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1972 installierte Elliot Mintz ein rotes Licht in seinem Schlafzimmer im kalifornischen Laurel Canyon. Wenn es zu blinken begann, wusste er: John Lennon oder Yoko Ono ruft an. Über einen Zeitraum von fast zehn Jahren telefonierten sie täglich miteinander, oft stundenlang. Elliot Mintz wurde zum engsten Vertrauten eines der öffentlichsten Paare der Welt. Er begleitete Yoko und John durch gute und schwierige Zeiten. Und er war in den Stunden, Tagen und Wochen nach Johns Ermordung an Yokos Seite. Elliot Mintz erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft; er nimmt uns mit in die weitläufige Wohnung im legendären Dakota Building in New York, auf spontane Roadtrips durch die USA und ausgedehnte Reisen durch Japan. Bis heute ist Mintz ein enger Freund Yoko Onos, die ihn beim Schreiben seiner Erinnerungen unterstützte – kaum jemand stand diesem außergewöhnlichen Paar in John Lennons letzten Lebensjahren näher. «We all shine on» ist ein Muss für Beatles- und Lennon-Fans und bietet einen intimen Blick auf einen der meistgefeierten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist aber auch eine Geschichte über Freundschaft und darüber, wie sehr wir uns für diejenigen aufopfern, die wir am meisten lieben. Mit vielen bisher unveröffentlichten Fotos!
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Seitenzahl: 342
Elliot Mintz
John, Yoko und ich
1972 installierte Elliot Mintz ein rotes Licht in seinem Schlafzimmer im kalifornischen Laurel Canyon. Wenn es zu blinken begann, wusste er: John Lennon oder Yoko Ono rufen an. Über einen Zeitraum von fast zehn Jahren telefonierten sie täglich miteinander, oft stundenlang. Elliot Mintz wurde zum engsten Vertrauten eines der öffentlichsten Paare der Welt. Er begleitete Yoko und John durch gute und schwierige Zeiten. Und er war in den Stunden, Tagen und Wochen nach Johns Ermordung an Yokos Seite.
Elliot Mintz erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft; er nimmt uns mit in die weitläufige Wohnung im legendären Dakota Building in New York, auf spontane Roadtrips durch die USA und ausgedehnte Reisen durch Japan. Bis heute ist Mintz ein enger Freund Yoko Onos, die ihn beim Schreiben seiner Erinnerungen unterstützte – kaum jemand stand diesem außergewöhnlichen Paar in John Lennons letzten Lebensjahren näher.
«We all shine on» ist ein Muss für Beatles- und Lennon-Fans und bietet einen intimen Blick auf einen der meistgefeierten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist aber auch eine Geschichte über Freundschaft und darüber, wie sehr wir uns für diejenigen aufopfern, die wir am meisten lieben.
Elliot Mintz ist ein professioneller Medienberater, der mit Größen wie John Lennon, Yoko Ono, Bob Dylan, Paris Hilton, Diana Ross und vielen weiteren zusammengearbeitet hat. Bevor er Berater wurde, war Mintz als Radio-DJ und Fernsehmoderator tätig und fungierte als Korrespondent für den Fernsehsender KABC.
Pieke Biermann arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin. 2020 erhielt sie den Preis der Leipziger Buchmesse.
Sylvia Bieker gehörte u. a. zu den Übersetzerteams von Bob Woodward und Barack Obama.
Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit 30 Jahren aus dem Englischen und den skandinavischen Sprachen.
Anke Wagner-Wolff übersetzt seit vielen Jahren Sachbücher, Fachtexte und Belletristik aus dem Englischen und Französischen.
Elisabeth Liebl übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Italienischen, u. a. Malala Yousafzai, Delia Owens und Bob Woodward.
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «We All Shine On» bei Dutton, einem Imprint von Penguin Random House LLC.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«We All Shine On» Copyright © 2024 by Elliot Mintz
Redaktion Gisela Fichtl
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Penguin Random House LLC, US
Coverabbildung © Yoko Ono/ Nishi F. Saimaru
ISBN 978-3-644-02069-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für John, Yoko und Sean
Ich halte eine Brille in der Hand, eine Antiquität aus Stahldraht, kreisrund. Manche nennen sie Omabrille, dabei ist die hier eine Markenbrille namens Panto 45, ursprünglich hergestellt in der alten englischen Brillenmanufaktur Algha Works.
Ich bringe es nicht über mich, sie aufzusetzen – das empfände ich als Grenzüberschreitung –, ich halte sie mir nur eine Armlänge entfernt vor die Augen und spähe hindurch. Und selbst ohne sie auf der Nase zu haben, erzählen mir die Gläser etwas darüber, wie John Lennon die Welt sah, etwas, was mir zu seinen Lebzeiten gar nicht klar war.
Johns Sehvermögen war miserabel – noch schlimmer, als ich gedacht hatte.
Es ist seine sechsundzwanzigste Brille, die ich in dieser verschneiten Nacht im Februar 1981 untersuche. Gut zwei Monate zuvor war John erschossen worden, in New York, vor dem Dakota, einem 140 Jahre alten Gebäudekomplex in Sandsteingotik am Central Park West, Ecke West Seventy-Second Street, in dem er und Yoko seit 1973 lebten. Ich hatte den Auftrag bekommen, seine persönliche Habe zu inventarisieren – Bücher, Portemonnaies, Aktentaschen, Zeichnungen, Briefe, Kunstwerke, Fotos, Musikinstrumente und Dutzende von, eben, Omabrillen in allen Farben des Regenbogens –, denn Yoko und die Nachwelt sollten erfahren, was genau er hinterlassen hatte.
Eine herzzerreißende Arbeit, die mein Leben wochenlang ausfüllt und die ich meistens zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens erledige – in diesen Stunden werde ich vermutlich am wenigsten von der kleinen Armada aus Assistenten und sonstigen Mitarbeitern gestört, die durch Johns und Yokos Apartments im Dakota schwirren –, zum großen Teil in dem kryptaartigen Kellergeschoss des Gebäudes. Noch ist tiefster Winter, und es gibt keine Heizung; die unterirdischen Katakomben waren einst, als man sich noch mit Pferdekutschen durch New York bewegte, als Ställe genutzt worden; in den letzten Jahren waren sie in Lagerräume für die wohlhabenden Dakota-Bewohner umgewandelt worden. Es ist so klamm und kalt, dass ich beim Durchforsten von Johns und Yokos enormer Sammlung von Artefakten meinen Atem sehen kann. Ich kritzele mit tauben Fingern Beschreibungen von allem, was ich identifizieren kann, in ein Notizbuch nach dem anderen, die schließlich irgendwann transkribiert und zu zwei gebundenen Büchern werden, jeweils fünfhundert Seiten dick.
Ich hatte nicht um diesen Auftrag gebeten. Ich hatte ihn auch bestimmt nicht gewollt. Unter anderem, weil ich etwa viertausend Kilometer fern vom Dakota in Kalifornien lebe und dort meine eigene Radio-Late-Night-Talkshow habe. Eine Bestandsaufnahme von Johns Besitztümern zu erstellen, heißt, ständig quer durchs Land zu fliegen, was selbst für einen relativ jungen Mann – zu jenem Zeitpunkt Mitte dreißig – reichlich anstrengend werden kann.
Aber Yoko hatte mich darum gebeten, und Yoko – oder gar John – etwas abzuschlagen, das habe ich nur selten geschafft. Johns und Yokos Bitten zu erfüllen, war im Grunde die Geschichte meines Lebens. Wenn ich doch bloß gelernt hätte, Nein zu sagen – wenn ich die Kraft besessen hätte, dem unerklärlichen, magnetischen Sog zu widerstehen, den beide von Anfang an, von meinem ersten Radiointerview 1971 an, über Jahre auf mich ausübten –, vielleicht hätte ich ein anderes Lebenslos gezogen. Vielleicht wäre mein Leben ausgewogener, ganz traditionell verlaufen. Vielleicht hätte ich geheiratet und Kinder bekommen und womöglich ein paar normale Freunde gehabt, ohne extravagante Geheimnisse, die ich vor den gierigen Blicken der ganzen Welt bewahren muss.
Falls denn «Freunde» überhaupt das richtige Wort für John und Yoko ist.
Die englische Sprache enthält rund 170000 aktiv genutzte Wörter, aber mir ist noch kein einziges untergekommen, das die verqueren Konturen und komplexen Ursprünge meiner Beziehung zu John und Yoko erfassen könnte. Während der neun Jahre mit John – und weiteren vierzig mit Yoko nach seinem Tod – spielte ich diverse Rollen in ihren für uns drei inszenierten, manchmal verwirrenden, mich manchmal zum Wahnsinn treibenden, immer vertrackten Dramen. Ich war getreuer Vertrauter, Problemlöser, Medienbeauftragter (obwohl bis nach Johns Tod von niemandem offiziell angestellt), Rechercheur, Resonanzraum, Reisegefährte, Verbindung zur Außenwelt, Gelegenheits-Babysitter (nicht für Sean, ihren kleinen Sohn, sondern für John, der eher einen brauchte) und obendrein noch der Rund-um-die-Uhr-Telefonfreund, der mit ihnen telefonierte, stundenlang, über Kontinente hinweg.
Ich wusste, was ich für John wie für Yoko empfand: Ich liebte sie beide wie eine Familie. Ich würde gern behaupten, dass sie zu mir eine ähnlich familiäre Bindung hatten – das hoffe ich –, aber ich war nie wirklich sicher, was sie empfanden. Ich weiß nur, dass ich mich, wenn sie anriefen – und das taten sie ständig –, verpflichtet fühlte, den Hörer abzuheben. Während unserer gemeinsamen Jahre hat niemand öfter und länger mit ihnen gesprochen als ich. Ich werde nie erfahren, warum sie gerade meine Nummer so oft wählten; ich gab mein Bestes, um beiden ein guter Freund zu sein. Ich war selbst in den problematischsten Zeiten für John und Yoko da, schlug mich nie auf eine Seite, konfrontierte sie auch manchmal mit schwer zu ertragenden Wahrheiten. Sie vertrauten mir, und ich vertraute ihnen. Die Beziehung war trotz dieser Verantwortung fast immer ein Vergnügen. Aber in den letzten paar Monaten vor Johns Tod auch eine Bürde.
Jetzt, im Februar 1981, übernehme ich auf Yokos Bitte hin die Rolle des Archivars und Schreibers. Ich erledige sie mitten in der Nacht und mit roboterhafter Leidenschaftslosigkeit oder zumindest so sachlich es mir möglich ist. Nur so kann ich umgehen mit dem Horror, all die Habseligkeiten, die John hinterlassen hat, zu durchsuchen – und zu berühren –, Hinterlassenschaften eines Mannes, der lange Jahre der Mittelpunkt meiner Welt und meines Herzens gewesen war.
Aber so quälend die Arbeit ist, sie ist lebenswichtig. In den ersten Tagen und Wochen nach Johns Tod verbringe ich viel Zeit in New York und helfe Yoko bei dem, was nach dem Mord auf sie einstürmt: Gespräche mit der Presse, der Polizei und den Horden von Opportunisten, die sofort im Dakota einfallen. Ich laufe in ihren Apartments hin und her – sie besaßen zwei riesige Wohneinheiten im sechsten Stock sowie diverse andere im Dakota –, und mir fällt bald auf, dass Dinge verschwinden, die John gehörten. Keine offenkundigen Wertsachen, nichts, was große Aufmerksamkeit erregt, sondern kleine persönliche Gegenstände, die niemand auf Anhieb vermisst. John hatte zum Beispiel einen kleinen Radiorekorder auf dem Nachttisch, um Musik oder Vorträge zu hören. Der ist eines Tages plötzlich weg.
Ich habe den Verdacht, dass unter uns ein Dieb ist.
Vermutlich muss man mit kleinen Diebstählen dieser Art rechnen: Alles, was John je besessen oder auch nur berührt hat, bekommt enormen Wert, besonders nach seinem Tod. Eine kleine Kritzelei auf dem Notizblock könnte plötzlich einen Haufen Geld einbringen. Andere, bedeutendere Dinge – zum Beispiel die fünf persönlichen Tagebücher, die er unter dem Bett versteckt hatte – waren in der Tat von unermesslichem Wert, was wir später auf die harte Tour erfuhren, als sie tatsächlich gestohlen wurden. Yoko möchte verständlicherweise nicht, dass Johns Besitz auf dem Schwarzmarkt verhökert wird, auch deshalb hatte sie mich ja gebeten, alles zu katalogisieren, was ich finden konnte.
Also ziehe ich mir den Wollschal fest um den Hals, obwohl er gegen die klamme, klirrende Kälte im Dakota-Keller wenig ausrichten kann, und arbeite weiter. Auch das Licht hier ist furchtbar schlecht, Leuchtstoffröhren, die von der Decke baumeln und Kopfschmerzen verursachen. Das Dakota ist ein wunderschönes altes Gebäude im Neorenaissance-Stil, aber es hat offen gesagt etwas Unheilvolles – Roman Polanski hat hier nicht zufällig die Außenaufnahmen für Rosemary’s Baby gedreht –, vor allem nachts und besonders in den verliesartigen unteren Stockwerken. Nach drei, vier Stunden beschließe ich, dass es reicht. Ich packe meine Notizhefte zusammen, gehe zu dem alten Lift und lasse mich zurück in den warmen, relativ gemütlichen sechsten Stock tragen. Dort werde ich den Rest der Nacht sämtliche Türen, Schubladen und Vitrinen öffnen, die ich in Johns und Yokos ausgedehnten Apartments finden kann, und weiter katalogisieren.
In einem Schrank entdecke ich alte Kostüme: die von der britischen Armee inspirierte, überladene Uniform vom Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, den Chesterfield-Anzug vom ersten Auftritt der Beatles in der Ed Sullivan Show. Ich notiere beide Funde in meinem Heft. In einem anderen Apartment stehen mehrere Büroschränke aus schwarzem Stahl, hier finde ich einen Ordner voller Liebesbriefchen, die John während seiner Zeit beim Maharishi in Indien an Yoko geschrieben hatte, und einen weiteren voller Polaroids. (John hatte die Instantfotografie früh entdeckt und ein paar der ersten Selfies gemacht, unter anderem einige von seinen Füßen, warum auch immer.) Sie katalogisiere ich ebenfalls.
Manches, was ich ausgrabe, kommt mir bizarr, sogar fremd vor. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, was ich mit einem zersägten Möbelstück – halb Stuhl, halb Tisch – oder einem komplett weißen Schachbrett mit lauter weißen Figuren anfangen soll. Ich erfahre erst später, dass diese Objekte mehrmals Teil von Yokos Ausstellungen waren, unter anderem der berühmten Half-a-Wind Show 1967 in der Lisson Gallery in Westlondon.
In einem unverschlossenen Zimmer in einer der Wohnungen finde ich Johns unbezahlbare Gitarrensammlung. Ich zähle sie durch – eine Rickenbacker 325, eine Yamaha Dragon, eine Gibson J-160E, eine Fender Telecaster und eine Ovation Legend gehören dazu – und trage sie in mein Notizbuch ein (später schiebe ich einen Zettel unter Yokos Schlafzimmertür durch, mit der dringenden Bitte, ein robusteres Schloss anzubringen).
Eine besonders unvergessliche Ausgrabung fördert Pappkartons mit Kassetten zutage – es sind Hunderte –, darauf Stunden nie gehörter Aufnahmen: John, wie er die Musik zu ein paar seiner berühmtesten Stücke am Klavier ausprobiert und an Texten, Probeaufnahmen und akustischen Stücken in verschiedenen Entwicklungsstadien tüftelt; Interviews, Lesungen und ein paar Erinnerungen an seine Kindheit in Liverpool, vermutlich für eine Autobiografie gedacht, zu der er dann nie gekommen ist. Auf Yokos Initiative mache ich aus vielen dieser historischen Aufnahmen Jahre später die Doku-Serie The Lost Lennon Tapes, die über zweihundert Wochen zwischen 1988 und 1992 jeweils eine Stunde im Westwood One Radio Network ausgestrahlt und millionenfach gehört wird – vielleicht der erste (und mit Sicherheit längste) Bonustrack der Welt.
Mein Hauptquartier während der großen Katalogisierungsaktion ist ein Schlafzimmer in der Hauptwohnung. Es ist tatsächlich das Zimmer, in dem John und Yoko geschlafen und die meiste Zeit ihres Lebens im Dakota verbracht haben und in dem ich manchmal bei ihnen saß, auf einem weißen Korbstuhl neben ihrem Bett – einer Riesenmatratze auf einer Sperrholzplatte, die auf zwei antiken Kirchenbänken lag – und ganze Nächte mit Debatten über alles Mögliche von Geschichte bis Metaphysik verbrachte. Yoko meidet den Raum inzwischen, aus nachvollziehbaren Gründen; sie ist nach dem Mord in ein anderes Zimmer gezogen. Ich habe es mir genau deshalb als Stützpunkt für meinen Auftrag ausgesucht. Das einstige Allerheiligste und Privateste ist jetzt ein unscheinbares, selten genutztes Gästezimmer, der verschwiegenste Ort im sechsten Stock.
Die meisten Möbel hatte Yoko rausräumen lassen, meinen Korbstuhl dagegen ließ sie ohne Begründung in der Ecke stehen, wo er immer stand. Der so vertraute, jetzt kahle, leer gefegte Raum bietet einen merkwürdigen Anblick, aber ich fülle ihn schnell mit Schreibtischen und anderer Büroeinrichtung. Ich installiere Videokameras, Mikrofone, Rekorder und jede Menge Monitore und verwandele das Schlafzimmer in ein Audio-Video-Homestudio, ausschließlich zum Zweck der Bestandsaufnahme. Ich will unbedingt sicherstellen, dass meine Arbeit während des gesamten Inventurprozesses visuell und akustisch dokumentiert wird, deshalb kommt jedes einzelne Fundstück irgendwann in dieses Zimmer und wird aufgezeichnet. Dass so viel Sorgfalt bei manchen von Yokos Mitarbeitern Stirnrunzeln auslöst, ist mir bewusst – sie finden sie völlig übertrieben –, aber ich halte es für unentbehrlich, den Prozess absolut transparent zu gestalten, vor allem angesichts all der Gegenstände, die seit Johns Tod bereits verschwunden sind.
In dieser vom Schneesturm heimgesuchten Februarnacht ist es in diesem ehemaligen Schlafzimmer, jetzt Studio, so still, dass ich den Schnee fast auf den Fenstersims fallen höre. Ich setze mich in den Korbstuhl, reibe mir die müden Augen und denke über meine Fundstücke aus den letzten Stunden nach, insbesondere über Johns viele Brillen. Ich hatte beim Blick durch die Gläser die Welt mit Johns extrem kurzsichtigen Augen gesehen, und jetzt drängt sich mir ein Gedanke auf: Vielleicht ist seine schwache Sehkraft ein Schlüssel zu seiner Genialität. Vielleicht konnte er dank seiner verschwommenen Sicht auf die Welt das Universum klarer sehen als Sterbliche mit besseren Augen. Vielleicht nahm er eine – schöne, surreale, fantastische – Wirklichkeit wahr, die Menschen mit normaler Sehschärfe verborgen blieb.
Und plötzlich taucht, versteckt in einer Zimmerecke, etwas in meinem Augenwinkel auf, das mich aus meinen Grübeleien reißt. Normalerweise ignoriere ich es mit aller Kraft. Ich vermeide es seit Wochen, mich damit zu beschäftigen, und zwar seit dem Tag, als Leute vom Roosevelt Hospital damit ins Dakota gekommen waren und es übergeben hatten, als wäre es zartes Kristall. Es ist eine feste Papiertüte, oben zugefaltet und mehrfach verklammert. In ihr ist die Kleidung, die John an dem Tag, als er getötet wurde, trug – eine Hose, eine schwarze Lederjacke, ein blutgetränktes Hemd und, gespenstisch, eine blutbespritzte Brille, außerdem ein paar Dinge, die er in der Tasche gehabt hatte.
Diese Objekte katalogisiere ich nicht. Ich bringe es nicht fertig, die Tüte zu öffnen, und schon gar nicht, den Inhalt zu filmen. Ich tue vielmehr so, als wäre sie gar nicht da. An diesem Abend aber gestatte ich mir, warum auch immer, sie eine Sekunde zu lang anzustarren. Ein großer Fehler.
Die Tüte jagt meine Fantasie in dunkle, ungute Gegenden. Als John ermordet wurde, war ich gerade am anderen Ende des Landes in meinem Häuschen im Laurel Canyon zugange, und trotzdem sehe ich seine letzten Augenblicke vor meinem geistigen Auge. Ich sehe den Angreifer vor mir, den gestörten Fan von Der Fänger im Roggen, der mit fünfundzwanzig zum Mörder wird, sehe ihn in Kampfpose die Charter Arms .38 heben und schießen. Ich stelle mir vor, wie die verbotenen Hohlspitzgeschosse, die er sich besorgt hatte, Johns Körper durchschlagen und seinen Rumpf zerfetzen. Ich höre Yoko schreien, Glas zersplittern, Johns Gesicht auf dem harten Pflaster aufprallen, als er zu Boden taumelt.
Ich starre auf die Papiertüte dort in der Ecke und suhle mich viel zu lange in diesen ekelerregenden Bildern, unfähig, sie mir aus dem Kopf zu schütteln. Ich bin wie gebannt von diesem bedrohlichen Beutel des Grauens, wie eine unglückselige Edgar-Allan-Poe-Figur – und merke erst nach ich weiß nicht wie vielen Minuten, dass der Messingknauf der Schlafzimmertür vorsichtig gedreht wird. Ich starre ihn an, wie er sich fast unmerklich Stück für Stück bewegt, wie in einem klassischen Noir-Thriller. Das ist extrem ungewöhnlich. Außer mir kommt sonst niemand mehr in dieses Zimmer, schon gar nicht so spät am Abend. Ich setze mich kerzengerade auf, mein Herz beginnt zu rasen, ich sehe, wie die Tür langsam, zeitlupenartig aufgeht.
Der Flur dahinter ist dunkel, ich kann nicht richtig erkennen, was da ist. Ich halte es zuerst für ein Kind: eine winzige Silhouette, kaum ein Hauch einer Person. Eine Sekunde lang gehe ich von einem Gespenst aus. Das Dakota hat eine lange Spukgeschichte; vom Poltergeist eines jungen Mädchens, das in den Korridoren einen Ball hüpfen lässt, wird immer wieder erzählt, einmal auch von John. Aber dann macht die Gestalt einen Schritt ins Zimmer.
«Hallo, Elliot», flüstert sie leise.
Sie erinnert in nichts an die Yoko, die man aus Illustrierten oder dem Fernsehen kennt, die provokante Avantgardekünstlerin mit der Panorama-Sonnenbrille. Sie trägt Hausschuhe und Morgenrock, die langen schwarzen Haare sind total verstrubbelt, und sie wirkt noch winziger als sonst. Sie hat seit Johns Tod kaum gegessen, ist erschreckend dünn und schwach. Aber sie ist eine Nachteule wie ich und hat auch kaum geschlafen, vielleicht erklärt das, warum sie nachts um vier im sechsten Stock herumwandert und aussieht wie eine Erscheinung.
«Hallo, Yoko», antworte ich, als ich mich wieder gefasst habe. «Bist du okay?»
Ihr Gesichtsausdruck, der nie leicht zu lesen war, wirkt beinah komplett leer. Sie steht lange in der Tür und sieht durch das Zimmer, bevor ihr Blick allmählich grob in meine Richtung fällt. Am liebsten würde ich aufspringen und sie in den Arm nehmen – sie sieht wirklich aus, als könnte sie eine Umarmung gebrauchen –, aber Yoko ist kein Mensch, der sich umarmen lässt. Sie zeigt überhaupt selten Zuneigung.
«Nein», sagt sie. «Ich brauch nichts, Elliot.»
Es entsteht wieder eine lange Pause, in der wir uns schweigend und unbeholfen anstarren.
«Yoko», frage ich schließlich, «soll ich dir irgendwas holen?»
Sie deutet ein hauchzartes Grinsen an. «Ich wollte nur Hallo sagen», sagt sie.
Dann geht sie aus der Tür, zurück in den dunklen Korridor, ich bleibe allein und denke wieder einmal, wie so oft, seit ich sie kenne, über das Rätsel von Yoko Onos Lächeln nach.
Es war einmal ein Ort namens Laurel Canyon.
Den gibt es natürlich immer noch. Wenn Sie vom Sunset Boulevard in nördlicher Richtung auf den Laurel Canyon Boulevard abbiegen und etwa eine Meile den Hügel hinauffahren, vorbei am Canyon Country Store, landen Sie in einer Gegend, die nach wie vor diesen Namen trägt.
Doch das ist nicht der Laurel Canyon. Jedenfalls nicht der Laurel Canyon, den ich in den Siebzigerjahren kannte.
Alle paar Jahrzehnte werden bestimmte Regionen zu Epizentren von Kreativität, Inspiration und Erfindungsgeist. Paris in den Zwanzigern, Chicago in den Dreißigern, New York in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Und in den Siebzigerjahren lag der Ort auf unserem Planeten, der die besten und klügsten Künstlerinnen und Künstler anzog – vor allem aus dem Bereich der Musikindustrie –, in dieser trügerisch ruhigen Enklave, die sich wie ein geheimer Garten zwischen das San Fernando Valley und das hektische Herz des alten Hollywoods schmiegte.
Als ich Ende der Sechziger dorthin zog, konnte ich nicht ahnen, was ich erleben würde. Ich war ein junger Radiomann um die zwanzig Jahre, hüpfte bei verschiedenen Sendern in L.A. von einem Job zum nächsten, kassierte zwischendurch Arbeitslosenunterstützung und brauchte einen billigen Ort zum Leben. Laurel Canyon war damals der unkonventionellste Teil der Stadt, eine Art armer Verwandter von Benedict und Coldwater Canyon, die beide dem noblen Beverly Hills näher lagen. Das bescheidene zweistöckige Haus, in das ich einzog, lag am Oak Court – damals eine nicht asphaltierte Sackgasse – und kostete mich gerade mal 300 Dollar Monatsmiete. Mit einer Wohnfläche von kaum 85 Quadratmetern war es winzig, die Kochnische reichte gerade mal, um sich ein Ei zu kochen, und das Haus lag so hoch an einem Steilhang, dass man eine lange Treppe mit wackeligen Stufen hinaufsteigen musste, um hinzukommen. Zum Glück hatte der Vermieter einen «Hillevator» installiert, eine Art Seilbahn, der mich von der Straße zum Eingang hinaufbrachte. Wenn er denn funktionierte.
Neben der günstigen Miete zog mich auch die charmante ländliche Umgebung an. Die Fahrt vom Sunset Strip – der auch damals schon ein lauter, wimmelnder Ameisenhaufen urbaner Aktivität war – den Hügel hinauf dauerte gerade mal fünf Minuten. Doch wenn man oben ankam, fand man sich in einem Zauberwald unter dem Blätterdach von Holunderbüschen und Eukalyptusbäumen wieder. Eine Meile unter mir gab es Ampeln, Verkehrsunfälle, Abgaswolken und Sirenengeheul. Hier oben war ich umgeben von Hummeln, Schmetterlingen und Kaninchen. Es war ein ländlicher Zufluchtsort, und in der Luft hing der beruhigende Duft von Jasmin (und oft auch von Marihuana).
Als ich die neue Gegend zusammen mit meinem damaligen besten Freund – einem jungen Irish Setter, den ich nach einem Filmhelden meiner Kindheit Shane genannt hatte – erkundete, stellte ich im Laufe der ersten Monate fest, dass Laurel Canyon viel mehr war als ein bukolischer Ort, an dem man sich gut niederlassen konnte. Zum einen standen fast alle Türen ständig offen, im buchstäblichen wie auch im übertragenen Sinne. Die grausigen Morde der Manson Family im nahe gelegenen Benedict Canyon lagen zwar gerade erst ein Jahr zurück, und diese Tragödie hatte in ganz Los Angeles Furcht und Paranoia verbreitet, doch hier kam man sich immer noch vor wie im Paradies. Fremde lächelten mir nicht nur zu und sagten Hallo – oder hoben die Hand zum Peace-Zeichen –, wenn wir uns in den engen Gassen begegneten, sie blieben manchmal stehen, um zu plaudern oder luden mich sogar zum Essen in ihr Haus ein. Ja, es waren andere Zeiten, die Menschen hatten mehr Vertrauen zueinander, es war die Ära von Love Beads, Schlaghosen und wilden Frisuren, doch ein solches Ausmaß an Freundlichkeit war selbst in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren erstaunlich.
Der zweite Punkt war die Musik, die fast zu jeder Zeit aus den offenen Fenstern der Häuser und Cottages wehte. Und zwar nicht irgendwelche Musik, sondern aufregende neue Sounds, engelsgleiche Harmonien und funkige Folk-Riffs. Als ich die ersten Bewohner des Viertels – Leute wie Joni Mitchell, Linda Ronstadt, Carole King, David Crosby und Stephen Stills, um nur einige meiner unmittelbaren Nachbarn zu erwähnen – kennenlernte und mich mit ihnen anfreundete, dämmerte es mir allmählich, dass ich in kein normales Wohngebiet gezogen war. Nein, ich war genau im Zentrum einer aufblühenden musikalischen Renaissance gelandet.
Einige meiner Nachbarn waren bereits berühmt. Micky Dolenz, der in einem großen Haus in der Horse Shoe Canyon Road wohnte, und David Cassidy, der am Cole Crest Drive lebte, hatten schon 1970 erfolgreiche Fernsehserien, nämlich The Monkees und The Partridge Family. Doch viele der künftigen Superstars der Musikszene, die im Laurel Canyon lebten, hatten zu dieser Zeit noch nicht den Weltruhm erlangt, den sie wenig später genießen würden. Einige von ihnen hatten gerade ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben. Andere kämpften noch damit, den eigenen Sound zu finden und ihre Miete bezahlen zu können. Für mich waren sie alle, ob berühmt oder nicht, die Leute von nebenan – meine verblüffend liebenswürdigen Nachbarn.
Eines hatten fast alle im Laurel Canyon gemeinsam: Wir stammten nicht aus der Gegend, sondern waren ganz bewusst von irgendwoher an diesen Ort gezogen. Frank Zappa, der ebenfalls in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte, stammte aus Baltimore, Joni Mitchell war in Kanada aufgewachsen, Linda Ronstadt kam aus Arizona. Mein eigener Weg hatte in New York City begonnen, wo sich mein Dad, aus Polen eingewandert, in der Bekleidungsindustrie hochgearbeitet und seine eigene Firma gegründet hatte. Er stellte Damenmäntel und -kostüme in Übergrößen her. Damit verdiente er genug, um sich eine kleine, aber gemütliche Wohnung mit zwei Schlafzimmern leisten zu können; meine Schwester und ich teilten uns eines dieser Zimmer. Wir lebten in Washington Heights, damals in den Fünfzigern eine Art Sprungbrett für jüdische Familien, die ihre ersten tastenden Schritte in Richtung Mittelschicht unternahmen.
Dass ich beim Rundfunk landen würde, war mir, um es vorsichtig zu formulieren, nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Zum einen hatte ich um die Zeit, als ich fünfzehn wurde, angefangen, stark zu stottern. Und mein New Yorker Akzent machte meine Sprechweise auch nicht eleganter. Außerdem war ich viel kleiner und schmaler als die meisten meiner Klassenkameraden, was mich, zusammen mit dem Sprachfehler, zu einem idealen Opfer für Mobbing machte. Und so wurde ich eher noch schüchterner und unbeholfener in Gegenwart von Fremden. Die Vorstellung, vor Publikum zu sprechen, selbst vor kleinen Gruppen im Klassenzimmer, versetzte mich in Panik und bescherte mir im Teenageralter regelmäßige Albträume. Zum Glück entwickelte ich zur selben Zeit eine Neigung zur Schlaflosigkeit, die mir lebenslang erhalten bleiben sollte; ich schlief also ohnehin immer weniger.
Doch trotz all dieser Hindernisse wollte ich nichts anderes auf der Welt, als beim Rundfunk zu arbeiten. Ich vermute, die Anziehungskraft von Radio und Fernsehen hatte gerade mit meiner Isolation als Jugendlicher zu tun. Freunde fand ich nun mal nur im Äther. Unzählige Stunden verbrachte ich als Jugendlicher mit den Monologen von Jean Shepherd, der auf WOR Radio seine hypnotischen spontanen Erzählungen spann. Etwas später entwickelte ich eine einseitige Freundschaft zu Jack Parr. Als er 1960 seinen berühmten Abschied von The Tonight Show auf NBC nahm, saß ich vor dem Fernseher. Das Trauma ließ mich tagelang nicht los; es fühlte sich an, als hätte ich wirklich einen besten Freund verloren. Zum Glück machte mein Kumpel David Susskind weiter mit seiner lokalen Fernseh-Talkshow Open End, die um 23 Uhr begann. Sie hatte tatsächlich kein festgesetztes Ende, sondern lief so lange, bis den Gästen der Gesprächsstoff ausging. Die perfekte Sendung für eine junge Nachteule!
Eines Tages kurz vor meinem Highschool-Abschluss teilte ich meinem Vater meine beruflichen Pläne mit. «Pop», sagte ich, «ich habe mich fürs Radio entschieden.»
Lächelnd lehnte er sich auf seinem Küchenstuhl zurück. «Ein gutes Business», erwiderte er mit seinem leichten jiddischen Akzent und tätschelte mir das Knie. «Dieser Laden da in der 181st Street, da ist immer was los. Die Leute brauchen immer jemanden, der die Dinger repariert.»
«Äh, Pop», korrigierte ich ihn. «Ich will die Radios nicht reparieren, ich will ins Radio. Ich werde einer von den Leuten, die man im Radio hört. Ich gehe zum Rundfunk!»
Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade eröffnet, dass ich am Astronautenprogramm teilnehmen würde.
Wenig später bewarb ich mich an neun verschiedenen Colleges, die eine entsprechende Ausbildung anboten, und wurde von einem einzigen angenommen, dem Los Angeles City College. Und so packte ich im Sommer 1963 eine Reisetasche, bestieg zum ersten Mal in meinem Leben ein Flugzeug und betrat den Campus in Hollywood – mit einem Sprachfehler, einem New Yorker Akzent und 300 Dollar, um die Studiengebühren zu bezahlen.
Man brachte mir sehr schnell die ersten Schritte bei, zeigte mir, wie man in eine Kamera schaut und Blickkontakt aufbaut, wie man Sportreportagen und Wetterberichte moderiert, wie man Platten auflegt und Interviews führt (Letzteres gefiel mir besonders gut). Und ich lernte, ohne Stottern und akzentfrei zu sprechen.
Die Hausaufgaben für diesen letzten Bereich bestanden aus einer Reihe grausamer, aber überraschend effektiver Atem- und Sprechübungen. Wenn ich vom Unterricht nach Hause kam – ich hatte ein winziges möbliertes Zimmer zwischen Sunset und Hollywood Boulevard gemietet –, legte ich mich auf den Boden, packte mir eine neun Kilo schwere Schreibmaschine auf den Solarplexus, streckte die Zunge heraus und sagte so lange «Aaahh», wie ich auf diese Weise ein- und ausatmen konnte. Und es dauerte nicht lange, und sowohl mein Akzent als auch mein Stottern waren besiegt.
Nach gerade einmal zwei oder drei Monaten am College stolperte ich geradewegs in den größten Durchbruch meiner Karriere, zufälligerweise genau an einem der schlimmsten Tage in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Wir saßen am 22. November 1963 im Unterricht, als über die College-Lautsprecher die Nachricht verlesen wurde, Präsident Kennedy sei erschossen worden. Wir wurden angewiesen, nach Hause zu gehen. Die meisten von uns taten das auch, aber eine kleine Gruppe von Jungs aus dem Studiengang Rundfunk inklusive mir versammelte sich um einen Schwarz-Weiß-Fernseher und verfolgte Walter Cronkites Reportage über das Attentat. Nach ein paar Stunden wurden auch die ersten Fotos von Lee Harvey Oswald gezeigt.
«Das ist Lee!», rief plötzlich einer meiner Kommilitonen. «Mit dem war ich bei den Marines!»
Ich weiß bis heute nicht, wie ich an diesem entsetzlichen, tragischen Tag die Geistesgegenwart aufbrachte, die riesige Chance zu erkennen, die mir soeben in den Schoß gefallen war. Doch tatsächlich ging ich mit diesem Mitstudenten – sein Name war Roland Bynum – ins Nebenzimmer, setzte mich mit ihm hin und schaltete das Tonbandgerät ein. Zugegeben, es war nicht das tiefgründigste Interview meiner Karriere – ich war ja noch ein Anfänger im Nachrichtengeschäft –, doch es war mit Sicherheit das mit dem besten Timing. Sobald wir fertig waren, begab ich mich mit dem Band zurück in mein Studentenzimmer und rief bei der größten lokalen Nachrichtenredaktion in L.A. an.
«Hi, mein Name ist Elliot, ich bin Student am L.A. City College und habe gerade einen Mann interviewt, der zusammen mit Lee Harvey Oswald im Marine Corps gedient hat», sagte ich zu der Person, die meinen Anruf entgegennahm. «Haben Sie Interesse an dem Tonband?»
Es dauerte gefühlt eine Hundertstelsekunde, bis ein Kurierfahrer auf dem Motorrad angefahren kam, um die Aufnahme abzuholen. Einige Hundertstelsekunden später wurde mein Interview auch schon in der ganzen Stadt gesendet. Und dann läutete mein Telefon ununterbrochen; Sender aus der ganzen Welt wollten mich sprechen. Als die Sonne an diesem Tag unterging, war mein kleines Exklusivinterview landesweit auf Sendung: auf CBS Evening News.
Die nächsten paar Jahre verbrachte ich am L.A. City College damit, mein handwerkliches Können zu verfeinern, wobei ich mich besonders in der Kunst übte, Prominente an Land zu ziehen. Ein Interview mit Jayne Mansfield – die damals von den Filmstudios als die neue Marilyn Monroe präsentiert wurde – bekam ich, indem ich ihren Agenten erbarmungslos mit Briefen belästigte. Ich besorgte mir sogar einen Stadtplan, auf dem die Häuser der Stars verzeichnet waren, und schrieb Mansfield selbst einen Brief. Sie muss ihn wohl gelesen haben, denn eines Tages, als ich mir auf meiner Kochplatte gerade eine Portion Erbsensuppe aufwärmte, läutete mein Telefon, und zu meinem Erstaunen hörte ich am anderen Ende ihre Stimme. Sie stimmte dem Interview nicht nur zu, sondern lud mich zu einer Party in ihrem Haus in Beverly Hills ein. Wenig später erspähte ich Sal Mineo in einer Bar in Hollywood, die ich besuchte, um über eine Hypnose-Show zu berichten. Und so kam ich auch noch zu einem Interview mit einem der Helden aus … denn sie wissen nicht, was sie tun. Sal und ich wurden enge Freunde.
Nach meinem College-Abschluss machte ich mich auf die Suche nach einem ersten richtigen Job im Rundfunk und fand ihn bei dem von seinen Hörern finanzierten Sender KPFK, der auf den ersten Blick gar nicht so gut zu mir zu passen schien. Zu dieser Zeit richteten sich Sender, die von ihren Hörern finanziert wurden, im Wesentlichen an ältere Menschen. KPFK spielte dementsprechend auch ziemlich viel Cembalo-Musik und brachte ab und zu Vorträge über Vogelbeobachtung. Doch ich hatte einen Plan für den Sender, den ich bei meinem Vorstellungsgespräch auch präsentierte.
«Schauen Sie», sagte ich, «ich weiß, dass ich noch jung bin und gerade mal vom College komme, aber ich habe eine Idee für eine Telefon-Talkshow für Teenager. Ich würde gern Leute interviewen, an denen Teenager interessiert sind, Rockstars zum Beispiel. Das könnte ich an drei Abenden pro Woche machen, von abends um zehn bis nachts um zwei. Wir könnten die Sendung Looking in with Elliot Mintz nennen.»
Der Chef des Senders warf mir einen ähnlich skeptischen Blick zu wie seinerzeit mein Vater in unserer Küche, doch aus irgendeinem Grund sagte er Ja. Und so wurde ich mit 21 Jahren der jüngste Talkmaster im amerikanischen Rundfunk.
Ich konzentrierte mich bei meinen Interviews für KPFK auf Musiker und Künstler, die sonst niemand beachtete – was zu dieser Zeit im Bereich der Gegenkultur so ziemlich auf jeden zutraf. Man darf nicht vergessen, dass wir von einer Zeit reden, in der die drei großen Rundfunkanstalten – ABC, NBC und CBS – die Sendefrequenzen regelrecht im Würgegriff hielten. Niemand interviewte Rockstars oder Beat-Poeten, nicht im Radio und ganz bestimmt nicht im Fernsehen. Johnny Carson hätte im Leben nicht Frank Zappa oder Allen Ginsberg in seine Show eingeladen. So war ich für eine ganze Weile der Einzige in der Stadt, der so etwas machte.
Ich muss zugeben, dass es ein ziemlich lockerer Job war, vor allem für jemanden, der ohnehin unter Schlaflosigkeit leidet. Da es sich um eine Late-Night-Show handelte, kam ich in der Regel morgens um drei nach Hause, rauchte einen Joint, las ein wenig zur Entspannung, ging dann ins Bett und schlief bis zum Mittag. Am Nachmittag trudelte ich wieder im Studio ein und plante mein nächstes Programm. Für diese nicht allzu scheußliche Arbeit bezahlte man mir hübsche 65 Dollar pro Woche, sodass ich mir bald mein erstes Auto kaufen konnte, einen gebrauchten Morris Minor, Baujahr 1964, der mich 300 Dollar kostete. Das Beste jedoch war, dass meine Show schnell eine Menge Hörer anzog – nicht besonders überraschend, wenn man bedenkt, dass sich der Aufstand der Jugend allmählich im ganzen Land ausbreitete. Nicht, dass ich berühmt wurde – das war auch nie mein Ziel –, aber man wurde in der Rundfunk-Community auf mich aufmerksam.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein größerer, kommerzieller Sender namens KLAC auf mich zukam und mir wesentlich mehr Geld anbot – 300 Dollar pro Woche –, im Grunde genommen für denselben Job wie bisher: Ich sollte Gastgeber einer Talkshow für junge Hörerinnen und Hörer sein. Und so ging es die nächsten Jahre weiter, und ich hangelte mich in der Hackordnung der Radiostationen von L.A. nach oben. Ich hatte verschiedene Jobs, strauchelte manchmal und verlor sie wieder, aber letztlich fand ich immer wieder etwas Neues. Bis ich irgendwann bei KLOS landete, dem Sender, bei dem ich im Herbst 1971 ein Interview führte, das sich als das folgenreichste meiner Karriere erweisen sollte.
Ich war zwar hauptsächlich Talkmaster und kein DJ, doch es gehörte zu meinem Job, über die neuesten Platten Bescheid zu wissen, schon damit meine Gästeliste frisch und interessant blieb. Viele der Interviewpartner in meinen Shows waren Freunde. Nachdem ich in das kleine Haus mit dem Hillevator im Laurel Canyon gezogen war, hatte ich den großen Vorteil, dass schon meine unmittelbare Nachbarschaft einen endlosen Vorrat an potenziellen Interviewpartnern bot. Ich konnte Gäste für meine Sendung buchen, indem ich einfach mit dem Hund um den Block spazierte und abwartete, wer mir in die Arme lief. Doch ich verbrachte auch viele Stunden zu Hause am Plattenspieler, hörte mir stapelweise Neuerscheinungen auf Vinyl an – die Plattenfirmen schickten mir zwanzig bis dreißig Stück jede Woche – und wartete auf eine Stimme, die mich aufhorchen ließ.
Und an jenem Tag im September 1971 fand ich eine solche Stimme.
Natürlich wusste ich, wer Yoko Ono war; wer wusste das nicht? Sie war John Lennons Frau und damals – wie heute – eine ziemlich polarisierende Person, die von vielen (unfairerweise) beschuldigt wurde, den Bruch der Beatles verursacht zu haben.
Offen gestanden, ich war nie ein Superfan der Beatles. Natürlich mochte ich ihre Musik, erkannte ihr umwerfendes Genie und wusste ihren enormen Beitrag zur Popkultur zu würdigen. Doch aufgewachsen war ich mit Elvis. Elvis Presley war der König meiner prägenden Teenagerjahre gewesen, und ich fühlte mich mit «Jailhouse Rock» enger verbunden als mit «I Want to Hold Your Hand». Tatsächlich hatte ich, als With the Beatles in Amerika zum ersten Mal zu hören war, mein Elternhaus schon verlassen und studierte am City College. (Übrigens gab es wohl in der gesamten Geschichte der Musikindustrie keine Veröffentlichung mit einem schlechteren Timing – die Platte erschien in Großbritannien just an dem Tag, als Kennedy erschossen wurde.)
Doch ich bewunderte John und Yoko als Kulturphänomen schon vor dem Ende der Beatles 1970. Ich hatte die breite Berichterstattung über ihre «Bed-ins for Peace»-Kampagne 1969 verfolgt, als die beiden unmittelbar nach ihrer Hochzeit im Pyjama in Hotelzimmern in Amsterdam und Montreal kampierten und spontane Diskussionen mit Mitgliedern der Weltpresse über die Beendigung des damals noch tobenden Vietnamkriegs führten. Abgesehen davon, dass das politisch unglaublich mutig war – John und Yoko nahmen Ehrenplätze auf Nixons Liste seiner schlimmsten Feinde ein und wurden regelmäßig vom FBI überwacht –, flößte mir auch ihre geniale Fingerfertigkeit in Sachen PR Respekt ein. Sie brachten die Presse dazu, ihre Botschaft hinauszutragen – in diesem Fall ihren Protest gegen das sinnlose Blutvergießen in Südostasien –, indem sie sie zu ihrer Hochzeitsreise einluden! Einfach genial.
Doch an diesem schicksalhaften Herbstnachmittag, als ich Yokos Album Fly von dem Stapel der neuen Platten nahm, schaute ich genauer hin. Das ließ sich ja auch kaum vermeiden: Das Cover zeigte eine faszinierende Nahaufnahme von Yokos Gesicht, ein verzerrtes, doppelt belichtetes Polaroidfoto, das durch gebogenes Glas aufgenommen worden war, sodass es aussah, als würde sie weinen. Der Fotograf, so stellte ich beim Blick in die Copyrightangaben fest, war John.
Hatte mich schon das Cover neugierig gemacht, so war ich endgültig fasziniert, als ich die Platte auflegte. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas Derartiges gehört. Es war konzeptuell und experimentell, verwirrend und schwer fassbar, aber irgendwie auch inspirierend. In Yokos Stimme lag ein unverfälschter, tief sitzender Schmerz, ein vollkommen anderer Sound als die friedlichen Harmonien, die aus den offenen Fenstern meiner Nachbarschaft wehten. Fly war ein Doppelalbum mit dreizehn Titeln und einer Spielzeit von 94 Minuten, aber ich hörte es mir gleich zweimal hintereinander an. Als ich damit fertig war, wusste ich zweierlei ganz genau: Zum einen, dass ich die Platte im Radio spielen wollte. Und zum anderen, dass ich mit der Frau sprechen wollte, die sie gemacht hatte.
Damals in den Siebzigern war es ein relativ einfaches, wenn auch manchmal zermürbendes Unterfangen, einen Gast für eine Radiosendung zu buchen. Man musste eigentlich nur etwa zwanzig bis dreißig Telefonanrufe erledigen. Das war der Nachteil an einem solchen Job in einer Zeit, in der es noch kein Internet und keine E-Mails gab: Man hing ständig am Telefon. Erst einmal musste ich die Plattenfirma (in der Regel in New York) kontaktieren, um den Namen des Pressereferenten herauszufinden, der die Künstlerin oder den Künstler betreute. Dann musste ich diesen Pressereferenten anrufen und die Einladung platzieren. Der Pressemensch musste dann versuchen, die Künstlerin oder den Künstler (oder den dazugehörigen Manager) ausfindig zu machen, sie anrufen und mich anschließend zurückrufen.
Doch bei Yoko ging es unheimlich schnell und einfach. Ich rief bei der Plattenfirma an und erklärte, dass ich das Album im Radio bringen und seine Schöpferin während der Sendung telefonisch interviewen wolle. Am Tag darauf sprach ich mit Yokos Assistenten.
«Wie wäre es mit Sonntagabend?», fragte er.
Ich bereite mich auf Interviews gerne vor, deshalb recherchiere ich vorher normalerweise ziemlich viel. In Yokos Fall hatte ich angefangen, noch einmal ihr Buch Grapefruit zu lesen. Dieses Beispiel literarischer Konzeptkunst hatte sie 1964 veröffentlicht, zwei Jahre bevor sie John Lennon kennenlernte. Viele Menschen vergessen allzu leicht, dass Yoko damals schon eine anerkannte Künstlerin mit einem ganz eigenen Hintergrund war. Als Tochter eines einflussreichen Bankers in Japan hatte sie die gleiche Schule besucht wie der künftige Kaiser Prinz Akihito, hatte später am Sarah Lawrence College in New York studiert und sich dann der Avantgarde-Szene in Downtown Manhattan angeschlossen.
Nachdem sie ihre eigene Künstlerkarriere gestartet hatte – mit Performances wie der berühmten interaktiven Arbeit Cut Piece aus dem Jahr 1964, bei der sie passiv dasaß, während Menschen aus dem Publikum dazu eingeladen wurden, mit einer Schere Teile des Kleides abzuschneiden, das sie trug –, zog sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann, dem Filmproduzenten Anthony Cox, nach London. Dort traf sie John in einer Kunstgalerie, die ihre Arbeiten ausstellte, und trennte sich ein paar Jahre später von Cox. Etwa um die gleiche Zeit ließ sich auch John von seiner ersten Frau, Cynthia Lennon, scheiden.
Grapefruit war eine von Yokos zugänglicheren und skurrileren künstlerischen Arbeiten. Es handelte sich um ein einfaches quadratisches Buch mit «Anleitungen». Auf jeder Seite fand sich eine kleine