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Bindung als Grundlage der Traumabehandlung Bei komplex traumatisierten Menschen sind aufgrund einer früh erworbenen strukturellen Dissoziation Veränderungen nur schwer möglich. Hilfreich ist allein eine tiefe innere Bindung zu einem anderen Menschen, denn sie kann dazu beitragen, Verbindungen zwischen einzelnen Persönlichkeitsanteilen aufzubauen. Und genau hier muss Psychotherapie ansetzen: Bindungsorientiert „auf der inneren Bühne“ arbeiten und helfen, innere Verbindungen herzustellen. Erst dann können Klient*innen auch von kognitiven und verhaltensorientierten sowie körpertherapeutischen Behandlungsmethoden tief innerlich profitieren. In diesem Standardwerk zur Traumabehandlung werden – aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht – die Behandlungsmethoden vorgestellt, die auch komplex traumatisierten Menschen helfen.
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Seitenzahl: 782
Michaela HuberWege der Traumabehandlung Trauma und Traumabehandlung, Teil 2
Bindung als Grundlage der Traumabehandlung
Bei komplex traumatisierten Menschen sind aufgrund einer früh erworbenen strukturellen Dissoziation Veränderungen nur schwer möglich. Hilfreich ist allein eine tiefe innere Bindung zu einem anderen Menschen, denn sie kann dazu beitragen, Verbindungen zwischen einzelnen Persönlichkeits- anteilen aufzubauen. Und genau hier muss Psychotherapie ansetzen: Bindungsorientiert „auf der inneren Bühne“ arbeiten und helfen, innere Verbindungen herzustellen. Erst dann können Klient*innen auch von kognitiven und verhaltensorientierten sowie körpertherapeutischen Behandlungsmethoden tief innerlich profitieren.
In diesem Standardwerk zur Traumabehandlung werden – aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht – die Behandlungsmethoden vorgestellt, die auch komplex traumatisierten Menschen helfen.
Michaela Huber ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Past President der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD), 1. Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für bedarfsgerechte Nothilfe (BAGbN).
Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2003 6., überarbeitete Auflage 2023
Coverbild: © 2017 Andrew Ostrovsky – StockAdobe
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023
ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0171-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0393-3 (EPUB), 978-3-7495-0394-0 (PDF).
Einige der Übersichten und Fragebogen aus diesem Buch bieten wir Ihnen zusätzlich zum Download an. Sie erkennen sie an diesem Icon .
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Wenn man ein Buch über Traumabehandlung vor rund 20 Jahren veröffentlicht hat, könnte man denken: Nun musst du alles neu schreiben. Nun, vieles ist hier auch neu, im Vergleich zum Buch vor 20 Jahren.
Doch tatsächlich hat sich, wie ich beim Durcharbeiten bemerkt habe, an den Grundsätzen der Arbeit mit traumatisierten Menschen wenig verändert, auch wenn neue „Techniken“ und zahllose Publikationen hinzugekommen sind. Aber nach wie vor geht es vor allem darum: Zu verstehen, eine Haltung zu dieser Arbeit zu entwickeln, und genau zu wissen, womit man es zu tun hat, welche Themen in der Behandlung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftauchen werden, und schließlich möglichst konkrete Tipps und Hinweise zu bekommen, was man am besten tun und was man lassen sollte.
Komplexe Traumafolgestörungen erfordern ein multidimensionales Arbeitsverständnis sowie ein Zusammenwirken mit anderen Profis in diesem Feld, und das können viele sein: ÄrztInnen (AllgemeinärztInnen, InternistInnen, ChirurgInnen, AnästhesistInnen, GynäkologInnen …), HeilpraktikerInnen, PsychotherapeutInnen (ambulant wie stationär), PsychiaterInnen, MitarbeiterInnen bei Krankenkassen, Behörden, Sozialpsychiatrischen Diensten und Ambulanzen, ErzieherInnen, LehrerInnen, KollegInnen in der ambulanten und stationären Betreuung und Pflege, SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen in Beratungsstellen etc. Sie sehen, das kann schon aufwendig sein. Dann sollten wir natürlich mit den Angehörigen zu tun haben und wissen, ob und wie wir sie einbeziehen können: Eltern und Elternersatzfiguren, Kinder, PartnerInnen. Auch „relevant others“ wie beste FreundInnen können manchmal hilfreich sein, und von unserer Seite lohnt es sich, sie anzuschauen.
Trauma und die Folgen, den ersten Teil dieses zweiteiligen Grundlagenwerks, habe ich Ende 2020 neu vorgelegt, es in großen Teilen neu formuliert und viel neue Literatur hinzugefügt, denn das Wissen um die Entstehung von Traumafolgestörungen sowie die Diagnosemöglichkeiten haben sich tatsächlich vergrößert. Bei der Behandlung jedoch ist zwar weltweit die Erfahrung gewachsen, sie ist aber im Wesentlichen an einer entscheidenden Stelle ähnlich geblieben – eine Stelle, die nicht genug betont werden kann: Dass wir, wenn wir traumatisierten Menschen wirklich helfen wollen, bindungsorientiert arbeiten müssen. Was das bedeutet, wird zu erklären sein.
Abbildung: Symptome der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung
Was haben wir in den letzten Jahren darüber hinaus über die Psychotherapie, besonders mit komplex traumatisierten Menschen, gelernt? Dieser Frage möchte ich hier gleich zu Anfang nachgehen. Denn in der Tat ist der Schwerpunkt dieses Buches nicht das Monotrauma im Erwachsenenleben, sondern es sind die frühen, oft langwierigen, schweren, in der Kindheit beginnenden komplexen Traumafolgen, von denen hier die Rede ist. Was also haben wir lernen dürfen?
Abbildung: Folgen eines nicht geheilten Traumas
Zum einen, dass wir jetzt genauer wissen, was eine „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ (abgekürzt K-PTBS, auf Englisch C-PTSD) ist und welche Verläufe sie langfristig hat, wenn man sie nicht verändert. Nämlich so gravierende, dass Menschen, die als Kind zwei, drei, vier oder mehr Belastungsfaktoren wie psychisch kranke Elternteile, seelische Quälereien, körperliche Misshandlung und sexualisierte Gewalt erlebt haben (alles häufige Ereignisse, die eine K-PTBS auslösen können), bis zu 20 Jahre früher sterben. Das hat uns eine Prävalenzstudie aus den USA bereits 1998 deutlich gemacht (Felitti et al.) – eine Studie, deren Ergebnisse vielfach ausgewertet und teilweise repliziert wurden. Dem Fragebogen zu den ACE (adverse childhood experiences) wurde inzwischen ein Fragebogen zu den BCE (benevolent childhood experiences) an die Seite gegeben, mit eindrucksvollen Ergebnissen: Wer trotz hoher ACE-Werte viel positive Unterstützung als Kind bekommen hat, ist besser gerüstet gegen psychische Erkrankung und sozialen Stress. Das verweist darauf, dass es in den meisten Kindheiten sowohl positive wie negative Einflussfaktoren gibt. Es kommt also zum einen darauf an, was man mitbekommen hat – positiv wie negativ. Zum anderen, was man aus den Belastungen macht.
Schlimme Lebensereignisse in der Kindheit sind zwar sozusagen „Steine, die man im Lebensrucksack mit sich führt“ und die Folgeprobleme nach sich ziehen können, aber sie sind nicht unausweichliches „Schicksal“, wie auch die Literatur zu „Posttraumatischem Wachstum“ zeigt. Dennoch gilt, dass Menschen mit mehreren Belastungen in der Kindheit, wie Armut, frühe Bindungsverluste, körperlich oder seelisch schwer belastete Eltern, seelische, körperliche, sexuelle Gewalt etc., deutlich höhere Risiken aufweisen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und diverse andere körperliche Erkrankungen. Dass sie gehäuft psychische Störungen wie Suchterkrankungen, depressive und / oder Angststörungen, psychosomatische Beschwerden erleiden, dass sie gehäuft durch Beziehungs- und Lebenskrisen gehen, die nicht wenigen von ihnen den Lebensmut nehmen und sie immer wieder – manche chronisch – suizidal werden lassen.
Mit anderen Worten: Wenn Menschen starke Kindheitsbelastungen mit sich herumtragen, ist das eine Bürde, die häufig schweres körperliches und seelisches Leid verursacht. Dieses Leid ist manchmal so tief, dass die Persönlichkeit unter seiner Last gar nicht erst ein zusammenhängendes Selbst entwickeln kann, sondern dass schon während der Strukturbildung, also des inneren Persönlichkeitswachstums, tiefe Spaltungen entstehen, welche die gesamte Identität des Menschen in Fragmenten weiterexistieren lassen – und sie bei neuem Stress weiter zerlegen. In Fragmente von Selbstzuständen, die das Alltags-Ich bewusst kaum bis gar nicht kontrollieren kann, da die Wechsel dieser traumabedingten Persönlichkeitszustände (engl. personality states) unwillkürlich erfolgen. Das mögen manche LeserInnen befremdlich finden. Es kann Ihnen aber erklären, wieso manche Menschen sich einfach nicht „zusammenreißen“ können, obwohl sie es versuchen. Weshalb so manche Zeitgenossen häufig „wie ausgewechselt“ wirken. Oder – falls Sie selbst betroffen sind – wieso Sie manchmal einfach „außer sich“ geraten: Weil Sie vielleicht in besonderen Stresssituationen automatisch in einen Persönlichkeitszustand rutschen, der einst in einer äußersten Notsituation entstand; der Ihnen heute peinlich ist, den Sie aber nicht steuern können. Manche erleben das als verzweifelt-depressiven Einbruch, bei dem sie warten und ggf. mit Medikamenten gegenzusteuern versuchen, bis er vorbei ist. Andere erleben das als übertriebene Schreckreaktion, Panik- oder ohnmächtigen Wutanfall, und wieder andere als unwiderstehlichen Impuls zu einem Verhalten, von dem sie wissen, dass es absolut schädlich für sie ist: etwa Essen in sich hineinstopfen, Kette rauchen, hungern, nichts mehr trinken, alles Geld ausgeben bzw. verspielen, eigentlich gute Beziehungen abbrechen, Drogen nehmen, zu viel Alkohol trinken, bis zur absoluten Erschöpfung arbeiten, Erbrechen oder Entwässerung bzw. Darmentleerung zwangsweise herbeiführen, sich die Fingernägel blutig kauen, die Haare ausreißen, sich schneiden, brennen, dauernd „Unfälle“ haben; Arztbesuche meiden, bis es zu spät ist, sich selbst durch Ablenkungen wie Smartphone oder TV um viele Stunden Schlaf bringen und erschöpfen, bis zum Zusammenbruch Sport treiben, zwanghaft alle/s kontrollieren müssen, sich aus zerstörerischen Beziehungen nicht lösen können, und und und. Wenn Sie an sich selbst solche nicht steuerbaren Impulse und Verhaltensweisen bemerken – oder wenn Sie als Profi das bei Ihren PatientInnen / KlientInnen beobachten –, dann könnten das früher sogar angemessene Reaktionen gewesen sein auf völlig chaotische, unberechenbare, extrem stressreiche Ereignisse und Zeiten. Das zu wissen hilft natürlich noch nicht, etwas zu verändern. Aber es könnte für die Betroffenen der Beginn einer Reise zu sich selbst sein und dazu, ihr „Gewordensein“ zu verstehen und konkrete Schritte zur Veränderung gehen zu können.
Zusammen mit dem ersten Band Trauma und die Folgen ist dieses Buch eine Werbung dafür, dieses Verständnis zu verbessern und die Angebote zur Veränderung zum einen zu prüfen – was taugt etwas, was ist weniger empfehlenswert –, und zum anderen, einiges davon zu beschreiben. Es handelt sich also nicht um ein „Kochbuch“: Man nehme eine Prise dies, eine Prise das, mache das konkret, dann kommt dies dabei heraus. Dazu ist eine komplexe Persönlichkeit eben zu vielgestaltig in ihrem Sein und ihren Möglichkeiten, sie erfordert ein individuell auf sie zugeschnittenes Vorgehen. Dieses Buch inspiriert Sie eher dazu, kreativ zu werden. Ich habe zahlreiche Verweise auf konkrete Übungsbücher und -materialien aufgenommen, die Ihnen helfen könnten, und etliche konkrete Tipps hinzugefügt. Doch ein Lehrbuch zu Komplextrauma ist nun einmal kein Kochbuch, und daher mute ich Ihnen an einigen Stellen vielleicht einiges zu, ob Sie nun Profi, Angehörige/r oder Betroffene/r sind. Achten Sie also bitte bei der Lektüre gut auf sich, damit Sie sie gut „verdauen“ können.
In die ICD-11 – die neue, überarbeitete Auflage des Internationalen Diagnosehandbuchs – wurden inzwischen einige neue Erkenntnisse eingearbeitet. So wurde die Diagnose „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ aufgenommen, und die traumabedingten Identitäts-Fragmentierungen wurden in zwei verschiedene Diagnosen gepackt: in die „Partielle dissoziative Identitätsstörung“ (Stichwort: ein Alltags-Ich, mehrere emotionale Persönlichkeitszustände als Teil-Identitäten) und in das Vollbild der „Dissoziativen Identitätsstörung“. Bei Letzterem übernehmen mehrere Teilidentitäten voll die Kontrolle über das im Alltag agierende Bewusstsein, ohne einander beeinflussen zu können. Das hilft uns KollegInnen, die Diagnosen klarer zu fassen – enthebt uns aber natürlich nicht einer auch sonst umfassenden Persönlichkeitsdiagnostik.
In diesem Buch werde ich zu unterschiedlichen Traumafolgestörungen Hinweise zur Behandlung geben. Damit Sie schon einmal einen kleinen Einblick bekommen, hier einige Antworten von mir auf häufig gestellte Fragen meiner KollegInnen:
Wie erkennt man überhaupt, ob jemand einfach oder komplex traumatisiert ist, und we
lche Rolle spielt Dissoziation?
Hier verweise ich auf den ersten Band, auf
Trauma und die Folgen.
Dort finden Sie zahlreiche Hinweise. Stichworte könnten sein: Psychotrauma erkennt man an den Symptomen: Leid nach extrem belastenden Lebensereignissen, verbunden mit Übererregung, Vermeidung von erinnernden Reizen und Wiedererlebensmomenten. Komplexe Traumafolgestörungen erkennt man an einem Mangel an Impulskontrolle, schweren Selbstwertproblemen, psychosomatischen Störungen, häufigen Sinnkrisen – und dem Ausmaß an dissoziativen Störungen. Zu Letzteren gehören Amnesien im Alltag oder für wichtige biografische Ereignisse, Entfremdungserleben (häufiger die Umgebung oder Teile des Selbst bzw. des Körpers nicht angemessen wahrnehmen können) bzw. Identitätsprobleme (unkontrollierbare Persönlichkeitszustände). Auch Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, schwere Gefühlsprobleme wie Angst-, Zwangs- und depressive Störungen sowie soziale Probleme, etwa am Arbeitsplatz, sind häufige Begleiterscheinungen komplexer Traumafolgestörungen. Es kommt also darauf an, dass man über gute diagnostische Fähigkeiten und Instrumente verfügt, wenn man Traumafolgen diagnostizieren möchte.
Wenn ich den Verdacht auf eine Traumafolgestörung habe, was mache ich dann?
Als Erstes wird die Stabilisierung des Betreffenden (Kind, Jugendliche/r oder Erwachsene/r) im Vordergrund stehen. Dazu gehört, zu prüfen, ob diese Person überhaupt in Sicherheit ist. Viele Traumatisierte sind in Lebensumständen, die einen Heilungsprozess erschweren: Sie sind mit Menschen verwickelt, die ihnen geschadet haben (dazu gehören u.U. auch Familienmitglieder oder PartnerInnen!) oder ihnen derzeit immer noch schaden. Viele haben aufgrund ihrer Selbstwertprobleme immer wieder erlebt, dass sie zu Opfern anderer Menschen wurden, oder sie haben problematische Seiten in sich, die sie immer wieder in Versuchung führen, sich ausbeuten zu lassen oder andere Menschen auszubeuten. Viele haben chronische Geldprobleme, manche sind obdachlos. Sehr viele fühlen sich chronisch einsam und unsicher in der Welt. Das bedeutet für die Helfenden, dass sie oft erleben, wie sehr sich traumatisierte Menschen an sie klammern, während es diesen gleichzeitig schwerfällt, sich von Personen zurückzuziehen, die ihnen geschadet haben oder immer noch schaden. Das wird uns in diesem Buch noch beschäftigen.
Anschließend geht es an die Stabilisierung des Umfelds, und oft parallel dazu wird man beginnen, die guten Fähigkeiten und die stabilen oder stabilisierungsfähigen Merkmale der Persönlichkeit der Hilfesuchenden zu stärken, nach dem Motto: „Äußerlich und innerlich festen Boden unter die Füße!“ Erst danach wird man sich den Details der traumatisierenden Erfahrungen selbst inhaltlich mehr zuwenden können. Was bedeutet, dass man sich um den Ansturm der Flashbacks, der erzählen wollenden Persönlichkeitszustände und der angstvoll den Alltag leben wollenden Alltagspersönlichkeit, die sich dem Unaushaltbaren nicht mehr zuwenden will, besonders kümmern und gleichzeitig während des Stabilisierens alles in der Persönlichkeit um Geduld bitten muss. Was naturgemäß nicht einfach ist. Auch davon wird zu reden sein.
Ich habe wenig Zeit für eine PatientIn, die sehr instabil ist. Was ist das Wichtigste, auf das ich achten muss?
Neben einer Stärkung des Willens, aus möglicherweise schädlichen Sozialkontakten und anderen schlechten inneren und äußeren Lebensbedingungen herauszukommen, wird die gesamte gesundheitliche Situation zu stabilisieren sein: Hat die Person körperliche Erkrankungen, die dringend versorgt werden müssen? Muss man sie zu Ärzten, Ämtern, Einrichtungen begleiten, ihr helfen, Formulare auszufüllen, um eventuell eine finanzielle, ambulante oder auch eine stationäre Betreuung zu erhalten? Muss ich nachsehen, ob sie absprachefähig ist, etwa Selbstschutzvereinbarungen abzuschließen, sich nicht ernsthaft zu verletzen, regelmäßig zu essen und zu trinken, keine radikalen Entscheidungen ohne Absprache zu treffen (Wohnortwechsel, gesamtes Geld ausgeben, Beziehungsabbruch, Suizid …)? Wenn sie nicht absprachefähig ist, kann ich sie motivieren, sich stationär psychiatrisch aufnehmen zu lassen oder muss ich gar – was wir alle stets so lange wie möglich, aber bitte nicht zu lange vermeiden möchten – eine geschlossene Unterbringung beantragen? Kann ich ein Helfernetz aufbauen, das vermutlich längerfristig unbedingt nötig sein wird: Sicherung und eventuell Aktivierung des privaten Umfelds und der familiären Situation; bei Bedarf Einbeziehung von Institutionen wie Kinderschutz, Jugendamt, Beratungsstellen, Betreuungseinrichtungen, Arztpraxen, Kliniken. Häufig ist Psychotherapie gar nicht das Erste, das notwendig ist, sehr wohl aber eine Ansprache an die Persönlichkeit in all ihren Facetten und eine Bitte um Mitwirkung bei der Stabilisierung bzw. im Genesungsprozess. Auch das gilt es zu lernen, insbesondere wenn die Persönlichkeit des / der Hilfesuchenden fragmentiert ist.
Wann kann ich mit der Traumakonfrontation
beginnen?
Jede Beschäftigung mit der traumatisierten Person ist – und je tiefer die Gespräche gehen, desto mehr – eine Form von Traumakonfrontation. Doch wenn unter dem Begriff das gezielte Arbeiten mit den traumatisierenden Ereignissen verstanden wird, gilt: Bitte tun Sie das nicht, bevor einige Lebensumstände der hilfesuchenden Person geklärt sind. Sie sollte aktuell nicht in traumatisierenden Lebensumständen sein; es sollte kein Teil der Persönlichkeit mehr aktiv dagegen arbeiten, zu verstehen, was das Ereignis mit ihr gemacht hat. Die Persönlichkeit sollte sich entweder spontan oder auf Wunsch der helfenden Person in der Gegenwart, also in Raum und Zeit orientieren können; sie sollte die Arbeit portionieren können, was auch bedeutet: Persönlichkeitsanteile, die nicht beim Prozessieren der traumatogenen Ereignisse notwendig sind, innerlich in Sicherheit bringen oder an inneren sicheren Orten halten zu können; und sie sollte sich klarmachen, weshalb das traumatische Material bislang getrennt gehalten war, das wertschätzen und Mitgefühl mit dem eigenen erlittenen Leid entwickeln können. Ist eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, kann es, statt zur Integration, während und durch die Traumakonfrontation zur Retraumatisierungen kommen, was natürlich zu vermeiden ist.
Was aber tun, wenn die PatientIn von Flashbacks überflutet und gleichzeitig zu instabil ist für eine Traumakonfrontation
?
Diese Frage wird mir sehr häufig gestellt, und die Antwort ist nicht einfach. Denn dieses Dilemma bedeutet: Einerseits flutet das Traumamaterial an, andererseits kann die Persönlichkeit das schreckliche Geschehen noch gar nicht voll erfassen, weil sie noch nicht gefestigt genug ist. Die Stabilisierung wiederum wird durch die Flashbacks behindert – ein Teufelskreis, in dem sich viele TraumapatientInnen befinden. Hier empfiehlt es sich, mit den Hilfesuchenden sogenannte Containmenttechniken zu erarbeiten. Man kann 23 Stunden und 55 Minuten mit dem Traumamaterial zu tun haben, sollte sich aber wenigstens fünf Minuten lang „das Zeug vom Hals schaffen“ können, um in dieser Zeit zu lernen, stabiler zu werden. Also wird die Persönlichkeit alle Kraft aufbieten müssen, um anflutende Schrecken in Form von Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Geschmacksempfindungen, inneren Geräuschen wie Schreien oder bedrohlich klingenden Stimmen fünf Minuten lang auf Distanz zu bringen. Durch gezieltes Ablenken bzw. Umgebungswechsel – allein oder mithilfe anderer Menschen; durch (auch inneres Über-)Malen, Aufschreiben; durch das Wegpacken in Tresore oder andere Behältnisse; durch „Sich-runter-Klopfen“ per Klopftechnik; durch die Aktivierung innerer Wächter oder Helfergestalten und die Herstellung innerer sicherer bzw. geborgener Orte, durch das Errichten innerer Barrieren wie Mauern oder Schutzräume, durch das Einsetzen der Screen-Technik, um „Filme“ danach „wegzupacken“ – und andere Portionierungs- und Aufbewahrungsmöglichkeiten, die man mit Betroffenen entwickeln kann. Über kurz oder lang können auch viele mit den Borderline-Skills arbeiten und dazu Apps nutzen wie
dbt112
oder
Body2Brain,
um sich selbst anzuregen, auf Ideen zu kommen und in Notsituationen zumindest vorübergehend Entlastung zu finden. Den Betroffenen selbst kann man mit Erich Kästner nur raten: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.“ Es mag sich anfangs anfühlen, als sei es nicht möglich. Aber es geht kein Weg daran vorbei, selbst anzufangen, die eigene Innenwelt Schritt für Schritt zu verändern, sodass aus einem unwillkürlichen, automatischen ein bewusst gestalteter Wandel werden kann. Andere Menschen sind dazu sehr wichtig, allein schafft man es oft nicht, dranzubleiben. Aber entscheidend wird sein, dass man mit Mini-Schrittchen anfängt, auch wenn man glaubt, dass das nichts bringt. – Es bringt auf Dauer sehr wohl sehr viel.
Es dauert viel zu lange – die Kasse bezahlt das nicht.
Ja, das ist wahr. Dennoch lohnt es sich, jeden Tag darum zu kämpfen, bedarfsgerechte Psychotherapie für die Hilfesuchenden zu erhalten. Oft muss jedoch die Arbeit unterbrochen werden, weil die Kassenstunden auslaufen, und es ist eine stete Auseinandersetzung mit allen Institutionen nötig: Versorgungsämtern (Opferentschädigungsgesetz), Krankenkassen, Pflegekassen etc. Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, zahlt der Fonds sexueller Missbrauch (FSM) eine gewisse Summe, die Betroffene für Therapie verwenden können. Es lohnt sich, die Konditionen aller möglichen Institutionen kennenzulernen, um Betroffene beraten zu können. Auch das bundesweite Hilfetelefon 08000 116 016 hat für das Thema rituelle Gewalt eine Sondernummer (sie nennt sich Berta: 0800 30 50 750) und kann Betroffene und Fachleute beraten.
Wohin kann meine KlientIn, wenn sie vor gewalttätigen Tätern fliehen muss?
Es gibt leider immer noch zu wenig „Weglaufhäuser“ für Kinder oder Unterbringungsmöglichkeiten für Frauen, die – oft zusammen mit ihren Kindern – vor Tätern fliehen. Frauenhäuser nehmen sie nur in Ausnahmefällen auf, denn in ihren Richtlinien steht meist, dass es sich um Häuser für von Partnern misshandelte Frauen handelt, und viele Mädchen und Frauen, die z. B. aus der Zwangsprostitution fliehen wollen, haben keine Möglichkeit, dort unterzukommen. Außerdem sind viele während des Ausstiegs hin- und hergerissen. (Ich habe 2018 das Lesebuch
Der innere Ausstieg
herausgegeben, um darzustellen, dass es verschiedenen Stadien der Auseinandersetzung gibt: „Gehe ich oder bleibe ich? Und was ist in mir / in meinem Innern dazu für ein Durcheinander …?“) Häufig braucht es anfangs eine mehr oder weniger lange Begleitung, bis ein Mädchen bzw. eine Frau (auch: ein Junge bzw. ein Mann) den Ausstieg aus einem zerstörerischen Bindungsgeschehen bzw. der Zwangsprostitution geschafft hat. Sie vorher hektisch in irgendwelchen Einrichtungen unterzubringen, hat meist wenig Zweck, denn viele kehren zu den Tätern zurück. Dennoch kann eine solche Unterbringung vorübergehend sinnvoll sein – dann nämlich, wenn man die „Misshandlungspausen“ nutzen kann, an einer Stabilisierung des Ausstiegswillens und -plans zu arbeiten. Wenn es dafür ein Hilfsbudget gäbe, pro Kopf berechnet, also für jede hilfesuchende Person ein Budget, dann könnte damit einiges an Hilfe bezahlt werden, die für die Betroffenen wirklich effektiv ist. Oft muss während des Ausstiegs phasenweise eine 24-Stunden-Betreuung organisiert werden, da besonders nachts der Druck stark ist, zu den Tätern zurückzugehen. Ja, das Kostenthema ist für viele Menschen tatsächlich entscheidend dafür, wie schnell sie in ihrer Entwicklung vorwärtskommen. Unsere Sozial- und Gesundheitsbehörden könnten dabei wesentlich besser zusammenarbeiten, als das bislang (Stand Herbst 2022) der Fall ist.
Bei komplexem Trauma gibt es unendlich viele traumatisierende Erfahrungen. Soll man sie alle bearbeiten?
Nein, das ist nicht nötig. Wir arbeiten mit den Menschen daran, dass sie verstehen, was mit ihnen geschehen ist, und dass sie daraus lernen, damit sich die Situationen nicht wiederholen, sie nicht unbewusst reinszeniert werden, und auch nicht an die nächste Generation zur Bearbeitung weitergereicht werden müssen. Für die Betroffenen bedeutet das: Sie arbeiten daran, dass ihre Symptome geringer werden. Die werden nie ganz verschwinden, denn jeder extreme Zustand, in dem man einmal war, hat sich eingeprägt. Es kommt darauf an, dass immer mehr zusammenkommen muss, damit man sie noch einmal innerlich erlebt. Umgekehrt heißt das: Je stabiler die Menschen in ihrer Binnenstruktur werden und je mehr sie von ihrer Lebensgeschichte verstanden und die Gefühls- und Körperzustände etc. dazu besser integriert haben und auch besser sehen können, welche Bedeutung die Ereignisse für ihr Leben haben, desto seltener geraten sie „außer sich“. Und was die traumatogenen Ereignisse selbst anbetrifft, so sprechen wir heute davon, dass es vor allem auf die „Hotspots“ (die schlimmsten Momente) und die „Traumanetzwerke im Gehirn“ (die „fallenden Dominosteine“) ankommt. Sie ausreichend zu deaktivieren, damit sie nicht jederzeit wie ein Hier-und-Jetzt-Erleben wahrgenommen und kaskadenartig verschlimmernd erlebt werden müssen, ist das Ziel der Traumabehandlung. Dieses Ziel wird umso leichter erreichbar sein, je weniger „Trauma-Felder“ es gab, also unterschiedliche Umstände, Täter, Gruppierungen, Orte, Zeitpunkte …, die unerträglich schlimm waren. Leider haben nicht wenige komplex Traumatisierte eine Fülle schrecklicher Erfahrungen gemacht. Die Arbeit, sie ausreichend stabil zu halten, kann deshalb auch bedeuten, dass sie ihr Leben lang immer wieder therapeutischer Unterstützung bedürfen. Das ist dann kein Versagen dieser Persönlichkeiten, sondern dem Umstand geschuldet, dass es so viele traumatisierende Ereignisse gab, etwa überwältigende Verlusterfahrungen, schlimme Krankheiten, extreme Gewalt bzw. immer wieder sexuelle Übergriffe. Dennoch gibt es viele Studien, die darauf hinweisen, dass traumazentrierte Psychotherapie bei Komplextrauma für die Betroffenen meist ausgesprochen hilfreich ist (s. die zahlreichen Literaturangaben in den Literaturlisten in
Trauma und die Folgen
und in diesem Band; schmökern Sie ruhig darin).
In meiner KlientIn gibt es so viel Selbstzerstörerisches – was tun?
Selbsthass, täterloyales Denken („Ich bin ja auch eine Nutte / ein Dreckskerl, meine Mutter / mein Vater hatte schon recht“) und täterimitierendes Verhalten (sich oder andere genauso verletzen, wie man verletzt wurde) gehören zu den sehr häufigen Reaktionen eines Menschen auf traumatisierende Ereignisse. Die Erfolgsprognose der Traumabehandlung hängt davon ab, wie weit es der Persönlichkeit gelingt, diese Tendenzen in den Griff zu bekommen. Pi mal Daumen kann man sagen: Je mehr die zerstörerischen Tendenzen Ich-synton, also in die Alltagspersönlichkeit des Menschen übergegangen sind, desto schlechter die Prognose. Glücklicherweise gibt es viele Menschen, die extrem schlecht behandelt wurden und selbst mies mit sich umgehen (vielleicht auch mit ihren Schutzbefohlenen, obwohl sich viele sehr darum bemühen,
nicht
weiterzugeben, was sie selbst erlitten haben), die nicht in ihrem Wesenskern „schlechte Menschen“ geworden sind. Auch wenn sie lange unter den erniedrigenden Gedanken und schlimmen Impulsen leiden, so merkt man unter der Therapie oft, dass diese sich verändern und größtenteils auflösen, sobald ein Gefühl von Zugehörigkeit, Angenommensein und liebevoll begleitet zu werden in ihnen ankommt. Manchmal erst in professionellen Zusammenhängen, dann auf Dauer aber auch in persönlichen Kontakten. Fortschritte kann man u. a. daran erkennen, dass die Hilfesuchenden mit der Zeit immer stabilere FreundInnen bzw. PartnerInnen für sich gewinnen können.
Wann ist eine Therapie zu Ende? Im Grund kann man ja immer weiter arbeiten.
Ja, gerade mit komplex traumatisierten Menschen, die häufig „viele Baustellen“ haben, könnte man oft immer weiter therapeutisch arbeiten. Meine Daumenregel dazu: Wenn möglich, sollte die KlientIn das Ende der Therapie selbst bestimmen. Vielleicht ein wenig sanft „aus dem Nest geschubst“, aber doch aus freien Stücken. Meine Erfahrung ist, dass die meisten das können. Leider manche nur, indem sie am Schluss noch einen Streit inszenieren, um sich empört abwenden zu können (wie es auch Pubertierende nicht selten mit ihren Eltern tun). Aber immer mit der Möglichkeit, zurückzukommen, wenn sie später noch einmal Unterstützung brauchen. Deshalb darf eine gute BeraterIn bzw. PsychotherapeutIn bitte NIEMALS eine sexuelle Beziehung mit einer (Ex-)KlientIn eingehen. Denn der Therapeut oder die Therapeutin wird im Zuge der Nachreifung der KlientIn als Elternersatz angesehen. Häufig waren Elternteile übergriffig. Dann ist die sexuelle „Beziehung“ keine Partnerschaft auf Augenhöhe, sondern ein erneutes Abhängigkeitsverhältnis inzestuöser Art. Außerdem muss die KlientIn ja jederzeit wiederkommen können, vielleicht noch viele Jahre später, denn ein insbesondere in einer langjährigen Psychotherapie entstandenes besonderes Vertrauensverhältnis lässt sich nicht einfach auf andere TherapeutInnen übertragen. Leider wird das Ende der Therapie häufig durch die Finanzierungsfrage bestimmt. Wenn die Kasse nicht mehr zahlt bzw. die KlientIn nicht selbst die Beratungs- oder Therapiekosten aufbringen kann, muss man sich oft mitten im Prozess voneinander verabschieden. Viele TherapeutInnen versuchen diese unbefriedigende Situation abzumildern, indem sie die KlientIn dann in eine Klinik empfehlen. Doch zum einen sind Klinikplätze rar, zum anderen möchten die KollegInnen in den Kliniken nicht, statt inhaltlich mit einer KlientIn arbeiten zu können, die Trauerprozesse bearbeiten müssen – um die KlientIn dann in eine Situation ohne ambulante Anbindung entlassen zu müssen. Das ist also auch keine Lösung. Daher empfehle ich, die Finanzierungsfrage immer im Blick zu behalten, sie offen zu diskutieren und der Hoffnung der KlientIn auf eine vielleicht kostenfreie Weiterbehandlung eine klare Absage zu erteilen. Traumabehandlung ist eine Arbeit, die hochqualifizierte Kenntnisse erfordert. Sie kann und wird nicht kostenfrei sein. Was jedoch immer möglich ist: Eine bestimmte „Portion“ zu arbeiten. Ein bestimmtes realistisches Ziel in der Behandlungsplanung anzupeilen. Dafür aber muss man auch eine Behandlungsplanung, gemeinsam mit der KlientIn / PatientIn, erarbeitet haben! Wie man das macht, auch das wird in diesem Buch beschrieben, und ich verweise auch auf weitere Bücher von mir, auf
Viele sein, Der Feind im Innern
und
Multiple Persönlichkeiten,
aber auch auf gute Bücher von anderen Kolleginnen, etwa von Susanne Leutner & Elfie Cronauer, Alice Romanus-Ludewig oder Verena König – Sie finden sie alle im Literaturverzeichnis.
Traumabehandlung ist ein vielgestaltiger Prozess, und wenn dann noch die Persönlichkeit sehr vielgestaltig ist und komplexe Traumastörungen vorliegen, wird sie ein großes Abenteuer. Dennoch möchte ich Sie ermutigen, es anzugehen. Als Betroffene, weil Sie sich niemals mit den schlechten Verhältnissen begnügen sollten. Als KollegInnen, weil sie unendlich viel lernen werden: Darüber, was ein Mensch alles überleben kann, wie ein Mensch sich anpasst an unerträgliche Lebensumstände; wie diese Anpassungsstrategie irgendwann förmlich „Amok läuft“ und veränderungsbedürftig wird; welche Kompensations- und Selbsthilfeversuche jemand schon unternommen hat; was davon brauchbar und gewaltfrei war und bleiben kann und welche neuen Strategien und Wege sich finden lassen. Letztlich bleibt eine Psychotherapie im besten Fall eine Begegnung zwischen zwei Menschen von Herz zu Herz, mit allen Kompetenzen, die beide mitbringen. Eine Begegnung, die darüber entscheidet, ob eine Traumabehandlung gelingt oder nicht bzw. wie weit sie gelingt. Wenn Sie KollegIn sind, werden Sie erleben, dass gerade komplex traumatisierte Menschen Sie in einer Weise herausfordern, wie kaum je ein Mensch Sie herausgefordert hat. Und Sie werden sich selbst während dieses Prozesses verändern. Sollten Sie Burnout-Gefühle bekommen, ist das phasenweise absolut normal, denn die Arbeit ist langwierig und anstrengend. Holen Sie sich bitte Unterstützung bei KollegInnen, damit Sie Ihre Familienmitglieder und Freundschaften nicht mit Ihren „Gruselschilderungen“ und deren Folgen wie Reizbarkeit, Schlafstörungen etc. überfordern. Die Belohnung Ihrer Mühe besteht in Ihrem eigenen Persönlichkeitswachstum, während Sie in Ihrer Arbeit einen großen Garten pflegen, in dem Lebendiges heilt und wächst. Heilewächst, wie es eine meiner Klientinnen einmal ausgedrückt hat. Und diese Erfahrung kann sehr beglückend sein.
Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für dieses Abenteuer.
Portugal im Herbst 2022
Michaela Huber
„Menschen, die ein Trauma zu bewältigen haben, fühlen sich oft hilflos und von Umständen überwältigt, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Wir werden als auf immer geschädigte Menschen angesehen (und sehen uns auch selbst so) – als ‚Überlebende‘ …“ (Linda B. Jones)
„Es ist eine wirklich destruktive Einstellung, zu denken, dass PTBS eine Störung ist. Wir verstehen es grundlegend falsch, wenn wir glauben, es sei ein Zeichen dafür, dass die Betroffenen gebrochen sind. Es ist ein Zeichen für den Drang zu überleben.“ (Mary Catherine McDonald in Blakemore 2020)
„Für den Stellenwert therapeutischer Verfahren zur Linderung oder Heilung posttraumatischer Belastungsstörungen ist grundsätzlich festzuhalten, dass es unrealistisch ist, zu hoffen, dass durch eine Psychopharmakotherapie oder durch eine Psychotherapie in irgendeiner Art und Weise das traumatische Ereignis aus dem Leben und aus der Erinnerung des Betroffenen beseitigt werden kann. Es geht vielmehr immer darum, dass die Betreffenden in die Lage versetzt werden, adäquat mit den belastenden Erlebnissen umzugehen und sich entsprechend ihres Lebensentwurfes auch darauf einzustellen.“ (Steffen Haas)
Wer Opfer eines seelischen Traumas geworden ist, befindet sich oft lange im Status des „Überlebenden“. Und Linda Jones hat recht: Von vielen Menschen werden Überlebende so betrachtet, als hätten sie eine Krankheit, auf die sie sich „adäquat einzustellen“ hätten, ähnlich, wie man sich nach einem körperlichen Trauma etwa auf eine Behinderung einstellen muss. Entsprechend drastisch fallen auch oft die psychischen Diagnosen nach Extremstressereignissen aus. Wer Überlebende/r von Langzeittraumata ist, bekommt nicht selten solche Diagnosen zugeschrieben wie „Borderline“ oder andere „Persönlichkeitsstörungen“, wie denn überhaupt oft von Störungen die Rede ist: depressive Störung, Angststörung, dissoziative Störung, posttraumatische Störung, komplexe posttraumatische Störung … – Und in der Krankenakte sieht es so aus, als sei diese Person eo ipso irreparabel geschädigt, wobei die Ursache aus dem Blickfeld gerät. Dabei ist sie doch „nur“ traumatisiert.
Was heißt „nur“: Sie ist gezwungen worden, extreme Abwehr gegen extremen Stress auszuprägen. Bei den Überlebenden von frühen Traumata bedeutet dies: Sie sind von Kindesbeinen an gezwungen worden, wieder und wieder Gewalt, seelische Quälereien oder körperliche Torturen durch nahe Angehörige, später vielleicht durch Freunde, Partner, Fremde zu erdulden, weit mehr, als ein Gehirn und ein Organismus gesunderweise verkraften können. Und das hatte gravierende Folgen. Aber sind sie deswegen irreparabel geschädigt? Oder lassen sich nicht doch die Folgen der seelischen Traumata durch sorgfältige Behandlung so verändern, dass aus Trauma-Überlebenden „Neurotiker wie du und ich“ werden, also Menschen, die zwar Leid und Probleme kennen, aber Wege finden, damit umzugehen?
Vielleicht ist manchmal beides richtig, mal mehr das eine, mal mehr das andere. Die Bedingungen, unter denen mehr positive Veränderungen möglich sind, werden in diesem Buch genauer betrachtet.
In einem jedoch hat Steffen Haas sicher recht: Ein Trauma „lässt sich nicht beseitigen“. Es geht nicht weg. Es kann nur, wie wir heute wissen, durch adäquate traumazentrierte Behandlungsmethoden im Hirnstoffwechsel zu Veränderungen kommen, sodass das Trauma auf eine neue Art „metabolisiert“ wird. Es ist dann so, als würde man einen Tropfen Gift im Ozean auflösen, statt weiterhin eine Art „undichte Giftphiole“ mit sich herumzutragen.
In Band 1 wurden die neurophysiologischen Prozesse während eines Traumas genauer beschrieben. Der entscheidende Abwehrmechanismus des Gehirns im Moment der Traumatisierung ist Dissoziation. In der individuellen Wahrnehmung erleben die Traumaopfer im Augenblick der seelischen Todesnähe eine Art „Zerspringen des Spiegels“ – sie verlieren den raumzeitlichen Bezug, erleben sich als entfremdet von sich und anderen; später leiden sie dann, wenn es ihnen nicht gelingt, das Trauma innerhalb weniger Wochen zu integrieren, unter Gedächtnislücken, Körpersymptomen, sozialem Rückzug, Schreckreaktionen …
Dissoziation ist dazu da, Erkenntnis zu verhindern.
Erkenntnis, die von entscheidenden Schaltzentralen in unserem Gehirn – und zwar solchen, die nichts mit unserem bewussten Denken zu tun haben – als „zu gefährlich“ eingeschätzt wurde. Die primäre Dissoziation während einer traumatischen Einwirkung verhindert die fundamentale Erkenntnis:
„Es geschieht jetzt das absolut Unaushaltbare, und es geschieht mir.“
Da diese Erkenntnis vom limbischen System in Zusammenarbeit mit dem Stammhirn und anderen Schaltzentralen in den „unteren Regionen des Gehirns“ automatisch verhindert wird, um sein Selbst zu schützen, entsteht ebenso automatisch eine Spaltung zwischen „Ja – es ist passiert“ und „Nein – das ist nicht wahr“. Und dann folgen unter Umständen sekundäre und weitere Dissoziationsformen und Spaltungen, wie sie in Band 1 ausführlich beschrieben wurden.
Ein unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidender traumatisierter Mensch hat aus Selbstschutz eine Reihe von Symptomen entwickelt, die große Auswirkungen auf sein weiteres Leben haben. Dazu gehören nicht nur Flashbacks (Wiedererleben), Einschränkung (z. B. Depressionen) oder Übererregung (etwa plötzliche Wutausbrüche). Sondern er hat in seiner Persönlichkeit auch sehr oft eine tiefere Spaltung entwickelt, in alltagsorientierte Selbstzustände und in Zustände, die Elemente des Traumas spiegeln. Wollen wir das Trauma behandeln, dann bekommen wir es mit diesen dissoziativen Prozessen zu tun, mit deren Hilfe sich das Gehirn des traumatisierten Menschen bislang geholfen hat. Vor allem eine fundamentale Spaltung ist es, die Traumatisierten oft lebenslang zusetzt, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Trauma zu integrieren:
Abbildung: Dissoziation
Harvey Schwartz (2000) nennt diese Spaltung die „Illusionen von ‚Nicht-Ich‘ und ‚Nur-Ich‘“. Die Illusion des „Nicht-Ich“ ist verbunden mit Vorstellungen wie:
„Es ist nicht passiert.“
„Ich war nicht dabei.“
„Es ist ihr passiert, nicht mir.“
„Es ist zwar passiert, aber es hat mir nichts ausgemacht.“
„Es ist zwar passiert, aber ich habe es längst überwunden.“
Letzteres ist natürlich nur dann eine Illusion, wenn man das Trauma lediglich „weggedrückt“, aber nie wirklich angeschaut hat. Viele Menschen sind nach traumatisierenden Erfahrungen wie Kriegen, Unfällen, Vergewaltigungen oder einer Kindheit voller Misshandlungen der Meinung: „Das hat mir gar nichts ausgemacht, da hab ich mich einmal geschüttelt, und das war’s.“ Leider stimmt so etwas, wie wir wissen, nicht. Denn wie der französische Psychiater Pierre Janet schon um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert sagte, ist, wer ein Trauma nicht „realisiert“ – also als wahr anerkennt und die Bedeutung des Traumas für sein Leben verstanden hat –, gezwungen, das Erlebte mit anderen zu wiederholen oder zu reinszenieren. Und, wie Judith Herman (2018) sagt, taucht dann das Trauma in der weiteren Lebensgeschichte der Betroffenen nicht als zusammenhängende Erzählung auf wie: „Das und das ist passiert, so hat es angefangen, das war besonders schrecklich, so und so ist es zu Ende gegangen; aber ich habe es überlebt, und jetzt habe ich es auch überwunden, auch wenn mich die Erinnerung daran noch schmerzt.“ Meistens taucht es gar nicht als Erzählung auf, weil darüber geschwiegen wird – dafür aber als Symptom, als Angststörung zum Beispiel, oder als Alkoholabhängigkeit, als Depression oder (psycho-)somatische Erkrankung. Oder wird reinszeniert mit den eigenen Kindern, Enkeln etc. als transgenerationales Trauma (Huber 2018, Mucci 2019, Narayan 2021, Rauwald 2020).
Die Illusion des „Nur-Ich“ dagegen ist verbunden mit Vorstellungen wie:
„Ich bin schuld, dass es passiert ist.“
„Hätte ich nur … (besser aufgepasst, einen Umweg genommen …) oder wäre ich nur … (hübscher, weniger hübsch, klüger, dümmer, besser in Kampfsport, besser im Totstellen …), dann wäre es nicht geschehen.“
„Da komme ich nie drüber weg.“
„Ich habe freiwillig mitgemacht.“ (Denn ich mochte den / war verliebt in den Täter; versuchte ihn mit meinem Charme unter Kontrolle zu halten; habe ja blöderweise mit ihm geredet; hab ihm nicht die Tür vor der Nase zugemacht; bin ja mitgegangen etc.)
„Ich habe es ja so gewollt.“ (Was verliebe ich mich auch in so einen; habe ihn ja auch provoziert; hab ja die Zimmertür nicht abgeschlossen; was muss ich auch nachts auf die Straße gehen; habe es verdient; wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um …).
„Ich bin auch so eine.“ (Bin böse, schmutzig, unberechenbar, voller Hass, könnte um mich schlagen; bin keinen Deut besser als die da; wahrscheinlich muss man genau so sein, um durchzukommen …).
Tatsächlich ist die KlientIn, wenn wir das Beispiel der Überlebenden von sexualisierter Gewalt gegen Kinder bzw. die Misshandlung von Frauen nehmen, von denjenigen verraten und verletzt worden, denen sie am meisten vertraute und die sie am meisten brauchte. Sie konnte zum Zeitpunkt der Traumatisierung nichts – nichts! – anderes tun, als letztlich zu kapitulieren. Sonst wäre es kein Trauma geworden, sondern „nur“ ein belastendes Lebensereignis, denn sie hätte noch rechtzeitig dagegen ankämpfen oder davor fliehen können, wirklich traumatisiert zu werden. Stattdessen konnte sie lediglich eine Art erzwungener Komplizenschaft mit dem Täter oder der Täterin eingehen und sich in seiner / ihrer Gegenwart nur unter dem Bann bewegen, ihr oder ihm ausgeliefert zu sein; einen freien Willen, der diesen Namen verdient hätte, gab es ebenso wenig wie freiwillige Handlungen. Sondern es kam zu einer erzwungenen Änderung der eigenen Moral und einer Spaltung im oben genannten Nicht-Ich- und / oder Nur-Ich-Sinne (siehe Kapitel 14 über Täter-Opfer-Spaltung). Dies zu erkennen ist bitter – und es ist der Anfang der Befreiung.
„Das Unaushaltbare ist tatsächlich passiert, und ich konnte nichts dagegen tun. Es war schrecklich. Es ist dort und damals geschehen. Jetzt ist es vorbei. Ich lerne daraus, damit es mir möglichst nie wieder passieren kann. Und ich bin daran gereift. Jetzt kann ich das Trauma loslassen, denn ich bin längst nicht mehr Opfer und mehr als Überlebende/r: Ich bin ein tief empfindender Mensch voller Kraft. Die überstandene Todesnähe hat mir gezeigt, worauf es für mich im Leben ankommt.“
So könnten wir die entscheidenden Erkenntnisse eines traumatisierten Menschen nach einer geglückten Integration des Traumas zusammenfassen. Was nicht heißt, dass dann „alles gut“ ist. Aber dass das Trauma nicht mehr abgespalten, sondern Bestandteil der eigenen Biografie geworden und man daran gereift ist. Das klingt so attraktiv – warum gehen dann so viele traumatisierte Menschen sehr lange diesen Weg der Integration nicht? Warum brauchen sie körperliche Behandlungen, Psychotherapien gegen diese oder jene Störung, Physio – ohne wirklich gesünder zu werden? Warum brauchen sie gute, traumazentrierte Psychotherapien, um von ihrem Trauma zu genesen, oder andere sehr koordinierte und bewusste Wege des „Durcharbeitens“, weil es sonst nicht besser wird?
Versuchen wir einige Antworten auf diese Frage, und vermeiden wir dabei, die Persönlichkeit eines traumatisierten Menschen, der diverse Symptome entwickelt hat, als „einfach gestört“ zu betrachten. Die naheliegendsten Antworten sind dann: Weil traumatisierte Menschen zu jung oder zu überwältigt waren, als „es“ passierte, um allein damit fertigzuwerden. Und / oder weil niemand mit ihnen darüber sprach, niemand sie in ihrem Leid damals sah, ernst nahm und herausforderte, sich mit dem Trauma zu beschäftigen. Weil sie leider gelernt haben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Weil sie es „wegdrückt“ haben, als sie zu klein oder zu schwach waren, und später dann nicht mehr wissen, dass ihr seelisches Leid mit den konkreten Lebenserfahrungen von damals zusammenhängt, die sie nicht ausreichend verarbeitet haben. Weil sie Angst haben – es war doch unaushaltbar, es gab doch erst einmal die automatische Aufsplitterung und die Entfremdungserlebnisse; tief im Innern schwärt die Wunde weiter, und die Angst sagt: „Nähere dich dem Thema nie wieder, vergiss es, es war einfach zu schrecklich.“
Und dann, besonders bei komplexen Traumatisierungen, mag auch eine Abwärtsspirale entstehen. Durch das chronische „Weghalten der Erkenntnis“ entstehen weitere Symptome, die wiederum schwächen: Süchte, Zwänge, Depressionen, Persönlichkeitsspaltungen, Wutdurchbrüche, Todessehnsucht, wiederholte Beziehungsabbrüche … Dann mag das Unbewusste erst recht sagen: „Das schaffst du nicht, da noch mal dranzugehen (ans Trauma)! Lass es!“ Schon nach einmaligen Traumatisierungen ist eine Person oft völlig verstört. Nach langjährigen, komplexen Traumatisierungen hat sie inzwischen gelernt, in die „Umwege“ zu investieren, die sie machen musste und weiterhin macht, um sich ihr Trauma „vom Hals zu halten“.
Wenn jemand zu uns in Behandlung kommt, ist es für uns TraumatherapeutInnen wichtig, die Gründe kennenzulernen, weshalb es bislang nicht möglich schien, das Trauma zu integrieren. Wenn wir nämlich gemeinsam mit der KlientIn mit dem Trauma etwas anderes tun wollen als das, was wir bislang getan haben, bekommen wir es – und das umso mehr, je länger die Traumatisierung her ist – mit den vielfältigen Abwehrmechanismen der gesamten Persönlichkeit des oder der Betroffenen zu tun. Denn eines ist allen Menschen klar: Ein (und sei es noch so prekäres) Gleichgewicht zu halten ist besser, als zusammenzubrechen. Hier verwende ich gern eine Metapher: Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein Tablett mit lauter leeren, halbvollen und vollen Wassergläsern auf einem Schwebebalken balancieren. Und die TherapeutIn sagt zu Ihnen: „Und jetzt schütten Sie bitte etwas von der Flüssigkeit im Glas hinten links in das leere Glas vorne rechts.“ Je prekärer das Gleichgewicht ist, desto mehr wird es gegen Veränderung verteidigt. Wer ein Trauma erlebt hat, klammert sich instinktiv an die Überzeugung: Immerhin hat man es bis hierher so geschafft; jede Veränderung des Status quo könnte einen (endgültig) abstürzen lassen. Wir BehandlerInnen werden also gut daran tun, diesen Widerstand nicht zu durchbrechen. Sonst würden wir uns ja benehmen wie ein (erneuter) Täter.
Doch was sollen wir stattdessen tun? Da kommt jemand in Behandlung und leidet unter Symptomen, von denen ich eben einige aufgezählt habe. Diese wiederum verbergen sich häufig hinter akuten Krisen in der Partnerschaft oder Schule, am Arbeitsplatz oder mit den Kindern. Eine komplex traumatisierte Person hat wahrscheinlich schon eine Fülle von Kontakten mit dem Gesundheitswesen gehabt: Sie war bei Beratungsstellen, Ärzten, im Krankenhaus, vielleicht in der Psychiatrie, und möglicherweise sind wir auch bereits die x-te psychotherapeutische Anlaufstelle für sie. Bislang hat nichts so richtig geholfen. Warum sollte ausgerechnet eine traumazentrierte Psychotherapie helfen?
Die vielleicht größte Hürde wird sein, eine verlässliche Arbeitsbeziehung miteinander aufzubauen. Dabei werden wir in so manche Beziehungsfalle tappen, aber wenn wir als BehandlerInnen erfolgreich sein wollen, dürfen wir letztlich nicht auf das hereinfallen, was eine KlientIn – besonders, wenn sie früh traumatisiert wurde – so alles veranstaltet, um uns unter Kontrolle zu bekommen oder zu beweisen, dass nichts hilft als das, was sie bisher schon gemacht hat:
Sie wird uns idealisieren: „Sie sind toll, und Sie sind meine letzte Rettung.“
Sie wird uns erpressen: „Wenn das hier nichts bringt, bringe ich mich um.“
Sie wird uns entwerten: „Sie verstehen gar nichts, Herr Dr. X war viel besser als Sie.“
Sie wird sich uns unterwerfen, mit uns flirten, sich uns auf alle erdenkliche Weise anbieten und dabei nonverbal zum Ausdruck bringen: „Nimm mich und mach mit mir, was du willst.“
Sie wird sich einfühlsam nach unserem Befinden erkundigen und versuchen, sich „nützlich“ zu machen.
Sie wird mit uns in Konkurrenz gehen oder uns „von oben herab belehren“.
Sie wird eine aggressive Opferhaltung einnehmen und sich weigern, selbst für sich die Verantwortung zu übernehmen („Immer soll ich etwas tun, dabei ist mir doch so übel mitgespielt worden. Diese Gesellschaft ist mir was schuldig …“).
Sie wird sich selbst entwerten („Ich bin der letzte Dreck“) oder Täterverhalten uns gegenüber zeigen: „Arschloch“ …
Sie wird zu den unmöglichsten Situationen „Rückfälle bauen“: Immer, wenn wir denken, sie hat wirklich Fortschritte gemacht …
Umgekehrt werden wir oft genug versucht sein, uns ethisch fragwürdig zu verhalten – der Schritt von der notwendigen originell-kreativen Arbeit zur Übergriffigkeit scheint rasch gegangen; keine KlientInnen-Gruppe leidet so unter Fehlverhalten von TherapeutInnen wie komplex traumatisierte Personen. Wenn wir …
versuchen, sie „mit drei Griffen auf die Matte zu legen“;
entwertende Deutungen, Kommentare, Diagnosen, Arztberichte schreiben;
wenn wir uns privat mit ihr einlassen: mit ihr Kaffee trinken gehen, uns mit ihr anfreunden, gar eine sexuelle Beziehung mit ihr eingehen;
wenn wir sie für uns arbeiten lassen;
wenn wir ihr unsere persönlichen Sorgen und Nöte erzählen;
wenn wir ihr alle nötigen Schritte der Selbstständigkeitsentwicklung abnehmen: Behördenanrufe und -gänge für sie (statt mit ihr oder sie darin unterstützend) erledigen, ihr Geld leihen, an ihrer statt mit ihrer PartnerIn Krisengespräche führen etc.
… dann handeln wir unethisch, und dies scheint öfter vorzukommen, als das viele für möglich halten.
Was ich jetzt für TherapeutInnen aufgezählt habe, gilt in entsprechend abgewandelter Form natürlich auch für BeraterInnen und andere Helferberufe, Angehörige und FreundInnen.
Also noch einmal: Was tun?
In diesem Band werden Sie einige „Wege der Traumabehandlung“ kennenlernen, vor allem jene, die sich als gangbar, als sinnvoll und nützlich auch und gerade für langzeit-traumatisierte Menschen erwiesen haben. Bislang. Sie harren der Ergänzung, Erweiterung, und sie brauchen die kreativen (Neu-)Entwicklungen, die Sie als Betroffene/r und Sie als professionelle HelferIn hinzufügen können.
Erfolgreiche traumazentriert arbeitende PsychotherapeutInnen setzen weder darauf, KlientInnen zu ermutigen, „die schrecklichen Gefühle einfach aus sich rauszulassen“ – weil sie sonst mit komplex Traumatisierten eher im Orkus der Dekompensation landen –, noch bemühen sie sich, dauerhaft „den Deckel draufzuhalten“, was nur dazu führen wird, dass ihnen die „heißen Emotionen“ zwischendurch einfach um die Ohren fliegen. Erfolgreiche TraumatherapeutInnen verwenden eher nicht die labor-experimentellen Kurztherapien, wie sie gern von unseren universitären KollegInnen als „evidence-based“ (wissenschaftlich überprüft) bezeichnet und angepriesen werden. Nur unter laborexperimentellen Bedingungen lassen sich wissenschaftliche Studien an TraumapatientInnen in einem überschaubaren Zeitraum durchführen. Doch solche therapeutischen Interventionen, wie sie aus Laborversuchen stammen, taugen für komplex traumatisierte und hoch-dissoziative Menschen meist wenig. Es sind vielmehr solche therapeutischen Schritte und Interventionen nötig, die …
bei Langzeittrauma in einen längerfristigen Arbeits- und Entwicklungsprozess integriert werden können;
emanzipatorisch sind, also dabei helfen, sich aus Abhängigkeiten zu befreien – auch der therapeutischen;
gute therapeutische Arbeitsbeziehung fördern, die auf empathischer Abstinenz seitens der TherapeutIn beruht, also einerseits solidarisch sein sollte, während sich die BehandlerIn andererseits nicht in die Fallstricke, wie sie oben skizziert wurden, verwickeln lässt;
kreativ und manchmal ungewöhnlich sind, denn bei unserer Klientel sind Ausnahmen die Regel;
auf den Ressourcen und den besonderen Fähigkeiten der Klientenpersönlichkeit aufbauen und individuell auf sie zugeschnitten werden;
dem Klienten / der Klientin die gezielte Distanzierung von Traumamaterial ermöglichen und erst dann die Durcharbeitung fördern;
Exposition (also die Konfrontation mit dem Trauma selbst) so selten und so kurz wie möglich halten – viel kürzer, als das früher oft für nötig gehalten wurde;
adäquate Trauerprozesse und die Loslösung von alten Mustern oft jahrelang geduldig begleiten (siehe Shah & Weber 2016).
Ausgewählt habe ich bewährte therapeutische Methoden, die von vielen Hundert KollegInnen in Deutschland sowie insgesamt Tausenden im europäischen Ausland sowie weltweit, besonders in sogenannten westlichen Industriestaaten, angewandt werden. Natürlich werde ich Studien erwähnen und Ihnen eine Literaturliste zur Verfügung stellen, in der Sie weitere Hinweise finden (wie schon gesagt: in Trauma und die Folgen finden Sie weitere Literaturangaben). Doch es bleibt nach wie vor noch viel zu tun, vor allem müssen wir Langzeitstudien durchführen, die zeigen, wie bestimmte therapeutische Methoden und Interventionen bei komplex traumatisierten Menschen langfristig helfen, wie viele Kosten sie dem Gesundheitswesen ersparen und welche Lebensqualität sie vermitteln können (siehe u. a. Brzank 2009, Gleaves 2000, Hase et al. 2013, Huber et al. 2019, Watkins 2018). Das größte Problem bleibt die Kassenfinanzierung, denn sie entscheidet darüber, wie viele Menschen sich wirklich sorgsam darum kümmern können, ihre Schreckenserfahrungen zu verarbeiten. Johanna Sommer und die von ihr gegründete Initiative Phoenix1 haben nicht nur eine Petition aufgelegt, in der nach „bedarfsgerechter Psychotherapie bei Komplextrauma“ verlangt wird2, sondern auch mehrere Veröffentlichungen zu Umfragen der Initiative vorgelegt, die den Bedarf nachweisen (siehe Sommer 2016); eine Nachfolgestudie wurde 2022 begonnen. Es gibt weitere Initiativen von KollegInnen, etwa eine, die sich (Stand März 2022) mit dem Thema Kassenfinanzierung3 kritisch und beratend beschäftigt oder eine andere, die sich politisch für eine „Agenda bedarfsgerechte Versorgung4“ einsetzt. Diese Initiativen zeigen auf, wie lückenhaft die Versorgung ist. Umso mehr sollten wir alle diese Anstrengungen unterstützen, da wir den Rücken breit machen müssen für unsere KlientInnen, die sich häufig nicht selbst äußern können.
Nun weiter zum grundsätzlichen Ablauf, zu den Stadien der Traumabehandlung, die sich in wenigen Stichworten beschreiben lassen (mehr dazu in Anhang 1):
Stadien der Traumabehandlung
A. Basics:
Keine weitere Traumatisierung! Ggf. Ausstiegsbegleitung aus destruktiven Bindungen;Basale Grundfunktionen aufbauen bzw. erhalten: essen, trinken, sich nicht extrem verletzen; keine ernsthaften Suizidversuche;Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen therapeutischen Arbeitsbeziehung.B. Stabilisierung:
Aufbau von Affektmodulation und Affektkontrolle (Selbstverletzung, Suizidalität etc. „harmloser“ werden lassen bzw. steuern);Täterimitierende Gedanken, Impulse, Anteile kennenlernen und respektvoll in die Therapie einbeziehen, ohne dass diese zu viel Dominanz erlangen;Selbst-Rückgriff auf Ressourcen erlernen;Ich-Struktur und soziales Netz aufbauen;Erlernen von Selbstfürsorglichkeit und Fürsorglichkeit für Schutzbefohlene, auch in Stresssituationen;Aufbau von Beziehungs- und Konfliktfähigkeit;Berufstätigkeit oder andere sinnvolle Tätigkeit.C. Distanzierung von Traumamaterial:
u. a. durch Erlernen imaginativer Hilfstechniken wie sicherer Ort, Tresor, Bildschirmtechnik.
D. Durcharbeitung des Traumas durch Exposition:
Mithilfe der Bildschirmtechnik als Traumasyntheseund / oder durch EMDR.E. Während des gesamten Prozesses von A bis D:
Integration, Trauerarbeit und Wiederanknüpfen an vortraumatische Stärken.
Nun hätte ich es mir einfach machen und diese Punkte von vorne nach hinten „abarbeiten“ können. Doch so einfach ist es in Wirklichkeit nicht. Da fängt man an und will erst einmal sorgfältig Diagnostik machen – schon muss man sich mit den entsetzlichen Albträumen, den Flashbacks und Süchten der KlientIn herumplagen, mit ihren Impulsdurchbrüchen, Selbstverletzungen und Krisen en masse. Man möchte erst eine gute Arbeitsbeziehung aufbauen – doch die Klientin bleibt misstrauisch, taumelt von Drama zu Drama, fasst zaghaft etwas Zutrauen, gefolgt von dicken therapeutischen Beziehungskrisen, und unterdessen verlangt der Krankenkassengutachter einen Fortsetzungsbericht, in dem die Therapiefortschritte schlüssig begründet werden sollen, damit er eine Handvoll weiterer Stunden genehmigt … Was ich hier so tragikomisch beschreibe, ist für viele KollegInnen ganz normaler therapeutischer Alltag.
Der Großteil unserer TraumapatientInnen besteht nämlich aus langzeittraumatisierten Frauen, die genau solche Probleme mitbringen. Aus diesem Grund auch verwende ich grundsätzlich die weibliche Form mit großem „i“: Sowohl die Patienten als auch die Behandler (jedenfalls, wenn wir Berater, Ergotherapeuten und andere helfende Berufe hinzunehmen) sind nämlich mehrheitlich weiblichen Geschlechts. Männliche Leser mögen sich bitte mitgemeint fühlen – Unterschiede werden in Kapitel 11 beschrieben.
Meine Bucheinteilung folgt der Logik, Ihnen die Grundlagen zum Thema „Trauma und die Folgen“, einschließlich einiger Hinweise zur Diagnostik, in Band 1 zu liefern und in diesem Band die wichtigsten Fragen zu beantworten, die Menschen – Betroffene, Angehörige und KollegInnen – zum Thema Traumatherapie stellen. Sie werden alle Punkte aus der oben genannten Liste ausführlich in diesem Buch beschrieben finden, wenn auch in sehr unterschiedlichen Kapiteln sowie in den Anhängen. Daher empfehle ich Ihnen, bei Bedarf das Stichwortverzeichnis heranzuziehen, um sich gezielt Buchstellen herauszusuchen. Die verwendete Literatur habe ich, bis auf wenige Ausnahmen, aus dem Text herausgenommen, um der Lesbarkeit willen. Im Anhang finden Sie eine Literaturliste; weiterhin eine sehr umfangreiche Literaturliste zu allen Grundlagenthemen der Psychotraumatologie in Band 1.
Auch in zwei Bänden lässt sich natürlich bei Weitem nicht genug sagen über das komplexe Thema Trauma und Traumabehandlung. Daher einige Worte zu dem, was Sie nicht oder nicht ausreichend hier finden können: Es fehlt eine Auseinandersetzung mit Kurzzeittherapien nach Monotrauma; mein Metier sind eher die Langzeittraumatisierungen. Es fehlt weiterhin eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Psychopharmakologie bei Traumatisierungen; Sie finden einige Hinweise in verschiedenen Kapiteln; mir scheint, dass es bei Weitem noch nicht genug Studien gibt, in denen die Vor- und Nachteile einer pharmakologischen Traumabehandlung, besonders bei früh Traumatisierten, ausreichend und langfristig dokumentiert wären. Und schließlich habe ich die spezifischen Therapieansätze für Kinder und Jugendliche nur rudimentär berücksichtigt; ich selbst bin Erwachsenen-Psychotherapeutin, auch wenn ich die Arbeiten von Dagmar Eckers (2003), Bob Tinker & Sandra Wilson (2006), Thomas Hensel (2006) zu EMDR bei Kindern und Jugendlichen gern wahrgenommen und immer wieder Kolleginnen wie Anne Schmitter-Boeckelmann (2018), Katja Paternoga (2018a), Jacqueline Schmid (2011, 2013) oder andere in meinen Sammelbänden zu Artikeln über ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingeladen habe; auch wenn es einige neuere Arbeiten gibt wie die von Hiller & Hensel (2019) oder Reich (2022) und ich die dort dargestellten Therapieformen mit großem Interesse verfolge. Gern unterstütze ich KollegInnen, die mit Kindern arbeiten, in ihrer Arbeit supervisorisch, doch ich habe festgestellt, dass es mir das Herz bricht, wenn ich ein Kind wieder in unerträgliche Verhältnisse zurückkehren lassen muss, sodass ich mich darauf konzentriere, mit Jugendlichen und Erwachsenen zu arbeiten, die ich motivieren kann, diese Verhältnisse zu verlassen. Was nichts an meiner Bewunderung für die KollegInnen ändert, die sich geduldig um die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bemühen! Sehr gute Literatur über die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen finden Sie u. a. hier: Gil 2013, Krüger & Reddemann 2007, Krüger 2012, Landolt & Hensel 2012, Reich 2022, Sage et al. 2016, Steele & Malchiodi 2011, Weinberg 2017 – um nur einige zu nennen.
So sehr ich mich darüber freue, wenn Betroffene meine Bücher lesen – hier wie immer mein Warnhinweis: Ich habe mich bemüht, viele „Trigger“ (Auslöser für mögliche Erinnerungs-Flashs) wegzulassen; dennoch sind manche Passagen sicher schwer zu verkraften, wenn man ähnliche Traumatisierungen erlebt hat, daher habe ich sie kursiv drucken lassen.
Eine große Ermutigung möchte ich Ihnen allen bei der Lektüre mit auf den Weg geben: Es lohnt sich. Für Sie als Überlebende/r lohnt es sich, eine Traumatherapie zu machen, um von Symptomen zu genesen und in der gesamten Persönlichkeit zu reifen. Es wird darauf ankommen, den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden, denn nicht immer, wenn man in Not ist, braucht man sofort eine Traumatherapie, sondern erst, wenn man schon etwas mehr Energien bündeln kann, sich mit dem eigenen Innenleben und dem „Früher“ auseinanderzusetzen. Suchen Sie auf jeden Fall nach mehreren Menschen, die Sie privat wie professionell unterstützen könnten: nette Bekannte, eine Freundin, vielleicht Ihr Partner oder Ihre Partnerin – wenn diese Menschen keine TäterInnen an Ihnen sind. Suchen Sie vielleicht auch nach guten ÄrztInnen, die Ihnen helfen, alle möglichen Dinge zu beantragen, die Sozial- bzw. Krankenkassen heute für Menschen in Not bezahlen. Das reicht von Logo–, Physio- und Ergotherapie bis hin zum persönlichen Budget, das Ihnen ermöglicht, sich Ihre HelferIn auszusuchen, die Sie dann selbst bezahlen. Es reicht von Beratung (auch Schuldnerberatung!) über diverse Formen möglicher Betreuung bis zur Feststellung eines Schweregrads der „Behinderung“ bzw. Pflegestufe. Und nicht in jedem Fall ist eine Psychotherapie die erste, sondern manchmal auch die zweite oder sogar dritte Wahl …
Für Sie als PsychotherapeutIn lohnt es sich, Traumatherapie zu lernen, weil Sie dann effektiver helfen können, auch solchen Menschen, die vorher als „hoffnungslose Fälle“ galten – und weil es ein wunderbarer, intensiver Veränderungsprozess ist, der Sie selbst mit einschließt.
Für Sie als Angehörige/r anderer helfender Berufe, als PartnerIn oder FreundIn von Betroffenen lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, weil Sie hoffentlich alles gut verstehen werden, was hier über Traumabehandlung geschrieben wird, und weil es Sie ermutigen könnte, mit Betroffenen zu sprechen und sie zu einer Traumatherapie zu motivieren. In der Psychotraumatologie merken wir seit Längerem deutlich, dass eine sogenannte Psychoedukation – also das Aufklären über Trauma und die Folgen sowie über Traumabehandlung – ein wesentliches Hilfsmittel für jede Form therapeutischer Unterstützung sein kann und muss (siehe auch Allen et al. 1997, Alsleben et al. 2004, Bäuml et al. 2018, Beckrath-Wilking et al. 2013, Liedl et al. 2009, Zurek et al. 2008). In diesem Sinne hoffe ich, dass Ihnen auch der vorliegende Band einige hilfreiche Hinweise geben kann.
Wenn Sie Rückmeldungen und weitere Anregungen haben, schreiben Sie gern an [email protected]. Mein Team und ich – wir würden uns freuen5.
1http://www.initiative-phoenix.de
2https://www.change.org/p/bedarfsgerechte-psychotherapie#:~:text=Bedarfsgerechte%20Psychotherapie%20ist%20Gesundheitsf%C3%B6rderung%2C%20Pr%C3%A4vention,volkswirtschaftliche%20Belastung%20durch%20psychische%20Erkrankungen
3http://posttraumatische-belastungsstoerung.com/psychotherapie-krankenkasse
4https://bedarfsgerechte-versorgung.de/versorgungsluecken-komplexer-traumafolgestoerungen
5 Aktuelle Informationen zu Ausbildungskursen, Vorträgen und Supervisionen von und mit Michaela Huber finden Sie unter https://michaela-huber.com – oder schreiben Sie eine Mail an [email protected].
„Wir alle würden verwandelt, wenn wir nur den Mut hätten, wir selbst zu sein.“ (Marguerite Yourcenar)
Wie im ersten Band Trauma und die Folgen gezeigt wurde, können Traumatisierungen zahlreiche Wunden schlagen: körperliche, seelische, soziale. Viele Menschen – vielleicht gehören Sie auch dazu – leiden lange an Symptomen wie Angst, Schlafstörungen, Albträumen, Schmerzsyndromen, heftigen Gefühlszuständen, Selbstzweifeln, Schamgefühlen und haben möglicherweise schon weitere Folgesymptome entwickelt: Sie trinken zu viel, essen zu wenig (oder umgekehrt), rauchen Kette, kiffen, arbeiten von morgens bis abends – und versuchen, sich dadurch das untergründig Rumorende „vom Hals zu halten“. Oder sie werden depressiv und krank, gehen von Arzt zu Ärztin, von Heilpraktiker zu Physiotherapeutin, vom Schamanen zu Psychotherapeutin und suchen nach Hilfe. Vielleicht wissen sie nicht einmal bewusst, dass es unbewältigte Lebenserfahrungen sind, die sie quälen, sondern sie versuchen, die Folgen davon zu bekämpfen und „wegzukriegen“: die chronische innere Unruhe und die Sucht, die seelischen Abstürze, den Lebensüberdruss, die Beziehungsstörungen.
Unter Umständen sind sie (und Sie?) sich selbst ein Rätsel und wissen vor allem eins: „Ich leide. Und ich will, dass das Leiden aufhört.“
Irgendwann überlegt möglicherweise eine der vielen HelferInnen, die Sie aufgesucht haben: „Vielleicht könnten Ihre Symptome mit Ihrer Vergewaltigung damals zu tun haben“ oder: „… mit Ihrer, wie Sie es genannt haben, ‚schrecklichen Kindheit‘“; oder: „… mit der Folter, die Sie in Ihrem Heimatland erlitten haben“, „… mit Ihrer Totgeburt“ oder welches Grauen von früher Sie einmal, und sei es in einem kleinen Nebensatz, erwähnt haben. Und fügt hinzu: „Machen Sie doch einmal eine Traumatherapie.“ Und Sie, die Sie schon alles probiert haben, denken vielleicht: Na gut, dann probiere ich eben das auch noch.
Wenn wir Glück haben, ist es so. Dann können Sie sich dieses Kapitel in Ruhe durchlesen und überlegen: Ist es denn überhaupt für mich der richtige Zeitpunkt im Leben, mich mit meinem früheren Trauma noch einmal therapeutisch auseinanderzusetzen? Mit Glück meine ich: Sie haben dann nach der Lektüre dieses Buches eine bessere Vorabkenntnis über das, was Sie erwarten kann. Sie wissen, was Traumabehandlung ist (und was nicht), welches die entscheidenden Stadien der Traumatherapie sind, und können für sich besser planen, ob, wann und wie Sie die in manchen Phasen der Behandlung auf Sie zukommenden zusätzlichen seelischen – und unter Umständen auch materiellen – Belastungen verkraften können.
Anders ergeht es vielen Menschen, die zu uns PsychotraumatologInnen kommen und fest entschlossen scheinen, jetzt Traumatherapie zu machen. Viele von ihnen werden entweder – wenn wir TherapeutInnen redlich sind – am Ende des ersten Gesprächs ernüchtert, vielleicht auch enttäuscht sein oder im Lauf einer vielleicht längeren Behandlung mitbekommen, dass das, was sie sich vorgestellt haben, und das, was Traumabehandlung tatsächlich ist, wenig miteinander zu tun haben müssen. Viele Menschen verstehen nämlich unter Traumabehandlung, wenn sie nicht genauer darüber aufgeklärt wurden, ausschließlich die Traumaexposition, also sich den schlimmsten Bildern, Gefühlen und Schmerzen auszusetzen. Sie glauben, wenn sie all das Schreckliche, was Sie da früher erlebt haben, nach ein, zwei kurzen Vorgesprächen noch einmal im Sinne einer Katharsis durchleben, so, als würden sie eine Eiterbeule aufschneiden und alles herauslaufen lassen, dann sei das Traumabehandlung, und danach gehe es ihnen besser.
Nein, das ist es nicht, und das geht meist auch gar nicht so, bis auf ganz seltene Ausnahmen: Natürlich gibt es Menschen, die schon so weit vorgearbeitet haben, die so stabil sind und mit beiden Beinen auf dem Boden ihres heutigen Lebens stehen, dass ihnen ein kathartisches Erlebnis – sozusagen „auf die Matte, raus damit und durch“ – in kurzer Zeit eine entscheidende Hilfe sein kann. Doch die meisten Traumatherapien sehen anders aus. Inzwischen haben TraumabehandlerInnen aus den unterschiedlichsten Disziplinen – Körpertherapeutinnen, Tiefenpsychologen, Verhaltenstherapeutinnen, Gestalttherapeuten etc. – sogar ein standardisiertes Vorgehen entwickelt, das ich Ihnen in diesem Buch aus meiner Sicht und meinen therapeutischen Erfahrungen heraus vermitteln möchte.
Als erste Kollegin hat Judith Herman (1994 / 2018) ein dreischrittiges Vorgehen in der Traumabehandlung vorgeschlagen:
Stabilisierung
Traumadurcharbeitung
Wiederanknüpfen
Seither haben unzählige KollegInnen ihr therapeutisches Vorgehen schriftlich dargelegt und begründet. Aus diesen Erfahrungen, von denen zahlreiche auch wissenschaftlich begleitet wurden, ergibt sich heute ein Vorgehen, das sich – vor allem bei den komplexen und langjährigen Traumatisierungen – faktisch in folgende Stadien gliedert:
Stadium: Diagnostik, Stabilisierung, Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung und Ressourcenarbeit
Stadium: Umgang mit brisanten Affekten und täterimitierenden Impulsen Distanzierung von belastendem Traumamaterial
Stadium: Traumasynthese, Integration und Trauerarbeit
Wenn Sie also vorhaben, eine Traumabehandlung zu machen, werden Sie heute – sowohl in den psychosomatischen Kliniken als auch in der ambulanten Psychotherapie – immer merken, dass zunächst eine sorgfältige Diagnostik gemacht wird und die TherapeutIn versucht, mit Ihnen gemeinsam herauszufinden, ob jetzt die Zeit in Ihrem Leben wirklich gekommen ist, sich näher mit dem früheren Trauma auseinanderzusetzen. Die TherapeutIn wird in dieser ersten Phase besonders auf folgende Punkte achten:
Woran können Sie das erkennen? Lassen Sie es mich erst einmal anders herum formulieren: Sie leben nicht in sicheren Lebensumständen, wenn …
Sie (weiterhin) seelisch, körperlich, sexuell traumatisiert werden;
Sie mit dem Täter / der Täterin in einer Wohnung leben bzw. diese/r die Schlüssel zu Ihrer Wohnung oder andere leichte Zugangswege zu Ihnen hat;
Ihr Aufenthaltsstatus als Flüchtling unsicher ist;
Sie keinen festen Wohnsitz haben;
Sie finanziell vom Täter / von der Täterin abhängig sind;
Sie sich prostituieren;
Sie akut ausgebrannt, gemobbt bzw. von Kündigung bedroht sind;
Sie völlig verschuldet sind;
Sie keine Freunde, keine Arbeit, kein soziales Netz haben;
oder wenn ähnliche zutiefst lebensverunsichernde Bedingungen da sind.
Sie sehen, es handelt sich zunächst einmal darum, abzuklären, ob Ihre äußeren Lebensumstände so sind, dass sie Ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit erfordern. Oder ob Sie äußerlich festen Boden unter den Füßen haben. Ist das nicht der Fall, sollten Sie erst die oben genannten anderen Unterstützungsformen aufsuchen. Für eine bevorstehende Traumabehandlung ist es am besten, wenn …
Sie finanziell auf eigenen Füßen stehen;
Sie einen unterstützenden Freundeskreis haben;
Sie einem Beruf (oder anderer sinnvoller Beschäftigung, etwa Kindererziehung oder ehrenamtlicher Arbeit) nachgehen, was Ihnen Freude macht, ohne Sie über die Maßen zu beanspruchen;
Ihre Kinder „aus dem Gröbsten heraus“ sind.