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Die Herausforderungen der Zukunft durch kulturübergreifende Perspektiven lösen Dieses Buch zeigt, wie das geht! Gundula Gwenn Hiller, ausgewiesene Expertin zu den Themen Interkulturalität und Diversität, lädt Sie dazu ein, zu erkunden, was wir von anderen Kulturen lernen können und bietet Lösungen an für individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen. Es ist an der Zeit umzudenken: Wir brauchen neue Perspektiven auf uns und die Welt, um die aktuellen Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen. Gemessen an Wissen und dem technologischen Fortschritt war die Menschheit zwar noch nie so weit entwickelt wie heute. Aber wir spüren gleichzeitig, dass wir auch noch nie so nah am Abgrund standen. Doch wir müssen das Rad gar nicht neu erfinden. Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus bringt uns schon weiter. Wissen aus anderen Kulturen stellt eine wertvolle Ressource dar, um neue Ideen und Lösungen zu entwickeln. Andere gesellschaftliche Konzepte und Weisheitslehren liefern neue Sichtweisen auf altbekannte Probleme und inspirieren für ein besseres Leben. Gesundheit, gute zwischenmenschliche Beziehungen, gegenseitige Rücksichtnahme und nachhaltiges Handeln werden zunehmend wichtiger. Immer mehr Menschen wünschen sich eine bessere Work-Life-Balance, der Gesellschaft fehlt es an Zusammenhalt und die Wirtschaft braucht Innovation, Diversität und Flexibilität. Unser aktuelles Wertesystem und die kulturelle Ausrichtung in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft stehen in vielen Punkten jedoch im Widerspruch dazu. Wir individualistischen Deutschen können uns hier von anderen Kulturen ein besseres gesellschaftliches Miteinander abgucken und auch, wie wir unseren Alltag freud- und sinnvoller gestalten können. Und damit schaffen wir gleichzeitig ein gesünderes und deutlich nachhaltigeres Denken und Handeln in unserer Zivilisation.
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Seitenzahl: 273
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Gundula Gwenn Hiller
Für neue Perspektiven auf uns und die Welt
Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft. Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen.
© 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2022 erschienenen Buchtitel »Was wir von anderen Kulturen lernen können. Für neue Perspektiven auf uns und die Welt« von Gundula Gwenn Hiller © 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-115-2
ISBN epub: 978-3-96740-212-4
Lektorat: Sabine Rock, Frankfurt am Main | www.druckreif-rock.de
Korrektorat: Sandra Bollenbacher, Heidelberg | www.rotstift.art
Umschlaggestaltung: Tina Mayer-Lockhoff, Berlin
Illustrationen: Katharina Neubert
Foto der Autorin: Dominik Pfau
Satz und Layout: ZeroSoft, Timisoara
Copyright © 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
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Vorwort
Was brauchen wir zum Glück?
Zum Aufbau des Buches
Kapitel 1:
Typisch deutsch – gibt’s das überhaupt?
Alle über einen Kamm?
Welterkenntnis durch Selbsterkenntnis
Spannende Außenperspektiven
Arbeit und Pflicht
Die andere Seite der Medaille
Wie wir kommunizieren
„Das ist doch nichts Persönliches“
Privates und Berufliches trennen
Ordnung ist das halbe Leben
Die heilige Pflicht
Singularisierung
Familie hier und dort
Eine männliche Kultur?
Kapitel 2:
Zwischenmenschliche Beziehungen – Gemeinschaft macht glücklich
Gemeinschaft nur in der Not?
Gemeinschaft macht froh – und ist gefährdet
Teamarbeit in Beruf und Studium
Skandinavische Glücksvorbilder
Rabenmütter oder lieber Hund statt Kind?
More than words
Gemeinschaftsgefühl kultivieren
Ubuntu
Kapitel 3:
Kommunikation – die Kunst, Verbindung zu schaffen
Die Macht der Sprache
Ein Lob auf Komplimente und Small Talk
Höflichkeit ist relativ
Was bedeutet Freundlichkeit überhaupt?
Die indirekte „High Context“-Kommunikation
In Japan wird die Luft gelesen
Nunchi – Superpower aus Korea
Konfuzianische Konzepte als Grundlage für nunchi
Nunchi im Business
Kapitel 4:
Die Arbeitswelt der Zukunft: Menschliche Ressourcen besser nutzen und Innovation fördern
Ist Deutschland zukunftsfähig?
Frauenpower: Da geht noch mehr!
Warum sind wir Frustweltmeister:innen im Job?
Skandinavische Work-Life-Balance
Lagom – die Kunst der Ausgewogenheit
Gleichberechtigung und Work-Life-Balance auf Schwedisch
Umdenken in Bezug auf Innovation und Ressourceneinsatz
Jugaad – kreativ das Beste aus allem machen
Ressourcen schonen
Kapitel 5:
Lebensplanung oder: Glücklich ist, wer Werte lebt
Schneller, weiter, höher
Die Optimierungs- und Perfektionismusfallen
Mehr Flow und Sinn ins Leben bringen
Sein ikigai finden
Perfektionismus als Kulturgut
Wabi sabi – das Lob des Unperfekten
Neue Perspektiven auf die Schönheit und auf sich selbst
Kapitel 6:
Alltagsgestaltung – was uns zum Glück fehlt
Glücksfaktoren und Stressoren
Tugendhaft, aber unzufrieden?
Hygge – dänische Behaglichkeit
Lagom – schwedische Ausgewogenheit
Sisu – finnische Naturliebe
Pura vida – costa-ricanische Lebensfreude
Gelassenheit für Fortgeschrittene: wu wei, Zen und Achtsamkeit
Kapitel 7:
Gesundheit und Alter – die Rezepte der fitten Hundertjährigen
Unser Gesundheitssystem: Warum Geld nicht alles ist
Ein Drittel der Deutschen ist nicht gesund
Sardinien – bergauf, bergab bei gesunder Ernährung
„La famiglia“ hält jung
Die Geheimnisse der Alten von Okinawa
In Bewegung bleiben
Die Alten im Kreis ihrer Lieben
Kusuimun und hara hachi-bu
Kapitel 8:
Nachhaltigkeit – ein neuer Blick auf die Ressourcen der Erde
Die Deutschen und ihre Autos
Wir konsumieren, als ob es kein Morgen gäbe
Die Natur als Verwandte – und eine Ökonomie des Schenkens
Das Paradies als Ort der Fülle – oder des Sündenfalls?
Dankbarkeit
Rituale der Danksagung
Buen vivir
Der Natur eigene Rechte verleihen
Die Erdgöttin Pachamama in der Verfassung
Best-Practice-Beispiel Costa Rica
Und nun?
Quellen und Anmerkungen
Danksagung
Die Autorin
Die besten Entdeckungsreisen macht man, indem man die Welt mit anderen Augen betrachtet.
MARCEL PROUST
Liebe Leserin, lieber Leser, ich lade Sie ein, mit mir in diesem Buch eine Reise zu unternehmen – eine Reise in die Welt der Weisheit und der guten Ideen und Initiativen, die es überall auf unserem Planeten gibt. Da ist so viel Unbekanntes, Aufregendes zu entdecken: Weltanschauungen, Lebensphilosophien, Konzepte oder auch einfach Ideen, die uns neue Perspektiven, einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen – und die sogar helfen könnten, individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Das ist die Grundidee und damit auch die Motivation für dieses Buch.
Unter „Weisheit“ verstehe ich eine umfassende Klugheit, die auf Lebenserfahrung und Einsicht in größere Zusammenhänge beruht. Weisheit kann individuell sein, doch auch ganze Völker oder Nationen haben, basierend auf ihren Lernerfahrungen, Werten und ihrem Weltverständnis, eigene Weisheiten entwickelt. Diese kollektive Weisheit macht das Leben der Gemeinschaft lebenswert, lässt sie Krisen meistern, stärkt den Zusammenhalt und sorgt im besten Fall für eine gute Zukunft. Die Frage ist: Was können wir Menschen voneinander lernen? Die Wirtschaft ist schon seit Langem globalisiert, aber wie sieht es mit der gesammelten Weltweisheit aus? Die westliche Welt scheint mit ihrer Vorstellung von Mensch und Natur und ihren Wissenschaften weltweit zu dominieren, wir blicken selten über unseren Tellerrand hinaus. Aber das ist viel zu kurz gedacht: Ich bin für eine kulturelle Globalisierung – wenn wir uns das Beste aus anderen Kulturen herauspicken würden und voneinander lernten, wäre das doch eine Riesenbereicherung!
Schon als Kind interessierte ich mich brennend für andere Sprachen und Kulturen. Das ist vielleicht etwas verwunderlich, denn meine Familie verreiste so gut wie nie, und wenn, dann lagen die Ziele höchstens zwei bis drei Stunden Fahrzeit von zu Hause entfernt. Erst mit 14 Jahren sah ich zum ersten Mal das Meer (die Ostsee), mit 19 war ich erstmals in einem nicht an Deutschland grenzenden Land unterwegs (Italien) und Europa verließ ich zum ersten Mal mit 23 (und dann erst wieder zehn Jahre später!). Ich bin dennoch viel gereist in den ersten Jahrzehnten meines Lebens – in Büchern, in Filmen, in Gedanken, beim Sprachenlernen und mit dem Finger auf der Landkarte. Bis heute liebe ich Weltkarten, sie hängen überall in der Wohnung und im Büro. Mein Lieblingssprichwort aus der Kindheit stammt von den indigenen Ureinwohner:innen Amerikas: „Urteile nie über eine andere Person, bevor du nicht einen Mond lang in ihren Mokassins gelaufen bist.“ Was für ein weiser Spruch, sage ich mir heute – viele, viele Monde später! Würden wir ihn kollektiv befolgen, gäbe es sicherlich weniger Konflikte, weniger Hass und vielleicht weniger oder gar keine Kriege mehr.
Inzwischen habe ich über 50 Länder bereist und in fünf Ländern gelebt. Als Expertin für interkulturelle Kommunikation und Diversität befasse ich mich nun seit fast 30 Jahren mit anderen Kulturen, mit kulturellen Unterschieden, mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt und die Menschen. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass es nützlich und hilfreich sein kann, sich mit kulturellen Unterschieden auseinanderzusetzen. In diesem Buch wähle ich nun einen anderen Zugang zu interkulturellen Perspektiven: Statt auf kritische Unterschiede zu schauen, die durchaus zu Irritationen führen können, frage ich: Was können wir voneinander lernen? Ich werfe also einen ressourcenorientierten Blick auf die Unterschiede. Mein Fokus liegt dabei auf der Weisheit, also auf dem kollektiven Wissen um ein gutes Leben, das von Kultur zu Kultur variiert. Schon immer fand ich es außerordentlich spannend, zu entdecken, welche Lebensphilosophien, Konzepte und Strategien die unterschiedlichen Kulturen entwickelt haben, um innerhalb ihrer historischen, klimatischen, gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Rahmenbedingungen gut zu leben.
Das Buch ist auch ein Plädoyer für Diversität. Wir können nur gewinnen, wenn wir unseren Blick weiten und unterschiedliche Perspektiven zulassen und integrieren. Das wird uns auch besser auf die Zukunft mit all ihren Herausforderungen vorbereiten. Innovation entsteht dort, wo „out of the box“ gedacht wird. Die Forschung hat überdies herausgefunden, dass „diverse“ Teams, die aus Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Fähigkeiten bestehen, effektiver und besser miteinander arbeiten als homogene Teams.1 Die Weisheit der Gruppe ist viel weitreichender als die des Individuums. Mit diesem ressourcenorientierten Blick erkunde ich, was wir als Deutsche – und viele andere westlich-materialistisch geprägte Gesellschaften – von anderen Kulturen lernen können, bzw. wie andere Weltanschauungen die unsere wunderbar ergänzen und bereichern können.
Ich werde übrigens häufiger gefragt, wen ich denn unter den Begriff „Deutsche“ fassen würde. Das ist einerseits eine schwierige Frage, doch andererseits ganz einfach zu beantworten: Ich meine damit alle, die sich der deutschen Kultur zugehörig fühlen und die sich hier sozialisiert haben. Das können selbstverständlich auch Zugewanderte sein oder Menschen, die im Ausland leben, sich aber dennoch aufgrund ihrer Sozialisation oder ihrer Wurzeln deutsch fühlen.
Doch zurück zum Gedanken des Voneinanderlernens: Um gute Vergleiche ziehen zu können, habe ich unterschiedliche Herangehensweisen an verschiedene Lebensbereiche überall auf der Welt untersucht und mich gefragt: Was können andere besser als wir? Mit „wir“ meine ich vor allem die Menschen hierzulande, doch einiges davon lässt sich auch auf Europäer:innen bzw. generell auf westlich geprägte Menschen übertragen. Wer ist glücklicher, gesünder, erfüllter als wir? Wer lebt nachhaltiger, wer ist innovativer und zufriedener im Job als wir, und wo gibt es einen besseren zwischenmenschlichen Zusammenhalt? Denn das sind doch letztlich die Dinge, die wirklich zählen!
Natürlich haben alle Völker und Nationen neben ihren Weisheiten auch blinde Flecke und Begrenzungen, Dinge, die sie nicht so gut können oder die eher schlecht laufen. Vielleicht haben sie auch manches Gute im Laufe der Zeit verlernt. Viele Länder weltweit haben in den letzten Jahrzehnten eine Werteverschiebung hin zu Materialismus, Erfolgsdenken und Individualismus durchlaufen. Manche Kulturen waren anfälliger dafür als andere, sich von diesem Strudel mitreißen zu lassen und nachhaltigere Werte wie Glück, zwischenmenschliche Beziehungen oder Respekt für die Natur hintanzustellen. Wenn ich zum Beispiel später im Buch einige Aspekte der japanischen Lebensphilosophie betrachte, dann ist mir natürlich bewusst, dass auch die japanische Kultur heute stark vom westlichen Kapitalismus geprägt ist und dass viele Japaner:innen manches wertvolle Wissen aus ihrer Kultur erst wieder für sich entdecken müssen. Ich denke da an das wohltuende Auftanken in der Natur, das als shinrin-yoku – „Waldbaden“ – zu einem regelrechten Trend wurde, der auch zu uns herüberschwappte. Selbst wenn dies im Grunde nur alter Wein in neuen Schläuchen ist, so steckt viel von der japanischen Lebensphilosophie, von Zen bis wabi sabi, darin. Und obwohl manches zeitweise in Vergessenheit geraten ist, so ist die japanische Kultur doch durchdrungen von den alten Weisheitslehren, die vielerlei Ausdruck in der Gestaltung von Kunst und Alltäglichem finden.
Was ich sagen und zeigen möchte: Die einen können dieses gut, die anderen jenes. Das heißt jedoch nicht, dass bestimmte Kulturen besser oder schlechter sind als andere. Sie sind eben verschiedenartig. Geschichte, klimatische und geographische Bedingungen, politische und ökonomische Umstände haben unterschiedliche Weltsichten und Verhaltensweisen hervorgebracht, mit denen Gesellschaften das Leben auf diesem Planeten gestalten. Es ist wie bei uns Menschen: Manche Dinge können wir richtig gut, andere wiederum nicht. So ist die eine z. B. sehr gewissenhaft, dafür vielleicht aber nicht sehr kreativ, während der andere ständig tolle Ideen hat, diese aber nicht umgesetzt bekommt, weil ihm schlicht die nötige Ausdauer fehlt. Wären diese beiden nicht ein wunderbares Team, und die eine Person könnte von der anderen lernen? Das würde beide glücklicher und zufriedener machen.
Oder: Wie gut würde es sich ergänzen, wenn sich diejenigen, die verbissen ihre Zeit durchtakten – und damit zwar sehr effektiv sind, aber immer auch ein bisschen angespannt (das müssen nicht unbedingt Deutsche sein, ich habe z. B. eine brasilianische Freundin, auf die diese Beschreibung passen würde) –, eine Scheibe abschneiden würden von denjenigen, die sich grundsätzlich mehr Zeit lassen? Letztere sind vielleicht weniger effektiv oder stehen eventuell wirtschaftlich schlechter da, sind aber oft glücklicher und gelassener. Die Glücksforschung hat hier überraschende Beispiele parat: Es gibt Länder, da sind die Menschen längst nicht so wohlhabend wie viele hierzulande, aber happy. Wie viel könnten wir von ihnen lernen, z. B., dass sich Glück nicht kaufen lässt?
Wie unterschiedlich wir an Aufgaben herangehen! (© Katharina Neubert)
In diesem Buch werde ich auf Basis meiner langjährigen Erfahrungen mit Gruppen, Kolleg:innen und Studierenden aus dem In- und Ausland und der interkulturellen Forschung zunächst aufzeigen, wo wir, kollektiv gesehen, unsere blinden Flecke haben. Was können wir nicht so gut, womit ecken wir häufig bei anderen an und warum sind wir unglücklicher, als wir sein müssten? Denn so richtig glücklich sind wir ja gar nicht mit unserer Lebensweise. Im Jahr 2020 habe ich mir zum ersten Mal den World Happiness Report (WHR) genauer angeschaut und festgestellt, dass Deutschland seit Jahren irgendwo hinten in den Top 20 liegt (damals war es Platz 17).2 Auf den vorderen Positionen rangierten Länder, die wirtschaftlich sehr viel schlechter dastehen als Deutschland, z. B. Costa Rica, dessen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im weltweiten Ranking 2019 Platz 63 einnahm (während wir auf Platz 18 standen3).
Interessanterweise gab es einige ärmere und auch politisch instabile Länder, die im Glücksranking besser positioniert waren als viele reiche Industriestaaten, so etwa Mexiko vor Spanien und Guatemala vor Italien.4 Auch im jüngsten WHR von 2022, der die schwierigen Pandemiejahre widerspiegelt, sind wir nur auf Platz 14, und das, obwohl Deutschland mit einem gut abfedernden Sozialsystem insgesamt ziemlich glimpflich durch die Coronajahre gekommen ist.5 Ich habe mich gefragt: Wie kommt dieses Gefälle zustande? Eigentlich geht es uns doch gut, oder? Trotz all meiner schönen Reisen und Auslandsaufenthalte muss ich zugeben: Ich würde immer wieder nach Deutschland zurückkehren. Auch wenn mir längst nicht alles gefällt, so gibt es doch vieles, was hier wirklich gut läuft. Vielleicht zeigt sich das in Krisensituationen besonders und wir sind deswegen während der Pandemie auf der Glücksskala drei Punkte nach oben geklettert!
Dennoch: Die Frage, warum so viele Menschen in Deutschland unglücklich oder unzufrieden sind, beschäftigte mich weiter und ich begann, nach Antworten zu suchen. Auch andere Umfragen zeigen, dass in puncto persönliche Befindlichkeiten bei uns noch viel Luft nach oben ist. Das gilt genauso für das gesellschaftliche Miteinander, das Vertrauen zueinander und in die Zukunft. Auch bei Gesprächskultur, Gesundheit und Lebensgestaltung stehen andere Kulturen besser da und wir könnten viel von ihnen lernen. Wussten Sie z. B., dass die Menschen in Deutschland Weltmeister:innen in Bezug auf Frust bei der Arbeit sind? Wie konnte es dazu kommen, wo wir doch im globalen Vergleich sehr kurze Arbeitszeiten und richtig viele Urlaubstage haben?
Meine These: Offenbar verfügen manche Kulturen über Weisheitsformen, die unabhängig von materiellem Besitz oder Bildung Einfluss auf Glück und Wohlbefinden haben. Was machen die Menschen in diesen Kulturen richtig? Beim näheren Hinsehen werden gewisse Tendenzen deutlich. So erfährt das Gemeinwohl in vielen dieser Kulturen eine große Wertschätzung, andere wiederum gehen achtsam mit den Ressourcen der Erde um und wieder andere gestalten ihr Leben weise, im Sinne von erfüllend, sinnstiftend, hilfreich oder gut für alle. Was uns zu der Frage führt: Was können wir von den im Glücksreport weiter oben platzierten Kulturen in puncto Lebenszufriedenheit lernen? Und was sollten wir dringend verändern?
Ich möchte zunächst mit Ihnen im Sinne einer Selbstreflexion die Besonderheiten unserer Kultur erkunden: Was können wir gut und was weniger gut? Könnte es kulturbedingte Ursachen dafür geben, dass so viele Menschen hierzulande nicht so richtig zufrieden sind mit sich und ihrem Leben? Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung für Veränderung. Das wusste man schon in der Antike, denn die Worte „Erkenne dich selbst“ standen einst über dem Orakel zu Delphi. Ich werde Ihnen in diesem Buch mit Erkenntnissen aus der Forschung, mit Zahlen, Statistiken und Anekdoten hin und wieder den Spiegel vorhalten. Das ist nicht immer angenehm. Ob Sie sich jeweils darin wiederfinden oder nicht, entscheiden natürlich Sie!
Bei aller Selbstkritik steht jedoch ein positiver, optimistischer Ansatz im Fokus dieses Buches. Lassen Sie uns gemeinsam der Frage nachgehen, was wir als Individuen und als Gesellschaft besser machen können! Wir brauchen neue Perspektiven auf uns und die Welt, um die aktuellen Krisen in Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie bewältigen zu können. Und dazu müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Vieles ist schon gedacht, ausprobiert und gelebt worden. In vielen Kulturen ist wertvolles Wissen verborgen, das wir nutzen können, um aktuelle Krisen zu meistern und uns neue Perspektiven und Horizonte zu erschließen.
Dieser Ansatz zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel, die jeweils einem Themen- bzw. Lebensbereich gewidmet sind – immer mit dem Blick darauf, was wir von anderen Kulturen lernen können. Wie könnte ein besseres gesellschaftliches Miteinander aussehen und auch ein verbindender, herzlicherer Umgang? Wie können wir unsere Arbeitswelt fairer und zukunftsfähiger machen? Und wie unseren Alltag freud- und sinnvoller gestalten? Ausgangspunkt für all das ist eine wertebasierte Lebensplanung. Damit schaffen wir gleichzeitig ein gesünderes und deutlich nachhaltigeres Denken und Handeln – essenzielle Punkte in dieser Zeit der Krisen und des dramatischen Klimawandels. Zu all diesen Punkten wird es jeweils ein Kapitel geben.
Aber keine Angst, er wird nicht nur theoretisch! Ich illustriere all die Zahlen, Daten, Fakten und Erkenntnisse aus der aktuellen interkulturellen Forschung und aus meinen Recherchen mit Geschichten. Auf meinen Reisen und im Rahmen meiner Lehr- und Forschungstätigkeit an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland habe ich jede Menge Fallbeispiele gesammelt, sogenannte Critical Incidents. Das sind kritische Situationen, in denen „Culture Clashs“, also kulturelle Zusammenstöße, passieren. Diese müssen nicht immer negativ sein. Manchmal entstehen daraus Missverständnisse, aber auch Erstaunen, Überraschung oder Schmunzeln können die Folge sein. Ich nenne diese Fallsammlung liebevoll meine „Schatzkiste“. Einige dieser Schätze werde ich hier mit Ihnen teilen. Sie sind mit diesem Symbol gekennzeichnet.
Die meisten Geschichten sind in verschiedenen Studien und Projekten, die ich geleitet habe, dokumentiert worden. Auf Basis der Materialien aus meiner Schatzkiste habe ich bereits zwei Bände mit kommentierten Fallbeispielen herausgegeben.6 Doch ich habe auch selbst jede Menge Geschichten mit anderen Kulturen erlebt, von denen ich in diesem Buch einige zum Besten geben werde. Sie sind mit dem Symbol „Tagebuch“ gekennzeichnet.
Es gibt auch immer wieder die Möglichkeit, die Weisheiten und Herangehensweisen anderer Kulturen ohne großen Aufwand in den eigenen Alltag zu integrieren. Diese Stellen mit praktischen Tipps erkennen Sie am Symbol „Glühbirne“.
Als Sprach- und Kulturwissenschaftlerin finde ich es faszinierend, dass es in einzelnen Sprachen bestimmte Wörter gibt, die unübersetzbar sind. Sie stehen für bestimmte Ansätze, Konzepte und Phänomene, die aus ihren historischen, kulturellen und oft auch klimatischen Bedingungen heraus entstanden sind und deren spezifische Lebenswelten widerspiegeln. In diesem Buch werden Sie auf viele solche kursiv gesetzten Wörter und Begriffe stoßen, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe. Es ist ein bisschen wie beim Fremdsprachenlernen: Erweitern Sie Ihren Wortschatz und damit Ihre Vorstellungswelt. Lassen Sie ubuntu, hygge und wabi sabi in Ihr Leben, und Sie werden die Bereicherung spüren!
Apropos Sprache: Ich verwende in diesem Buch gendergerechte Sprache, da mir das Thema als Professorin für Beratungswissenschaften mit Schwerpunkt Interkulturalität und Diversity sehr am Herzen liegt. Die gendergerechten Formen sollen sich so gut wie möglich in den Lesefluss eingliedern. Denn faire Sprache muss nicht sperrig sein!
Noch ein Wort dazu, worum es mir in diesem Buch nicht geht: Ihnen und mir irgendwelche Eigenschaften zu- oder abzusprechen oder uns als „Deutsche“ in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Es geht auch keinesfalls darum, alle Menschen in einen Topf zu werfen oder Kulturen bzw. deren Weltsichten und Eigenheiten zu bewerten (obwohl ein paar Verallgemeinerungen sich nicht ganz vermeiden lassen). Mein Ziel ist ein anderes: Ich möchte Sie inspirieren und unterhalten, Ihnen neue Perspektiven aufzeigen, Sie neugierig machen auf fremde Welten und darauf, Neues auszuprobieren!
Viel Freude beim Lesen und gute Erkenntnisse wünscht Ihnen
Gundula Gwenn Hiller
Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise.
KURT TUCHOLSKY
Ich bin Anfang 30, das erste Mal ganz allein auf einem anderen Kontinent, wow, und dann auch noch in Kalifornien – ein erhebendes Gefühl! Stolz steuere ich meinen Mietwagen in Richtung Berkeley, wo ich zwei Wochen lang einen Sprachkurs besuchen werde. Im Radio läuft coole Musik und ich singe freudig mit. Es ist glücklicherweise wenig Verkehr, aber plötzlich ist da eine Kreuzung mit einer für mich unübersichtlichen Situation. Irgendwie hängen die Ampeln statt wie bei uns vor der Kreuzung dahinter. Ich fahre zu weit vor und erschrecke, als ich merke, dass ich schon halb auf der Kreuzung stehe. Hektisch lege ich den Rückwärtsgang ein und setze zurück. Und wumms! Ich stoße gegen das Auto hinter mir. Oh my goodness. Das fängt ja gut an. Ich habe Angst davor, gleich zur Schnecke gemacht zu werden. Ein großer Mann steigt aus, schaut kurz auf die betroffene Stelle und ich beginne, mich umständlich zu entschuldigen. Er grinst mich breit an und sagt: „Hey, lady, next time, you’d better watch out!“ Damit ist die Sache für ihn gegessen und er steigt lässig zurück in seinen Wagen. Ich denke: „Echt jetzt, das war’s? Der lässt mich einfach laufen, ohne Polizei, Versicherung und so?“ Ein Kratzer mehr oder weniger scheint für ihn kein Weltuntergang zu sein. Er hat sich weder seinen Abend ruiniert noch meine Ankunft in den USA. Demütig und dankbar angesichts dieses glimpflichen Ausgangs fahre ich weiter. Welcome to California!
Was für ein großartiger Empfang für mich in den USA! Ich war schwer beeindruckt von der gänzlich unerwarteten Reaktion dieses Herrn. Und ich erlebte während des ganzen Aufenthalts dort viel Freundlichkeit, Lockerheit und Großzügigkeit. Jemand spendierte mir 5 Dollar am Straßenbahnautomaten, weil ich das Geld nicht passend hatte; es gab Einladungen zum Essen, eine spontane Übernachtung bei Fremden etc. Solche Gesten der Gastfreundschaft sind mir bei Reisen in vielen Ländern aufgefallen, sie haben mich teilweise beschämt und mir vor Augen geführt, wie wenig großzügig und gastfreundlich wir in unserem Land doch oft sind.
Dass wir in diesem Punkt so schlecht abschneiden, konnte ich erst erfassen, als ich im Ausland wahre Großzügigkeit erlebte. Und die habe ich angetroffen, von Polen bis Neuseeland! Es lohnt sich auf jeden Fall, sich einmal mit der Außensicht auf uns zu befassen. Wie war das noch? Selbstreflexion ermöglicht persönliches Wachstum. Das sagte schon Goethe in seinem „Faust“: „Wie viel bist du von andern unterschieden? Erkenne dich, leb’ mit der Welt in Frieden.“7
Vermutlich werden Sie meine Einschätzungen nicht immer teilen und Ihnen werden immer wieder einmal Personen einfallen, die den Bildern, die ich hier zeichne, nicht entsprechen, Sie selbst eingeschlossen. Das ist normal, denn die Antwort auf die Frage „Wie sind ‚wir Deutschen‘ eigentlich?“ kann immer nur eine Annäherung sein. Genauso wie die Überlegungen zu diesen Fragen: Was können wir – als Kollektiv gesehen – gut und was weniger gut? Worin bestehen unsere Stärken, und wo haben wir Lernbedarf? Mir ist bewusst, dass ich mich mit diesen Fragestellungen auf dünnes Eis begebe: Jemand, der in Berlin lebt und in einem Start-up arbeitet, wird ein anderes Deutschland erleben als eine Germanistikstudentin aus Heidelberg oder eine Künstlerin in Buxtehude. Ist es überhaupt legitim, von einem Land als Ganzes zu sprechen und es zu beschreiben bzw. den Menschen, die dort leben, bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben?
Wer wie ich im Feld der interkulturellen Kommunikation arbeitet und lehrt, bewegt sich tagtäglich in diesem Dilemma. Immer eingedenk der Gefahr der Stereotypisierung, versuchen wir dennoch, ein interessiertes Publikum bzw. unsere Kursteilnehmenden „interkulturell zu sensibilisieren“ – sie also auf mögliche Irritationen und Missverständnisse vorzubereiten, die in interkulturellen Kontaktsituationen auftreten können. Wo ecken sie an, bzw. wo verstehen sie die anderen nicht? Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit theoretischen Konzepten zu arbeiten, die Kulturen erfassen und beschreiben wollen. Das allerdings verlangt einiges an Fingerspitzengefühl, da hier gerne kräftig verallgemeinert wird.
Deutschland verstehen: Das war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Anliegen vieler Nationen und Institutionen. Der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall, einer der Pioniere im Bereich interkultureller Kommunikation, widmete sein Forscherleben zusammen mit seiner Frau Mildred der Erfassung und Beschreibung kultureller Unterschiede. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg wollte er seinen Studierenden dabei helfen, die Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen besser zu verstehen und angemessen zu reagieren, und wurde somit zum Begründer der interkulturellen Kommunikation als Wissenschaft. Das Foreign Service Institute des US-Außenministeriums beauftragte Hall, Kulturen aus einer vergleichenden Perspektive zu beschreiben – der Ausgangspunkt interkultureller Forschung. Die von ihm geschaffenen Kulturdimensionen wurden dann von späteren Forschenden ergänzt und weiterentwickelt. So gibt es inzwischen in der interkulturellen Forschung eine ganze Reihe abstrakter Konzepte, die kulturelle Unterschiede benennen; diese werden z. B. Kulturdimensionen, Culture Map oder eben Kulturstandards genannt.8
Hall und seine Nachfolger:innen bezogen Deutschland ausführlich in ihre Studien mit ein; in Deutschland selbst wurde dann in den 1990er-Jahren ein Konzept entwickelt, das interkulturelle Zusammenstöße aus deutscher Sicht zu erfassen versuchte. So etablierte der Sozial- und Organisationspsychologe Alexander Thomas in den 1990er-Jahren hierzulande die Kulturstandard-Forschung. Ähnlich wie Hall wollte er damit erreichen, dass die Menschen interkulturell kompetenter würden. Hierfür entwickelte Thomas die sogenannten Kulturstandards, die ich gerne, angereichert mit Medienartikeln, Umfragen oder Interview- oder Literaturauszügen, als Reflexionsgrundlage verwende – und zwar zu der Frage, wie „wir Deutschen“ denn so sind.
Kulturstandards sind, einfach gesagt, verdichtete Beschreibungen von Eigenheiten im Denken und Verhalten, „die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und für andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden“, so Thomas.9 Wohlgemerkt von einer Mehrzahl, nicht von allen. Was die Kulturstandards angeht, so sind meine Studierenden die Gradmesser. Solange die junge Generation sich darin wiederfindet, kann ich damit arbeiten. Noch hat dieses Modell das Potenzial, zur Selbstreflexion und auch zu einer Reflexion über unsere Gesellschaft anzuregen.
Das Sprechen über kulturelle Eigenheiten bzw. Kulturstandards ist immer eine Gratwanderung zwischen Stereotypisierung und dem legitimen Wunsch nach Wissen über andere Kulturen. Und dieses Problem lässt sich letztlich nicht ganz lösen. Auch Medienartikel, Sprachunterricht, Reiseführer, Auslandsreportagen, Literatur und Humor arbeiten mit Verallgemeinerungen, wenn nicht sogar mit Klischees. Die Stereotypenforscherin Julia Degener sagt dazu, dass wir als Individuen den Anspruch, uns von Stereotypen befreien zu wollen, gar nicht erfüllen können. Es gehört zur natürlichen Funktionsweise des menschlichen Geistes, dass wir soziale Kategorien wie Geschlechts-, Alters- oder ethnische Stereotype verwenden.10 Umso wichtiger ist es, wach und aufmerksam zu sein, Dinge auch zu hinterfragen und differenziert zu sprechen und zu denken.
Es kann sehr erhellend sein, sich mit diesen Konzepten, die die Unterschiede beschreiben, zu befassen. So war es für mich persönlich ein Riesen-Aha-Erlebnis, als ich zum ersten Mal dank Hall und Thomas realisierte, dass wir weitaus direkter kommunizieren als fast alle anderen Kulturen. Endlich hatte ich die Antwort auf die Frage, warum viele Menschen aus anderen Ländern uns als stoffelig oder unhöflich erlebten. Es liegt an der Struktur unserer Sprache, aber nicht nur! Ich werde später auf dieses spannende Thema zurückkommen.
Natürlich müssen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, für sich selbst schauen, ob Ihnen einleuchtet, was die interkulturelle Forschung sagt, was in den Medien steht und auch, was ich schreibe. Doch man muss die Dinge zunächst einmal benennen, um dann darüber nachzudenken, sich selbst zu verorten oder darüber diskutieren zu können. Deshalb verwende ich in der Arbeit mit Gruppen oft einfach nur Kategorien aus der interkulturellen Forschung, wie z. B. „direkte“ versus „indirekte“ Kommunikation, und lasse die Teilnehmenden sich selbst einordnen.
Denn auch innerhalb Deutschlands haben wir eine große Diversität. Ein Beispiel: Während meiner Studienzeit gab es Seminare zum Thema „Männersprache – Frauensprache“. Die Erkenntnis: Frauen kommunizieren indirekter als Männer. Dann erschienen Studien zum Thema „Kommunikation in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland“. Fazit: In der DDR wurde indirekter kommuniziert als im Westen. Was folgte daraus? Sprechen ostdeutsch sozialisierte Frauen dann überhaupt direkt? Ich könnte nun behaupten: ja, im Vergleich zu Japaner:innen mit Sicherheit. Letztlich aber ist, losgelöst von jeglicher kulturellen Zuschreibung, die allerspannendste Frage: Wie wirken sehr direkt sprechende Menschen auf indirekter Kommunizierende und umgekehrt? Was gelingt den einen besser, was den anderen? Und was könnten die beiden jeweils voneinander lernen?
Dass ich Deutsche bin, habe ich begriffen, als ich mit 19 für ein Auslandsjahr nach Paris ging;
dass ich Badenerin bin, habe ich gemerkt, als ich zum ersten Mal aus dem Ländle wegzog;
dass ich Westdeutsche bin, wurde mir bewusst, als ich zur Promotion nach Frankfurt (Oder) ging;
und was es bedeutet, sich als Europäerin zu fühlen, spürte ich erstmals, als ich sechs Monate lang an der University of Texas arbeitete.
Ich spüre es und ich identifiziere mich damit – und dennoch bleibt die Frage: Was ist das denn, „typisch deutsch“ oder „typisch europäisch“? Ich habe auch viele andere Identitäten und kulturelle Prägungen. Deshalb möchte ich – selbst im Südwesten der Republik aufgewachsen, aber im Nordosten mit einem ostdeutsch sozialisierten Partner lebend – an keiner Stelle des Buches behaupten, dass „wir Deutschen“ alle gleich sind. Doch ich werde sowohl bei meinen Ausführungen über die deutsche Kultur verallgemeinern müssen als auch bei den Ausführungen über die anderen Kulturen.
Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen bestehen natürlich immer aus Individuen mit ihren Eigenheiten und Ansichten. Aber sie teilen Orientierungssysteme, die Geschichte und zumeist die Sprache und haben eine gemeinsame Identität. Viele Konzepte, Herangehens- und Verhaltensweisen sind für sie selbstverständlich und werden erst in ihrer Besonderheit wahrgenommen, wenn sie mit anderen kollidieren. Kultur ist das, was uns selbstverständlich umgibt und was wir oft gar nicht benennen können, weil es immer da ist. Die interkulturelle Betrachtungsweise macht uns also auf Eigenschaften aufmerksam, die für uns als Vertreter:innen einer Kultur selbstverständlich sind, die anderen aber an uns auffallen – oder die uns selber bewusst werden, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die anders auf die Welt schauen, handeln, denken oder fühlen als wir.
Wurden Sie auch schon in Gespräche darüber verwickelt, was „typisch deutsch“ eigentlich bedeutet? Und wie würde Ihre Antwort darauf lauten? Es gibt viele Mythen über „die Deutschen“: Manche sagen beispielsweise, wir seien fleißig, effektiv und strebsam, dafür aber humorlos und unflexibel. Apropos Humor, kennen Sie diesen Witz?
„Do you know why Germans build such high-quality products?So they won’t have to go around being nice while they fix them.“
ANONYM11
Der ist echt ein bisschen gemein, sagte meine englische Freundin Sue, als ich ihr diesen Witz erzählte. Ich mag ihn ganz gerne, weil er gleichzeitig mit einem positiven und einem negativen Stereotyp spielt. By the way, was heißt das überhaupt: positiv und negativ? Und wer entscheidet, ob Effektivität oder Nettsein positiv ist oder nicht? Ist eines davon besser als das andere? Diese philosophische Frage werde ich später nochmals aufgreifen.
Bleiben wir erst einmal bei den pauschalen Einschätzungen der „Deutschen“: Manche sagen, diese seien zwar tolerant und freiheitsliebend, aber leider auch ständig gestresst. Probleme würden oft aufgebauscht und überall gebe es Regeln.12 Spannend ist auch die Frage, welchen Ruf die Deutschen eigentlich in der Welt haben. Die detaillierteste aktuelle Erhebung, die ich dazu gefunden habe, ist eine Studie aus den USA, die Menschen in 36 Ländern zu 73 Nationen befragt hat. Deutschland stand im Ranking der Länder mit dem besten Ruf 2020 immerhin auf Platz vier und verbesserte sich 2021 sogar um einen Platz.13 Beim Unternehmertum sahen die Befragten Deutschland sogar weltweit auf Platz eins. Deutlich schlechter schnitten wir jedoch in puncto Sympathie ab (Platz 50).14 Und die Zeitung „Die Welt“ bescheinigte den Deutschen, dass sie als Tourist:innen nicht allzu beliebt sind.15 Diese beiden letzten Punkte sind nicht gerade schmeichelhaft. An was könnte das liegen?
Deutschland zu beschreiben, ist keine einfache Aufgabe. Wir haben es mit einem heterogenen, multikulturellen, stark regional geprägten Land zu tun. Ist Ihnen bewusst, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ein ziemlich junges Land ist? Ich meine jetzt nicht das wiedervereinigte Deutschland seit 1990. Verglichen mit Frankreich, das auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickt, oder Polen, das auch schon vor 1000 Jahren auf der europäischen Landkarte verzeichnet war, stecken wir, historisch gesehen, noch in den Kinderschuhen. Noch 1797 fragte Friedrich Schiller in den „Xenien“: „Deutschland, aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.“ Der deutschsprachige Raum bestand damals noch aus vielen Einzelstaaten, und erst über 70 Jahre später gelang es dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck, Deutschland zu einen. Und das ist gerade mal rund 150 Jahre her! 1871 stimmten die süddeutschen Staaten zu, Teil eines neuen Deutschen Reiches mit dem preußischen König als Kaiser zu werden.
Diese Erstarkung führte unter anderem zu zwei Weltkriegen. Und der Zweite Weltkrieg wiederum zur deutschen Teilung. Jedes Mal musste Deutschland sich neu erfinden. Nach dem Zweiten Weltkrieg stürzten sich die Menschen erst einmal voll in die Arbeit und ermöglichten in den 1950er-Jahren in Westdeutschland das „Wirtschaftswunder“. Im Osten versuchte man es mit dem real existierenden Sozialismus. Nach der Wiedervereinigung wurde der Osten nahezu komplett vom Westen und dessen Werten „überrollt“. Das hat bis heute Risse und Narben hinterlassen. Noch immer spürt man die Unterschiede zwischen Ost und West, aber auch zwischen Nord und Süd, Stadt und Land. Auch das föderale System aus 16 Bundesländern, die gerne ihre eigenen Süppchen kochen, trägt nicht immer zu einem Einheitsgefühl bei.
Menschen aus anderen Ländern, die eine Zeit lang in Deutschland leben, wundern sich oft darüber, dass wir so wenig patriotisch sind. Ich habe mehrfach erlebt, dass internationale Studierende ihre deutschen Kommiliton:innen gefragt haben, warum diese so ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Vaterland hätten. Sie können schwer nachvollziehen, dass die Ära des Nationalsozialismus noch so schwer auf der deutschen Seele lastet. Aber um das heutige Deutschland zu verstehen, ist es fundamental wichtig, das relativ kurze, aber stark belastete historische Erbe zu kennen und dessen Bedeutung anzuerkennen.