6,99 €
Ein Stofffetzen hing unter dem geschlossenen Kofferraumdeckel hervor. Verwirrt trat der Tierarzt Dr. Conway hinter seinen Wagen und klappte den Deckel hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die zusammengekrümmte Gestalt eines jungen Mädchens. »Großer Gott! Molly Liskern!«, stieß er entsetzt hervor...
Der Roman Was wusste Molly Liskern? von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) - ein weiterer Fall für Chefinspektor Cromwell - erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Victor Gunn
Was wusste Molly Liskern?
Roman
Apex Crime, Band 110
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
WAS WUSSTE MOLLY LISKERN?
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Ein Stofffetzen hing unter dem geschlossenen Kofferraumdeckel hervor. Verwirrt trat der Tierarzt Dr. Conway hinter seinen Wagen und klappte den Deckel hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die zusammengekrümmte Gestalt eines jungen Mädchens. »Großer Gott! Molly Liskern!«, stieß er entsetzt hervor...
Der Roman Was wusste Molly Liskern? von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) - ein weiterer Fall für Chefinspektor Cromwell - erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Peter Conway wollte eben das Licht ausschalten und die Garagentür schließen, als ihm etwas Seltsames auffiel. Er runzelte die Stirn. Seine Hand blieb regungslos in der Luft hängen... Es war genau dreiundzwanzig Uhr... Der Lichtschein der Lampe, die draußen über der Tür angebracht war, beleuchtete den vorderen Teil der Garage und ließ Peters elegante, zweifarbige Hillman-Minx-Limousine - in Silbergrau mit einem tiefroten Dach - ziemlich klar erkennen... Peter Conway hatte etwas entdeckt, was ihm bisher draußen in der Dunkelheit entgangen war.
Ein Stückchen Stoff, blaugetupft, hing aus dem verschlossenen Kofferraum heraus. Ein Windstoß, der raschelnd durch die Büsche- fuhr, ließ es leicht aufflattern. Verwirrt trat Peter an seinen Wagen heran und stellte den Deckel des Kofferraumes hoch... Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die zusammengekrümmte Gestalt eines jungen Mädchens im blauweiß-getupften Sommerkleid.
»Großer Gott! Molly Liskern!«, flüsterte er entsetzt.
Trotz ihres grauenhaft entstellten Gesichtes erkannte er sie augenblicklich. Und er erfasste mit einem Blick, dass das Mädchen tot war. Um ihren Hals lag eine fest zusammengezogene Nylonschlinge - offensichtlich war es erwürgt worden.
Peter stand wie angewurzelt da und sah fassungslos auf die Tote. Er war unfähig sich zu rühren, nicht einmal als er Schritte näher kommen hörte... Elf Uhr. Erst eine Stunde war vergangen, seit er sich mit Jennifer wegen Molly Liskern ausgesprochen hatte...
Ja, genau zehn Uhr war es gewesen. Peter hatte in seinem kleinen Laboratorium in Tipley End gearbeitet. Als er das vertraute Motorengeräusch des Mini-Cooper seiner Braut näher kommen hörte, blickte er erstaunt auf. Es war ungewöhnlich, dass Jennifer Perryn ihn um diese Zeit noch besuchen kam. Als der Wagen knirschend auf dem Kies vor seiner Garage anhielt, öffnete Peter die Tür seines Laboratoriums. Laboratorium... Schuppen wäre wohl die treffendere Bezeichnung gewesen. Er blickte dem schlanken, grazilen Mädchen mit dem blonden Haar erwartungsvoll entgegen. Auf dem Arm trug Jennifer ihren kleinen Pudel Kim.
»Fehlt Kim etwas?«, fragte Peter rasch.
»Kim? Oh, nein. Ich habe ihn nur so mitgenommen... Ich muss mit dir sprechen, Peter«, sagte das junge Mädchen in ernstem Ton. »Vorhin, als wir uns in der Stadt getroffen haben, war keine Gelegenheit dazu.«
Peter zog ein unglückliches Gesicht, als er Jennifer ins Laboratorium folgte. Dieses Laboratorium war sein Hobby, seine Leidenschaft-sein Allerheiligstes. Er war Tierarzt und verdiente mit seiner Praxis genug Geld, um recht gut davon zu leben. Aber seine kleinen privaten Forschungsarbeiten füllten seine ganze Freizeit aus. Oft saß er in den wenigen Stunden, die ihm zur Verfügung standen, über Mikroskope und Kulturen gebeugt und versuchte den geheimnisvollen Erkrankungen und Krankheitserregern der Tiere auf den Grund zu gehen.
Peters Eltern lebten in Kent. Als jedoch eines Tages seine Lieblingstante starb und ihm ein kleines Häuschen und dazu ein geringfügiges Legat hinterließ, hatte er zunächst einmal das Geld dazu Verwandt, sein Studium an der Tierärztlichen Hochschule abzuschließen, und war dann, als er sein Diplom in der Tasche hatte, hierher in dieses Häuschen gezogen, wo er sich als vollapprobierter Tierarzt selbständig machte. Es war ihm in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, sich in Tregissy einen guten Namen zu machen. In Tregissy, das eine verschlafene Kleinstadt, fast noch ein Dorf, in Cornwall war und nur wenige Kilometer landeinwärts von dem Ferienziel St. Hawes an der Mündung des Hal-Flusses lag.
Peter war ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann; ein wenig schwerfällig und unbeholfen in seinen Bewegungen - er erinnerte manchmal an einen freundlichen, großen Neufundländer. Aber wenn er seine vierbeinigen Patienten untersuchte und behandelte, waren seine Hände behutsam und zart wie die einer Frau. Im Augenblick jedoch - als er Jennifer Perryn abwartend anblickte - machte er- einen bekümmerten und fast schuldbeladenen Eindruck. Obwohl doch nicht der geringste Grund dafür bestand. Er konnte sich schon denken, weshalb sie so spät noch gekommen war:
»Es ist wegen Molly Liskern, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja, Peter. Die Leute im Städtchen reden so allerhand.« Jennifers Ton war ziemlich ernst. »Das Mädchen hat schreckliche Dinge über dich erzählt... Peter, sie stimmen doch nicht... Nicht wahr?«
»Nein!«
»Vater glaubt, dass sie stimmen. Und er verlangt von mir, dass ich unsere Verlobung löse.«
»Er hat mich von Anfang an nicht gerade besonders gut leiden mögen, das musst du doch zugeben?«, meinte Peter verbittert. »Ihm kommt diese Geschichte gerade recht, um mich loszuwerden - oder nicht? Ich bin ihm einfach nicht gut genug für dich...«
»Oh, Peter, nein - das ist nicht wahr!«, fiel ihm das junge Mädchen ins Wort. Impulsiv lief sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Der kleine Pudel sprang fröhlich kläffend neben ihr her.
»Hör doch - Peter -, ich glaube es ja gar nicht. Bestimmt nicht! Aber es ist alles so scheußlich.« Jennifer stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt ihm ihr Gesicht entgegen, damit er ihr einen Kuss geben konnte. »Du weißt doch, Vater ist eben altmodisch. Als ihm Mollys Behauptungen zu Ohren kamen...«
»Ich bin ja nicht der einzige, von dem sie solche Sachen behauptet!«, unterbrach Peter sie erregt. »Sie hat die gleichen Skandalgeschickten ja auch schon über andere Männer verbreitet. Sie ist eine verdammte kleine Lügnerin! Wenn ich das früher geahnt hätte, würde ich sie niemals als Assistentin eingestellt haben. Du lieber Himmel! Wer konnte das wissen - sie ist ja noch fast ein Kind! Wie alt kann sie schon sein? Höchstens siebzehn oder achtzehn! Ihre Mutter arbeitet für mich... Sie kommt jeden Tag ein paar Stunden, um zu putzen und aufzuräumen... Und als ich damals nach hier umzog, war Molly noch ein Schulmädchen.«
»Sie hat überall herumerzählt, dass sie deine Geliebte gewesen ist.«
»Lüge... das ist eine verdammte Lüge!«, brüllte Peter erbost.
»Es besteht gar kein Grund, gleich so ärgerlich zu werden...«
»Ich bin nicht ärgerlich - ich bin wütend! Bloß weil ich ihr kündigte, wagt es diese Gans, derartige Lügen über mich zu verbreiten... Als Mollys Mutter mich damals bat, ihre Tochter einzustellen, dachte ich, dass die Kleine nichts als ein ganz gewöhnliches, solides junges Bauernmädchen wäre. Anfangs hat sie sich in der Praxis ja auch sehr geschickt angestellt und war mir eine große Hilfe. Sie versteht es wundervoll, mit Tieren umzugehen.« Peter runzelte nachdenklich die Stirn. »Es scheint, als ob sie mit Männern ebenso gut umgehen könnte. Aber ich hatte davon nicht die geringste Ahnung, bis der Krach mit ihr und Captain Goole in St. Hawes passierte. Goole ist ein Typ für sich. Er dachte gar nicht daran, sich von Molly Frechheiten bieten zu lassen!«
»Sie ist letzte Woche plötzlich abends zu ihm gegangen und hat Geld von ihm verlangt - war es nicht so?«, erkundigte sich Jennifer. »Die Leute behaupten, dass er. sie einfach auf die Straße geworfen hat. Und sie war so außer sich vor Wut darüber, dass sie anfing, überall die gemeinsten Dinge über Captain Goole zu erzählen.«
»Ich bin sehr schnell dahintergekommen, dass Molly trotzig und eigenwillig war; es ist ihr nie ganz gelungen, es zu verbergen. - Aber als ich erfuhr, dass Sie über mich auch ihre gemeinen Lügen verbreitete, setzte ich sie sofort an die Luft. Eine Unverschämtheit von ihr, sogar zu behaupten, dass es zu gewissen Intimitäten zwischen uns gekommen sein soll, hier in der Praxis, nach der Sprechstunde. Jennifer, du glaubst diesen Unsinn doch nicht etwa?«
»Nein, Peter. Ich habe kein Wort davon geglaubt«, gab seine Verlobte ruhig zurück. »Aber ich musste trotzdem mit dir darüber sprechen. Vater wiederholte immer wieder, dass, wo Rauch ist, auch ein Feuer sein muss. Und er betont, es wäre ein Glück für mich, dass mir noch beizeiten die Augen über dich geöffnet wurden.«
Peter nickte. Er wusste schon lange, dass Sir Nicholas Perryn, Eigentümer von Tregissy Hall, nicht allzu große Stücke von ihm hielt. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau, Lady Perryn, die Peter stets mit größter Herzlichkeit entgegenkam. Gerade gestern erst war er auf der winzigen Hauptstraße von Tregissy Sir Nicholas begegnet. Und dieser hatte ihn ohne alle Umschweife mitten ins Gesicht hinein gefragt, ob an den Gerüchten über ihn und Molly etwas Wahres sei.
Jetzt erzählte Peter seiner Braut Jennifer von dieser unerfreulichen Begegnung...
»Ich muss schon sagen, ich finde es reichlich unverschämt von deinem Vater, mir solche Fragen zu stellen«, schloss er gereizt. »Ich war, fürchte ich, ziemlich kurz und unhöflich und äußerte lediglich dazu, dass Molly meiner Ansicht nach ein unmögliches Frauenzimmer sei. Und dass es gut wäre, wenn ihr jemand endgültig ihr vorlautes und verlogenes Mundwerk stopfen würde. Woraufhin er mir auch bloß mit seiner albernen Redensart antwortete - wo Rauch sei, müsste auch ein Feuer sein. Na, wir sind ja nie besonders gut miteinander ausgekommen - dein Vater und ich. Und nun hat er ja endlich etwas, worauf er gründlich herumhacken kann. Das Ganze ist so gemein und hässlich, Jennifer, Liebling, ich schwöre dir, ich habe das Mädchen nie angerührt. Ich habe ihr überhaupt in diesem Sinne nie die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Herr im Himmel, warum sollte ich denn auch - wo ich dich habe?«
Jennifers verschlossenes Gesicht rötete sich jäh.
»Wie schmeichelhaft für mich!«, sagte sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Wie? Ach, du liebe Güte!« Peter zuckte zusammen. »Ich bin doch immer ein Elefant im Porzellanladen! So habe ich es doch gar nicht gemeint... Ich habe Molly wirklich niemals näher angesehen. Sie war für mich nichts weiter als eine Angestellte, die ihre Arbeit zu verrichten hatte. Liebling, es gibt für mich doch niemand auf der Welt außer dir! Das weißt du doch! Man sollte dieses dumme Geschöpf wirklich ein für alle Mal zum Schweigen bringen - ehe sie noch mehr Unheil anrichten kann...«
»Peter - um Gottes willen! So etwas darfst du doch nicht aussprechen!«, unterbrach ihn Jennifer entsetzt. »Bitte, versuch das Ganze doch zu vergessen. Ich vertraue dir ja! Ich habe dir immer vertraut. Und was Vater betrifft - ich lasse mir nicht einfach irgendeinen anderen Mann aufzwingen. Wir werden im Oktober heiraten - genau, wie es geplant war.«
Einige Minuten herrschte Schweigen. Als Jennifer schließlich benommen ihren Kopf zurückbog, war ihr hübsches Gesichtchen dunkelrot, und ihre Augen funkelten.
»Peter - war das ein Kuss!«, stieß sie atemlos hervor. »Es ist mir vollkommen gleichgültig, was das verrückte Ding über dich erzählt! Aber sie soll sich nur hüten, mir über den Weg zu laufen.«
Jennifer atmete heftig, und unter ihrem leichten Sommerkleid zeichnete sich jede Bewegung ihres jungen Körpers deutlich ab. Peter blickte auf ihr erhitztes Gesicht herunter... Noch nie war sie ihm so schön vorgekommen... so begehrenswert. Ihre leicht geöffneten Lippen bebten leicht... ihre Augen strahlten. Alles an ihr strömte Jugend aus, Frische und Wärme.
Plötzlich schien sie zu merken, wie fest Peter sie im Arm hielt - sie stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Brust.
»Liebling - bitte nicht!«, flüsterte sie. »Nicht doch, es ist schon schrecklich spät.« Sie machte eine Pause und sah ihm fest in die Augen. »Ich glaube dir... wirklich.«
Sie drehte sich uni und rannte davon. Ihr kleiner Hund hüpfte fröhlich bellend neben ihr her. Mit einem Ruck riss sie die Tür ihres kleinen Wagens auf, schwang sich hinein, startete... und war verschwunden. Peter sah ihr nach, mit dem bedrückenden Gefühl, nicht so ganz aufrichtig gegen sie gewesen zu sein. »
Gewiss, es stimmte, dass niemals irgendwelche Beziehungen zwischen ihm und Molly Liskern bestanden hatten... er hatte niemals irgendetwas für sie empfunden«, das schon... Aber es war nicht abzustreiten, dass sie ihn häufig - wenn sie beide allein in der Praxis gewesen waren - unzweideutig aufgefordert hatte, sie zu küssen. Neulich hatte sogar etwas in Mollys frechen Augen gelegen, das noch mehr versprochen hatte als nur einen Kuss... Trotz allem hatte Peter keinerlei Anlass, sich irgendwie schuldig zu fühlen. Er hatte Mollys Annäherungsversuche kurz und unmissverständlich zurückgewiesen... Und das war auch der wirkliche Grund - wurde ihm jetzt klar -, weswegen sie so Gift und Galle gegen ihn gesprüht hatte, eine widerwärtige kleine Hexe!
Peter ging wieder ins Haus, zurück in sein Laboratorium... Es war jetzt genau vierzehn Minuten nach zehn.
Vier Minuten später - zehn Uhr achtzehn - klingelte das Telefon.
Um diese Zeit wurde im Allgemeinen nicht mehr in Peters Praxis angerufen, und er fragte sich verwundert, wer es wohl sein könnte. Als er den Hörer abnahm, erklang eine heisere, gespannte Stimme.
»Spreche ich mit Doktor Conway?«
»Ja, bitte?«
»Bitte, entschuldigen Sie die späte Störung, Doktor Conway, aber es handelt sich um einen dringenden Fall. Hier ist George Trevelyan vom Long Reach Hof«, erklärte der nächtliche Anrufer. »Es handelt sich um eine Stute von mir. Mein Wagen hatte - als ich ihn eben in die Garage fahren wollte - eine Fehlzündung - und Stella bäumte sich vor Schrecken in ihrem Stall auf. Dabei hat sie sich übel an der Flanke verletzt. Wäre es möglich, jetzt gleich noch herauszukommen?«
»Selbstverständlich«; erwiderte Peter sofort. »Zum Long Reach Hof? Der liegt doch an der Straße nach Penro, nicht wahr?«
»Ja. Knapp drei Kilometer hinter Tregissy.«
»Gut, ich bin in zehn Minuten da.«
Peter legte auf und griff nach seiner Tasche. Dann lief er zur Garage hinüber und fuhr seinen Hillman-Minx heraus. Eine Minute später hatte er das Stadtzentrum erreicht und hielt in Richtung Penro. Tipley End, wo Peter lebte, war der südliche Vorort des Städtchens und lag direkt an der Straße, die nach St. Hawes und an die Küste führte.
Als Peter die Stadt durchquerte und von der stillen Hauptstraße abbog, sah er im Vorbeifahren nur noch zwei, drei erleuchtete Fenster. Dann befand er sich auf einer der schmalen Landstraßen, die für Cornwall so charakteristisch sind, eine dieser Chausseen, die an beiden Seiten hohe, grasbewachsene, von Flecken gekrönte Böschungen haben. Vor langer Zeit für schmale, hochrädrige Pferdefuhrwerke gebaut, waren sie für unser Jahrhundert mit seinem Verkehr und seinen schnellen Autos unzureichend.
Peter war guter Dinge, als er so dahinrollte. Wieder ein neuer Klient. Er hatte im Vorbeifahren von der Chaussee aus oft die imposanten Gebäude von Long Reach liegen sehen. Aber dies war das erste Mal, dass man ihn aus beruflichen Gründen dorthin berief. Wenn Mr. Trevelyan mit seiner Behandlung der verletzten Stute zufrieden war, konnte Peter mit größter Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass ihm in Zukunft die Gesamtbetreuung des Viehbestandes überlassen wurde.
Peter brauchte nicht einmal zehn Minuten, um sein Ziel zu erreichen. Die hohe Böschung an beiden Seiten der Straße war in ebenerdige Hecken übergegangen, und er konnte die dunklen Umrisse des Gutshauses vor sich liegen sehen - keine hundert Meter entfernt auf der linken Seite. Er bremste und schaltete den Motor ab. Ein großes Tor versperrte ihm den Weg zur Auffahrt; er versuchte es zu öffnen - aber es war verschlossen.
Peter hatte seinen Wagen gut auf die Seite gefahren und ließ ihn jetzt dort auf dem Bankett stehen. Er sprang über das Tor und lief eilig die Auffahrt hinauf. Er war erstaunt, nirgendwo im Haus ein erleuchtetes Fenster zu sehen. Der große, dunkle Komplex lag vollkommen verschlafen vor ihm. Als er die altmodische, säulengestützte Veranda erreicht hatte, fiel ihm die absolute Stille auf, die über dem ganzen Wohnhaus lag. Er suchte vergeblich nach einer Klingel oder einem Klopfer und hämmerte schließlich mit der Hand gegen die Tür; zunächst mit den Knöcheln und später, energischer, mit der ganzen Faust.
Aber das Haus blieb dunkel und still wie zuvor...
»Eigenartig!«, murmelte Peter mit gerunzelter Stirn vor sich hin.
Es war doch anzunehmen, dass der Bauer nach diesem Unfall seine Frau aufweckte, damit sie den Tierarzt so schnell wie möglich zu ihm führte, wenn er kam. Aber offensichtlich war Mr. Trevelyan nicht auf diese Idee gekommen. Möglich, dass er wegen seiner verletzten Stute so in Sorge war, dass er es nicht gewagt hatte, den Stall zu verlassen. An eines dachte Peter im Augenblick allerdings nicht, nämlich, dass das Telefon wohl kaum im Stall angebracht sein dürfte.
Er trommelte abermals gegen die Tür, lauter, mit aller Kraft. Nichts rührte sich. Er trat unter dem Vordach zurück, so dass er die Vorderfront des Hauses überblicken konnte, alle Fenster lagen dunkel und verschlafen da.
Daraufhin ging er einen kleinen, gepflasterten Weg, der um das Wohnhaus herumführte, entlang und betrachtete den rückwärtigen Teil des Hauses. Aber auch hier war alles finster und ruhig. Nicht > das kleinste Licht, außer dem blassen Schein der Sterne am Himmel. Allmählich begann er sich wirklich zu wundern.
»Mr. Trevelyan!«, rief er laut.
Aber nur das Echo seiner eigenen Stimme wurde von der Scheune hinter dem Gemüsegarten zurückgeworfen - kein anderer menschlicher Laut. Die Stille der Nacht, nur unterbrochen von ihren, gewohnten Geräuschen - dem schläfrigen Grunzen der Schweine im Stall, dem leisen Flattern sich unruhig im Schlaf bewegender Hühner, und hin und wieder dem Stampfen eines Pferdehufes im Stroh - umgab ihn. Und nicht einmal ein Hund, der erbost über den Fremdling in der Nacht anschlug - fiel Peter plötzlich auf. Einen Bauernhof ohne Hund - das gab es doch überhaupt nicht.
Er rief abermals, dann ging er durch den Küchengarten auf die dunklen Umrisse der Stallungen zu. Er klinkte die obere Hälfte einer der Türen auf und schaute hinein. Auch hier war alles vollkommen dunkel, aber er konnte das leise Scharren der Pferde in ihren Boxen hören. Er sah noch in mehrere Ställe hinein - überall dasselbe...
»Zum Teufel noch mal!«, schimpfte er wütend vor sich hin.
Ganz offensichtlich gab es überhaupt keine verletzte Stute - nichts. Irgendein verdammter Spaßvogel hatte es für einen guten Witz gehalten, ihn anzurufen und hier herauszujagen. Er überlegte sekundenlang, ob er irgendetwas falsch verstanden haben könnte, oder ob er vielleicht zu einem falschen Hof gefahren war... aber nein - das war vollkommen ausgeschlossen. Nein, nein... dies war schon der Long Reach Hof... ganz gewiss. Er war schließlich oft genug bei Tag hier vorbeigefahren. Und man hatte ihn auch hierher bestellt.
Trotz alledem war es verwirrend, dass so überhaupt keine Menschenseele hier sein sollte. Er wusste, dass George Trevelyan mit seiner Frau hier lebte. Eigenartig, dass sie nicht zu Hause waren. Wahrscheinlich gab es eine ganz simple Erklärung für alles. Möglich, dass Mr. und Mrs. Trevelyan zu Besuch bei Freunden waren. Es war ja noch nicht allzu spät. Vielleicht waren sie nur noch nicht wieder heimgekommen. Und vermutlich wohnte das Gesinde in eigenen kleinen Katen, ein Stückchen vom Hauptgebäude entfernt.
»Ja - so wird es wohl sein!«, murmelte Peter halblaut. Irgendjemand muss gewusst haben, dass die Trevelyans, heute Abend nicht zu Hause sind und hat sich daraufhin einen Spaß mit mir erlaubt. Ein idiotischer Trick - und ich Narr bin prompt darauf hereingefallen!'
Er hatte allen Grund, wütend zu sein. Denn es bestand doch wohl wenig, wenn nicht gar keine Aussicht, herauszufinden, wer hinter diesem albernen Scherz steckte. Peter ging zum Haupttor zurück, setzte mit einer Flanke hinüber, stieg in seinen Wagen und drehte verärgert den Zündschlüssel herum. Er fuhr schnell und in äußerst gereizter Stimmung nach Hause. In Tipley End angekommen, stellte er den Wagen direkt in die Garage - er hatte die Türen vorher gleich offenstehen hissen. Er stieg aus und schaltete die Garagenbeleuchtung ein. Dann wollte er die Türen zumachen. In diesem Augenblick schlug die Kirchturmuhr von Tregissy - ihr Klang hallte deutlich durch die Stille der Nacht -, es war genau elf Uhr.
Im Innern der Garage gab es zwei Lampen, eine davon über der Werkbank, und außerdem war noch eine draußen, über der Tür angebracht. Der Lichtschein von dieser äußeren Lampe fiel direkt auf den Kofferraum des Wagens... Und jetzt - zum ersten Mal - bemerkte Peter das blaugetupfte Stückchen Stoff, das unter dem Deckel des Kofferraumes heraushing.
Er hatte dieses Stückchen Stoff noch niemals vorher gesehen. Und es hatte überhaupt nichts in seinem Kofferraum zu suchen. Verblüfft ging er hinüber und klappte den Deckel hoch... dann starrte er mit fassungslosem Entsetzen auf die zusammengekrümmte Gestalt eines jungen Mädchens - eines Mädchens in einem blaugetupften Sommerkleid - die vor ihm in seinem Kofferraum lag.
Peter blickte auf das Gesicht... er erkannte es sofort, trotz der grauenhaften Verfärbung und der fürchterlich verzerrten Züge...
»Großer Gott! Molly Liskern!«, flüsterte er entsetzt.
Im Unterbewusstsein hörte er näher kommende Schritte, aber er war viel zu benommen, um irgendwie darauf zu reagieren.
Ganz allmählich erwachte Peter Conway aus seiner lähmenden Erstarrung. Sein Gehirn begann langsam wieder zu arbeiten. Molly Liskern... Molly Liskern, das Mädchen, das bei ihm angestellt gewesen war... das Mädchen, um dessentwillen ihn Jennifer erst vor wenigen Stunden zur Rechenschaft gezogen hatte... dieses Mädchen war tot... erwürgt! Und es lag hier vor ihm, im Kofferraum seines eigenen Autos!
Wann war es geschehen?...
Wie kam es dorthin?...
Wo war es hineingekommen?...
Auf alle drei Fragen gab es überhaupt nur eine Antwort. Er hatte seinen Wagen am Straßenrand vor dem Tor des Long Reach Hofes abgestellt... und dort hatte er unbeaufsichtigt gestanden, während er, Peter, mindestens zehn Minuten lang das Terrain sondiert hatte. In dieser kurzen Zeit musste man die Leiche in seinem Kofferraum abgeladen haben. Die Gebäude des Bauernhofes standen gute neunzig Meter von der Chaussee entfernt, und diese war um solch eine späte Stunde verlassen...
Plötzlich fiel Peter etwas ein. Der Telefonanruf! Es war kein Zufall, dass Mollys Mörder seinen Wagen gefunden und die Leiche darin versteckt hatte. Der Teufel musste seine Hand im Spiel haben, dass Peters Wagen ausgerechnet um diese Zeit dort, an diesem einsamen Platz gestanden hatte; unbewacht, da er auf der
Suche nach dem Bauer gewesen war! Dies also war die Erklärung für den rätselhaften Telefonanruf... es war keineswegs ein dummer Scherz gewesen... oh, nein... es war ein klug ausgetüftelter Plan!
Verteufelt schlau ersonnen! Der unbekannte Mörder musste genau gewusst haben, dass die Trevelyans nicht zu. Hause waren, und dass Peter kostbare Minuten damit verlieren würde, dahinterzukommen, dass niemand da war und man ihm einen dummen Streich gespielt hatte. Und ebenso wenig war es ein Zufall, dass ein Stückchen von Mollys Kleid unter dem geschlossenen Deckel des Kofferraumes hervor sah. Man hatte es absichtlich so eingeklemmt, damit es Peter ins Auge fiel. Er sollte es bemerken! Aber nicht sofort. Wenn er in der Dunkelheit nach seiner vergeblichen Suche auf dem Hof zu seinem Wagen zurückkehrte, konnte ihm noch nichts Ungewöhnliches auffallen.
Aber später, wenn er wieder zu Hause war! Dann musste die Lampe über der Garagentür genau den Kofferraum und das verräterische Stück Stoff beleuchten - nachdem er den Wagen abgestellt hatte. Peter würde aufmerksam werden und sich überzeugen, was los sei. Ohne den hervorhängenden Stofffetzen hätte es für ihn keinen Anlass gegeben, den Kofferraum zu öffnen, zumindest nicht mitten in der Nacht. Frühestens am nächsten Morgen würde er die Leiche entdeckt haben. Und vielleicht noch nicht einmal dann. Er ging oft tagelang nicht an seinen Kofferraum. Also bezweckte der Mörder - aus irgendeinem, Peter unerklärlichen Grund -, dass die Leiche sofort gefunden würde, wenn er zu Hause ankam.
Die Schlussfolgerung, dass der Mörder so genau über ihn Bescheid wusste, versetzte Peter einen neuen Schock... Der Unbekannte musste alles kennen, seine Garage, seinen Wagen, seine Angewohnheiten... schlechthin alles. Eine solche Anhäufung von Zufällen, wie sie hier vorlag, gab es einfach nicht.
Plötzlich riss ihn ein Geräusch hinter seinem Rücken in die fürchterliche Wirklichkeit zurück. Er fuhr herum und starrte - am ganzen Körper zitternd - entsetzt zur Tür. Er blickte einem vollkommen Unbekannten ins Gesicht. Vor ihm, im vollen Schein der Lampe, stand ein gutangezogener Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem ruhigen, freundlichen Gesicht, der einen jungen Cockerspaniel auf dem Arm hielt. Der blaue, mit einem Gürtel um die schmalen Hüften eng zusammengezogene Regenmantel sah elegant und teuer aus; der fremde trug keinen Hut und seine Augen, dunkle, ausdruckslose Augen, lagen voll verwunderter Belustigung auf Peter.
»Sind Sie Doktor Conway?«, erkundigte er sich höflich.
»Ja.« Peters Stimme klang ihm wie ein heiseres Krächzen in den Ohren.
»Ich frage mich schon eine ganze Weile, wie lange Sie wohl noch so versteinert dastehen und in Ihren Kofferraum starren würden«, meinte der andere lachend. »Ich wollte Sie...« Jäh brach er ab und trat einen Schritt näher heran. »Oh - hallo!«, rief er mit scharfer Stimme. »Zum Teufel! Was haben Sie mit dem Mädchen gemacht?«
»Nichts!«, gab Peter verzweifelt zurück. »Ich habe überhaupt nichts mit ihr gemacht. Sie ist tot. Ich habe sie vor ein paar Minuten so gefunden. Ich... ich traute meinen Augen kaum. Sie ist erwürgt worden. Irgendjemand muss ihre Leiche in meinen Koffer...«
»Na, na - nun beruhigen Sie sich erst mal!«, unterbrach ihn der Fremde. »Sind Sie denn ganz sicher, dass sie tot ist?«
»Sehen Sie sich sie doch an! Da, ihr Gesicht...«
»Ja, sie ist allerdings tot, darüber kann kein Zweifel bestehen«, meinte der Fremde nach einem kurzen Augenblick. »Pech für Sie, dass ich gerade in diesem Augenblick auftauchen musste - wie?«
»Was wollen Sie damit sagen?«, gab Peter außer sich, fast schreiend, zurück. »Ich habe sie nicht umgebracht! Ich muss sofort die Polizei benachrichtigen. Können Sie einen Augenblick hierbleiben, während ich ins Haus gehe, um zu telefonieren...?«
»Halt, Mr. Conway, einen Augenblick!«, fiel ihm der Unbekannte abermals ins Wort. »Ich habe keine Lust, in solch eine Sache verwickelt zu werden. Ich bin hierhergekommen, weil ich Ihnen meinen jungen Hund hier zeigen wollte - das ist alles. Er frisst überhaupt nichts... rührt einfach nichts an... das kann nicht mehr so weitergehen mit ihm. Aber ich glaube, ich gehe jetzt lieber wieder, was meinen Sie?«
»Nein, bitte nicht. Sie waren hier, als ich Mollys Leiche entdeckt habe, und...«
»Ach - Sie kennen das Mädchen?«
»Natürlich kenne ich sie. Schließlich war sie bis vor ein paar Tagen bei mir angestellt, sie war meine Sprechstundenhilfe. Sie heißt Molly Liskern, und sie stammt hier aus dem Ort.« Peter sprach immer hastiger, seine Worte überschlugen sich fast - er war kurz davor, in Panik zu geraten. »So hören Sie doch! Gegen ein Viertel nach zehn bekam ich einen Telefonanruf... irgendjemand, der vorgab, Mr. Trevelyan vom Long Reach Hof zu sein, war am Apparat. Ich möchte bitte sofort kommen, um mir eine verletzte Stute anzusehen. Daraufhin fuhr ich gleich los...«
»Kennen Sie diesen Mr. Trevelyan?«
»Nein - aber das hat gar nichts mit der Sache zu tun. Als ich draußen ankam, stellte ich fest, dass man mich zum Narren gehalten hatte. Weit und breit war nichts von einer verletzten Stute zu sehen, und Mr. Trevelyan war obendrein gar nicht zu Hause. Es war überhaupt niemand da. Ich dachte, ich sei einem üblen Scherz irgendeines albernen Narren zum Opfer gefallen... bis eben... bis ich den Kofferraum aufmachte.«
»Ich verstehe nicht ganz...«
»Aber das ist doch ganz offensichtlich! Der Bauernhof liegt etwa hundert Meter von der Chaussee entfernt. Das Haupttor war verschlossen, und ich ließ meinen Wagen draußen stehen. Er hat mindestens zehn Minuten dort gestanden und in dieser Zeit - während ich nach Mr. Trevelyan suchte - muss irgendjemand die Leiche in meinen Kofferraum gelegt haben.«
Der Fremde machte ein ziemlich skeptisches Gesicht.
»Glauben Sie, dass die Polizei Ihnen das abnimmt?«, fragte er. Peter setzte sich in Bewegung und wollte sich an ihm vorbei aus der Tür drängen.
»Warum sollte sie daran zweifeln?«
»Hören Sie, mein Guter«, sagte der Fremde und ergriff Peters Arm. »Was Sie jetzt brauchen, ist ein Cognac. Ich nehme an, Sie haben irgend so etwas im Haus?« Mit der freien Hand schlug er den Deckel vom Kofferraum herunter und schob Peter dann aus der Garage. »Um ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass ich jetzt auch nichts gegen einen Schluck einzuwenden hätte.«
Peter war von den grauenhaften Ereignissen, die so unvermutet über ihn hereingebrochen waren, so verwirrt, dass er nicht den geringsten Widerstand leistete. Im Gegenteil, er fand den Vorschlag eigentlich gar nicht so übel. Er nahm den Fremden mit in sein kleines Häuschen, schaltete im Wohnzimmer Licht ein, und holte die Whiskyflasche aus dem Schrank. Schweigend tranken sie ihre Gläser aus.
Während sein nächtlicher Besucher ihre Gläser nachfüllte, stolperte Peter zu einem Sessel hinüber, taumelte dabei heftig gegen den Tisch und fiel dann kraftlos in die Kissen. Der Mann setzte seinen jungen Cockerspaniel auf einen anderen Sessel, wo dieser sich zufrieden zusammenrollte und sofort friedlich zu schnarchen begann. In Peters Kopf wirbelten die Gedanken und seine ganze, riesige Gestalt zitterte immer noch heftig. Irgendwie, sich mühsam aus dem Unterbewusstsein herauf drängend, beunruhigte ihn dieses Zittern außerordentlich. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ein solcher Schock einen großen, kräftigen, jungen Mann wie ihn, so völlig aus der Fassung bringen könnte. Und als sein Begleiter ihm das wieder gefüllte Glas in die Hand drückte, vermochte er nichts als Molly Liskerns armes, entstelltes Gesicht vor sich zu sehen.
»Wie geht es? Besser, Mr. Conway?«, erkundigte sich der Fremde.
»Nein, ich glaube nicht«, gab Peter heiser zurück. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ist das so wichtig? Ich heiße Paul Blair, und ich wohne im Schwarzen Falken in St. Hawes. Dort hat man mir auch Ihre Adresse gegeben und mir gesagt, dass Sie ein guter Tierarzt wären - deshalb bin ich. ja hier. Ich habe mir da anscheinend einen ziemlich ungünstigen Augenblick ausgesucht.« Der Mann war vollkommen gelassen und ihn schien nichts so leicht aus der Ruhe bringen zu können. »Aber andererseits ist es vielleicht ganz gut, dass ich gerade in diesem Augenblick gekommen bin, oder? Ist sonst noch jemand hier im Haus?«
»Nein.«
»Sie wohnen allein hier?«
»Ja.«
»Haben Sie denn keine Haushälterin?«
»Mrs. Liskern kommt tagsüber und hält alles in Ordnung... Sie ist die Mutter von Molly. Ach du lieber Gott, sie wird wahnsinnig werden, wenn sie hört, dass...«
»Das glaube ich auch. Aber bleiben wir lieber bei Ihrem augenblicklichen Problem. Dieses Mädchen war also bei Ihnen beschäftigt, wenn ich richtig verstanden habe. Hatten Sie mir nicht draußen in der Garage erzählt, dass die Kleine bis vor ein paar Tagen Ihre Assistentin war? Das heißt also, Sie haben ihr erst vor kurzem gekündigt?«
»Ja. Sie hat angefangen, unerhörte Geschichten über mich zu erzählen... Du meine Güte!« Peter sah plötzlich ganz bestürzt aus. »Ich hatte eine ziemlich unerfreuliche Auseinandersetzung mit ihr und warf sie in einem Wutanfall hinaus. Die Polizei wird doch nicht etwa daraus irgendwelche falschen Schlüsse ziehen... was meinen Sie?«
Paul Blairs Gesicht wurde unvermittelt ernst und sorgenschwer.
»Ich sage es bestimmt nicht gern, Mr. Conway, aber um ganz ehrlich zu sein, klingt diese Geschichte von dem vorgetäuschten Anruf, Ihrer Fahrt zu dem verlassenen Gehöft usw... nun... zumindest ziemlich mager Können Sie wenigstens irgendwie beweisen, dass Sie tatsächlich zu diesem Bauernhof gefahren sind?«
Peter erhob sich mit einer schwerfälligen Bewegung aus seinem Sessel und stand auf unsicheren Beinen da.
»Nein, ich fürchte, das kann ich nicht«, sagte er und fühlte, wie die Panik aufs Neue von ihm Besitz ergriff. »Aber es stimmt! Ich war dort! Ich schwöre! ich habe keine Ahnung gehabt, dass Molly tot war, bis ich sie in meinem Kofferraum entdeckte. Ich würde den Deckel ja gar nicht aufgemacht haben, wenn nicht ein Zipfel von ihrem Kleid herausgehangen hätte.«
Blair nickte nachdenklich.
»Ich glaube Ihnen ja, Mr. Conway«, meinte er in ermutigendem Ton. »Ich habe ja gesehen, wie erschrocken Sie waren, als Sie den Kofferraum öffneten. Ich war gerade angekommen und stand unmittelbar hinter Ihnen. Sie würden nicht so reagiert haben, wenn Sie gewusst hätten, dass die Leiche des Mädchens dort eingeschlossen war.«
»Gottlob! Das ist doch immerhin etwas!«
»Erhoffen Sie sich nicht zu viel davon. Verlassen Sie sich nicht auf mich, falls Sie beabsichtigen, die Polizei zu benachrichtigen«, raubte ihm Blair sofort wieder seine Hoffnung. »Es würde keinerlei Hilfe für Sie bedeuten, wenn ich aussagen würde, was ich gesehen habe. Sie sind in einer verteufelten Lage! Und je eher Sie das einsehen, desto besser für Sie.«
»Aber wenn ich der Polizei die Wahrheit sage...«
»Was können Sie ihr denn schon sagen? Dass Sie auf irgendeinen dummen Streich hin zu dem Bauernhof gefahren sind«, unterbrach ihn Blair. »Aber wie Sie doch eben selbst zugeben mussten, haben Sie nicht die geringste Möglichkeit, das zu beweisen. Was meinen Sie, was die Polizei davon halten wird? Sie wird annehmen, dass Sie diese ganze Fahrt zu dem Bauernhof erfunden haben, um eine Erklärung für Ihre Abwesenheit von zu Hause zu haben. Die Polizei wird vermuten, dass Sie sich mit dem Mädchen verabredet haben, sie erdrosselten und dann im Kofferraum Ihres Wagens nach Hause brachten. Ich würde Ihnen raten, sich jetzt endlich zusammenzureißen und den Dingen ins Gesicht zu sehen, Mr. Conway!« Peter starrte den Fremdling an und empfand nichts als vollkommene Verzweiflung und Hilflosigkeit. Es war nur Blairs ruhiger Sachlichkeit und seiner ungekünstelten Freundlichkeit zu verdanken, dass er nicht von Panik übermannt wurde.
»Ich versuche die Dinge so zu sehen, wie die Polizei sie sehen wird«, fuhr Blair fort, als Peter beharrlich schwieg. »Sie sagten mir bereits, dass Sie mit dem Mädchen nicht gerade auf gutem Fuße standen... ja, dass Sie ihr sogar in einem Wutanfall gekündigt haben. Es dürfte Ihnen klar sein, dass Sie die Polizei sofort verhaften wird, wenn Sie ihr diese primitive Wahrheit vorsetzen.«
Peter taumelte unsicher durch das Zimmer, wobei er gegen zahlreiche Möbelstücke stieß und wild mit den Armen ruderte. Sein gesundes, frisches Gesicht war, dunkelrot angelaufen, und seine Augen flackerten unstet.
»Wenn ich der Polizei nicht die Wahrheit erzählen soll - was in Gottes Namen soll ich ihr dann erzählen?«
»Gar nichts.«
»Was? - Was soll ich ihr sagen... gar nichts?«
»Ich persönlich nehme es Ihnen ja ab, dass Sie zum Narren gehalten worden sind, Mr. Conway«, erklärte Blair eindringlich. »Ich glaube auch, dass man Ihnen die Leiche des jungen Mädchens in den Kofferraum gelegt hat, als Sie zum Bauernhaus hinübergegangen waren... Ganz so, wie Sie es mir erzählt haben. Alles deutet ja darauf hin. Der Mörder hat Ihnen eine Falle gestellt - und Sie sind prompt hineingetappt. Ich werde niemals vergessen, wie fassungslos Sie waren, als Sie die Leiche entdeckten. Sie hatten in dem Moment ja nicht einmal die geringste Ahnung, dass ich unmittelbar hinter Ihnen stand. Und ich will versuchen, Ihnen zu helfen.«
Abermals war es lediglich der gelassenen und sicheren Art und Weise, wie Blair auf. Peters verzweifelte Lage reagierte, zu verdanken, dass dieser nicht vollkommen die Nerven verlor. Aber die Vorstellung, dass er sein entsetzliches Geheimnis für sich behalten müsste, erfüllte ihn mit Grauen. Das war doch ganz unmöglich! Das konnte er nie. Was sollte er denn mit Mollys Leiche anfangen?
»Es ist verdammt anständig von Ihnen, Mr. ... wie sagten Sie doch gleich, war Ihr Name? Blair? Es ist verdammt anständig von Ihnen, mir helfen zu wollen. Aber wie, zum Teufel, stellen Sie sich das eigentlich vor? Es gibt nur einen Ausweg, nämlich die Polizei anzurufen und...«
»Und wegen Mordes an dem jungen Mädchen verhaftet zu werden«, unterbrach ihn Blair scharf. »Glauben Sie mir, mein Junge, so wird es bestimmt kommen. Und dann kann ich Ihnen nicht helfen... Was ich auch tun würde, es würde die Verdachtsmomente gegen Sie nur noch verdichten.«
»Aber wenn Sie der Polizei sagen, wie entsetzt ich war, als ich meinen Kofferraum aufmachte...«
»Keiner würde das geringste darauf geben«, entgegnete der andere, indem er Peter abermals ins Wort fiel. »Ganz abgesehen davon, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, mit der Polizei in Berührung zu kommen - besonders, wenn es sich um einen Mord handelt -, würde Ihnen meine Zeugenaussage mehr schaden als nützen. Ich wäre verpflichtet, bei der Wahrheit zu bleiben, und das würde keinerlei Hilfe für Sie bedeuten. Ich mache zur Zeit eine Woche Ferien in St. Hawes und ich habe keine Lust, mir diese zu verderben.«
Peter hatte das Gefühl, gleich zu ersticken.
»Schön... was, zum Teufel, soll ich dann tun?«, fragte er verwirrt.
»Niemand, außer uns beiden, kennt die Wahrheit«, gab Blair zurück. »Ein anderer, Unbekannter, hat das Mädchen umgebracht und Ihnen die Leiche aufgehalst. Müssen Sie denn unbedingt so dumm sein, auf diesen Trick hereinzufallen? Überlegen Sie doch, niemand außer uns weiß davon. Sie brauchen doch nichts weiter zu tun, als die Leiche irgendwo anders hinzuschaffen und schon sind Sie aus dem Schlamassel heraus.«
»Ja, mein Gott - das stimmt! Tatsächlich, da haben Sie ja recht!«, rief Peter aus und klammerte sich mit verzweifelter Hoffnung an diesen Strohhalm. »Aber wie? Es ist ja grauenerweckend, so darüber zu sprechen, die Leiche des armen jungen Mädchens zu verscharren...«
»Grauenhaft oder nicht. Es ist Ihre einzige Chance, nicht wegen Mordverdachts verhaftet zu werden«, fuhr ihn Blair heftig an, der allmählich Zeichen von Ungeduld zu zeigen begann. »Dabei fällt mir ein - haben Sie irgendeinen Verdacht, wer das Mädchen wirklich ermordet haben könnte? Offensichtlich hatte doch jemand einen gerechten Zorn auf die kleine Person... jemand, der obendrein wusste, dass Sie mit ihr gestritten hatten.«
»Sie war eine bösartige kleine Hexe. Ich würde sagen, dass es eine ganze Menge Leute gab, die einen erheblichen Zorn auf sie hatten«, erwiderte Peter. »Sie kennen ja die näheren Umstände nicht, Mr. Blair. Nachdem ich sie hinausgeworfen hatte, lief sie schnurstracks in die Stadt und verbreitete die tollsten Lügengeschichten... teilweise auch über mich.«
»Wodurch Ihre Lage nur noch schlimmer wird, Mr. Conway«, konnte sich der fremde nicht enthalten festzustellen. »Ich kann Ihnen nur wiederholen, der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, ist, die Leiche so schnell wie möglich fortzuschaffen. Wahrscheinlich bin ich ein Narr, mich in solche Dinge einzumischen, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, Sie wegen Mordverdachts verhaftet zu sehen... Wo ich doch ganz genau weiß, dass Sie unschuldig sind. Ich habe nämlich schon vorher von Ihnen gehört, Conway«, fuhr er eindringlich fort.
»Von mir... gehört?«
»Ja. Zum Beispiel von Ezra Kettleby, dem Wirt des Schwarzen Falken in St. Hawes. Dort wohne ich nämlich. Kettleby hat mir viel über Sie erzählt.«
»So? Was denn?«
»Er ist ein guter Freund von Ihnen, nicht wahr?«
»Sozusagen.«
»Er hat mir erzählt, dass Motorboote Ihre große Leidenschaft sind...«
»Was haben denn um Himmels willen Motorboote mit dieser grauenhaften Angelegenheit zu tun?«, fuhr Peter hitzig auf. »Der alte Ezra ist ein geschwätziger Idiot. Motorboote sind noch nie eine Leidenschaft von mir gewesen.«
»Aber ich denke, Sie besitzen eines, oder nicht?«
»Quatsch - kein Motorboot. Eine Segeljacht.«
»Ist das nicht genau dasselbe? Ich bin auf dem Wasser nicht besonders gut zu Hause. Jedenfalls sagt Kettleby, dass Ihr Boot das schmuckste von ganz St. Hawes ist.«
»Das kann schon stimmen«, gab ihm Peter ungeduldig recht. »Das ist nun mal mein Hobby. Ich finde es herrlich, aufs offene Wasser hinauszusegeln... Aber wir sollten unsere Zeit lieber besser nützen, als hier über meine Wassernixe zu schwatzen. Ich kann einfach an nichts anderes denken, als an Molly da draußen...« Er brach ab und deutete mit einer Kopfbewegung zum Fenster hinüber. »Was soll denn nur mit ihr werden? Ich bin immer noch der Ansicht, dass es am besten wäre, die Polizei anzurufen.«
»Wie steht es mit Ihrer Jacht - ist sie startklar?«
»Ja>- natürlich. Sie liegt am südlichen Anlegesteg in St. Hawes vertäut.«
Paul Blair sah auf die Uhr.
»Bald Mitternacht«, murmelte er. »Wir haben eine Menge kostbare Zeit vergeudet. Laufen so spät noch viele Leute im Hafen herum?«
»Nein. Jetzt wird keine Menschenseele mehr auf sein.«
»Kann man mit dem Wagen bis an diesen südlichen Anlegesteg heranfahren?«
»Ja. Zumindest bis zum Kai, direkt davor.«
»Dann schlage ich vor, dass wir jetzt schleunigst in Ihren Wagen steigen, Conway, und nach St. Hawes fahren«, kommandierte Blair bestimmt. »Wenn Sie tatsächlich der Ansicht sind, dass um diese Zeit kein Mensch mehr am Hafen herumläuft, bin ich bereit, Ihnen zu helfen, die Leiche des Mädchens auf Ihr Boot zu schaffen. Kettleby hat mir erzählt, dass Sie oft des Nachts noch hinaussegeln, wenn gutes Wetter ist. Und das Wetter könnte gar nicht besser sein, als
heute Nacht. Selbst wenn noch jemand au£ sein sollte und merkt, dass Sie das Boot flott machen, so würde sich doch niemand etwas dabei denken - oder?«
»Nein. Alle in St. Hawes kennen mich.«
»Dann sollten wir wirklich endlich handeln, statt nur zu diskutieren.«
»Aber... aber, ich verstehe gar nicht...«, protestierte der junge Tierarzt schwach. Seine ehrlichen, gutmütigen blauen Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Das heißt, ich... ich glaube, ich verstehe schon. Aber das ist doch Wahnsinn! Sie wollen doch nicht etwa, dass wir Mollys Leiche hinausfahren und ins Wasser versenken?«
»Genau das!«
»Nein, einem so kaltblütigen Vorschlag könnte ich niemals zustimmen, ich...«
»Ganz wie Sie wollen!«, fuhr ihn Blair kurz an. »Herr im Himmel, es ist doch nicht zu glauben! Da mache ich, als vollkommen Fremder und Außenstehender Ihnen einen Vorschlag, wie Sie Ihren Hals aus der Schlinge ziehen können und bin sogar bereit, Ihnen zu helfen - und Sie nennen das kaltblütig! Sehen Sie denn immer noch nicht ein, dass es keine andere Chance für Sie gibt, diesem sorgfältig ausgetüftelten Plan dieses Verbrechers zu entgehen? Dieses Kerls, der Sie für den Mord büßen lassen will? Begreifen Sie doch endlich, dass es keinen anderen Ausweg gibt! Aber so... Das Mädchen ist eben einfach-verschwunden; die Leiche wird wochenlang nicht gefunden werden; vielleicht wird sie sogar niemals an Land getrieben. Die Strömungen draußen im Fahrwasser sind unberechenbar. So - und nun sollten Sie sich endlich entscheiden, so oder so... Ich habe es nämlich allmählich satt.«.
»Oh, entschuldigen Sie... Ich wollte Sie nicht verärgern... kann mich nur einfach nicht an den Gedanken gewöhnen... das ist alles!«, rief Peter mit heiserer Stimme. »Warum wollen Sie mir überhaupt helfen?«
»Weil ich vorhin, als ich Sie so vollkommen entsetzt in den Kofferraum Ihres Wagens starren sah, die Überzeugung gewonnen habe, dass Sie den größten Schock Ihres Lebens erlebt hatten«, gab Blair zurück. »Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, dass Sie womöglich Ihren Hals für den Mord an diesem Mädchen hinhalten sollen. Schau'n Sie, Conway, ich bin sicher, dass Sie nichts mit der Sache zu tun haben? Aber die Polizei würde Ihnen kein Wort von Ihrer Geschichte glauben. Und was würde passieren, wenn Sie der Polizei von mir erzählen? Man würde mich verhören - das steht fest. Und was könnte ich dann aussagen? Dass ich Sie mit der Leiche des Mädchens im Wagen nach Hause kommen sah?«
»Oh, mein Gott!«
Peter hatte das Gefühl, als ob sich das Netz immer enger um ihn zusammenzöge. Panik erfasste ihn, und er begann am ganzen Körper zu zittern. Er sah seine verzweifelte Lage in ihrer ganzen Wirklichkeit.