Wege aus der Angst - Gerald Hüther - E-Book

Wege aus der Angst E-Book

Gerald Hüther

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Beschreibung

Menschen verfügen über ein plastisches, zeitlebens lernfähiges Gehirn und müssen erst herausfinden, worauf es im Leben ankommt. Deshalb sind und bleiben wir Suchende. Aber allzu leicht können wir uns auf der Suche nach einem glücklichen und sinnerfüllten Leben auch verirren, als Einzelne ebenso wie als ganze Gesellschaft. Sobald wir zu spüren beginnen, dass wir auf Abwege geraten sind, bekommen wir Angst. Und das ist gut so. Die Angst ist unser wachsamster Begleiter. Sie ermöglicht es uns, aus Fehlern zu lernen. Ohne Angst können wir nicht leben. Mit seiner langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet der Angstforschung geht der Neurobiologe Gerald Hüther in diesem Buch der Frage nach, wie sich diese, unser Leben schützende Funktion der Angst mit unserer Sehnsucht nach einem angstfreien Leben vereinbaren lässt. Seine überraschende Antwort: Menschen können auch lernen, berechtigte Ängste zu ignorieren. Sie können sogar die Erfahrung machen, dass sich eine tief in ihnen spürbare Angst durch eine andere, vordergründig ausgelöste und besser kontrollierbare Angst überlagern lässt. Um bestimmte Ziele zu erreichen, sind wir Menschen in der Lage, Angst sowohl zu unterdrücken wie auch zu verstärken – nicht nur bei uns selbst, sondern noch viel wirkmächtiger bei anderen. Das Schüren oder Beschwichtigen von Angst ist also gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen und Absichten einsetzbar. Diese Instrumentalisierung der Angst macht Menschen abhängig und manipulierbar, beraubt sie ihrer Freiheit. Entsprechend beschreibt Gerald Hüther auch nicht, wie wir uns von der Angst befreien, sondern was wir tun können, um nicht zu Getriebenen der von anderen oder Interessengruppen geschürten Ängste zu werden.

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Gerald Hüther

Wege aus der Angst

Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Jamesbin/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage |www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99996-8

Inhalt

Weshalb ich dieses Buch für Sie geschrieben habe

1 Weshalb ist es in bedrohlichen Situationen so hilfreich, dass die Angst den ganzen Körper erfasst?

2 Wie schützt uns die Angst vor Bedrohungen und hilft uns, aus unseren Fehlern zu lernen?

3 Was verbirgt sich hinter dem Phänomen der Angst?

4 Wovor haben wir Angst?

5 Wie werden unsere Erfolge bei der Bewältigung von Angst strukturell im Gehirn und in der Gesellschaft verankert?

6 Weshalb ist das Schüren von Angst die wirksamste Strategie, um Menschen gefügig zu machen?

7 Was stärkt unsere Widerstandskraft gegenüber Angst einflößenden Manipulationsversuchen?

8 Weshalb ist die Angst unser wichtigster Wegweiser in die Freiheit?

Fazit: Was ich mir wünsche

Weshalb ich dieses Buch für Sie geschrieben habe

Es gibt Ereignisse, die einem Menschen* zustoßen, oder Situationen, in die sie oder er gerät, die sein Leben bedrohen. Oder die alles zu zerstören drohen, was ihm bisher wichtig war, was er im Verlauf seines bisherigen Lebens aufgebaut und geschaffen hat. Auch solche, die seine Hoffnungen und Sehnsüchte und all das, was er erreichen wollte, mit einem Schlag zunichtemachen. Manchmal reicht auch nur die bloße Vorstellung, dass so etwas passieren könnte. All das macht Angst und das ist nur allzu verständlich. Auch, dass in einer solchen Situation jeder Strohhalm ergriffen wird, um sich aus dieser lähmenden Angst zu befreien.

Bisweilen kann es geschehen, dass nicht nur ein einzelner Mensch durch solche Ereignisse in Angst gerät und nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Manchmal wird eine ganze menschliche Gemeinschaft von der Angst befallen, fast so, als sei sie ansteckend. Dann werden alle Mitglieder von diesem Strudel aus Hilflosigkeit und Verzweiflung erfasst. Wenn keine Lösung gefunden werden kann, die aus dieser kollektiv empfundenen Angst herausführt, zerfällt die betreffende Gemeinschaft und jeder Einzelne versucht dann, sein Leben, sein Hab und Gut, seine Familie, oder was immer ihm wichtig erscheint, zu retten. Aber noch nie in der Menschheitsgeschichte ist es bisher vorgekommen, dass sich alle Menschen, überall auf der Welt durch etwas bedroht fühlen, das plötzlich und völlig unerwartet über sie alle hereingebrochen ist: ein Virus aus der Gruppe der Corona-Viren mit der Bezeichnung COVID-19. Was die gesamte Menschheit in Angst versetzt hat, war aber genau genommen nicht dieses kleine Virus, sondern die sich noch rascher als jeder Krankheitserreger über die Medien global ausbreitende Vorstellung von seiner Gefährlichkeit.

Bedenkenswert ist das deshalb, weil es ja noch eine ganze Reihe anderer Phänomene gibt, die das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten ebenfalls bedrohen: dreckige Luft, verunreinigtes Trinkwasser, geplünderte Ressourcen, antibiotikaresistente Keime, abgeholzte Regenwälder, zerstörte Ökosysteme oder nicht mehr aufzuhaltende Klimaveränderungen, Kriege, Hunger und die endlosen Ströme aus ihrer unbewohnbar gewordenen Heimat fliehender Menschen. Weshalb war nichts davon bisher in der Lage, eine sich derart global ausbreitende Angst auszulösen?

Um herauszufinden, weshalb das so ist, habe ich dieses Buch geschrieben. Es ist der Versuch zu verstehen und gemeinsam mit Ihnen herauszuarbeiten, was uns wirklich Angst macht, wie die Angst unser Denken, Fühlen und Handeln verändert und was uns helfen kann, gar nicht erst in den Würgegriff der Angst zu geraten oder – wenn sie uns erfasst hat – uns möglichst schnell wieder aus ihrem Zugriff zu befreien.

Menschen können einander Angst machen. Sie können andere bedrohen, misshandeln, unterdrücken oder vergewaltigen. Und sie können auch Vorstellungen verbreiten, die andere verunsichern und zutiefst verängstigen. Unsere gesamte, im kollektiven Gedächtnis verankerte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Instrumentalisierung dieses Gefühls der Angst zum Zweck der Durchsetzung von Machtinteressen einzelner Herrscher oder nach Herrschaft strebender Cliquen. Wer außerstande ist, das zu durchschauen, und keinen Weg findet, sich aus der von anderen Menschen geschürten Angst zu befreien, wird zu deren willfährigem Opfer.

Jetzt wird es zuversichtlicher: Menschen können einander auch helfen, sich aus dem Würgegriff der Angst zu befreien. Sie können andere einladen, ermutigen und inspirieren, die Welt noch einmal mit anderen Augen zu betrachten. Sie können andere auch dazu bringen, ihre bisher verfolgten Ideen und Vorstellungen zu überdenken und sich selbst als lustvolle Entdecker wiederzuerleben. Wer die Erfahrung machen konnte, wie beglückend es ist, sein Leben selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten, lässt sich nicht mehr einschüchtern.

Und was wir nie vergessen sollten: Wir alle sind ja nicht mit Angst vor dem Leben zur Welt gekommen. Unsere Ängste sind nur deshalb entstanden, weil wir Angst machende Erfahrungen in unseren Beziehungen zu anderen Personen machen mussten. Diese angstbesetzten Erfahrungen verlieren ihre Bedeutung und werden im Gehirn neu verknüpft, wenn wir später erleben dürfen, dass es auch Menschen gibt, die uns so annehmen, wie wir sind, und denen wir vertrauen können. Es ist nie zu spät, verloren gegangenes Vertrauen zu sich selbst und gegenüber anderen Menschen wiederzufinden.

Und nun noch der wichtigste Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe: Ich ertrage es einfach nicht, dass noch immer so viele Menschen glauben und sich bis heute von anderen einreden lassen, dass es darauf ankäme, ihre Ängste zu überwinden – oder zu unterdrücken oder gar zu bekämpfen. Und dass dann auch noch alle möglichen Kurse, Seminare und Trainings angeboten werden, in denen die Teilnehmenden lernen sollen, wie sie ihre Angst loswerden.

Im Zusammenhang mit der Angst vor dem Corona-Virus hatte ich es schon angedeutet: Es war nicht das Virus, das diese Angst ausgelöst hat. Es war die Vorstellung einer durch dieses Virus ausgelösten lebensbedrohlichen Erkrankung. Die angesichts einer realen Gefahr erlebte Angst ist nicht das Gleiche wie die durch die Vorstellung einer existentiellen Bedrohung ausgelöste Angst.

Wir müssen Angst haben und brauchen die Angst, ja, wir könnten ohne die von ihr ausgehenden Botschaft, gar nicht überleben. Ihre Botschaft lautet: Du bist in eine lebensbedrohliche Situation oder auf einen gefährlichen Irrweg geraten! Mach etwas, hau ab oder kehre um, ändere dein Leben, sonst ist es vorbei! Es wäre absurd, diese Angst und ihre Botschaft überhören, unterdrücken, verdrängen oder durch Atemübungen oder andere Angstbewältigungsstrategien zum Schweigen bringen zu wollen. Wir können froh sein, dass sie uns zeitlebens begleitet. Ganz anders verhält es sich aber mit all den vielen, nur in unserer Vorstellungswelt existierenden Bedrohungen und den durch diese Vorstellungen ausgelösten Ängsten. Hilfreich können solche Vorstellungen nur dann sein, wenn sie auch zutreffen. Dann wären auch die durch sie ausgelösten Ängste berechtigt, denn sie würden uns helfen, vorausschauend all das zu vermeiden, was uns in Gefahr bringen könnte.

Aber wie können wir herausfinden, dass eine Angst machende Vorstellung zutreffend und deshalb berechtigt oder unzutreffend und daher unberechtigt ist? Müssten wir nicht viel eher nach geeigneten Wegen suchen, um diese Vorstellung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, aber nicht nach solchen, die uns helfen, die durch unzutreffende Vorstellungen ausgelösten Ängste loszuwerden?

Jetzt beginnen Sie wahrscheinlich zu ahnen, worauf ich hinauswill: Alle Vorstellungen, die wir Menschen herausbilden, um unser Leben zu bewältigen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Vorstellungen davon, wie es uns gelingen kann, die Angst zu besiegen. Und wir haben allergrößte Angst davor, dass diese einmal gefundenen, Halt bietenden Überzeugungen ins Wanken geraten.

Am weitesten verbreitet ist die Vorstellung, wir könnten alles, was uns bedroht, durch geeignete Maßnahmen unter Kontrolle bringen. Deshalb betreiben wir Wissenschaft, suchen Rat bei Experten und versuchen, so viel Wissen zu erwerben und uns so viele Fähigkeiten wie möglich anzueignen. Getragen wird dieses Bemühen von der Überzeugung, wir könnten irgendwann einmal alles kontrollieren, was uns bedroht. Alles, was darauf hindeutet, dass diese verständliche Vorstellung unzutreffend sein könnte, macht uns Angst.

Ebenfalls sehr verbreitet ist die Vorstellung, es gäbe besonders kluge, umsichtige und kompetente Personen, die besser als wir wissen, was in schwierigen Situationen zu tun ist, die uns Halt und Sicherheit bieten und uns aus der Gefahr herausführen. Auch diese Vorstellung erweist sich allzu oft als unzutreffend. Und wenn wir feststellen, dass solche Anführer die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen könnten, bekommen wir Angst.

Sicher gibt es noch mehrere solcher Vorstellungen, die uns helfen, unsere Ängste zu beschwichtigen – bis sie sich als ungeeignet erweisen. Dann befällt uns eine noch größere Angst. Deshalb geht es in diesem Buch nicht um das Besiegen von Angst. Was ich hier gemeinsam mit Ihnen herausfinden möchte, sind mögliche Wege, die uns herausführen aus der Gefangenschaft unserer eigenen Vorstellungen und Überzeugungen davon, wie sich die Angst besiegen lässt.

Vielleicht ist es ganz anders, als wir es uns bisher vorgestellt haben. Vielleicht ist die Angst gar nichts Bedrohliches. Vielleicht ist sie unser wichtigster Wegweiser auf dem schmalen und leicht zu verlierenden Pfad in die Freiheit.

*Ich weiß, dass es zwei oder gar mehr Geschlechter gibt. Der besseren Lesbarkeit wegen verwende ich mal die männliche und mal die weibliche Form.

1 Weshalb ist es in bedrohlichen Situationen so hilfreich, dass die Angst den ganzen Körper erfasst?

Ja, es stimmt: Angst macht uns hilflos. Wir fühlen uns wie gelähmt, es schnürt uns die Kehle ein, das Herz rast, die Knie beginnen zu zittern, kalter Schweiß tritt auf die Stirn und die Haare stehen uns zu Berge. Als ob der Gedanke an das unerwartete und scheinbar unlösbare Problem, das da auf uns zukommt, nicht schon bedrohlich genug wäre, spielt nun auch noch der ganze Körper verrückt. So gesellt sich zur ersten Angst vor der Bedrohung nun allzu leicht noch eine zweite: die vor dem, was jetzt in unserem und mit unserem Körper geschieht.

Recht leicht zu verstehen ist die Botschaft dieser ersten Angst. Lässt sie uns doch so eindringlich spüren, dass unser Leben auf bedrohliche Weise ins Wanken gerät, wenn etwas geschieht, das wir so nicht erwartet hatten. Aber weshalb gibt es auch noch diese andere Angst? Und was will die uns lehren? Bevor wir diese Fragen beantworten, müssen wir noch kurz klären, weshalb die Angst so funktioniert, dass wir es am ganzen Körper spüren.

Die Physiologie der Angst- und Stressreaktion

Eine Angst auslösende Bedrohung führt im Gehirn zur Mobilisierung sogenannter archaischer Notfallreaktionen. Aktiviert werden diese Reaktionen durch spezifische Auslöser auf der Ebene der Wahrnehmung (etwa bei einem Unfall), viel häufiger aber durch die subjektive Bewertung eines Ereignisses, oft auch im Vorfeld (etwa eine bevorstehende Trennung), wobei es weniger das Ereignis ist, das die Angst auslöst, sondern die befürchteten Folgen dieses Ereignisses für sich selbst oder für Personen, mit denen man sich eng verbunden fühlt oder von denen man abhängig ist.

Deshalb beginnt jede Angstreaktion im Gehirn auch dort, wo wir unsere Bewertungen vornehmen, also im Frontallappen, der komplexesten Region des menschlichen Gehirns. Dort kommt es immer dann, wenn wir eine Diskrepanz bemerken zwischen dem, was wir erwarten oder erhoffen, und dem, was wir real erleben oder wahrnehmen, zu einer unspezifischen Erregung, die sich zu einer Übererregung (Hyperarousal) aufschaukelt.

Unter diesen Umständen ist aus den komplexen neuronalen Netzwerken des Frontalhirns kein »vernünftiges« handlungsleitendes Muster mehr aktivierbar. Das Verhalten, auch das Fühlen und die Reaktionen des Körpers werden jetzt von den tieferliegenden, entwicklungsgeschichtlich früher herausgeformten und stabileren neuronalen Netzwerken bestimmt.

Wenn kein Ausweg aus dieser Situation gefunden wird, übernehmen schließlich die archaischen Notfallprogramme im Hirnstamm das Kommando. Dann bleiben nur noch drei Verhaltensoptionen: Angriff, wenn das nicht geht, Flucht, und wenn beides nicht geht, ohnmächtige Erstarrung. Vernünftig denken kann man dann nicht mehr, auch nicht sich in andere Menschen hineinversetzen, Handlungen planen oder die Folgen einer Handlung abschätzen.

Diese psychische Reaktionskette wird von einer Kettenreaktion auf körperlicher Ebene begleitet, die ebenso wie diese Notfallprogramme der Sicherung des eigenen Überlebens dient und die als physiologische Stressreaktion bezeichnet wird. In einem ersten Schritt kommt es dabei zur Aktivierung des sogenannten sympathiko-adrenomedullären Systems, also zu einer verstärkten Ausschüttung von Noradrenalin an den Enden der Fortsätze des den gesamten Körper durchziehenden sympathischen Nervensystems und zu einer massiven Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark in den Blutkreislauf. Die Folge ist eine radikale Umstellung des Stoffwechsels und der Funktion aller Körperorgane in einen Modus, der der akuten Sicherung des Überlebens dient (Mobilisierung von peripheren Energiereserven, erhöhter Muskeltonus, Darmentleerung, Blutdruckanstieg etc.). Etwa zehn Minuten später als diese sofort anspringende und über das sympathische Nervensystem ausgelöste »Rettungsreaktion« kommt es zur Aktivierung einer zweiten, langsamer einsetzenden, aber dafür nachhaltiger wirksamen Reaktionskette, des hypothalamo-hypophyseo-adrenocortikalen Systems. Am Ende dieser Kettenreaktion, in deren Verlauf auch ähnlich wie Morphium wirkende endogene Opiate durch die Hypophyse in den Blutkreislauf ausgeschüttet werden, kommt es zu einer massiven Freisetzung von Cortisol durch die Zellen der Nebennierenrinde. Cortisol bremst vor allem die zum »Überhitzen« neigenden akuten Reaktionen ab, die durch die Freisetzung von Noradrenalin und Adrenalin ausgelöst wurden. Es schützt also den Körper gewissermaßen vor möglichen Kollateralschäden der eigenen »Feuerwehr«. Die wichtigste dieser »Bremsfunktionen« ist die Hemmung entzündlicher Prozesse. Eine dauerhafte Aktivierung dieses Systems und der damit einhergehende erhöhte Cortisolspiegel im Blut (bei Dauerstress) hat teilweise langfristige funktionelle und strukturelle Reorganisationsprozesse zur Folge, die zu chronischen Beschwerden führen können (erhöhte Krankheitsanfälligkeit durch Unterdrückung des Immunsystems, Osteoporose, Impotenz etc.).

Die biologische Bedeutung der Angst

Gäbe es die Angst mit ihren unangenehmen Begleiterscheinungen nicht, wären wir nicht überlebensfähig. Wir brauchen die Angst, denn sie macht uns in unübersehbarer und nicht zu verdrängender Weise darauf aufmerksam, dass Gefahr droht. Sie zwingt uns, nach geeigneten Bewältigungsstrategien zur Abwendung oder Überwindung dieser Bedrohung zu suchen. Und wenn wir eine Lösung für das Angst auslösende Problem gefunden haben, dann ist alles gut. Die Angst verschwindet und die physiologische Stressreaktion findet ein natürliches Ende. Die Angst ist kein angenehmes Gefühl und der Rückfall in archaische Notfallmuster der Verhaltenssteuerung ist kein beglückender Zustand. Deshalb sucht jeder Mensch in einer solchen Situation nach Lösungen, die dazu beitragen, ihm diese Erfahrung künftig zu ersparen. Meist wird dann eine der beiden Möglichkeiten gewählt: Entweder man verändert die Verhältnisse, die die Angst auslösen, und versucht, die Welt und die anderen Menschen seinen eigenen Erwartungen und Bedürfnissen anzupassen. Oder man verändert sich selbst und versucht sich und seine eigenen Bedürfnisse an die jeweils herrschenden Verhältnisse anzupassen. Beides kann sich zumindest eine Zeitlang als geeignet erweisen, um solche Angst auslösenden Diskrepanzen zwischen den eigenen Erwartungen und den wahrgenommenen Ereignissen zu vermeiden.

Nur wenigen Menschen gelingt eine dritte Form der Veränderung. Sie manifestiert sich als Bewusstseinswandel. Auf dieser Stufe wird weder eine Veränderung der Verhältnisse noch des eigenen Verhaltens als wichtigste Voraussetzung zur Überwindung der Angst betrachtet, sondern eine andere Bewertung des im Außen erlebten Geschehens im eigenen Inneren angestrebt. Grundlage dieser neuen Bewertung ist eine veränderte Haltung, eine andere Einstellung der betreffenden Personen gegenüber dem Leben und dem, worauf es im eigenen Leben ankommt. Dabei geht es eher um das Wiederfinden von etwas, was angesichts von Leistungsdruck und Erfolgsstreben oder auch durch eingefahrene Gewohnheiten und Alltagsroutinen verloren gegangen ist. So erweist sich also die Angst als eine in unserem Gehirn und in unserem Körper ausgelöste Reaktion, die uns zu einer eigenen Weiterentwicklung zwingt.

Die versteckte Botschaft der Angst

Die mit der Angstreaktion einhergehende verstärkte Noradrenalin-Ausschüttung führt im Gehirn zur Mobilisierung von Energiereserven und einer Arousal-Reaktion im Gehirn, die wachrüttelt und die Aufmerksamkeit auf das Problem lenkt, das es zu bewältigen gilt. Ist das geschafft, kehrt wieder Ruhe ein. Die periphere sympathische Aktivierung wird abgestellt, im Gehirn wird noch ein Schwapp Dopamin und Endorphin ausgeschüttet und man erlebt einen Zustand, als hätte man gleichzeitig eine kleine Dosis Kokain und Heroin eingenommen. Erfolgserlebnis nennen das die Psychologen und ohne solche Erfolgs- und Aha-Erlebnisse wäre das Leben flach und langweilig. Weil die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig auch noch eine Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen unterstützt, werden aus den anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen im Gehirn – je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird – allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und diese können wir dann später oft nur schwer wieder verlassen. Wer also Probleme immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise zu lösen versucht und dabei auch noch meint, alles im Griff zu haben, gerät allzu leicht in Angst und Panik, wenn eine Situation entsteht, für die eine ganz andere, neuartige Lösungsstrategie gefunden werden müsste.

Vor allem solche Personen, die bisher extrem erfolgreich bestimmte Strategien eingesetzt haben, um alles, was ihnen Angst machte, unter Kontrolle zu halten und zu beherrschen (auch sich selbst), verlieren auf diese Weise allzu leicht den Kontakt zu ihrem Körper. Oft betrachten sie ihn sogar als ein Instrument, das es zu kontrollieren gilt und das optimiert werden muss, um die von ihnen angestrebten Ziele zu erreichen. Dabei kommt ihnen das Gefühl für ihren eigenen Körper zunehmend abhanden, sie werden gewissermaßen taub für die dort generierten Signale.

Die in bedrohlichen Situationen ausgelösten körperlichen Reaktionen machen ihnen Angst. Aber diese Angst wird nun nicht durch das konkrete Ereignis, sondern durch die ihnen so fremd gewordenen Reaktionen ihres eigenen Körpers ausgelöst. Hier hilft diesen Personen all das nicht mehr weiter, was sie normalerweise bisher immer wieder erfolgreich eingesetzt hatten: Verdrängung, Ablenkung, Aufregung, auch nicht noch mehr Arbeit oder etwa eine Urlaubsreise. Sie müssten lernen, die hinter dieser Angst verborgene Botschaft zu verstehen, und sich mit dem Umstand anfreunden, dass sich im Leben nicht alles kontrollieren lässt. Oder positiver ausgedrückt: Sie müssten die Demut wiederentdecken, die darin besteht, das Leben so anzunehmen, wie es ist.

2 Wie schützt uns die Angst vor Bedrohungen und hilft uns, aus unseren Fehlern zu lernen?