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Das Interesse am Thema Narzissmus ist nach wie vor groß. Das Cluster von Symptomen, das Menschen mit einer ungewöhnlich intensiven Selbstbezogenheit kennzeichnet, beinhaltet: überhöhtes Gefühl der eigenen Bedeutung, Streben nach Bewunderung, Mangel an Mitgefühl für andere. In Studien haben sich zwei Ursachen herauskristallisiert, die mit der Kindheit der Betroffenen zu tun haben: Die einen wurden verhätschelt, die anderen gequält. Vernachlässigt wurden beide Gruppen, denn immer mangelte es an angemessener Sorge und Aufmerksamkeit der Eltern. Neben Fragen wie »Wie wird man eigentlich Narzisst?« beschäftigt sich Michaela Huber mit Kernmerkmalen einer narzisstischen Störung, mit dem Unterschied zwischen pathologischem und »gesundem« Narzissmus sowie mit Fragen der Diagnostik. Unterschiedliche narzisstische Strategien werden ebenso erörtert wie Möglichkeiten des Ausstiegs aus narzisstischen Beziehungen sowie die Psychotherapie narzisstischer Störungen.
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Seitenzahl: 273
Michaela HuberNarzissmus und BindungstraumaEntstehung, Formen, Therapie
Narzissmus – mehr als nur ein Schimpfwort?
Das Interesse am Thema Narzissmus ist nach wie vor groß. Das Cluster von Symptomen, das Menschen mit einer ungewöhnlich intensiven Selbstbezogenheit kennzeichnet, beinhaltet: überhöhtes Gefühl der eigenen Bedeutung, Streben nach Bewunderung, Mangel an Mitgefühl für andere. In Studien haben sich zwei Ursachen herauskristallisiert, die mit der Kindheit der Betroffenen zu tun haben: Die einen wurden verhätschelt, die anderen gequält. Vernachlässigt wurden beide Gruppen, denn immer mangelte es an angemessener Sorge und Aufmerksamkeit der Eltern.
Neben Fragen wie „Ist der grandiose Narzissmus tatsächlich die gefährlichste Variante?“ beschäftigt sich Michaela Huber mit Kernmerkmalen einer narzisstischen Störung, mit dem Unterschied zwischen pathologischem und „gesundem“ Narzissmus sowie mit Fragen der Diagnostik. Unterschiedliche narzisstische Strategien werden ebenso erörtert wie Möglichkeiten des Ausstiegs aus narzisstischen Beziehungen sowie die Psychotherapie narzisstischer Störungen.
Michaela Huber ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Bundesverdienstkreuz sowie den „Mental Health Award“ für ihre therapeutische Lebensleistung.
Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2024
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Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
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Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2024
ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0608-8
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0609-5 (EPUB), 978-3-7495-0610-1 (PDF).
„Ich kann wirklich keine Ähnlichkeiten finden zwischen dir mit deinem unregelmäßigen scharfen Gesicht und mit deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern geschaffen. Also, mein lieber Basil, er ist ein Narziss, und du – na selbstverständlich hast du einen geistreichen Gesichtsausdruck mit allem Zubehör; aber Schönheit, wahre Schönheit hört dort auf, wo ein geistreicher Ausdruck beginnt … Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir niemals genannt hast, dessen Bildnis mich aber wahrhaft bezaubert, denkt ganz bestimmt niemals. Er ist ein geistloses, schönes Geschöpf, das wir immer hier haben sollten im Winter, wenn wir keine Blumen betrachten können, und auch im Sommer, wenn wir einer Abkühlung unserer Gescheitheit bedürfen.“ (Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, S. 7)
Keine Frage: Narzisstische Menschen können uns mit ihrer Schönheit bezaubern. Sie können brillieren, die einen laut – man nennt sie grandiose oder offene Narzissten. Die anderen leise – die vulnerablen oder verdeckten ihrer Art. Sie können sogar durchaus intelligent und kreativ sein, anders als Oscar Wilde es im oben genannten Zitat beschrieb. Und doch haftet ihnen etwas seltsam Gespenstisches an. Eine bei näherem Hinsehen spürbare Leere. Denn zwischen ihrer Darstellung nach außen und ihrem inneren Empfinden klafft ein Loch.
Das macht ihre Tragik aus: Sie sind in gewisser Weise unecht, und das wissen sie tief innen, oder sie ahnen es zumindest. Um innere Leere zu kompensieren, ihr Selbstwertgefühl aufzuladen, brauchen sie die anderen. Menschen, für die sie alles tun, um sie von sich abhängig zu machen. Bis sie nicht mehr weglaufen können, wenn die Narzissten sie aussaugen, um ihr Loch zu füllen. Doch das Loch ist tief. Was „herbeigesogen“ wurde, fällt in ein Fass ohne Boden. Auf kurze Befriedigung folgt ein umso intensiveres Verlangen – nach mehr und nach noch mehr Zuwendung, Lob und Unterstützung. Narzissten kennzeichnet eine unersättliche Gier nach Anerkennung, weit über die wohl uns allen vertraute Sehnsucht nach Bestätigung hinaus. Und sie haben – verdeckt oder offen – eine Anspruchshaltung: Das Leben und andere Menschen seien ihnen etwas schuldig. Bekommen sie nicht, was sie brauchen, werden sie entweder einsam, depressiv und mindestens latent suizidal. Oder sie manipulieren ihre Umwelt, wo immer es geht, um ihr das abzutrotzen, was sie brauchen.
Wir alle kennen solche Menschen, ob wir sie nun Narzissten nennen oder nicht. Es gibt viele von ihnen, und auch wir selbst sollten uns immer mal wieder auf narzisstische Merkmale scannen. Denn für andere Menschen sind diese Merkmale unangenehm, und sie können Partnerschaften, Familien, Kollegenteams und andere soziale Gemeinschaften regelrecht vergiften. Wer mit Narzissten zu tun hat, fühlt sich nämlich über kurz oder lang fremdbestimmt und ausgebeutet und ergreift die Flucht, sobald das möglich ist. Und zwingt den Narzissten entweder in depressive Einsamkeit – oder auf die Suche nach dem nächsten Opfer.
Wie kommt eigentlich Narzissmus zustande, diese Kluft zwischen realem und falschem Selbst, die Menschen zwingt, andere zu sich hinzuziehen, um sie mit ihrer fordernden Egozentrik auszubeuten? Wieso erleben wir gerade jetzt eine Art „narzisstischer Epidemie“, während gleichzeitig das internationale Diagnosehandbuch ICD die narzisstische (wie auch fast jede andere) Persönlichkeitsstörung in der aktuellen Version 11 gar nicht mehr einzeln aufführt? Ist unsere Gesellschaft so durchdrungen von Narzissmus, dass er schon normal geworden ist?
Sicherlich gibt es ein breites Spektrum von Narzissmen. Davon soll in diesem Buch die Rede sein. Manches davon kann man tatsächlich als gesund betrachten. Denn es gibt so etwas wie die Notwendigkeit zur Selbstbehauptung. Wir alle werden uns in unseren Beziehungen und der Außenwelt gelegentlich „selbstsüchtig“ verhalten und dabei die Interessen anderer hintanstellen, weil wir sonst schwere Nachteile erleiden würden. Wo also beginnt das gefährlich Narzisstische? Wohl da, wo es zu einer durchdringenden, überdauernden Art geworden ist, mit anderen Menschen umzugehen und diese auszubeuten. Und wie reagieren diese anderen? Auch da tut sich ein weites Feld auf.
Was geschieht, wenn zwei Narzissten aufeinandertreffen? Und wenn ein Kind narzisstische Eltern(teile) hat – was passiert mit diesem Kind, wenn es heranwächst? Wie haben sich überhaupt der Begriff und das Verständnis dieser egozentrischen Selbstwertstörung über die Jahrhunderte verändert, und weshalb ist Narzissmus heute eine dermaßen verbreitete Problematik? Wie reagieren die Opfer narzisstischer Ausbeutung, und was hilft ihnen, der Falle zu entkommen? All dies soll hier im Buch behandelt werden.
Was wären wir ohne die eitlen Pfauen unter den Menschen, die schillernden, glitzernden, strahlenden Egos der Shows und Theater des Lebens? Sie bereichern unser Leben und wir fühlen uns von ihnen gut unterhalten. Eines jedoch sollten wir nicht tun: Uns mit einem pathologischen Narzissten zu tief einlassen. Das kann viel Kummer und Leid verursachen, ja es kann existenzielle Not auslösen und Menschen zerbrechen lassen, sodass sie mühsam aus dieser Beziehungshölle herausfinden müssen. Doch nicht nur mit den prahlenden Angebern und Despoten, sondern auch mit vulnerablen Narzissten, die scheu und liebenswürdig daherkommen, aber unendlich ansprüchlich sind, werden wir auf Dauer nicht zusammen sein wollen.
Und wie sieht es von der anderen Seite betrachtet aus? Wenn man selbst so ein –wieder einmal einsamer und deshalb darunter leidender – Narzisst ist? Wer aus echtem Leid die Motivation zur Veränderung ableitet, dem kann geholfen werden. Und ich plädiere dafür, dass wir auch als Professionelle ein Verständnis, einen Zugang und ein Konzept für die Arbeit mit Narzissten haben sollten.
Meine These in dieser Monografie lautet: Narzissmus ist ein Ergebnis transgenerationaler Bindungstraumatisierung. In der Psychotherapie sollte er als Bindungstrauma behandelt und gesellschaftspolitisch als Sinn- und Beziehungssuche verstanden und angegangen werden – heute mehr denn je. Haben wir uns nicht schon fast an ein soziales Klima gewöhnt, das eine Mischung ist aus grandiosen Weltrettungsfantasien und vulnerablen Weltuntergangsängsten? Wir alle, jede und jeder Einzelne von uns, muss diese Arbeit leisten. Denn weder Größenselbst noch Anspruchshaltung werden uns weiterbringen, sondern nur das: Zu dem Menschen heranzuwachsen, der in uns steckt und der bei manchen von uns viel zu früh an seiner vollen Entfaltung gehindert wurde.
Was meinen Sie dazu?
Wie immer freue ich mich über Reaktionen, gern unter [email protected]
Portugal, im Sommer 2024
Michaela Huber
Wie ich dazu komme, ein Buch über die Ursache und Auswirkungen narzisstischer Persönlichkeitszüge zu schreiben? Ist gnadenlos ausbeuterischer Egoismus tatsächlich ein so weit verbreitetes Phänomen? Und so schädlich für unser Gemeinschaftsleben? Hat die populärwissenschaftliche Diskussion um Narzissmus in den letzten Jahren vielleicht etwas mit der auffallenden Identitätssuche und -unsicherheit zu tun, die uns in vielen Familien, in unseren Beratungs- und therapeutischen Berufen und in der ganzen Gesellschaft so beschäftigt? Auf die letzten Fragen kann ich heute, nachdem ich das Phänomen lange studiert habe, sagen: Tatsächlich, so ist es. Und damit habe ich gleichzeitig die erste Frage beantwortet.
Sowohl in westlichen als auch in östlichen Ländern ist in den letzten Jahrzehnten eine bestimmte Form narzisstischer Störungen auf dem Vormarsch: die mit einem falschen Größenselbst verbundene (Cai, Kwan & Sedikides 2012, Twenge et al, 2008).
Wenn man sehr genau hinsieht, wird ein Mensch mit solchen narzisstischen Zügen häufig zum Täter: an den eigenen Kindern, der PartnerIn, den KollegInnen und generell an Menschen, die ihm anvertraut sind. Seine Unfähigkeit, auf die Bedürfnisse der anderen angemessen einzugehen (weil immer die eigenen Bedürfnisse Vorrang haben) und die Häufigkeit, mit der er (oder sie!) sein bzw. ihr ganzes Raffinement dareinsetzen wird, die eigenen Bedürfnisse von anderen erfüllen zu lassen, führen zu unausgeglichenen, ja ausbeuterischen Beziehungen und / oder in Einsamkeit und Verzweiflung. Dies ist also ein Buch über (potenzielle) Täterschaft in einer ganz bestimmten Hinsicht: Wie entsteht sie? Wie wirkt sie sich aus? Und: Wie lässt sich hier vielleicht etwas ändern?
Jahrzehntelang habe ich schwerpunktmäßig die Seite der Geschädigten beleuchtet und beschrieben. Es waren (und bleiben) die Opfer von Gewalt und Ausbeutung, denen mein besonderes Augenmerk gilt. Selbst mein Buch Der Feind im Innern hatte weniger das feindliche Gegenüber als dessen Widerspiegelung in der Psyche der Überlebenden zum Thema. Warum jetzt also dieser Blick auf die andere Seite?
Weil so viele von seelischer und körperlicher Gewalt Betroffene, so viele Bindungstraumatisierte sich ausgerechnet näher auf einen Menschen mit einer narzisstischen Problematik einlassen und sich von diesem oft jahrelang ausbeuten lassen.Weil immer mehr Betroffene über „toxische Beziehungen“ klagen. Bei näherem Hinsehen meinen sie sehr häufig ihre Abhängigkeit von und ihren mühseligen Ausstieg aus engen Beziehungen zu narzisstischen Menschen.Weil es offenbar zwei Seiten gibt: den Narzissten und den/die häufig „co-narzisstische/n“ Partner oder Partnerin. Und interessanterweise scheinen diese Beziehungen komplementär zu sein.Weil das international verbindliche und neu überarbeitete Diagnosehandbuch ICD-11 erstaunlicherweise die Persönlichkeitsstörungen „abgeschafft“ hat und es dennoch viele ratlose Psychiater und Psychotherapeuten gibt, die einige der Diagnosen – z. B. die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) – weiterhin für relevant halten. Auch deshalb ist es wichtig, sich mit den diagnostischen und alltagsrelevanten Merkmalen des Narzissmus auseinanderzusetzen.Weil die meisten Bücher zum Thema Narzissmus von erwachsenen weiblichen Opfern narzisstischer Männer geschrieben wurden, es aber auch ganz andere Konstellationen gibt. Als Junge oder Mädchen einem narzisstischen Vater oder einer narzisstischen Mutter ausgesetzt (gewesen) zu sein, hat ebenfalls bedeutsame Folgen, die beschrieben werden sollten.Nicht zuletzt, weil oft der Blick fehlt auf den sogenannten weiblichen Narzissmus, der für viele Autorinnen bislang nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, den ich aber durchaus auch für sehr relevant halte, und schließlich:Weil mich interessiert, wie zwei gegensätzliche Kindheiten – gepampert oder geprügelt, verwöhnt oder vernachlässigt, zart oder zynisch behandelt – zu demselben Ergebnis narzisstischer Persönlichkeitszüge führen können.Seit einigen Jahren sprechen Menschen vermehrt von ihren „toxischen Beziehungen“. Sie tun das öffentlich, in zahlreichen Büchern, aber auch unter meiner Klientel – also unter PatientInnen und KollegInnen – beobachte ich diese Entwicklung. Die Rede ist dann von schweren Kämpfen, sich aus destruktiven Beziehungen zu Kollegen, Partnern, Vätern, Müttern zu befreien. Allmählich erfahren wir auch publizistisch von inzwischen erwachsenen Kindern, die nach dem Motto leben: „Erst einmal ich. Und dann kommt lange nichts. Aber in mir ist auch das große Nichts.“ So oder so ähnlich klingt es in einigen Veröffentlichungen, wie etwa: Generation Z. Zwischen Selbstverwirklichung, Insta-Einsamkeit und der Hoffnung auf eine bessere Welt von Valentina Vapaux – oder wir erfahren etwas über „eine zur Verletzlichkeit gesteigerte Empfindsamkeit“ (Fourest 2020, S. 138).
Auch könnte die Devise, wie sie in dem ironischen Spruch „Alle denken an sich. Nur ich denke an mich“ zum Ausdruck kommt, kaum aktueller sein. Möglicherweise verweist sie darauf, dass narzisstische Menschen annehmen oder es sogar am eigenen Leib erfahren haben: Die anderen, einschließlich der Eltern(-Generation), haben auch nur an sich gedacht. Und das wiederum wirft die Frage auf: Wird Narzissmus genetisch oder sozial vererbt? Und müssen wir den Furor der verzweifelten „Letzten Generation“, die mit spektakulären Aktionen wie dem Suppenwurf auf Kunstwerke oder dem Ankleben der Hände auf dem Asphalt von sich reden machte, vor diesem Hintergrund neu bewerten?
Narzisstisch genannt zu werden, ist nichts Schönes, sondern es ist geradezu ein Schimpfwort. Und meist sind es die anderen, die „Du Narzisst!“ rufen. Wer will das schon sein? Sie nicht, ich nicht – und vermutlich auch sonst niemand, denn als narzisstisch gilt man, wenn man egozentrisch und ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Interessen durchsetzt. Nähere Definitionen und Diagnosemöglichkeiten werden noch in diesem Buch besprochen.
Dass narzisstische Persönlichkeitszüge entstehen, ist keineswegs ein Wunder. Traditionell lernen meist kleine Jungs schon von ihren Eltern, dass „Sich-Durchsetzen“ eine ihrer erstrebenswertesten Fähigkeiten sein sollte. Mädchen hingegen sollen – wenn man Eltern dazu fragt – nach wie vor gern „sozial eingestellt“ sein (Gijalva et al., 2015). Sozial zu sein bedeutet, mit anderen Menschen gut auszukommen. Und das scheint nicht selten die ideale Kombination für ein brisantes Partnerschaftsleben zu sein. Tun sich ein durchsetzungsbewusster Mann und eine um jeden Preis um Verträglichkeit bemühte Frau zusammen, könnte das eine wunderbare Ehe geben. Anders sieht es allerdings aus, wenn er ein Narzisst ist und sie eine „Co-Narzisstin“. Dann stellt es sich z. B. so dar: Sie beschwichtigt, wenn er tobt, und im schlimmsten Fall führt das in eine Gewaltpartnerschaft. Oder: Sie passt sich ihm an, wenn er gnadenlos durchgreift und auch seine Kinder hart anfasst. Dann verrät sie ihre Kinder „um seinetwillen“. Oder: Sie stellt ihr Licht unter den Scheffel, um ihn strahlen zu lassen. Und früher oder später wird sie vielleicht wie ein abgetragener Mantel entsorgt, wenn er sich eine Attraktivere sucht …
Durchsetzungsbewusster egozentrischer Mann – anpassungsfähige soziale Frau: Vielleicht ist das die Kombination, die erklären kann, warum das Verhältnis Mann – Frau bei (pathologischen) Narzissten etwa bei drei zu eins liegt (APA 2013).
Hier im Buch werden wir beide betrachten: den Narzissten und die „Co“. Genauso aber auch: die Narzisstin und ihre Opfer. Narzisstische Frauen können nämlich nicht nur ihre Partner tyrannisieren – Sie alle kennen den lieben Kerl, der eine regelrechte „Zicke“ zur Partnerin hat, die ihn herumkommandiert. Sie können auch ihre Kinder quälen, indem sie kaum deren Bedürfnisse wahrnehmen, sondern sie regelrecht „dressieren“ und für ihre Zwecke benutzen. So werden die Sprösslinge etwa als Dekorationsobjekte ausstaffiert oder als hochbegabte kleine Genies herumgereicht, damit die „Mutter des Stars“ noch etwas vom Glanz des bei sportlichen, musikalischen oder anderen Leistungen hervorragenden Kindes abbekommt und auf sich umlenken kann.
Das Spannungsfeld, in dem wir uns in diesem Buch bewegen, ist groß. Und paradoxerweise sind Narzissten ja vorwiegend keine egomanen Einzelgänger, sondern sie sind vor allem Menschen, die ihren eigenen Selbstwert auf Kosten anderer erhöhen. Und genau dafür brauchen sie unbedingt andere Menschen. Das lässt natürlich die Frage aufkommen: Weshalb ist ihr Selbstwertgefühl denn nicht auf natürliche Weise gewachsen?
Und damit sind wir bei einer der Leitfragen, die ich versuche, in diesem Buch zu beantworten: Weshalb sind die angeblich so selbstverliebten Narzissten sich nicht selbst genug? Warum müssen sie, solange sie diese Störung haben, andere emotional ausbeuten, um sich gut zu fühlen?
Genauso wichtig ist mir die Gegenfrage: Was ist mit Menschen los, die Narzissten auf den Leim gehen? Und falls sie das nicht selbst entscheiden konnten, weil sie als Kind eines narzisstischen Menschen aufgewachsen sind: Was wird aus narzissmusgeschädigten Kindern? Fallen sie wieder auf dieselbe Persönlichkeitsstruktur herein und werden zum / zur „Co“? Oder entwickeln sie gar selbst eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur? Wie spiegelt sich da der eine in der anderen – und umgekehrt? Weil das Thema gesellschaftlich so relevant ist, könnte ich mir vorstellen, dass Sie diese Fragen und die Antwortversuche dazu interessieren, selbst wenn Sie nicht unmittelbar selbst betroffen sind.
Wenn Sie allerdings selbst betroffen sind, werden Sie vielleicht „ein gebranntes Kind“ sein, also immer auf der Hut, sich selbst nicht (noch einmal) als „Co“ oder als narzisstischer Ausbeuter zu verhalten. Und wenn es Ihnen doch in der einen oder anderen Rolle passiert ist, hoffen Sie vielleicht, sich für immer aus der ausbeuterischen Beziehungsfalle zu befreien. – Wir alle können uns weiterentwickeln, uns aus so manchem Schlamassel herausarbeiten und hinzulernen.
Wenn es um das Durchsetzen eigener Interessen geht: Was ist eigentlich angemessen? Sich so gut wie möglich um sich selbst zu kümmern, ist doch ganz natürlich, oder etwa nicht? Gibt es so etwas wie einen gesunden Narzissmus? Und wie unterscheidet er sich vom pathologischen?
Wieso sind solche Fragen relevant? Ich kenne sie nicht zuletzt von meinen KlientInnen, die sich entweder zu wenig um sich kümmern und / oder dauernd um ihre jeweiligen Befindlichkeiten kreisen. Vielleicht sind sie relevant, weil heutzutage unendlich viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene erhebliche Identitätsunsicherheiten haben und gar nicht mehr wissen: Was bedeutet ein „gesunder Selbstwert“ und wie könnte man ihn für sich selbst erreichen?
Bei manchen Menschen ist die Identitätsunsicherheit derart groß geworden, dass sie unter Geschlechsdysphorie leiden, also unsicher sind, ob ihr biologisches ihrem als richtig empfundenen Geschlecht entspricht. Bin ich vielleicht „eigentlich“ jemand anderes? Muss ich, um mich wohlzufühlen, mein biologisches Geschlecht wechseln? Damit ich zu dem werde, das ich als ganz anderes in mir sehe, wenn ich in den Spiegel schaue? Bin ich ganz bei mir, wenn ich mich in die Person verwandle, die ich im Spiegel (meiner Seele) zu erkennen glaube?
Nicht zufällig sind gut 80 Prozent derjenigen, die sich diese Frage stellen, Mädchen und Frauen, so der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte (2022). Insgesamt stellen sich aber wesentlich mehr Menschen diese Frage, als tatsächlich im diagnostisch-traditionellen Sinne transsexuell sind. Das Angebot, sich jenseits der beiden biologischen Geschlechter ein soziales Geschlecht aussuchen und dieses bis zu einem Mal im Jahr wechseln zu können, spiegelt meines Erachtens wider: Die Erwachsenenkultur des Westens glaubt, diesen Wünschen sogar per „Selbstbestimmungs“-Gesetz Nachdruck verleihen zu müssen. Für mich ergibt sich hieraus die Frage: Wie verunsichert muss auch eine Politikergeneration sein, die solch ein Gesetz beschließt? Ein Gesetz, das zudem unter Strafe stellt, die sich selbst umdefinierende Person mit ihrem ursprünglichen Namen und biologischen Geschlecht anzusprechen?
Man könnte also fragen: Was stimmt mit unserer Gesellschaft nicht, dass so viele Menschen, egal welchen Alters, so selbstunsicher zu sein scheinen, dass es als sinnvoll erscheint, sich jederzeit komplett neu zu erfinden – einschließlich der Geschlechtszugehörigkeit? Und was ist mit Menschen los, denen es schwerfällt, zwischen biologischem und sozialem Geschlecht zu unterscheiden?
Konkreter, was die Narzissmusdebatte angeht und die Abschaffung der Diagnose in der ICD-11: Wie verunsichert muss eine Gesellschaft sein, die sich anscheinend nicht mehr zutraut, zwischen gesunder Selbstbehauptung und der Durchsetzung des eigenen Willens auf Kosten anderer zu unterscheiden? Das wird mir eigene Überlegungen in diesem Buch wert sein.
All-eine sein. Das ist ein Seufzer, den ich auch Menschen mit einer dissoziativen Identität habe ausstoßen hören. Sich mit sich selbst aussöhnen – das Anderssein der Selbstzustände im Innern als erstaunliche, ja liebenswerte Bereicherung empfinden, so fremd es einem erscheinen mag: Selbst das könnte eine (sogar gesunde) Form des Narzissmus sein. Der Rückzug ins innere Universum macht vermutlich nicht alle froh. Und wäre das All-eine sein nicht trotzdem erstrebenswerter, als mit der ständigen Herausforderung zu leben: Bin ich so richtig, oder sollte ich nicht ganz anders sein?
Nie zuvor gab es so viele Singlehaushalte in Deutschland wie zur Zeit. Könnte das auch ein Symptom der schlechten, eventuell sogar transgenerationalen Bindungs- und Beziehungserfahrung sein, die eine/n auf sich selbst zurückwirft? Verweist dieses Symptom vielleicht auch auf eine tiefe Verunsicherung und leichte Kränkbarkeit, die Menschen daran hindert, (neue) enge Beziehungen einzugehen? Der Markt für Ratgeberliteratur jedenfalls ist voll von Büchern, die sich mit Themen beschäftigen wie: „Ich brauche etwas anderes und muss mich erst mal um mich selbst kümmern“ und „Dein inneres Kind muss Heimat finden“. Was folgern wir daraus, wenn einerseits der Bedarf ständig steigt, sich aus der Welt und aus als unerträglich erlebten Beziehungen herauszuarbeiten und sich auf sich selbst zurückzuziehen – und andererseits so viele über den Narzissmus der anderen klagen?
Es gibt eine regelreichte Selbstoptimierungsindustrie, die uns mit immer neuen Angeboten überschüttet, mehr „Selbstliebe“ zu praktizieren. So gibt es Übungen mit dem Ziel „Sei liebevoll zu dir“, Affirmationen, die man beim Einschlafen hören kann („Ich bin wundervoll“ – „Ich liebe mich“), Resilienztrainings („Ich kann alles erreichen“) oder Retreats, bei denen man sich schweigend in sich versenken kann etc. Wie kann das sein, dass dieser Markt so boomt und gleichzeitig ein grassierender Narzissmus beklagt wird? Der Narzisst ist natürlich immer der andere. Aber sollten nicht auch Otto und Ottilie Normalneurotiker sich gelegentlich an die eigene Nase fassen? Wenn der „Alltags-Narzissmus“ so verbreitet ist – weshalb ist das so?
Antworten auf die letztgenannte Frage gibt es sicher viele. Eine mag diese sein: Im „Digitalzeitalter“ muss jeder von uns „Selbstoptimierung“ betreiben, um sich – mehr online als im persönlichen Kontakt – möglichst gut auf dem Markt anbieten zu können. Die sogenannten Influencer (mehr dazu in Kapitel 7) sind exzellente Beispiele dafür. Im Grunde gilt jedoch für jeden von uns: „Stell deine Vorzüge heraus, kaschiere deine Schwächen, schaffe dir bei der Job- (und Partner-)Suche die besten Voraussetzungen, andere auszustechen.“ Die verbreitete Angst, nicht zu genügen, die heimliche Furcht, eines Tages doch noch als Hochstapler enttarnt zu werden, davon erzählen mir nicht nur meine Traumapatienten. Nein, es speist die Angebote all der Coaches und „Mentaltrainer“, die den (Online-)Markt bevölkern.
Ich erwähnte bereits, dass in der ICD-11 die Persönlichkeitsstörungen offiziell sozusagen „abgeschafft“ wurden (mehr dazu in Kapitel 4). Dort heißt es jetzt, sehr viele Menschen hätten narzisstische Züge, und die Abgrenzung zum pathologischen Narzissmus sei nicht genau feststellbar. Dennoch gibt es natürlich Menschen, die mindestens zwei Jahre lang – so die Definition – über eine starke Persönlichkeitsproblematik verfügen, die zu „Funktionseinschränkungen“ führen, wie es die ICD-11 nennt, und die damit eine Persönlichkeitsstörung entwickelten. Etwa so:
Seit Längerem haben diese Menschen Probleme mit ihrer Identität und ihrem Selbstwert. Sie denken entweder überhöht oder sehr schlecht über sich, können insbesondere bei Kränkungen ihre Impulse schlecht steuern, geraten mit anderen Menschen immer wieder aneinander, verheddern sich in intimen und sexuellen Situationen und fühlen sich innerlich zerrissen. Nicht wenige schlagen sich mit negativen Gefühlszuständen herum, fühlen sich gelegentlich enthemmt, geraten vielleicht sogar mit Gesetzen in Konflikt, sind anderen gegenüber distanziert und leiden vielleicht heimlich unter quälenden Zwangsvorstellungen.
Es gibt viele Bücher, zahlreiche klinische Befunde und ein hohes öffentliches Interesse am Thema der narzisstischen Störungen, was daran liegen mag, dass diese Problematik Schuld an vielen sogenannten toxischen Beziehungen (Clark 2023) oder zumindest daran beteiligt ist. Das Cluster von Symptomen, das Menschen mit einer ungewöhnlich intensiven Selbstbezogenheit kennzeichnet, beinhaltet nämlich ein überhöhtes Gefühl der eigenen Bedeutung sowie ein Streben nach Bewunderung bei gleichzeitigem Mangel an Mitgefühl für andere.
Zwei Ursachen haben sich in den – bislang immer noch zu wenigen – Studien über die Entstehung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung herauskristallisiert, und beide haben mit der Kindheit der Betroffenen zu tun: Die einen wurden verhätschelt – die anderen gequält. Was die angemessene Sorge und Aufmerksamkeit der Eltern angeht, wurden beide Gruppen offenbar vernachlässigt.
Viele von ihnen meiden bislang eine Behandlung, vermutlich aus Krankheitsgewinn, denn wie Geisterfahrer auf der Autobahn denken sie, bei ihnen sei alles in Ordnung. Dumm seien die anderen, die dummerweise alles falsch machten. Doch auch Scham spielt eine große Rolle. Denn erst, wenn viele Beziehungen und Jobs in die Brüche gegangen sind, bemerken einige Betroffene, dass sie depressiv und frustriert sind. Depression ist denn auch der häufigste Grund für narzisstische Menschen, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Dabei sind die Behandlungsmöglichkeiten durchaus vielversprechend: Wer bereit ist, sich nüchtern und einigermaßen aufrichtig mit der eigenen Symptomatik auseinanderzusetzen, sein Beziehungsverhalten zu überdenken und neue Kommunikationsmöglichkeiten auszuprobieren, kann in der Tat von der übersteigerten Selbstbezogenheit genesen (Hagemeyer 2021).
Von daher: Sollten Sie selbst Kind narzisstischer Eltern gewesen sein, werden Sie sich mit dem Thema genauso herumschlagen wie als (Ex-)PartnerIn eines Menschen mit narzisstischen Zügen. Sogar wenn Sie sich in Momenten selbst als Narzissmus-gefährdet betrachten und etwas dagegen tun wollen, sich zu einem „Ego-Monster“ zu entwickeln, könnten Sie von diesem Buch profitieren.
Jedenfalls muss ich mit Regine Hildebrand, der ehemaligen Brandenburgischen Sozialministerin, narzisstische Menschen warnen. Denn es stimmt: „Wenn eener immer nur Icke sacht, dann muss er halt alleene bleiben.“ Wenn jemand ohne Rücksicht auf andere ausschließlich sein Eigeninteresse verfolgt, wird er am Ende sehr einsam sein. Wer sich nach Geborgenheit und aufrichtig liebevoller Gemeinschaft sehnt, sollte lernen, seine Selbstfürsorge mit seiner Fürsorge für andere in Einklang zu bringen. Das wiederum bedeutet: Lernen, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und angemessen auf sie einzugehen – und dabei weder sich selbst noch andere Menschen auszubeuten.
Wer dies rechtzeitig erkennt, kann sich vor der Katastrophe schützen, dass alle Beziehungen zerbrechen und es sich ermöglichen, in einer allseits wertschätzenden Gemeinschaft zu leben. Denn genau daran hat es Menschen mit narzisstischen Zügen früher gefehlt: an liebevoller und gleichzeitig angemessen herausfordernder Unterstützung. Später müssen sie es sich andauernd selbst beweisen, dass sie etwas wert sind. Wenn sie das nicht mehr nötig haben, weil echte Selbstwertschätzung an die Stelle des falschen überhöhten Ich-Ideals getreten ist, wenn Fehler eingestanden werden können, ohne Suizid- oder Rachegedanken auszulösen, ist man auf dem richtigen Weg.
Es gibt viel zu lernen, und ich möchte Sie ermutigen: Nur zu, solange Sie atmen, können Sie sich entwickeln. Viel Freude dabei. Möge dieses Buch Sie dazu anregen.
Wenn Sie KollegIn sind und PatientInnen mit narzisstischen Persönlichkeitszügen behandeln, werden Sie hier vielleicht einige Erkenntnisse gewinnen und Hinweise auf therapeutische Strategien finden. Denn wenn man als Psychotherapeut Opfer eines narzisstischen Patienten wird, der die therapeutische Beziehung zum Spielfeld seiner eitlen Selbstbezogenheit nutzt, aber auch nach längerem Bemühen und so manchem Beziehungsclinch keine wirklichen Fortschritte macht, wäre zu entscheiden: Was können Sie verlangen, was sollten sie wann lieber nicht tun? Hier im Buch können Sie einige Hinweise dazu finden.
Sollten Sie Angehörige und FreundIn eines Narzissten oder einer co-narzisstischen Person sein, wird das Buch vielleicht Ihren Blick erweitern und Ihnen helfen, sich nicht in den „malignen Clinch“ der unmittelbar Betroffenen hineinziehen zu lassen – und jedenfalls wieder herauszufinden.
Insgesamt gilt: So verbreitet narzisstisches Verhalten in unserer Gesellschaft ist – wir müssen nicht so weiter machen. Unverbesserliche werden vielleicht stranden. Doch wer aus dem narzisstischen Käfig ausgebrochen ist, weiß, wie wichtig aufrichtiges Geben und Nehmen ist, wie wichtig die Suche nach einem Sinn im eigenen Leben und wie entscheidend, dass wir uns gegenseitig beistehen, uns aufeinander beziehen, gleichzeitig wissen, wer wer ist, und in einem – auch kritischen, aber immer respektvollen – Dialog sind. Wer sich selbst erkennt und weiß, wie er oder sie sich von anderen unterscheidet, fällt so schnell nicht mehr auf „Love Bombing“ aller Art herein, lässt sich nicht per „Gaslighting“ den Kopf verdrehen – und ist nicht am Boden zerstört oder rasend vor Wut, wenn man auch mal kritisiert oder mit anderen Sichtweisen konfrontiert wird. Deshalb lege ich hier auch Wert darauf, Ihnen am Ende einige Hinweise für den Ausstieg aus destruktiven Bindungen und Hinweise für gelingende Partnerschaft, Freundschaft und gemeinsame Projekte mitzugeben. Selbstrespekt und liebevolles Miteinander zu lernen, wird das beste Vorbild für die nächste Generation sein und auch der angeblich so verunsicherten „Generation Z“ sowie der verzweifelten „Letzten Generation“ einige Ermutigung bieten.
Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre.
Herzlich, Ihre Michaela Huber
Das vielleicht berühmteste Bild zum Mythos – „Narciss na fonte“ (Narziss an der Quelle) – wurde vom Barockmaler Michelangelo Merisi da Caravaggio in den Jahren 1597 bis 1599 in seinem damals revolutionären, unnachahmlichen Hell-Dunkel-Stil gemalt. Zu sehen ist das Bild in Rom in den Gallerie Nazionale Barbarini Corsini, und ich kann nur empfehlen, es sich möglichst dort genau anzusehen, denn schöner kann man die Geschichte des verzweifelt nach Liebe suchenden und auf sich selbst zurückgeworfenen jungen Menschen in einem Bild nicht darstellen.1
Der Mythos selbst jedoch ist sehr viel älter. Die Autoren von Wikipedia (Stand Anfang 2024) machen es sich leicht, indem sie das Thema so abhandeln: „Narziss ist in der griechischen Mythologie ein schöner Jüngling, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, vor Sehnsucht dahinschwand und in die gleichnamige Blume verwandelt wurde.“ Scherzhaft könnte ich antworten: Das engt es aufs Wesentliche ein. Vielleicht lohnt es sich, dem römischen Dichter zu lauschen, der den ursprünglich griechischen Mythos wohl am besten in Worte gefasst hat: Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. bis 17 n.Chr.).2 Und natürlich hat das Spiel mit dem Wasser und der Selbsterkenntnis im Spiegel eine tiefere Bedeutung, denn der, der aus dem Wasser kam, wird im Tod wieder mit dem Wasser vereinigt. Er kam aus der Quelle, und nachdem er unglücklich nach Liebe suchte, sich selbst vernachlässigte, nicht mehr essen und trinken konnte (Pullen & Rhodes 2008), kehrt er, wie er war und ist, zur Quelle zurück, lebensuntüchtig und beziehungsunfähig, zerstörerisch für sich selbst und andere. Was bleibt, ist ein schönes Bild einer zarten Blüte …
Mit einem der frühen psychoanalytischen Interpreten, Friedrich Wieseler (1856), ließe sich der Mythos des unglücklichen Narziss auch so deuten: Ein vergeudetes Leben ohne Bindung zu einem anderen Menschen endet nach kurzer Zeit dort, wo es begonnen hat.
Sehr bitter und zugleich treffend ist meines Erachtens das „Narziss-Mandala“ des Malers Wolfgang Petrick. Für das als Collage und Computersimulation ausgeführte Bild namens „Glückskopf“ (1999) verwendete der Künstler das Foto eines schönen jungen Mannes, der nach einer Kneipenschlägerei verstorben war.3
Schönheit und Sterblichkeit, Sinnsuche und Vergeblichkeit, Gewalt gegen andere mit tödlichem Ausgang, auch für sich selbst – alles das enthält der Mythos des Narziss. Die obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Bild, dem eigenen Image – die permanente Suche der eigenen Identität durch den anderen also –, hat zur Entwicklung eines eigenen Störungsbildes beigetragen: der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) (APA 2013). Von ihr sowie von all ihren Vor- und Nebenformen, ihrem Entstehen, ihren Auswirkungen und ihrer Therapie soll in diesem Buch die Rede sein.
Doch der Reihe nach. Wer war Narziss – auch Narkissos oder Narcissus genannt – eigentlich, und was hat es mit dem Entstehen aus dem und dem Vergehen im Wasser auf sich?
Bei Ovid finden wir – übereinstimmend mit den ursprünglichen mythologischen Erzählungen – Folgendes zu den Eltern und der tragischen, ja traumatischen Zeugungsgeschichte des jungen Mannes: Demnach hatte der Flussgott Cephisos die Quellnymphe Liriope vergewaltigt. Diese gebar einen Jungen (in manchen Mythos-Varianten ist auch von Zwillingen beiderlei Geschlechts die Rede). Mit 16 war Narcissus ein schöner Jüngling, in den sich viele Männer wie Frauen verliebten, der aber keine Liebe erwidern wollte. Das Thema unterschiedlicher oder ambivalenter Geschlechtszugehörigkeit und -hingezogenheit ist also im Mythos bereits angelegt.
Laut Ovid schmachtete u. a. die Quellnymphe Echo Narzissus an. Echo war mit einem Fluch belegt und konnte immer nur die letzten Worte des anderen wiederholen. Sie hatte also kein eigenständiges Ich. Fast karikaturenhaft könnte damit schon im Urmythos angedeutet sein, wie sich möglicherweise die unglückliche Liebe eines Narzissten mit seinem Gegenüber gestaltet: Narziss sucht und spricht und äußert sich. Er will und er will nicht. Und doch will er unbedingt eine Ergänzung, ja Zweieinigkeit – und die Beziehungspartnerin kann nur sein Echo sein. Dieses Echo ist jedoch nicht das, was ein Narzisst wirklich bräuchte.
Bei Wieseler (1856) finden wir einen weiteren Hinweis darauf, was Narziss denn suchte: seine Zwillingsschwester. „Narkissos habe eine Zwillingsschwester gehabt, und wie ihr Aussehen im Übrigen durchaus gleich gewesen sei, so haben beide auch dasselbe Haar gehabt und haben sich ähnlich gekleidet und seien auch mit einander auf die Jagd gegangen. Narkissos aber sei in Liebe zu der Schwester entbrannt gewesen, und als das Mädchen gestorben, habe er, zu der Quelle gehend, allerdings das Bewußtsein gehabt, dass er seinen eigenen Schatten sehe, dieses sei ihm aber auch bei dem Bewußtsein eine Erleichterung der Liebe gewesen, insofern er nicht seinen eigenen Schatten, sondern ein Bild seiner Schwester zu sehen wähnte“ (S. 2).
Diese Interpretation ermöglicht es zu verstehen, was viele Menschen, die man Narzissten nennt, suchen: Nicht das Echo, sondern das, was ihnen am ähnlichsten und vertrautesten ist – und wonach sie sich deshalb am meisten sehnen und was sie am stärksten begehren. Es ist der andere Teil seiner selbst, wie schon Platon in seinem „Gastmahl“ von den „Kugelmenschen“ schrieb, nach dem der Mensch sein Leben lang auf die Suche gehen kann, bis er es – manchmal – in einem anderen Menschen findet.
Aber weiter im Mythos: Über den Kummer der unerwiderten Liebe schwand das Wesen der Nymphe Echo dahin, bis nur noch das Echo der Stimme des anderen blieb. Und so suchte Narziss weiter, verstieß in seiner Pansexualität (wie man das heute nennen würde) von denen, die sich in ihn verliebten und seine Nähe suchten, eine nach der und einen nach dem anderen. Sie passten ihm einfach nicht – es „matchte“ nicht, wie man heute sagt. Einer der von Narziss Verschmähten verfluchte ihn schließlich, er solle selbst jemandem hinterherlaufen, ohne dass seine Liebe erwidert würde. So geschah es – auf unerwartete Weise.