterte.

Nervös trat ich einen Schritt zurück.

»Was hat sie da an der Stirn?«, fragte Herr Dupont mit französischem Akzent.

Innerlich stöhnte ich auf. Das war schon jetzt das furchtbarste Vorstellungsgespräch meines Lebens. Ich kleisterte mir erneut ein Lächeln ins Gesicht und streckte die Hand aus. »Sophie Wolff, nett, Sie kennenzulernen. Ich hatte eine beeindruckende Begegnung mit Ihrer Tür, nicht der Rede wert.«

Diesmal wurde mein Handschlag erwidert, doch seine Augen hefteten sich auf seine Frau. »Du musst wirklich damit aufhören, unsere Gäste zu verletzen, Liebes.«

Mit Mühe konnte ich ein Lachen unterdrücken.

Frau Dupont ging nicht auf den Kommentar ihres Mannes ein, sondern bot mir einen Stuhl an und wuselte davon, um sich ebenfalls einen zu holen, sodass ich ein wenig Zeit hatte, um meine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Der Container wirkte von innen um einiges geräumiger als von außen. Die Wände waren weiß, jedoch mit Dutzenden Posters und Plakaten beklebt, die allesamt Gastspielorte und Auftritte anpriesen. Mein Magen vollführte einen beeindruckenden Salto in meinem Bauch. Ich wandte rasch den Blick ab und musterte die Einrichtung. Sie war zweckmäßig, aber man konnte ihr ansehen, dass eine Frau ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Neben drei großen Aktenschränken gab es einen Eckschreibtisch, der unter den darauf gestapelten Papieren beinahe zusammenzubrechen drohte, eine durchgesessene Ledercouch und einen Hundekorb, der jedoch leer war. Gemütlich wurde es erst durch die quietschbunten Gardinen vor den Fenstern, den Flokatiteppich auf dem Boden und die Girlande an der Decke. Irgendwie stimmte dieses Bild ziemlich genau mit der Vorstellung überein, die ich von einem Wanderzirkus hatte.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Hugo und nahm mir gegenüber hinter seinem Schreibtisch Platz, neben seiner Frau. Er zog ein Blatt aus einem Ablagefach. »Also, Sie haben sich bei uns als Mädchen für alles beworben.« Mir rutschte das Herz in die Hose. Er zog eine Augenbraue hoch, ohne den Blick von dem Papier zu wenden. »Oder als Allroundkraft, wenn ich fancy sein will.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag wünschte ich mir, einfach im Boden zu versinken – oder alternativ, gleich danach, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Mein Gesicht brannte, doch ich hielt tapfer den Kopf erhoben.

»Ich muss mich wirklich für diese E-Mail entschuldigen, Herr Dupont, ich hatte zu diesem Zeitpunkt … na ja, also für gewöhnlich drücke ich mich ein bisschen gewählter aus.«

»Davon gehe ich aus«, sagte er mit undurchdringlicher Miene. »Immerhin haben Sie eine gute Erziehung genossen.«

Oh Himmel, steh mir bei!

Ich räusperte mich. Mir war nicht entgangen, dass Amelie die Lippen zusammengekniffen hatte, vermutlich um nicht vor Lachen vom Stuhl zu kippen. »Wie gesagt, es tut mir wirklich leid. Ich will ehrlich sein, meine Schwester hat mir Ihre Stellenanzeige gezeigt, als wir schon ein paar Gläser Wein zu viel getrunken hatten. Es war eine spontane Aktion, und ich hätte sie im Nachhinein am liebsten wieder rückgängig gemacht.« Mir wurde die Bedeutung meiner Worte bewusst, und ich ruderte hastig zurück. »Damit will ich aber nicht sagen, dass ich mich eigentlich nicht bei Ihnen hätte bewerben wollen! Nur die Art und Weise hätte ich gern noch mal geändert.«

Jetzt konnte Amelie sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »Tatsächlich haben wir uns so etwas in der Art beinahe gedacht, wenn man die Uhrzeit Ihrer Nachricht bedenkt.«

Ich sank ein wenig in meinem Stuhl zusammen und warf ihr ein unsicheres Lächeln zu. Vorbei war es mit selbstbewusst und souverän. »Ich kann absolut verstehen, wenn Sie die Sache damit auf sich beruhen lassen wollen. Ich will Ihre Zeit nicht noch weiter beanspruchen.«

Als ich aufstehen und mich irgendwohin verziehen wollte, um meine Wunden zu lecken, sagte Herr Dupont: »Immer mit der Ruhe. Zum einen nennen Sie uns bitte Hugo und Amelie, und zum anderen haben wir nicht vor, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Wir würden Sie gern einstellen, falls wir uns einig werden.«

Ich starrte ihn fassungslos an. »Ist das Ihr Ernst? Ganz ehrlich, ich hätte mich selbst nicht eingestellt.«

Hugos Lippen zuckten amüsiert. »Trotz des Alkohols, der da wohl aus Ihnen gesprochen hat, Sophie, scheinen Sie eine pragmatische junge Frau zu sein. Im Grunde haben Sie die wichtigsten Dinge sehr gut auf den Punkt gebracht: Sie machen sich gern die Hände schmutzig, und Sie sind freundlich. Wenn das stimmt, sollten Sie hervorragend ins Team passen.«

Ich war völlig baff. So verwirrt, dass ich für den Moment sogar meine Sorge über den Wiedereinstieg in die Artistenwelt vergaß. Dass sie mich weder nach meinem bisherigen Werdegang noch nach einer Ausbildung oder dergleichen gefragt hatten, ließ darauf schließen, dass sie nicht sehr wählerisch in der Auswahl ihrer Helfer waren. Vermutlich weil die Tour kurz bevorstand und ihnen die Zeit für ein gründliches Bewerbungsverfahren fehlte.

»Das habe ich vollkommen ernst gemeint«, versicherte ich den beiden hastig. »Ich habe keine Angst vor Arbeit. Und ich kenne die Branche.« Ich biss mir auf die Zunge, doch die Worte waren bereits heraus.

Amelie beugte sich interessiert vor. »Sie kommen aus dem Zirkus?«

»Nein!«, sagte ich schnell. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Aber während meiner Ausbildung hatte ich gelegentlich mit Artisten zu tun und weiß, wie … speziell diese Menschen sein können.«

Mit dem letzten Satz hatte ich die beiden offensichtlich vom eigentlichen Thema abgelenkt, denn sie fingen an zu lachen, während ich erleichtert ausatmete.

»Da mögen Sie recht haben«, sagte Hugo und warf erneut einen Blick auf meine Mail. Ich wünschte mir, er würde sie einfach löschen. »Wir können Ihnen vorerst eine befristete Stelle bis Ende September anbieten. In zwei Wochen haben wir unsere erste Show in Paris. Sie würden in einer Woche anfangen und beim Transport und Aufbau helfen. Während der Tour reisen Sie mit uns mit und gehen zur Hand, wo es gerade benötigt wird. Ihr Arbeitsvertrag endet mit der letzten Vorstellung in Moskau, danach können Sie mit uns heimkehren. Kost und Logis werden größtenteils von uns übernommen, solange Sie an den gemeinsamen Mittag- und Abendessen teilnehmen. Spritkostenabrechnungen können Sie bei uns einreichen, ein Gefährt müssten Sie sich allerdings selbst besorgen. Natürlich können Sie sich auch gern beim Personal erkundigen, ob jemand noch ein Bett frei hat und Gesellschaft sucht. Das überlassen wir Ihnen. Ihre Gehaltsvorstellungen teilen Sie uns bitte heute Abend per E-Mail mit, aber ich bin mir sicher, dass wir uns darüber einig werden. Alle weiteren Einzelheiten über die Tournee und die benötigten Dokumente besprechen wir im Laufe der Woche telefonisch, einverstanden?«

Ein paar Sekunden lang konnte ich nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Ich musste seine Worte erst mal verdauen. Jetzt konnte ich es nicht länger bestreiten – die ganze Sache wurde geradezu erschreckend real.

Ich nickte mechanisch, während Amelie mir ein paar Details über die Route und das Team erzählte, aber ich hörte ihr nicht mehr genau zu. In meinem Kopf brach ein heilloses Durcheinander aus, Pro-und-Kontra-Listen wurden aufgestellt und drängten mir ihre verschiedenen Argumente auf.

Als die Duponts schließlich aufstanden und mir die Hände entgegenstreckten, schüttelte ich sie nacheinander, verabschiedete mich betont freundlich und verließ den Container. Ich mochte noch nichts unterschrieben haben, doch als ich den Platz überquerte und mir das Zirkuslogo ins Auge fiel, machte mein Herz einen kleinen Sprung. Dort stand es, in roten und goldenen Lettern, vielleicht mein Zuhause für die nächsten Monate:

Le petit WONDERLAND – wo Träume fliegen lernen

Ich hielt den Atem an und betrachtete die Buchstaben. Ich lebte in einer halbwegs großen Stadt, was bedeutete, dass ich in den letzten zwei Jahren die eine oder andere Zirkuswerbung gesehen hatte. Dennoch begann mein Herz in diesem Moment, wie wild zu schlagen. Es war eine Mischung aus Panik und Aufregung. Nachdem ich mich von dem Schild losgerissen hatte, eilte ich über den Platz auf das Auto zu. Ich musste mit Eileen sprechen, die ganze Sache Schritt für Schritt durchgehen und mir darüber klar werden, was das alles bedeutete. Ich musste mir Gedanken über meine Wohnung machen und meine Finanzen checken, um zu sehen, ob ich mir ein geeignetes Auto leisten konnte. Ich brauche ein Wohnmobil, oder nicht? Zumindest einen Camper.

Oh Himmel, worauf wollte ich mich da einlassen?

Ein Teil von mir hatte offenbar ein Eigenleben entwickelt und mein Leben vorgespult. Vor nicht einmal einer Stunde war ich mehr oder weniger davon überzeugt gewesen, dass ich dieses Gespräch so würdevoll wie möglich hinter mich bringen und danach in mein altes langweiliges Leben zurückkehren würde. Wie war es passiert, dass ich auf einmal mit einem neuen Job und einer neuen Zukunft ausgestattet war? Es war, als hätte ich einen Blackout gehabt und mein Körper hätte eine Zeit lang auf Autopilot geschaltet. Ich war mir nicht einmal sicher, wann genau ich mich bewusst dazu entschieden hatte, diese Arbeit anzunehmen. Hatte ich das überhaupt? Wollte ich das?

Tatsache war, dass mich eine große Unruhe überkam, seit ich die Zirkusluft um mich herum gespürt hatte. Als wäre das Artistenleben meine Droge, der ich in den letzten Jahren hatte widerstehen können, weil ich nicht mit ihr in Kontakt gekommen war. Und jetzt schlug die Sucht mit voller Wucht wieder zu und zog mich langsam, aber sicher zurück in die Abhängigkeit.

Die Gedanken wälzten sich durch meinen Kopf, während ich mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. Ich würde es machen. Ich würde ins kalte Wasser springen und diesen Job annehmen. Und wenn sich diese Entscheidung als Katastrophe erweisen würde, dann konnte ich immer noch kündigen, oder? Ja, das klang vernünftig.

Ich hatte beinahe das rettende Tor erreicht, als ich hinter mir einen Pfiff hörte. Ich wollte weitergehen und mir einreden, dass er sicher nicht mir gegolten hatte, doch die Neugier siegte, und ich drehte mich um.

Blöder Fehler.

Denn nun sah ich mich einem Mann gegenüber, der mich interessiert musterte. Ich schätzte ihn auf Mitte, Ende zwanzig, wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter als ich. Er war gut gebaut, was dank der engen Jacke, die er trug, unschwer zu erkennen war. Er hatte rötliche Haare, einen Dreitagebart und diese Art nussbrauner Augen, die Frauenherzen höher schlagen lassen. Als er grüßend eine Hand hob, konnte ich mehrere schwere Ringe an seinen Fingern erkennen. Er war kein klassischer Traumtyp, dennoch verschlug es mir bei seinem Anblick kurz den Atem.

Bis er den Mund aufmachte.

»Du bist Sophie Wolff, richtig?« Er sah mich von oben bis unten an, die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Er hatte einen leicht kratzigen Akzent, vermutlich niederländisch. »Mit zwei F.«

Ich widerstand dem Drang, die Augen zuzukneifen, und richtete meinen Blick offen auf sein Gesicht. »Genau die bin ich. Freut mich, dass mir mein Ruf vorauseilt.«

»Oh, das tut er zweifellos«, sagte er immer noch grinsend. »Deine Mail hängt an meinem Badezimmerspiegel.«

»Falls das stimmt, ist das ziemlich traurig.«

Er zuckte mit den Schultern, dann wurde sein Blick eine Spur forschend. »Und? Hast du die Stelle bekommen?«

Die Frage war absolut berechtigt, wenn man bedachte, dass er meine Mail gelesen hatte. Ich bemühte mich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. »Hab ich, ja.«

Er nickte, als wäre er nicht überrascht. »Na dann, man sieht sich, nehme ich an.«

»Vermutlich«, murmelte ich und stand ein paar Sekunden lang vor ihm, bevor ich einen Schritt in Richtung Ausgang machte. »Also dann, bis in einer Woche.«

Wieder dieses Grinsen. Er machte nicht den Eindruck, als wolle er zu einer ausschweifenden Verabschiedung ansetzen, also drehte ich mich um und lief mit gestrafften Schultern davon.

»Hey!«, rief er, als ich beinahe am Tor angelangt war. Ich wandte mich um und sah ihn fragend an. »Willkommen in der Familie.«

Statt einer Antwort lächelte ich nur. Tatsächlich hatte ich mich noch nicht entschieden, ob mein neuer Job wirklich ein Anlass zur Freude war.

Ich schaffte es zum Auto, ohne ein weiteres Mal aufgehalten zu werden, hinzufallen oder mich sonst wie zu verletzen. Als ich die Tür aufriss und mich auf den Beifahrersitz fallen ließ, drehte Eileen hastig die Musik leiser und sah mich forschend von der Seite an.

»Du warst mindestens eine halbe Stunde da drin«, verkündete sie, und aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass sie breit lächelte. Selbst wenn ich selbst nicht gerade vor Glück übersprudelte, schien es, als wolle sie diesen Part für mich übernehmen. »Ich hab erwartet, dass du nach fünf Minuten ins Auto springst und mich anflehst, dich nach Hause zu fahren.«

»Ich habe den Job«, sagte ich schlicht und drehte mich zu ihr um.

Sie starrte mich an und schien einen Moment um Worte zu ringen. »Scheiße, Soff, haben die dich verprügelt?«

Ich ignorierte den Spitznamen aus Kindertagen und klappte die Sonnenblende herunter, um mein Spiegelbild in Augenschein zu nehmen. Sobald ich einen Blick auf mein Gesicht geworfen hatte, verspürte ich zum dritten Mal an diesem Tag das Bedürfnis, mich irgendwo unter einen Tisch zu kauern und einsam zu sterben. Mitten auf meiner Stirn prangte eine rot geränderte Beule, die sich bereits dunkel verfärbte. Und als wäre das noch nicht schlimm genug gewesen, zog sich unter meinem rechten Auge eine schwarze Spur, die meine Mascara zusammen mit meinen Tränen dort hinterlassen haben musste.

Stöhnend klappte ich die Blende wieder hoch, ließ meinen Kopf gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Immerhin konnte ich mir nach diesem Auftritt einer Sache vollkommen sicher sein: Ich hatte einen bleibenden ersten Eindruck hinterlassen.

Kapitel 3

Noch drei Tage, bis mein neues Leben beginnen würde.

Vier Tage waren inzwischen vergangen, in denen ich stündlich zwischen leiser Vorfreude und heftigem Lampenfieber hin und her geschwankt war. Seit ich mit Amelie telefoniert, mit ihr die Details unsere Reise besprochen und schließlich den Arbeitsvertrag aus dem Briefkasten gezogen hatte, breitete sich ein erwartungsvolles Kribbeln in meinem Bauch aus. Als ich meinen Vermieter angerufen und ihn über meinen kurzfristigen Auszug informiert hatte, war ich ziemlich nervös gewesen, aber Gott sei Dank hatte das kein großes Problem dargestellt, da der Wohnungsmarkt derzeit völlig überlaufen war. Ich hatte lange mit Eileen diskutiert, ob ich das Apartment tatsächlich aufgeben oder vorübergehend untervermieten sollte. Am Ende hatte ich mich für eine Kündigung entschieden, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was diese Stelle beim Zirkus für mein Leben bedeuten würde. Selbst wenn ich vor Eileen und auch vor mir selbst nicht müde wurde zu betonen, dass ich lediglich für Hilfsarbeiten eingestellt wurde, war mir dennoch klar, dass der Job gewissermaßen eine Rückkehr bedeutete. Nicht auf die Bühne oder in die Manege, aber dennoch eine Rückkehr in die schillernde Artistenwelt, die ich so geliebt und irgendwann so gehasst hatte. Jedes Mal, wenn mich bei der Aussicht auf das kommende Jahr die Panik überfiel, meldete sich ein schwacher Phantomschmerz in meinem rechten Oberschenkel. Ich wusste, dass es völliger Blödsinn war, aber nach meinem Unfall hatte ich mir geschworen, niemals zurückzublicken.

Zwei Jahre lang hatte ich mir alle Mühe gegeben, diese Welt hinter mir zu lassen. Und nun hatte ich auf der einen Seite das Gefühl, einen Schritt in die Vergangenheit zurück zu machen, auf der anderen Seite befand ich mich auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Klar, das Zirkusleben war in gewisser Weise vergleichbar mit der Arbeit im Varieté, doch das Drumherum würde ein anderes sein. Früher in Russland hatte ich in einem kleinen Apartment gelebt, war nur zu den Proben und den Vorstellungen ins Theater gegangen. Privatleben und Beruf waren räumlich getrennt gewesen. Im Zirkus würde es anders sein: Vierundzwanzig Stunden am Tag wäre ich von meinen Arbeitskollegen umgeben, auf engstem Raum, ohne nennenswerte Privatsphäre. Auch wenn ich bislang nur einen Bruchteil des Teams kennengelernt hatte, konnte ich mir vorstellen, dass sie eine Art Familie für mich sein würden. Irgendwann. Erst einmal würde ich die Neue sein, die von außen in diesen engen Kreis trat, was mir ein wenig Angst machte. Die ganze Zeit mit den anderen zusammen zu sein war eine neue Herausforderung.

Und hier saß ich nun, packte mein spärliches Hab und Gut in Kisten und verschloss die Schubladen meiner Kommode mit Klebeband. Ein bisschen nostalgisch blickte ich mich in meinem kleinen Wohnzimmer um. Die Wände waren leer, ebenso das Bücherregal. Mein ganzes Leben war verstaut und wartete darauf, zu meiner Schwester in die Garage gekarrt und dort eingelagert zu werden.

Ich warf einen Blick auf die Uhr, und zum hundertsten Mal an diesem Tag zog sich mir das Herz zusammen. In ungefähr zehn Minuten würden meine Eltern hier sein, und ich war sicher, dass es kein angenehmes Gespräch werden würde. Ich hatte Eileen eingebläut, mit meiner Mutter nicht über mein Vorhaben zu sprechen, was ich mittlerweile bereute. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, wenn sie sie vorgewarnt hätte. Meine Idee, ein paar Tage vor der Abreise mit der Tür ins Haus zu fallen, kam mir plötzlich überhaupt nicht mehr so grandios vor. Aber immerhin würden meine Eltern auf diese Weise nur noch wenig Zeit haben, um zu versuchen, mich »zur Vernunft zu bringen«.

Denn das würden sie garantiert.

Mit einem dramatischen Seufzer legte ich ein paar Bücher in einen Karton und stand auf, um mich frisch zu machen. Es war nicht so, dass meine Eltern außergewöhnlich streng oder kritisch gewesen wären. Tatsächlich hatte ich ein gutes Verhältnis zu ihnen, auch wenn mein Lebensstil ihnen schon immer die eine oder andere Sorgenfalte auf die Stirn gezeichnet hatte. Mein unsicherer Job als Kellnerin passte nicht wirklich in das geordnete Familienbild, das sich in ihren Köpfen festgesetzt hatte. Dennoch war ihnen die Art, wie ich in letzter Zeit mein Geld verdiente, weitaus lieber als meine frühere Arbeit. Als ich ihnen nach dem Abitur eröffnet hatte, dass ich nach Russland gehen und dort eine Artistenschule besuchen wolle, hatte ich einen Moment lang befürchtet, sie würden einen doppelten Herzinfarkt erleiden. Sie hatten wild protestiert und versucht, mir irgendeine langweilige Ausbildung schmackhaft zu machen. Sie hatten sich Sorgen gemacht, auch wenn ich nicht müde geworden war, ihnen zu versichern, dass dieser Sport nicht gefährlicher war als jeder andere. Als ich dann eine Festanstellung in einem Varieté ergattert hatte, waren ihre Proteste für kurze Zeit verstummt – und zwar genau so lange, bis ich sie aus dem Krankenhaus angerufen hatte, um ihnen mitzuteilen, dass es mit meiner aktiven Karriere vorbei war. Auch wenn dieses abrupte Ende meiner Artistenzeit mehr psychisch begründet war als körperlich. Ich wusste, dass sie es nicht böse meinten, und nach dem Sturz konnte ich sie vielleicht sogar verstehen, doch die Erleichterung meiner Eltern über meinen Ausstieg hatte mir einen Stich versetzt.

Ich schlurfte ins Bad und knipste das Licht an, um einen Blick auf mein Spiegelbild zu werfen. Nachdem ich beinahe zwei Tage mit einer Beule auf der Stirn herumgelaufen war, stellte ich jetzt erleichtert fest, dass kaum noch etwas davon zu sehen war. Von den Ringen unter meinen Augen konnte man das leider nicht behaupten – sie zeugten in voller Pracht vom Stress der letzten Tage. Neben der ganzen Organisation hatte ich volle Schichten im Restaurant geschoben, um meinen Chef und meine Kollegen, die von meinem plötzlichen Abgang alles andere als begeistert waren, friedlich zu stimmen.

Ich betrachtete meine schlanken Arme und Beine, die dank der kurzen Stoffhose und des T-Shirts gut zur Geltung kamen. Ich war schon immer ein sportlicher Typ gewesen, und auch jetzt hätte ein Außenstehender vermutlich angenommen, dass ich regelmäßig joggen ginge oder so etwas in der Art. Aber von den Muskeln an den Oberarmen, die mich damals am Trapez gehalten hatten, war kaum noch etwas zu erkennen. Ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden, hob ich langsam das rechte Bein, streckte es bis zu den Zehenspitzen durch, griff mit der Hand um meine Ferse und zog, bis mein Knie beinahe mein Gesicht berührte. Dann streckte ich den linken Arm gerade aus, reckte das Kinn und setzte mein perfektestes Schaustellerlächeln auf. Als ich ins Wanken geriet, hielt ich mich hastig am Waschbecken fest und stellte die Füße wieder nebeneinander auf den Boden. Diese kleine Übung hatte ich seit Jahren nicht mehr gemacht – und ehrlich gesagt war ich überrascht, dass ich sie noch draufhatte. Zwar hatten meine Bänder ein wenig stärker protestiert als gewöhnlich, aber ich hatte es geschafft! Offensichtlich hatte mein Körper das Artistendasein doch noch nicht ganz vergessen.

Als es klingelte, zuckte ich zusammen. Ich schüttelte kurz den Kopf, um meine Gedanken zu ordnen, dann straffte ich die Schultern und lief zur Wohnungstür, wobei ich im Flur eine Art Slalom um die Umzugskisten hinlegen musste.

Ich öffnete die Tür, und meine Mutter schloss mich sofort in die Arme. Sie war schon immer der überschwängliche Typ gewesen, und da ich dazu neigte, gelegentlich zwei, drei Wochen nichts von mir hören zu lassen, fielen ihre Begrüßungen immer ein wenig stürmisch aus. Als würde sie bei jeder Funkstille aufs Neue befürchten, dass ich irgendeinem Serienkiller zum Opfer gefallen wäre.

»Sophie, es ist so schön, dich zu sehen!«, sagte sie und drückte mich eine Spur zu fest. Normalerweise hätte ich über ihr Verhalten gelacht, aber meine Aufregung ließ lediglich ein unbeholfenes Schulterklopfen zu.

»Hey, Mama«, sagte ich und winkte meinem Vater zu, der jedoch überhaupt nicht auf mich achtete. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern und grauem Haar, und das, seit ich denken konnte. Vor meiner Geburt war er beim Militär gewesen, war dann aber zur Feuerwehr gewechselt, um Frau und Kinder nicht mehr ständig während seiner Auslandseinsätze allein zu lassen. Trotz der Jahre, die seitdem vergangen waren, konnte man ihm seine Ausbildung immer noch ansehen. Vor allem jetzt, als er aus schmalen Augen die Kartons in meinem Flur betrachtete.

Meine Mutter folgte seinem Blick und ließ stirnrunzelnd von mir ab. Mit den Händen auf meinen Schultern schob sie mich ein Stück von sich weg und sah mich an. »Ziehst du um?«

Ich lächelte nervös. »Kommt doch erst mal rein«, sagte ich ausweichend und ging voraus Richtung Wohnzimmer.

Als ich den Raum betrat, bemerkte ich, dass das gesamte Sofa von meinen Büchern belegt war. Leise fluchend räumte ich sie zur Seite und ließ mich anschließend auf meinen Schreibtischstuhl fallen, während meine Eltern auf der Couch Platz nahmen.

»Also, Sophie, was ist los?«, fragte mein Vater und kniff die Augen zusammen.

Es war lächerlich. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte dennoch das Gefühl, unter seinem Blick zu schrumpfen. »Mama hat recht, ich ziehe aus.«

Meine Mutter schien erfreut. »Suchst du dir etwas Größeres? Ich habe schon immer gedacht, dass diese Wohnung irgendwann für eine …«

Ich hob die Hand, um sie zu unterbrechen, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich suche mir nichts Größeres. Im Gegenteil.«

Sie sah mich verwirrt an, während mein Vater missbilligend den Kopf schüttelte.

Ich stöhnte. »Eileen hat es dir erzählt!«

Er zuckte mit den Schultern. »Deine Schwester ist eine ziemlich miese Lügnerin.«

Meine Mutter sah zwischen uns beiden hin und her. »Was hat Eileen dir gesagt? Warum weiß ich nichts davon?«

Beinahe musste ich lachen. Aus irgendeinem Grund war meine Mutter immer diejenige, die Neuigkeiten als Letzte erfuhr.

Die Augen meines Vaters fixierten mich, seine Stirn in tiefe Falten gelegt. »Willst du es ihr sagen?«

Ich verschränkte meine Finger ineinander und warf Eileen im Stillen alle Flüche und Beleidigungen an den Kopf, die mir einfielen. »Es ist eigentlich keine große Sache, Mama, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ihr euch aufregt, deswegen habe ich damit gewartet, es euch zu erzählen.« Ich holte tief Luft. »Ich habe eine Anstellung bei einem Zirkus bekommen«, sagte ich geradeheraus und beobachtete, wie meine Mutter blass wurde. »Nicht als Artistin, nicht am Trapez. Es ist eher eine Art Aushilfsjob, versteht ihr? Ich helfe beim Auf- und Abbauen, beim Saubermachen, erledige Botengänge … eben alles, was so anfällt. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen!«

»Aber warum?«, fragte meine Mutter. »Warum nimmst du so einen Job an, wenn es nicht darum geht, wieder als Artistin zu arbeiten?«

Ich zuckte mit den Schultern und zupfte einen unsichtbaren Fussel von meiner Hose. Das Problem war, dass ich diese Frage selbst nicht beantworten konnte. Oder nicht wollte. Denn die Wahrheit war, dass ich das Artistenleben vermisste. Ich vermisste die ganze bunte Welt der Schausteller, das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb eines tollen Teams, den Applaus, das Gefühl, frei in der Luft zu schweben. Doch auf der anderen Seite war ich auch einfach zu feige gewesen, mit den Proben zu beginnen und mich in einem halben Jahr nach offenen Stellen umzusehen. Die Vorstellung, mich an ein Trapez oder die Strapaten, lange schalähnliche Bänder, zu hängen, verursachte mir noch immer eine Gänsehaut. Bei dem Gedanken an die Höhe wurden meine Hände schweißnass. Ich wachte manchmal noch nachts auf, selbst nach zwei Jahren, weil ich das Bild des auf mich zurasenden Sicherungsnetzes nicht vergessen konnte.

»Ich weiß nicht genau«, räumte ich schließlich ein, vermied es jedoch, meine Eltern anzusehen. »Eigentlich ist es Eileens Schuld, sie hat mir die Anzeige gezeigt und mich anschließend mit Wein abgefüllt.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte meine Mutter und schüttelte den Kopf. »Nach deinem Unfall bin ich davon ausgegangen, dass wir mit dieser Sache abgeschlossen hätten. Du warst so lange unglücklich, aber seit du den Job hast und in dieser Wohnung wohnst, habe ich gedacht, dass dir das normale Leben gefällt.«

Gegen meinen Willen musste ich seufzen. »Gegen das Artistenleben ist nichts einzuwenden, Mama. Ich habe gut verdient in Russland, und die Leute waren toll. Ich weiß nicht, warum du immer so tust, als wäre alles an dieser Branche unsicher und abnormal.«

»Du hast sieben Wochen im Krankenhaus gelegen, Sophie«, sagte sie leise. Ihre Augen glänzten feucht. »Wir haben in St. Petersburg sieben Wochen lang abwechselnd an deinem Bett gesessen, und es hat fast ein Jahr gedauert, bis dieser zerstörte Ausdruck aus deinen Augen verschwunden war. Das möchte ich nicht noch mal mitmachen!«

»Wirst du auch nicht!«, entgegnete ich, möglicherweise eine Spur zu laut. »Ich kehre nicht ans Trapez zurück, aber diese Welt war mein Leben, Mama! Ich wollte nie etwas anderes machen. Dieser Job im Zirkus gibt mir die Gelegenheit, wieder ein Teil davon zu werden. Wenigstens ein bisschen.«

»Und deine Wohnung?«, mischte mein Vater sich ein, der bislang auffallend still gewesen war. »Dein Job? Was wird aus deinem Leben hier in Hannover?«

Ich seufzte wieder. »Ich habe die Wohnung und den Job gekündigt. Mein Vertrag im Zirkus läuft bis Ende September, danach werde ich sehen, ob er verlängert wird oder ich mir etwas Neues suche. Aber ich werde nicht länger so tun, als würde es mich glücklich machen, hier zu leben und zu kellnern. Das bin nicht ich.«

Meine Eltern schwiegen, und ich hatte das Gefühl, die Stille würde schwer auf meinen Schultern lasten. Mein Vater ergriff als Erster wieder das Wort. Er stand auf und zog meine Mutter an der Hand mit sich in den Flur. »Du bist eine erwachsene Frau, Sophie. Ich werde nicht so tun, als wärst du auf unsere Zustimmung angewiesen. Ich bitte dich einfach nur, noch mal über die ganze Sache nachzudenken.«

Wie ein Hund, der einen Schlag mit einer Zeitung bekommen hat, trottete ich hinter ihnen her. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatten, fand ich meine Stimme wieder. »Ich fahre in drei Tagen. Eileen will morgen mit mir essen gehen, ich würde mich freuen, wenn ihr dazukommt. Ich weiß nicht, wie es mit meinem Urlaub aussieht, eventuell wird es sich nicht lohnen, dass ich während meiner freien Tage nach Hause komme. Es kann sein, dass wir uns eine Weile nicht sehen.«

Einen Moment lang blickte meine Mutter mich mit tränennassen Augen an, dann zog sie mich in eine Umarmung, die mir die Luft aus den Lungen presste. »Ich bin nicht einverstanden mit deiner Wahl, Mäuschen, aber natürlich kommen wir, um dich zu verabschieden.«

»Danke, Mama«, murmelte ich, winkte meinem Vater zu und schloss dann die Tür hinter ihnen. Als die Schritte im Treppenhaus verklungen waren, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ mich langsam zu Boden sinken.

Na, das war ja fantastisch gelaufen.

Das Abendessen mit meiner Familie am Montag war geradezu friedlich vonstattengegangen. Als ich gegen siebzehn Uhr an der Kröpcke-Uhr gewartet hatte, waren mir die schlimmsten Szenarien durch den Kopf gegeistert. Angefangen von Heulkrämpfen meiner Mutter bis hin zu Wutausbrüchen meines Vaters. Doch trotz meiner Befürchtungen war der Abend harmonisch verlaufen. Eileen hatte mich über die Details meiner Reise und meiner Vorbereitungen ausgefragt, und Alex hatte sich fachmännisch zu den Autos geäußert, die ich mir im Internet angesehen hatte. Man hätte meinen können, dass meine Eltern sich tatsächlich für mich freuten, wären nicht die besorgten Blicke gewesen, die sie sich in regelmäßigen Abständen zuwarfen. Sie waren eben meine Eltern, und es war genetisch in ihnen verankert, dass sie sich um mich sorgten. Aber auch wenn ich das wusste, legten sich ihre Bedenken wie ein schwerer Umhang um meine Schultern, der sich selbst dann nicht abschütteln ließ, als ich meine Tasche am Mittwochabend endgültig packte.

Ich war bereit. Ich hatte alles vorausgeplant, was mir eingefallen war. Meine Möbel waren eingelagert oder verkauft, der Vermieter hatte meine Wohnung abgenommen, sodass ich die Tür am nächsten Morgen einfach abschließen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen konnte. Mein neu erworbener Campingbus stand vor dem Haus und wartete darauf, mein Zuhause auf Zeit zu werden. Die Dinge, die ich mitnehmen würde, hatten locker in eine Reisetasche und einen Karton gepasst – für mehr wäre in dem Fahrzeug ohnehin kein Platz gewesen. Die kleine Kiste neben meiner Matratze war bis zum Rand mit allerlei persönlichem Zeugs gefüllt: Badezimmerartikel, ein Föhn und ein Glätteisen, ein paar Fotos, ein paar meiner Lieblingsbücher. Nichts Weltbewegendes, doch es war alles, was ich aus meinem alten Leben mitnehmen würde. Und das war auch gut so. Wenn ich einen Neuanfang starten wollte, wie auch immer er aussehen mochte, brauchte ich einen glatten Bruch.

Mit einem letzten Blick auf meine gepackte Reisetasche kroch ich in meinem Wohnzimmer unter die Decke meines provisorischen Betts. Die Luftmatratze quietschte und erinnerte mich deutlich daran, dass diese Räume nicht länger mein Zuhause waren. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen löste dieser Gedanke keine Panik mehr in mir aus. Es war, als hätte die Auseinandersetzung mit meinen Eltern und das Zusammenraffen meines alten Lebens einen Schalter in meinem Kopf umgelegt.

Ich würde vielleicht in diesem Zirkus nur das Mädchen für alles sein, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich von morgen an Teil einer Zirkusfamilie wäre. Nach zwei Jahren hatte ich endlich wieder das Gefühl, einen Salto schlagen zu können.

Kapitel 4

Der Bus war größer, als es von außen den Anschein hatte. Am Dienstag hatte ich ihn zusammen mit Eileens Mann abgeholt, und Alex hatte mir geholfen, ein paar Kleinigkeiten zu reparieren. Der Bulli war gebraucht, und das sah man ihm auch an, dennoch hatte er ein gewaltiges Loch in mein Bankkonto gesprengt. Im Grunde war das Ding eine Mischung aus Wohnmobil und Kleinbus. Er verfügte sowohl über eine kleine Nasszelle als auch über eine Küchenzeile, selbst wenn diese lediglich aus einem Kühlschrank und einer einzelnen Herdplatte bestand. Zwei Hängeschränke und ein Wandschrank sorgten dafür, dass mein mobiles Hab und Gut sicher verstaut war, und das Klappdach ersparte mir das Einbauen eines Bettes. Einen klappbaren Tisch vor der Rückbank gab es ebenfalls, sodass ich meiner Meinung nach bestens ausgestattet war. Sobald ich Zeit und Geld übrig hätte, würde ich Stoff kaufen, mir Vorhänge nähen und die Polster passend beziehen. Damals, während meiner Arbeit am Varieté, hatte ich viel genäht, doch in den letzten Jahren war dieses Hobby irgendwie vom Alltag verschluckt worden. Die Neugestaltung dieses Vans erschien mir ein ziemlich guter Anlass, um es wieder aufleben zu lassen. Kurz, alles in allem war ich wahnsinnig stolz auf meine neue Unterkunft, und bei der Aussicht, die nächsten Monate damit durch Europa zu tingeln, wurde mir vor Aufregung ganz warm ums Herz.

Als ich mein kleines Schlachtschiff auf den Parkplatz des Winterquartiers lenkte, hatte die Aufregung sich in eine ausgewachsene Übelkeit verwandelt, die ich jedoch weitestgehend ignorierte. Nachdem meine erste Begegnung mit diesen Leuten schon mit einer Beule an der Stirn geendet hatte, konnte ich nun erst recht darauf verzichten, jemandem an meinem ersten Arbeitstag auf die Füße zu kotzen.

Ich strich einmal über meine Klamotten, eine nervige Angewohnheit, und stieg dann aus. Ich hatte mich für eine verblichene Jeans und ein weites T-Shirt entschieden, da es trotz April recht warm war und ich beim Arbeiten vermutlich ohnehin ins Schwitzen kommen würde. Meine Haare hatte ich zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden und auf Make-up komplett verzichtet. Ich hatte keine Ahnung vom Zirkusleben, doch ich hoffte inständig, dass diese Menschen relativ normal und natürlich waren. Bei meinem Bewerbungsgespräch hatte ich nicht gelogen – Künstler konnten tatsächlich ein wenig spleenig sein. Zumal es zwischen Artisten immer eine Art von Konkurrenzdenken gab, weshalb einige dazu neigten, eine One-Man-Show hinzulegen, sobald sie unter Menschen waren.

Ich lief über den Parkplatz auf das Tor zu und versuchte, dabei möglichst selbstbewusst zu wirken. Ich wollte definitiv keiner der Neulinge werden, die sich durch irgendwelche Aufnahmestreiche der Zirkusangestellten zum Affen machten. Ich würde diese ersten Tage mit Bravour überstehen und ihnen zeigen, dass ich niemand war, den man für dumm verkaufen konnte. Ich fühlte mich wie die Neue in einer Grundschulklasse – von allen beäugt und abgeschätzt. Mir war klar, dass wir inzwischen erwachsen und eigentlich zu alt für solche Spielchen waren, doch trotzdem breitete sich die Nervosität in meinem Magen aus wie ein Schwarm Schmetterlinge.

Der Platz hinter dem Zaun sah vollkommen anders aus als bei meinem ersten Besuch. Beinahe alle Container waren verschwunden. Es war offensichtlich, dass ein Großteil der Ausstattung bereits zu dem ersten Spielort unterwegs war, und ich begann mich zu fragen, was ich überhaupt hier sollte.

Ich straffte die Schultern, öffnete das Tor und lief zielstrebig zum Bürocontainer hinüber. Nachdem ich die Tür erreicht und angeklopft hatte, wich ich geistesgegenwärtig einen Schritt zurück. Und keine Sekunde zu früh. Denn als die Tür aufschwang und Amelie mich mit einem breiten Lächeln begrüßte, wurde mir klar, dass sie das mit dem vorsichtigen Öffnen immer noch nicht verinnerlicht hatte.

»Sophie! Schön, dass du hier bist.« Sie kam die Stufen herunter und umarmte mich herzlich. Unwillkürlich wurde mir warm ums Herz, und ich erwiderte die Geste.

»Ich hab alles gepackt, von mir aus kann’s also losgehen«, verkündete ich und hörte selbst den Stolz in meiner Stimme. Es war offensichtlich: All die Zweifel und Ängste der letzten Woche waren der Vorfreude gewichen.

»Sehr schön! Wie du siehst, ist die meiste Arbeit schon erledigt. Im Grunde haben wir nur noch eine Teambesprechung, dann werden die Fahrzeuge beladen, und wir brechen zusammen auf«, informierte sie mich, wobei mir bei dem Wort »Teambesprechung« ein bisschen mulmig wurde. »Wir hätten uns natürlich auch direkt in Frankreich treffen können, aber irgendwie ist es Tradition geworden, dass wir im Konvoi fahren.«

Ich nickte nur und trat zur Seite, als sie die Tür hinter sich schloss. »Mein Mann und sein Bruder sind schon in Paris und treffen sich mit den Leuten, die uns dort beim Aufbau helfen. Benedict ist offiziell für Strom, Licht, Ton, Wasser und so weiter zuständig, aber eigentlich macht er so gut wie alles, du wirst ihn ja kennenlernen. Den Rest des Haufens triffst du gleich, aber keine Angst, niemand von ihnen hat je einen Mitarbeiter gebissen.«

Mein Lachen klang ein wenig gekünstelt, doch ich bemühte mich um eine gelassene Miene, als ich Amelie zum hinteren Teil des Geländes folgte, den ich bislang noch nicht gesehen hatte. Wir umrundeten eine kleine Lagerhalle. Als wir an den offen stehenden Toren vorbeikamen, bemerkte ich, dass auch hier bereits alles leer war. Anscheinend gab es heute tatsächlich nicht mehr allzu viel zu tun.