38,99 €
Welche Auswirkungen hat traumatischer Stress? Was ist das eigentlich, ein Trauma? Und wer ist betroffen? Inzwischen gehen Forscher*innen davon aus, dass wir so gut wie alle mindestens einmal im Leben einer Situation ausgesetzt sind, die uns innerlich kollabieren lässt. Die meisten Menschen schaffen es, das Ereignis einigermaßen gut zu verarbeiten, auch wenn manches viele Jahre braucht. Aber was ist, wenn das Ereignis tiefere Wunden hinterlässt, etwa weil es sich (mehrfach) wiederholt? Wie lange können wir aus- und durchhalten, ohne langfristige schwere Folgen davonzutragen? Dieses Buch beschäftigt sich mit "toxischem", also giftigem, traumatischen Stress und seinen Folgen. - Wer und was verursacht diesen Stress? - Welche Konsequenzen hat er? - Wie wirkt er sich auf eine kindliche Entwicklung aus? - Inwiefern verhindert er die Herausbildung eines zusammenhängenden Ichs? In der überarbeiteten und aktualisierten Auflage ihres Klassikers geht Michaela Huber auf die aktuellen Entwicklungen der Psychotraumatologie ein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 577
Veröffentlichungsjahr: 2020
Michaela HuberTrauma und die Folgen Trauma und Traumabehandlung Teil 1
Welche Auswirkungen hat traumatischer Stress?
Was ist das eigentlich, ein Trauma? Und wer ist betroffen? Inzwischen gehen ForscherInnen davon aus, dass wir so gut wie alle mindestens einmal im Leben einer Situation ausgesetzt sind, die uns innerlich kollabieren lässt. Die meisten Menschen schaffen es, das Ereignis einigermaßen gut zu verarbeiten, auch wenn manches viele Jahre braucht. Aber was ist, wenn das Ereignis tiefere Wunden hinterlässt, etwa weil es sich (mehrfach) wiederholt? Wie lange können wir aus- und durchhalten, ohne langfristige schwere Folgen davonzutragen?
Dieses Buch beschäftigt sich mit „toxischem“, also giftigem, traumatischen Stress und seinen Folgen.
Wer und was verursacht diesen Stress? Welche Konsequenzen hat er? Wie wirkt er sich auf die kindliche Entwicklung aus? Inwiefern verhindert er die Herausbildung eines zusammenhängenden Ichs?In der überarbeiteten und aktualisierten Auflage ihres Klassikers geht Michaela Huber auf die aktuellen Entwicklungen der Psychotraumatologie ein.
Michaela Huber ist Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie ist seit deren Gründung 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD).
Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2003
6., überarbeitete Auflage 2020
Coverbild: © 2017 Andrew Ostrovsky – StockAdobe
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020
ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0139-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0140-3 (EPUB), 978-3-7495-0142-7 (PDF), 978-3-7495-0141-0 (MOBI).
„Ich habe kein Trauma. Was soll das sein, ein Trauma? Andere haben doch viel Schlimmeres erlebt. Und wenn – ich bekomme doch ohnehin keinen Therapieplatz.“ So könnte man zusammenfassen, was – auch laut Umfragen im Jahr 2020 – viele Menschen denken. Sie glauben, ein Trauma, das ist etwas ganz, ganz Schlimmes, das nur andere Leute haben. Und wenn ihre Belastungen ihnen noch so sehr zu schaffen machen: Lieber versuchen die meisten, irgendwie allein damit fertigzuwerden, als sich auf die mühsame Suche nach einer guten PsychotherapeutIn zu machen. Das ist aller Ehren wert, könnte aber auf Dauer doch immer wieder zu Einbrüchen im Leben führen, vielleicht auch zu Zusammenbrüchen.
Ja, was ist das eigentlich, ein Trauma? Haben das nur andere Leute? Inzwischen gehen ForscherInnen davon aus, dass wir so gut wie alle im Leben mindestens einmal einer Situation ausgesetzt sind, die uns innerlich kollabieren lässt. In oder nach der wir denken: „Jetzt ist alles aus.“ In der wir so existenziell bedroht sind, dass wir spüren: „Das verkrafte ich nicht.“ Viele von uns schaffen es, das Ereignis einigermaßen gut zu verarbeiten, auch wenn manches viele Jahre braucht. Aber was ist, wenn das Ereignis tiefere Wunden hinterlässt, etwa weil es sich auch noch – gefühlt oder tatsächlich – mehrfach wiederholt? Wie lange können wir aus- und durchhalten, ohne langfristige schwere Folgen davonzutragen?
Als dieses Buch in der ursprünglichen Version 2003 zum ersten Mal erschien, standen viele Menschen noch unter dem Eindruck von „Nine Eleven“: dem Terrorangriff auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001, ein weltweites traumatisierendes Ereignis, nach dem nichts mehr war wie zuvor. Inzwischen – ich schreibe dies im Frühjahr 2020 – sind wir weltweit von zahllosen Terrorangriffen heimgesucht worden, auch in Deutschland. Wir sehen so viele Geflüchtete einzeln und in Menschenmassen unterwegs wie noch nie in der Menschheitsgeschichte, weil drei Faktoren diesem kleinen blauen Planeten extrem zusetzen: der Klimawandel, zahlreiche nicht enden wollende Kriege und eine Mischung aus hemmungslosem Raubtierkapitalismus und brutaler Unterdrückungspolitik in den und durch die meisten mächtigen Staaten der Welt. Alle diese Faktoren hängen zusammen und bedrohen den Fortbestand der Menschheit, der Tierwelt, der gesamten Natur auf der Erde.
Viele Menschen sind daher neben dem, was sie an persönlichen Belastungserfahrungen mitbringen, auch zusätzlich gestresst: durch den Dauerbeschuss mit schlechten Nachrichten, von einem verbreiteten „Apokalypse“-Gefühl und der Notwendigkeit, für sich und ihre Lieben das tägliche Leben organisieren zu müssen. Wozu sich dann noch der eigenen Vergangenheit zuwenden?
Eine Antwort könnte lauten: Um Energie freizusetzen. Energie, die gebunden ist. Dadurch, dass man sich die früheren Schrecken vom Hals halten muss, was einen Preis hat: Lebensfreude. Stattdessen engt man sich ein aufs Funktionieren, fühlt sich wie ein Hamster im Rad, und ab und zu bricht etwas durch, das man dann mit Alkohol, Medikamenten oder anderen Mitteln bekämpfen muss: Schmerz. Körperlicher und seelischer Schmerz.
Heute wissen wir aus Neurobiologie, Hirnforschung, Epigenetik, Bindungsforschung und aus der klinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Forschung und Praxis: Wer zu viel Stress hat, wird krank an Körper, Geist und Seele. Manchmal schleichend, mal sofort. Und schädigt auch die Nachkommen, denn körperlich und seelisch chronischer Stress wirkt ähnlich wie traumatisierende Ereignisse: Er erodiert bis in unsere Zellstrukturen hinein unsere Gesundheit, fördert Entzündungsprozesse, schädigt das Immunsystem, lässt uns schneller altern und früher sterben. Dies gilt ganz besonders für Menschen, die bereits als Kind viel Stress erdulden mussten. Und von diesen leiden wiederum besonders diejenigen unter teils extremen Spätfolgen, die von ihren eigenen primären Bindungspersonen (Mutter, Vater …) als Kind seelisch, körperlich und / oder sexuell gequält wurden. Die Befunde sind einheitlich und erschreckend.
Was hilft dagegen? Zum einen Aufklärung. Weshalb kann Stress so eine verheerende Wirkung haben, dass eine dauerhafte Wunde entsteht? Denn nichts anderes bedeutet „Trauma“ als: Wunde. Wann ist Stress in der Lage, so verheerend zu wirken, dass wir Jahrzehnte unserer Lebenserwartung verlieren und unterwegs mit überwältigenden Ängsten, niederschmetternden Depressionen oder unzähligen Schmerzsyndromen ringen, von Beziehungsproblemen ganz zu schweigen?
Was hilft hier noch? Vor allem dreierlei: Beziehung. Und dann: Beziehung. Und schließlich: Beziehung. Zumindest dann, wenn sie unterstützend ist. Und zwar von allem Anfang an. Sichere Bindungserfahrung als Kind schützt uns vor dem Abstürzen in die ultimative Verzweiflung, wenn wir in Not geraten. Soziale Unterstützung ist auch nach traumatisierenden Einwirkungen lebenslang der wichtigste protektive Faktor vor langfristig schlimmen Konsequenzen für Körper, Seele und Geist. Und selbst wenn schon viele negative Folgen eingetreten sind, kann gute Bindungs- und Beziehungserfahrung, privat und in professionellem Rahmen, uns helfen, aus dem tiefen Tal der Traumafolgen herauszufinden.
Daher ist dieses Buch – auch in der nun völlig überarbeiteten Fassung – vor allem ein Plädoyer an Sie, die Sie dies lesen: Geben Sie nicht auf. Geben Sie die Suche nicht auf nach unterstützenden Menschen. Seien Sie selbst so jemand für ein Lebewesen in Not, ein Tier, ein Kind, eine/n Jugendliche/n, eine NachbarIn, FreundIn, PartnerIn, KollegIn, KlientIn oder PatientIn. Sie selbst, Ihre Umwelt, ja der ganze Globus sind bedroht, das stimmt. Hier hilft – auch das zeigen zahllose Studien: aufrichtig zu sich selbst und anderen sein; genau hinschauen, auch wenn’s weh tut; lernen und verstehen und kompetenter werden; loslassen, was losgelassen werden muss, und kämpfen für Veränderung, wo immer dies nötig und möglich ist. Begnügen Sie sich nicht. Niemals. Biologische Systeme können sich bis zum letzten Lebensmoment verändern. Wenn sie lernen.
Dieses Buch beschäftigt sich mit „toxischem“, also giftigem, traumatischem Stress und seinen Folgen. Dabei gilt es, in alle Himmelsrichtungen zu schauen, um das Verständnis zu vergrößern darüber, wer und was diesen Stress verursacht und welche Konsequenzen er hat. Toxischer Stress kann verhindern, dass ein Kind überhaupt ein zusammenhängendes Ich entwickelt. Er kann auch später im Leben Menschen zerbrechen. Und sie gleichgültig, zynisch oder zu Ausbeutern werden lassen, für die nur Macht und Geld zählen. Oder zu ewigen Opfern, die wieder und wieder geschädigt werden. Oder zu ohnmächtigen Zeugen, die das Gefühl haben, dass alles, was sie tun könnten, ohnehin nichts helfen würde. Egal zu welcher Kategorie Sie sich im Zweifelsfall zählen: Geben Sie nicht auf. Sie können Ihr Leben verändern und mehr Lebensfreude und vor allem: Sinn im Leben finden. Das, was man posttraumatisches Wachstum nennt. Damit – und mit allem, was helfen kann, von Traumata zu genesen – wird sich der zweite Band dieses Zweiteilers beschäftigen: Wege der Traumabehandlung.
Gefahr erkannt – Gefahr gebannt? So schnell geht es nicht. Zur Veränderung gehören die Prozesse: Erkennen und Anerkennen. Daher beginnt es hier. Mit dem genauen Hinsehen. Manches wird keine einfache Lektüre für Sie sein, vor allem, wenn Sie selbst unter den Spätfolgen schwerer Kindheitsbelastungen leiden oder solche Menschen begleiten und selbst über viel Mitgefühl verfügen. Lesen Sie das Buch daher langsam, portioniert, sorgsam. Vielleicht machen Sie sich Notizen. Und zum Weiterlesen habe ich einen besonderen Service beigefügt: Eine Auswahl der besten deutschen und internationalen Literatur, die es zum Thema Trauma und die Folgen gibt, Stand heute.
Möge die Lektüre Sie ermutigen.
Göttingen / Lanzarote im Frühjahr 2020
Michaela Huber
Herzlichen Dank an alle die vielen Menschen, die helfen, Wissen zum Thema Trauma und die Folgen zusammenzutragen:
Zuallererst sind meine KlientInnen und alle die vielen Menschen, auch die vielen „Vielen“, die mir z. B. über meine Website schreiben, eine einzige große Fortbildung für mich gewesen und sind es immer noch. Sie lehren mich, wie sie empfinden, wie sie die Welt sehen, was sie erlebt haben, wie sie damit umgehen, was ihnen beim Überleben und „Leben danach“ geholfen hat, wofür sich das Leben für sie trotz all der körperlichen und seelischen (Aufarbeitungs-)Schmerzen lohnt und wie viel Energie freigesetzt werden kann, wenn diese Energie nicht mehr nur zum Überleben gebraucht wird.
Dann bin ich natürlich allen KollegInnen dankbar, die sich des Themas Traumafolgen annehmen, die ihre KlientInnen und PatientInnen ernst nehmen, die sie befragen, beforschen und die Ergebnisse zur Diskussion stellen. Äußerst dankbar bin ich meinen KollegInnen von der DGTD, der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation e.V., Nachfolgeorganisation der „ISSD e.V., deutsche Fachstudiengruppe“, deren 1. Vorsitzende zu sein ich seit 1995 die Ehre habe und mit denen ich jedes Jahr eine spannende Tagung auf die Beine stelle.
Dankbar bin ich allen, die mir Material für dieses Buch und die Überarbeitung zur Verfügung gestellt haben, darunter die Illustratorinnen Emmyou Schappert und Janina Röhrig sowie die FachkollegInnen Ursula Gast, Jan Gysi, Ulrich Frommberger, Eli Somer, Frauke Rodewald, Yolanda Schlumpf und zahllose andere. Besonderen Dank schulde ich auch Lisa Grosse, die mir monatelang bei der Literaturrecherche für die Überarbeitung geholfen hat.
Meine wunderbare Geschäftsführerin Renate Vorwald und alle MitarbeiterInnen meines kleinen Unternehmens, die mir den Rücken freihalten, mir zuarbeiten, meine Schusseligkeiten ausbügeln und all die fürchterlichen formalen Dinge für mich erledigen, vor denen ich mich fürchte – sie seien herzlich bedankt!
Heike Carstensen, die seit Jahrzehnten meine Bücher bei Junfermann betreut, hat sich sehr darum bemüht, dass ich das Buch noch einmal nach fast 20 Jahren neu bearbeite, und ich hoffe, sie findet, das hat sich gelohnt.
Last not least danke ich meinen FreundInnen und mit mir privat Verbündeten für ihre Freundlichkeit, Unterstützung und loyale Kritik. Meiner Wahl-Familie aus Zwei- und Vierbeinern danke ich für das manchmal turbulente große Glück.
Michaela Huber
Die besondere Qual der Trauma-Überlebenden besteht darin, dass sie entweder zu viel oder zu wenig von ihrem Trauma erleben.
Wenn sie zu wenig davon erleben, dann versuchen sie, ihr alltägliches Funktionsniveau wiederzugewinnen und zu halten: Essen, Schlafen, Arbeiten, Kinder versorgen – Tätigkeiten, die unmöglich auszuführen wären, wenn sie sich gleichzeitig mit den Erinnerungen an das überwältigende Ereignis des Traumas herumschlagen müssten, das vielleicht in einem Überfall, einer Vergewaltigung oder infolge chronischer Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung in der Kindheit bestand. Sie versuchen dann, alle Erinnerungen an ihr Trauma zu vermeiden, seine Bedeutung für ihr Leben herunterzuspielen oder leugnen sogar, dass das Trauma je stattgefunden hat. Auf diese Weise können Überlebende schwerer Misshandlungen in der Kindheit an der Überzeugung festhalten, sie hätten eine schöne Kindheit gehabt.
Erleben sie jedoch zu viel von ihrem Trauma, dann ist es häufig, als wären sie wieder zurück in ihrem ursprünglichen Schrecken, so als fände das Ereignis gerade jetzt statt: Sie erleben auf sensomotorische und emotionale Weise ihr Trauma noch einmal, und dieses Erleben kann sich so wirklich anfühlen, als existiere ihr normales Alltagsleben gar nicht.
Außer bei Terroranschlägen wie dem 11. September 2001, Kriegstraumata in weit entfernten Ländern, Katastrophen oder medial groß aufbereiteten Ereignissen wie die Ermordung eines Kindes durch einen Fremden vermeidet unsere Gesellschaft es eher, die Bedeutung von Traumatisierungen wahrzunehmen. Holocaust-Überlebende, Kriegsveteranen, Opfer von Vergewaltigung, Inzest oder anderen akuten oder chronischen Gewaltformen haben erlebt, dass die Gesellschaft ihre Geschichte nicht hören wollte – und viele Überlebende haben niemals eine gesellschaftliche Anerkennung ihrer Qualen erfahren. Zwar betonen politische Stellen stets aufs Neue, dass Kindesmisshandlung – die wahrscheinlich verbreitetste und am wenigsten erkannte Form der Traumatisierung – ein ernstes gesellschaftliches Problem sei. Doch gleichzeitig werden kaum oder gar nicht Konsequenzen aus diesem allgemeinen Wissen gezogen, keine wirklich angemessenen Dienstleistungen zum Schutz der Kinder vor Misshandlungen und kaum Hilfen für misshandelte Kinder und beraterische sowie therapeutische Einrichtungen für Überlebende bereitgestellt; falls es überhaupt entsprechende Einrichtungen gibt, müssen diese jedes Jahr aufs Neue um ihr finanzielles Überleben kämpfen.
Und es gibt außerordentlich wenig spezialisierte Behandlungsprogramme für Erwachsene, die als Kind misshandelt wurden. Wer als Erwachsener um Hilfe nachsucht, wird wahrscheinlich häufig eine unangemessene Behandlung, wenn nicht gar eine eindeutige Fehlbehandlung erfahren. Denn die gesellschaftliche Missachtung von Traumatisierungen, besonders von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, spiegelt sich nicht nur im Gesundheitswesen, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft. Mit einigen positiven Ausnahmen stürzen sich die Medien zum Beispiel gern auf solche Themen wie angeblich falsche Beschuldigungen von Misshandlungen und „falsche Erinnerungen“, statt sich mit der – sicher sehr viel größeren – gesellschaftlichen Bedeutung von Vernachlässigung sowie körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt gegen Kinder und Frauen auseinanderzusetzen.
Krebs und Aids erhalten ebenfalls, zum Beispiel in der Presse und den elektronischen Medien, sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Dabei stellen die gesellschaftlichen Kosten dieser Erkrankungen tatsächlich nur einen Bruchteil dessen dar, was an Folgen von Kindesmisshandlung auf die Gesellschaft zukommt. Langzeitstudien haben erwiesen, dass Opfer schwerer Kindesmisshandlung als Erwachsene sehr viel häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, chronische Lungenerkrankungen, Knochenbrüche und Leberschäden erleiden; außerdem entwickeln sie häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung und andere komplexe traumabedingte Störungen, die – wenn sie unentdeckt und unbehandelt bleiben – häufig schwere und komplexe Folgeschäden nach sich ziehen.
Häufige Folgen umfassen neben neurobiologischen Anomalien: Depressionen, Ängste, Störungen der Affekt- und Impulskontrolle, dissoziative Störungen, sexuelle Probleme, ein geringes Selbstwertgefühl, Selbstverletzungen, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit, Suizidgefährdung und vollendete Suizide. Prospektive Studien haben herausgefunden, dass Vernachlässigung sowie körperliche und sexuelle Kindesmisshandlung die kognitive Entwicklung verzögern sowie delinquentes Verhalten, Kriminalität und anderes gewalttätiges Verhalten, Prostitution und erneute Traumatisierung im Erwachsenenalter bewirken können.
In diesem verstörenden und alarmierenden Kontext ist als gute Nachricht festzuhalten, dass Traumaexperten – auch in deutschsprachigen Ländern – in den letzten Jahrzehnten einen enormen Fortschritt gemacht haben im Hinblick auf unser Verständnis der kindlichen und erwachsenen Traumatisierung und der erforderlichen Behandlungsmethoden.
So haben zum Beispiel neue neurobiologische Forschungstechniken unser Verständnis dafür vergrößert, welche Hirnregionen wie von Traumatisierungen betroffen sind, und in deutschen Verlagen erscheinen bedeutende klinische und Lehrbücher über dissoziative Störungen.
In ihrem außerordentlich gut dokumentierten Buch „Trauma und die Folgen“ präsentiert die international anerkannte Psychologin Michaela Huber einen exzellenten Einblick in den Stand der Wissenschaft und die klinischen Erkenntnisse der vielen Facetten des Traumas. Dabei hat sie ihre Talente als sehr erfahrene Therapeutin, Supervisorin, Ausbilderin und als bekannte Autorin miteinander verknüpft und einen äußerst lesbaren Text geschaffen, der erklärt, was bei traumatisierenden Ereignissen wirklich geschieht, wie die erzwungenen Fragmentierungen während und nach dem Ereignis dem menschlichen Gehirn zusetzen, wie Opfern das Überleben gelingt, wie ihre Beziehungen und Bindungen durch die Bedeutung des Traumas beeinflusst werden, wie Traumatisierung sich in einer Reihe von Symptomen und psychischen Störungen niederschlagen können und welche Funktionen solche traumabedingten Schlüsselsymptome wie Selbstverletzung haben können.
Darüber hinaus ist sie nicht vor der äußerst schwierigen und undankbaren Aufgabe zurückgeschreckt, sich als Überbringerin schlechter Nachrichten zu erweisen, das heißt, eine der schrecklichsten Formen von Misshandlungen zu beschreiben, nämlich organisierte sadistische Gewalt, die häufig als rituelle Gewalt bezeichnet wird. Medien und viele Angehörige von Berufsgruppen im Sozial- und Gesundheitswesen tun dieses scheußliche Phänomen gern als „zu fantastisch, um wahr zu sein“ ab; das würden viele von uns auch gern machen, die wir Überlebende solcher chronischen Misshandlungen behandeln und mit dem extremen Leid konfrontiert sind, das aus solcherart erlittener Gewalt herrührt.
In „Trauma und die Folgen“ kann Michaela Huber ihre außergewöhnlichen Qualitäten so umsetzen, dass ihr Text sowohl äußerst instruktiv ist für KollegInnen im Sozial- und Gesundheitswesen als auch sehr informativ und gut lesbar für eine allgemeine Öffentlichkeit, einschließlich der Menschen, die selbst traumatisiert worden sind. Ihre Sorgfalt im Umgang mit den Traumaüberlebenden zeigt sich unter anderem darin, dass sie Texte, die möglicherweise zu belastend für sie sein könnten, kursiv drucken ließ. Auch wenn sie klare und nachvollziehbare Informationen über die diagnostischen Kriterien verschiedener traumabedingter Störungsformen gibt, gelingt es ihr, in einer Kombination von Faktendarstellung und persönlicher Bewertung den Lesern gute Hinweise zu geben. Ihre zahlreichen sehr informativen Fallbeispiele sind gekennzeichnet von ihrem tiefen Respekt für Traumaüberlebende. Indem sie ihnen sowohl in ihrem Leid wie in ihrer menschlichen Würde – die so sehr von den Menschen attackiert wurde, die ihnen Gewalt antaten – begegnet, hat Michaela Huber ein mutiges und von Achtsamkeit und Respekt getragenes Buch geschrieben.
Tatsächlich brauchen LeserInnen selbst einen gewissen Mut, um sich für die Wirklichkeit menschengemachter Traumata in ihren vielen Ausdrucksformen zu öffnen, die Michaela Huber so eindrucksvoll beschreibt. Vielleicht wird man nach der Lektüre trauriger, aber auch weiser sein. Und man erhält ein starkes empirisch fundiertes und klinisch überprüftes Wissen als solide Grundlage für weiteres Lernen über die Heilungsmöglichkeiten von seelisch erschütternden Ereignissen.
Ich wünsche diesem so wichtigen Buch viele LeserInnen und für uns alle noch mehr so engagierte und kompetente KollegInnen wie Michaela Huber. Möge dieses Buch in diesem Sinne dazu beitragen.
Onno van der Hart
Onno van der Hart ist emeritierter Professor für Psychopathologie chronischer Traumatisierungen an der Abteilung für Klinische Psychologie der Universität Utrecht, Niederlande.
Das Thema schwere Traumatisierungen und deren Folgen ist in Deutschland später als in anderen Ländern ins Bewusstsein der Fachleute gerückt. Während insbesondere in den USA und den Niederlanden bereits eine Fülle von Erkenntnissen und klinischem Wissen zusammengetragen war, wussten wir hier in Deutschland Anfang der 1990er-Jahre so gut wie nichts über schwere Traumafolgen und in Sonderheit dissoziative Störungen.
Heute wissen erheblich mehr Therapeutinnen und Therapeuten als früher, nicht zuletzt dank Michaela Hubers Engagement, um Traumatisierungen und deren Folgen. Dennoch ist festzustellen, dass viele im Hinblick auf genaue Diagnostik und Therapie unsicher sind. Die genaue Kenntnis der Störungsbilder und eine präzise diagnostische und prognostische Einschätzung sind aber, wie bei jeder Psychotherapie, von großem Wert. Darüber hinaus kann eine nicht trauma-adaptierte Therapie bei einem traumatisierten Menschen viel Unheil anrichten, dessen Leiden verlängern und die Therapie verzögern.
Manche beklagen, dass die Beschäftigung mit Traumata und deren Folgen eine Mode geworden sei. Bei genauer Betrachtung sieht es aber eher so aus, dass, je mehr sich unser Wissen verbreitert und je mehr auf diesem Gebiet geforscht wird, sich umso mehr herausstellt, dass sehr viele seelische und psychosomatische Störungsbilder mit Traumatisierungen zusammenhängen. Für Betroffene kann das sogar eine befreiende Erfahrung sein, auch wenn sie schmerzhaft ist. Hier zeigt sich Michaela Huber als engagierte Anwältin derjenigen, die Traumatisierungen erlitten haben. Mehr noch: Wie schon in der Erstausgabe des Buches erwähnt, zeigen neuere Untersuchungen von Felitti und seiner Arbeitsgruppe aus Los Angeles, und inzwischen von vielen anderen ForscherInnen, dass u.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen im späteren Leben und vieles mehr mit Kindheitsbelastungen in Zusammenhang stehen.
Für viele mag das eine erschreckende Erkenntnis sein, der sich sogar Fachleute noch immer nicht stellen wollen; denn es mag schwer zu akzeptieren sein, dass Kindheit teilweise katastrophale Folgen hat. Bedenkt man: Als ich Ende der 1960er-Jahre begann, mich als Medizinalassistentin auf den Beruf der Ärztin vorzubereiten, wurde mir noch gesagt, dass ein kleines Kind keinen Schmerz verspürt und dass ihm infolgedessen Belastungen nichts anhaben können; so ist hier tatsächlich zum Glück ein eindrucksvoller Wandel geschehen, der uns immer tiefer beschäftigen sollte. Denn leider ist es uns trotz intensiven Bemühens noch immer nicht gelungen, Traumatisierungen von Kindern entscheidend einzugrenzen oder gar zu verhindern. Das halte ich für eine bittere Erkenntnis. Umso mehr ist es wichtig, dass es brauchbares Handwerkszeug für diejenigen gibt, die Traumaopfern beistehen wollen. Dazu trägt dieses Buch entscheidend bei.
Glücklicherweise heilen viele Menschen von ihren Traumatisierungen sogar spontan und über die Zeit. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass vor allem die frühen Traumatisierungen zu schweren Beeinträchtigungen führen können, die die Betroffenen selbst und ihre BehandlerInnen vor große Herausforderungen stellen.
Michaela Huber ist eine der wichtigsten Pionierinnen auf dem Gebiet der Traumaforschung sowie kenntnisreicher Erfahrung mit der Therapie schwer traumatisierter Menschen und hat mit ihren Büchern Meilensteine im deutschen Sprachraum gesetzt. In dieser Überarbeitung ihres Buches legt sie erneut besonderen Wert auf das Verständnis der schweren Traumatisierungen. Und wie man Betroffenen angemessen beistehen kann. Dies ist sehr zu begrüßen. Denn wie wichtig das ist, hat sich in den Jahren nach der Ersterscheinung des Buches immer mehr bestätigt, nicht zuletzt durch Forschung, auf die Michaela Huber in diesem Buch detailliert eingeht, sodass alle, die dies interessiert, sich umfassend informieren können
Ein großes Verdienst dieses Buches sehe ich erneut darin, dass Michaela Huber eine ganze Reihe von Fragebögen zur Verfügung stellt. Da schließt dieses Buch nochmals eine Lücke. Damit und mit den genauen und einfühlsamen Beschreibungen der Symptome und Probleme von PatientInnen mit Traumafolgestörungen ist es auch für auf dem Gebiet noch nicht allzu erfahrene Therapeutinnen möglich, sich einen guten Überblick zu verschaffen, diagnostische Klarheit zu gewinnen und entsprechend zu handeln. Und auch auf dem Gebiet bereits erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten werden zu neuen Sichtweisen vielfältig angeregt.
Nicht zuletzt hilft dieses Buch auch Betroffenen, sich umfassend informieren zu können. Es ist wertvoll, dass eine erfahrene Fachfrau diesen Weg geht und damit Betroffenen auf Augenhöhe begegnet, was leider nicht selbstverständlich ist.
Luise Reddemann
Die Bombe krepiert in der Bar um dreizehn zwanzig. Jetzt ist erst dreizehn sechzehn. Einige schaffen es noch, das Lokal zu betreten. Andere es zu verlassen.
Der Terrorist ist bereits auf die andere Straßenseite gegangen. Diese Entfernung schützt ihn vor allem Übel, und die Sicht ist genau wie im Kino:
Die Frau in der gelben Jacke geht rein. Der Mann mit der dunklen Brille kommt raus. Die Jungen in Jeans unterhalten sich noch. Dreizehn siebzehn und vier Sekunden. Der Kleinere, der hat Glück und besteigt den Roller, der Größere geht hinein.
Dreizehn siebzehn und vierzig Sekunden. Ein Mädchen mit grünem Band im Haar kommt näher. Nur dass der Bus sie plötzlich verdeckt. Dreizehn achtzehn.Das Mädchen ist weg.Ob sie so dumm war, reinzugehen, oder auch nicht,das wird sich später zeigen, wenn die Leichen herausgetragen werden.
Dreizehn neunzehn.Niemand geht rein.Dafür kommt ein Dicker mit Glatze noch raus.Doch so, als suchte er etwas in seinen Taschen, und gehtzehn Sekunden vor dreizehn zwanzigzurück, seinen elenden Handschuh zu holen.
Es ist dreizehn zwanzig.Wie sie sich schleppt, die Zeit.Wohl jetzt.Noch nicht.Ja, jetzt.Die Bombekrepiert.
(Wiszlawa Szymborska)
So zufällig wird in Wiszlawa Szymborskas Gedicht „Der Terrorist, er sieht zu“ entschieden, wer lebt und wer sterben muss. Die polnische Lyrikerin, die als junger Mensch erlebte, wie die Nazis in ihrem Land wüteten, bringt damit ihre Fassungslosigkeit zum Ausdruck: darüber, dass Menschen andere zum Opfer machen; dass die Opfer in einem Moment noch nichts ahnen, völlig unschuldig sind, während sie im nächsten Moment etwas erleben, das sie entweder sofort tötet oder fürs Leben zeichnen wird. Und alles so zufällig – wenn man nicht an Schicksal glauben will, und Szymborska glaubt nicht an vorbestimmtes Schicksal. Wir erleben die herannahende, menschengemachte Katastrophe aus der Sicht des zuschauenden Täters. So wie wir im Fernsehen in Spielfilmen zuschauen können, wie Menschen in eine tödliche Falle gehen; oder in den Nachrichten und Dokumentarsendungen oder in Videoschnipseln im Internet Zeuge werden, wie Kriege und Terroranschläge vorbereitet und durchgeführt und wie danach die Opfer herausgetragen werden.
Wenn man sich von diesem Gedicht ergreifen lässt, kämpft man vielleicht mit den Tränen und möchte unwillkürlich ausrufen – ob man nun gläubig ist oder nicht: Mein Gott, wie schrecklich!
Müssen wie einfach so zusehen? Szymborska lässt den Lesern keine mentale Möglichkeit einzugreifen; sie beschreibt das herannahende Verhängnis bis zum Moment des unausweichlichen Ausbruchs: Die Bombe ist gezündet, sie wird auf jeden Fall krepieren. Nur ein Wunder könnte geschehen, und es geschieht nicht.
Müssen wir zusehen, ohnmächtig und hilflos? Ja. Wir können oft nicht verhindern, nicht aufhalten, was an Schrecken um uns herum geschieht. Müssen wir darüber resignieren? Ich meine: Nein.
Wir können unermessliches Leid oft nicht verhindern. Doch was wir tun können, ist, uns um die Opfer und Überlebenden zu kümmern, ihnen beizustehen. Und vielleicht aufmerksam dafür zu sein, ob wir ein andermal etwas Ähnliches verhindern könnten.
Lange habe ich mir überlegt, wie ich Sie sozusagen in dieses Buch „hineinholen“ könnte, Sie interessieren, vielleicht sogar faszinieren, für das Thema und den Inhalt – für den menschlichen Umgang mit unfassbaren Schrecken, die man gerade eben so überlebt hat.
Dann fand ich Szymborkas Gedicht.
„Trauma und die Folgen“ – das Thema ist ja kein leichtes, und so haben Sie wahrscheinlich auch nur deshalb nach diesem Buch gegriffen, weil Sie irgendetwas mit dem Thema verbindet. Etwas ist in Ihrem Leben geschehen, das Sie als ein Trauma beschreiben würden. Oder vielleicht überlegen Sie, ob das, was Sie erlebt haben, die Qualität eines Traumas hat. Denn ein Trauma ist ja eine Wunde, Chirurgen wissen das, und so scheint es auch eine seelische Entsprechung zu geben: ein Psychotrauma, eine Seelenwunde. Haben Sie solche Wunden, und wenn ja, wie könnten Sie diese feststellen lassen – mit dem Ziel, dass sie vielleicht gut versorgt heilen könnten? Vielleicht sind Sie aber auch eher theoretisch am Thema interessiert: Als StudentIn, KollegIn, interessierte BürgerIn, die sich informieren will. Also: Herzlich willkommen, mit welcher Motivation Sie auch immer dieses Buch in die Hand genommen haben.
Als Psychotherapeutin, die früher einmal Wissenschaftsjournalistin war, bemühe ich mich darum, komplexe Sachverhalte verständlich auszudrücken. Und dazu gehört natürlich, dieses mein zentrales berufliches Lebensthema fachlich zu vermitteln, wobei ich mich stets, auch bei diesem Buch und dessen erneuter gründlicher Überarbeitung, als Lernende verstehe. Jeden Tag lernen wir Neues hinzu, auch über das Ungeheuerliche, das Unaushaltbare, den – wie Fachleute sagen – „toxischen Stress“ und dessen Folgen: das seelische Trauma, das auch sehr konkrete körperliche, soziale und Beziehungsfolgen haben kann.
Trauma: Viele Menschen interessieren sich seit der Auseinandersetzung um „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ für das Thema, manche seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, manche seit dem Zugunglück in Eschede, wieder andere vielleicht seit dem Erfurter Amoklauf oder anderen öffentlichen Gewalttaten. Was macht es, extremen Stresssituationen ausgesetzt zu sein? Übrigens haben solche Ereignisse auch eine Fülle neuer Forschungen zum Thema Trauma allgemein und den Themen Krieg, Terroranschläge, Katastrophen sowie Amokläufe angeregt – was typisch ist für dieses Feld: Wenn die Medien über schreckliche Ereignisse berichten oder so viele Menschen davon betroffen sind, dass die Angehörigen Interessengruppen bilden und staatliche Stellen sich zum Handeln gezwungen sehen, werden mehr Forschungsgelder auch für psychologische Diagnostik, Therapien und Forschung bereitgestellt.
Vielleicht haben Sie also selbst Schreckliches erlebt und wollen nun mehr darüber wissen, ob es anderen Menschen ähnlich geht und ob es neue Forschungs- und Therapieansätze gibt. Oder jemand, den oder die sie kennen, ist betroffen und Sie versuchen zu verstehen, was mit ihm / ihr los ist. Oder Sie sind im weiten Feld der Psychotraumatologie beruflich tätig – als Ergotherapeutin oder Pflegekraft, ÄrztIn oder PsychologIn, BeraterIn oder PfarrerIn, Physio-, Logo- oder MusiktherapeutIn, WissenschaftlerIn oder oder …
Im letzteren Fall werden Sie wissen, wie mühsam es ist, konkrete (Langzeit-)Therapien und Forschungen zum Thema „Folgen von chronischer Gewalt“ finanziert zu bekommen, und zwar sowohl im Bereich ambulante wie stationäre Behandlung. Der Großteil unserer Klientel ist ja nicht Opfer von Terroranschlägen oder Amokläufen oder Zugkatastrophen geworden – sondern von Gewalt in „ganz normalen Familien“, auch transgenerational. Da müssen sie sich mit den Spätfolgen von Gewalterfahrungen ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen, etwa mit den psychischen Langzeitfolgen von Kriegen und gewaltvollen Erziehungspraktiken. Manche, auch seelische Gewalt begann früh, dauerte lange und überschattete das gesamte weitere Leben der Betroffenen , machte sie im Extremfall zu „Drehtür-Psychiatrie-PatientInnen“ und in ambulanten Psychotherapie-Praxen zu gefürchteten „Therapeuten-Killern“, da offenbar wenig von dem, was traditionelle Psychotherapie und Psychiatrie anbieten können, ihnen hilft. Manche Formen von Gewalt machen die Betroffenen anfällig, wieder zum Opfer oder zu ohnmächtigen Zeugen zu werden, sich zum Täter zu wandeln und / oder eine Depression, Angststörung, Sucht oder Tendenz zur Selbstschädigung zu entwickeln. Jedenfalls dann, wenn niemand zwischendurch ausreichend erfolgreich eingreift oder wenn gar lebenslang niemand hilft.
Gerade früh und langjährig seelisch, körperlich und / oder sexualisiert gequälte Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben im Sozial- und Gesundheitswesen, ja überhaupt in dieser Gesellschaft keine Lobby – und besonders sie werden im Mittelpunkt dieses Buches und des Folgebandes stehen.
Inzwischen – ich schreibe dies im Frühjahr 2020 – sind Trauma und die Folgen (Band 1) sowie Wege der Traumabehandlung (Band 2) Klassiker geworden. Beide Bände zusammen sind ein Grundlagenwerk, das Betroffenen, Angehörigen und Professionellen gleichermaßen einen Einblick in diese komplexe Disziplin vermitteln könnte und das vor allem aus der Praxis heraus entstanden ist und nicht nur trockene Theorie verbreitet.
Inzwischen habe ich auch in vielen anderen Büchern und Artikeln zu Papier gebracht, was ich aus diesem Arbeitsfeld berichtenswert finde, was mich nun insgesamt mehr als vierzig Jahre beschäftigt und – ja, auch fasziniert, immer noch. So wünsche ich mir natürlich, dass etwas von dieser Faszination und der Liebe für das Fach und die Menschen mindestens zwischen den Zeilen herauszulesen ist.
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, hat Martin Buber einmal gesagt. Es gibt wohl keine intensivere Begegnung als die in der Therapie mit Menschen, die nach Erfahrungen, welche ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen haben, wieder versuchen, ins Leben zurückzufinden. Oder, wie es bei vielen früh und langjährig traumatisierten Mädchen und Frauen und einigen Jungen und Männern der Fall ist, mit denen ich meistens arbeite: Die überhaupt zum ersten Mal entdecken, wie äußere Sicherheit sich anfühlen, wie Lebensfreude schmecken kann. Sie dabei zu begleiten, sich zu der Persönlichkeit zu entwickeln, die erst einmal gewaltsam blockiert oder zersplittert wurde und die dann gereift und mit der Fähigkeit, nach innen beschützend und nach außen wehrhaft zu sein, ihr eigenes Potenzial entfalten kann – das ist eine große Freude. So herausfordernd und oft anstrengend diese Arbeit ist, sie verändert beide Beteiligten, und wenn es gelingt, bereichert sie und ist jeder Mühe wert.
Mühe kostet es natürlich, denn unterwegs gilt es für die KlientIn, so viel von den alten Schrecken hinter sich zu lassen wie nur irgend möglich. Bevor man das Entsetzliche jedoch wirklich los- und Vergangenheit werden lassen kann, muss man es anschauen und akzeptieren, ohne nur hineinzurutschen ins Wiedererleben, wie ja schon so oft zuvor. Und da sind beide gefordert: Die Betroffenen selbst, die hart arbeiten und konzentriert „dranbleiben“ müssen und deren Kreativität und Disziplin stets aufs Neue herausgefordert werden – und die TherapeutInnen (und BeraterInnen etc., die ich hier oft mit meine), die mit der Not der Betroffenen konfrontiert werden und nicht nur selbst gut geerdet sein, sondern auch einen großen „Handwerkskoffer“ voller Ideen und guter Arbeitstechniken mitbringen müssen. Letztlich braucht es aufseiten der TherapeutInnen vor allem Substanzielles in drei Bereichen:
Ein empfindendes Herz – wenn wir uns nicht anrühren lassen können, dann können wir auch nicht hilfreich sein – und dieses Berührbar-Bleiben will oft über lange Jahre gehalten sein, ohne dass man ausbrennt; das ist wirklich eine Kunst für sich;
eine belastbare Persönlichkeit und ein unterstützendes äußeres Umfeld – vor allem eine innere Unabhängigkeit, die verhindert, dass man sich in die Turbulenzen der Klientel (und oft auch in die ihres sozialen und familiären Umfelds) hineinziehen lässt;
nicht nur theoretische, sondern auch praktisch eingeübte Fertigkeiten im Umgang mit extremen Gefühlen, den Täteranteilen und dramatischen Körperzuständen bei der KlientIn (und deren Widerhall in der eigenen Person).
Meine Erfahrung ist, dass viele KollegInnen aus den oben genannten Bereichen, nicht nur ÄrztInnen und PsychologInnen (auch wenn diese noch einmal auf besondere Weise gefordert sind), das Potenzial oder schon sehr viel mehr dazu mitbringen. Meine Aufgabe ist es zunehmend geworden, KollegInnen dabei zu begleiten, die notwendigen Fähigkeiten zu entfalten und dabei auch in ihrer eigenen Persönlichkeit weiter zu reifen. Einige Tausend KollegInnen habe ich so im Laufe der letzten Jahre kennengelernt und begleiten dürfen, durch Vorträge und Ausbildungsseminare, Supervisionen und manche auch in Therapien.
Als Einlösung meines Versprechens, die Essenz der Erfahrungen plus der einschlägig relevanten Forschungsergebnisse aufzuschreiben, ist ein „Zweiteiler“ herausgekommen: Der hier vorliegende ist der erste von zwei Bänden zu „Trauma und Traumabehandlung“. Teil 2, Wege der Traumabehandlung, beschäftigt sich speziell mit dem Thema der Traumatherapie.
Abbildung: Ein Trauma geschieht
Als ich 1976 – gemeinsam mit der Sozialpädagogin Heidrun Zöllner – in Bielefeld eine erste therapeutische Gruppe zum Thema „tablettenabhängige Frauen“ anbot, kam ich frisch von der Uni mit einer klinischen Schwerpunktausbildung in Verhaltenstherapie. Mit Erschütterung stellte ich damals fest, dass samt und sonders alle Frauen dieser Gruppe – sie waren zwischen 18 und über 60 Jahren alt – schwere Traumatisierungen erlitten hatten, die meisten auch sexuelle Gewalt. Nun war ich selbst als Kind nicht auf Rosen gebettet gewesen, aber sexuelle Gewalt hatte ich nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Als Berufsanfängerin fühlte ich mich daher nicht nur äußerst herausgefordert, ich war auch schlicht empört, wie es eine noch recht naive 24-Jährige nur sein kann. Von da an kam ich mir vor wie Margaret Mead bei den Pygmäen. Ich fragte mich dauernd: Was ist das denn für eine Gesellschaft? In unserem Fall: eine Gesellschaft, die es sich leistet, Generation für Generation überwiegend männliche Täter und überwiegend weibliche Opfer sexualisierter Gewalt hervorzubringen (Ausnahmen bestätigen die Regel)? Was hat diese Gesellschaft für merkwürdige Riten, und vor allem: Wie lassen sie sich ändern, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen?
Abertausende von durchgeführten Therapiestunden später fühle ich mich immer noch herausgefordert – und immer noch empört. Auch wenn meine Naivität inzwischen einer eher nüchternen Sicht auf zwischenmenschliche Gewalt, einem Mitgefühl auch für männliche Opfer und einem Hinschauen auf weibliche Täter sowie einer pragmatischen Einstellung zu therapeutischen Hilfsmöglichkeiten gewichen ist: Niemals werde ich mich damit abfinden – und ich hoffe, Sie auch nicht –, wie viel Brutalität Männer anderen Männern sowie Frauen und Kindern antun können (etwa 80 Prozent aller Gewalttäter sind Männer), wie viel Wegsehen und Bagatellisieren und Nicht-Wahrhaben-Wollen und Wegducken und Vermeiden – und ja, wie viel heimliche oder „implodierende“, aber auch gerade ihren Schutzbefohlenen gegenüber brutalste Zerstörungskraft in Frauen steckt. Und wie ausgeliefert Kinder sind.
Ein Beispiel:
In der deutschen Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 heißt es: „Im Berichtsjahr 2018 wurden 63.782 Fälle von ‚Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung‘ registriert.“ Darunter 12.321 Fälle von „sexuellem Missbrauch von Kindern“ und 7.449 erfasste Fälle von „Verbreitung, Besitz und Herstellung kinderpornografischer Schriften“. So viel wie nie zuvor.
Und in beiden Bereichen – sexuelle Gewalt allgemein wie auch Kinderpornografie, die man ja besser „Kinderfolterdokumentation“ nennen sollte, – sind die Dunkelziffern sehr hoch. Mindestens das Zehnfache dessen, was offiziell erfasst wird, wird inoffiziell begangen, aber die Opfer wagen es nicht, den Täter anzuzeigen. Das gilt im Übrigen auch für andere Formen von Misshandlungen.
Stattdessen geschieht, was Judith Herman in ihrem Buch „Die Narben der Gewalt“ so formuliert hat: „Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taucht nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom“ (2018, S. 11).
Da nur etwa jeder Tausendste Täter jemals verurteilt wird, kann man sagen: In unserer Gesellschaft bleiben Misshandlungen juristisch verboten, aber faktisch straffrei. Der amerikanische Psychoanalytiker und Traumaexperte Harvey Schwartz schreibt dazu in seinem Buch „Dialogues with forgotten Voices“: „Wenn es in einer Gesellschaft möglich ist, dass massive Misshandlungen von Kindern praktisch ungehindert stattfinden können, dann werden in dieser Gesellschaft durchgängig solche kulturellen Kerndynamiken gefördert wie Ausbeutung, Entmenschlichung, Objektifizierung, Opferung, tödlicher Wettbewerb, Frauenfeindlichkeit und Erotisierung der Unterwerfung von Frauen sowie positive Bewertung von Dominanz und Kollusion [ungute Symbiose] als Formen menschlicher Beziehungen.“
Noch weiter gehen die Göttinger PsychotraumatologInnen Annette Streeck-Fischer, Ulrich Sachsse und Ibrahim Özkan in der Einleitung ihres lesenswerten Sammelbandes; „Gesellschaften, die Krieg führen und fortführen, folgen möglicherweise traumatisch bedingten Wiederholungszwängen. Unverarbeitete Kriegstraumata fließen vielleicht in korrupte Wert- und Normenvorstellungen einer Gesellschaft ein“ (Streeck-Fischer et al. 2001).
Die nach dem nationalen Trauma der Terroranschläge vom 11. September 2001 von den USA betriebene „Hau-drauf“-Politik inklusive der Spaltung, die sie damit bei den alliierten Europäern auslösten, und die Folgen – u. a. eine Radikalisierung der US-Politik nach rechts – mögen dafür international ein gutes Beispiel sein. In Deutschland waren es sicher im letzten Jahrhundert besonders die Nazi-Gräuel und die beiden Weltkriege, deren Traumata sich individuell auswirkten, aber kaum politisch und noch weniger persönlich aufgearbeitet wurden
Der Schwerpunkt dieses Buches und des zweiten Bandes Wege der Traumabehandlung werden also nicht Naturkatastrophen und Unglücke sein – auch wenn es zu den entsprechenden Forschungen Querverweise gibt. Sondern die zwischenmenschliche Gewalt soll uns hier beschäftigen, besonders die langjährige Gewalt, die in der Regel in den Familien ihren Ausgang nimmt und zu dem führen kann, was wir „komplexe Traumatisierung“ nennen.
Mit den oben angedeuteten gesellschaftlichen Auswirkungen, die eine sich stets weiterdrehende Spirale der Gewalt auslösen können, wenn diese nicht durchbrochen wird.
Wenn wir die Opfer (und wo immer möglich und so früh wie möglich auch die TäterInnen) behandeln und ihnen helfen, sich dem Trauma zu stellen, und wenn wir lernen, Gewalttaten effektiver zu sanktionieren, haben wir eine reelle Chance, diese Spirale aufzulösen, die sonst immer mehr Menschen mit in den Abgrund der von Generation zu Generation weitergegebenen Traumatisierungen reißt.
Erstaunlicherweise reagieren Menschen auf Naturkatastrophen und Unglücke zwar oft nicht mit so nachhaltigen Folgen, aber doch auch mit ähnlichen Reaktionen wie auf konkrete zwischenmenschliche Gewalt. Diese Erkenntnis verdanken wir PionierInnen wie Judith Herman oder Rachel Yehuda, Bessel van der Kolk, Onno van der Hart, Leonore Terr und anderen AutorInnen wie Figley, Burgess und Holmstrom, Lifton oder Horowitz und ihren Kollegen und Schülern, Ellert Nijenhuis, Luise Reddemann und inzwischen Hunderten anderer KollegInnen, deren wichtigste Arbeiten Sie im Literaturverzeichnis finden.
Eine vergewaltigte Frau reagiert unter Umständen sehr ähnlich wie ein Kriegsflüchtling, fand Herman heraus; ein geschlagenes Kind ähnlich wie ein Feuerwehrmann nach besonders hartem Einsatz; die Überlebende eines Tornados ähnlich wie ein Mann nach einem Raubüberfall. Sie alle können unter Umständen eine langfristige und heftige Reaktion bekommen, die man „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) nennt – meist aber nach dem amerikanischen Begriff „Posttraumatic Stress Disorder“ mit PTBS abgekürzt, was auch semantisch korrekter ist, denn es handelt sich nicht um eine Belastungs-, sondern um eine Stressverarbeitungsstörung.
Von allen Menschen müssen zwischen 60 und fast 90 Prozent in ihrem Leben eine unerträgliche, weil körperlich oder seelisch todesnahe Situation überstehen. Im Grunde können wir sagen: Fast alle Menschen erleben irgendwann einmal eine Situation, in der sie körperlich oder seelisch dem Tode nahe oder in absolut existenzieller Not waren. Zwei Drittel von ihnen schafft es glücklicherweise, das Ereignis ohne langfristige Schäden zu überleben. Doch einem Drittel immerhin geht es danach schlecht. Nicht nur unmittelbar danach – das geht allen Leuten so, die ein Trauma erlebt haben. Sondern auch noch mehr als drei Monate danach – der „Cut-off-Wert“, nachdem eine posttraumatische Akutreaktion in eine chronische Reaktion übergeht. Auch Menschen, die nie zuvor seelisch beeinträchtigt waren, können schon nach einem einmaligen traumatisierenden Ereignis eine solche langfristige Beeinträchtigung erleben. Dann leiden sie so sehr unter den Folgen, dass viele von ihnen ohne besondere Anstrengungen, längerfristige äußere Unterstützung bzw. ohne eine traumazentrierte Psychotherapie nicht in der Lage sind, dieses Ereignis so zu überwinden, dass sie sagen können: „Ja, es war schlimm, aber es belastet mich kaum noch.“
Allerdings werden sich für viele die traumatisierenden Ereignisse bis zur Unkenntlichkeit verändern, bis sie gar nicht mehr wissen, warum es ihnen so schlecht geht, warum diese Wunde, also dieses Trauma, einfach nicht heilen will. Sie kränkeln dann nur dauernd oder sind depressiv oder greifen zu Alkohol oder Beruhigungs- oder Schlafmitteln etc. Die meisten der älteren Generation haben versucht, sich durch „Zähnezusammenbeißen“ – oder „Einfach nicht mehr dran denken“ – das einst Unaushaltbare vom Hals und aus dem alltäglichen Erleben zu halten. Sie hatten Schlafstörungen, haben Alkohol oder Medikamente gegen alle möglichen Schmerzen zur Verfügung gehabt und sie auch genommen, weil es anders nicht ging. Erst die nach 1945 geborene Generation „erlaubt“ es sich, für das eigene seelische Leid überhaupt eine Psychotherapie in Betracht zu ziehen.
Welches sind diese Umstände, unter denen dieses eine Drittel der Menschen nach extremem Stress Traumafolgestörungen und wenn ja, welche, entwickelt? Wie sieht eine solche Störung aus? Wie fühlt sie sich an? Was macht sie mit Menschen? Davon soll dieser Band handeln.
Denn immer noch ist in der Allgemeinbevölkerung weitgehend unbekannt, dass extreme Ereignisse dauerhafte Schäden machen können, die nicht einmal der betroffene Mensch selbst mit diesem Ereignis in Verbindung bringt. Wer weiß schon, dass Menschen nach extrem belastenden Ereignissen mit chronischen oder solchen Depressionen oder Angststörungen reagieren können, die episodisch wiederkehren? Man dachte früher, das sei dann „endogen“, also angeboren, bis die Forschung herausfand: Man kann schon eine „Vulnerabilität“ für solche Reaktionen genetisch mitbringen, aber ob diese sich auch ausprägt, hängt von dem Ausmaß an (vor allem kindlichem) Stress ab. Und wer wusste schon, dass Kinder, die seelisch gequält, vernachlässigt oder misshandelt werden, nicht nur eine Bindungsstörung entwickeln, sondern auch hirnorganische Schäden erleiden können, die ihre weitere Entwicklung beeinträchtigen? Dass langjährige Gewalt nicht nur dauerhaft emotional „labil“ machen, sondern eine Persönlichkeit buchstäblich bruchstückhaft bleiben oder später im Leben immer noch in Stücke sprengen kann, sodass eine zersplitterte Identität oder eine überdauernde Identitätsunsicherheit entsteht?
Und umgekehrt: Wer weiß schon, dass eine Depression, eine generalisierte Phobie oder eine Bindungsstörung, dass motorische und Lernbeeinträchtigungen, Essstörungen und der Drang, sich anderweitig selbst zu schädigen, dass Persönlichkeitsstörungen und Identitätsunsicherheiten und -spaltungen das Ergebnis von Traumatisierungen sein können und es sehr häufig tatsächlich sind?
Besonderes Augenmerk habe ich in diesem Band auf die Diagnostik der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung gelegt. Denn neben den oben genannten Problemen und der klassischen PTBS, die drei Hauptmerkmale hat – quälendes Wiedererleben von traumatischen Sequenzen, Übererregungs- und Vermeidungssymptome –, leiden chronisch traumatisierte Menschen oft unter einer komplexen Form von posttraumatischer Störung, die amerikanische Kollegen als „DESNOS“ – „Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ – bezeichnet haben und die sowohl im internationalen Diagnosehandbuch DSM-5 eine eigene Diagnose-Kategorie bekommen hat als auch in der ICD-11: als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt K-PTBS. Diese hat viel mehr bedeutsame Symptombereiche als die „einfache PTBS“, nämlich Probleme mit der Regulation von Gefühlen, Bindungsstörungen, schwere Selbstwertprobleme, Somatisierungsstörungen, schwere Entfremdungserlebnisse in Wahrnehmung und Gedächtnis, chronische Empfindungen von Sinn- und Hoffnungslosigkeit bis hin zu immer wiederkehrenden Suizidgedanken oder -impulsen. So mancher „Lebensmüde“ ist ein Mensch, der früh unter viel zu viel Stress gelitten hat, und zwar nachhaltig so sehr, dass das Gefühl, eine lebenswerte Zukunft zu haben, verschwunden ist. Und so manche Depressive ist eine Person, der man im übertragenen Sinne, aber vielleicht auch fast wörtlich zu nehmen, „das Rückgrat gebrochen hat“. Wer unter dauernden Ängsten leidet, ist möglicherweise kein angeborener „Angsthase“, sondern hat vielleicht als Kind dauernd in Angst gelebt. Und wer eine gescheiterte Beziehung nach der anderen beklagt, könnte Eltern gehabt haben, die ihrem Kind unaushaltbare Spannungen vermittelten.
Motor meiner Arbeit ist aber vor allem nach wie vor die Tatsache, dass ich mich einfach nicht begnügen will. Nicht begnügen will damit, dass in einem so reichen Land wie dem unseren so viele Kinder vernachlässigt, verwahrlost und misshandelt werden. Nicht begnügen damit, wie viel mittelbare und unmittelbare Gewalt es in unserer Gesellschaft gibt, wie wenig sie gesehen und wie wenig die Opfer und Überlebenden respektiert und in ihrer Aufarbeitung gefördert werden.
Beratungsstellen für Kinder und Frauen, die Opfer von (z. B. sexueller) Gewalt geworden sind, werden ständig finanziell bedroht, das Personal auf Traumastationen in Kliniken ist chronisch arbeitsmäßig überlastet und von Stellenstreichung bedroht. Gewaltüberlebende werden nicht selten, ja eher regelhaft als „psychisch krank“ abgestempelt und stigmatisiert. Dies, finde ich, dürfen BürgerInnen in der Zivilgesellschaft einer lebendigen Demokratie so nicht hinnehmen. Wir brauchen den Respekt für die Opfer, Unterstützung für die Überlebenden, Finanzierung der Arbeit für die Helfenden, die sich der Opfer, der traumatisierten Zeugen und so früh wie möglich auch der TäterInnen annehmen.
Als Psychotherapeutin wie als Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung habe ich viele Menschen kennengelernt, die am Rande der Verzweiflung waren: Gewaltüberlebende, die oft jahrelang nach traumatherapeutisch ausgebildeten und von der Krankenkasse zugelassenen PsychotherapeutInnen suchten, weil sie den Willen hatten, von ihrer Traumatisierung zu genesen. TäterInnen, die „es“ nie mehr tun wollten und denen keine effektive Unterstützung gegeben wurde, sich ihrer Verantwortung und ihrer gewalttätigen Herkunft so zu stellen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit tatsächlich sinkt. Und ich habe Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, die bis zum Umfallen arbeiten, weil sie die Not der Menschen nicht loslässt und sie Schwierigkeiten haben, jemanden wegzuschicken. KollegInnen, die teilweise bereits unter sekundärer Traumatisierung litten: unter chronischer Erschöpfung, Mitgefühlsmüdigkeit (compassion fatigue) oder Burn-out. Doch ich habe auch viele Menschen kennengelernt, die jeden Tag aufs Neue sich selbst und anderen vermitteln können: Es ist der Mühe wert, sich der Traumatisierung zu stellen. Es lohnt sich, ein besseres Leben zu wollen. Es lohnt sich, als PsychotherapeutIn traumatherapeutisch gut ausgebildet zu sein, weil man dann wirksam helfen kann, wo man früher nur „aushalten“ und „dabeibleiben“ konnte – was auch schon viel ist und was keineswegs alle TherapeutInnen fertigbringen.
Es gibt heute effektive Behandlungsmöglichkeiten für posttraumatische Störungen, basierend auf den Erkenntnissen darüber, wie sich Traumatisierung im Gehirn und Körper „niederschlägt“, welche Auswirkungen sie auf Gefühle, Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen hat. Dabei hat sich ein „schulenübergreifendes“ Vorgehen als das Sinnvollste erwiesen. Wir brauchen heute Techniken zur Regulation von heftigen Gefühlen, die von verhaltenstherapeutischen KollegInnen entwickelt wurden, ebenso wie wir ein tiefes Verständnis für traumatische Beziehungsstrukturen und heilsame Bindungserfahrungen benötigen. Wir sollten uns in den Möglichkeiten der kognitiven Steuerung brisanter Lebenserinnerungen ebenso auskennen wie auf der Ebene der Körperreaktionen und der Förderung gesunden Umgangs mit dem Körper. Wir müssen als PsychotherapeutInnen wissen, wie wir Betroffenen helfen können, sich von belastenden traumatischen Erinnerungen zu distanzieren – manchmal lange bevor diese durchgearbeitet werden können. Wir sollten ein Verständnis für Identitätsentwicklung haben und ebenso für ihre traumabedingte Störung und lernen, von Symptomen, die unsere KlientInnen präsentieren, zu den Ursachen dieser Symptome vorzudringen, und ihnen dabei helfen, diese Ursachen zu verstehen und zu verwinden.
Seit dem Altertum sind einzelne Schilderungen von Traumatisierungen bekannt, besonders bei Soldaten als Folge von Kriegseinsätzen oder einzelnen Zivilisten oder auch Gruppen nach Katastrophen. Systematischer befassten sich Ende des 19. Jahrhunderts die Pioniere der modernen Psychotherapie in der Pariser Salpêtrière mit der damals fast für alle psychischen Beeinträchtigungen diagnostizierten „Hysterie“ bei Frauen als Folge von Traumata, vor allem sexueller Gewalt. Besonders Jean-Marie Charcot und Pierre Janet, aber auch Sigmund Freud veröffentlichten Arbeiten hierzu. Während Charcot und Janet keine „Schule“ begründeten, gelang dies Sigmund Freud in Wien. Leider vollzog dieser bekanntermaßen im Jahre 1906 dann eine Kehrtwende seiner Ansichten in Bezug auf die vorher von ihm postulierte (sexuelle) Gewalterfahrung als Hintergrund für Neurosen.
Freuds Theorie vom „Ödipuskomplex“ blieb dann jahrzehntelang in der Psychoanalyse meinungsbildend: Frauen, die sich an sexuelle Gewalt in der Kindheit erinnerten, so wurde gemutmaßt, lebten lediglich mit diesen Erinnerungen ihren Wunsch aus, den Vater zu verführen, und litten unter einem „Penisneid“. Bis heute gibt es mehr als genug Psychoanalytiker, die dieser Theorie anhängen.
Zur Ehrenrettung Freuds für die Traumatheorie wird gelegentlich angeführt, dass er durch den Ersten Weltkrieg mit der Vielzahl von Soldaten, die mit „Kriegsneurosen“ zusammenbrachen („Kriegszitterer“; „Granaten-Schock-Syndrom“), zumindest bereit war, einen Teil der Realtraumata anzuerkennen, indem er mutmaßte, dass von außen einstürmende Erregungen (wir würden heute sagen: Stress) den „Reiz-Schutz des Ich“ durchbrächen. Womit er der Wahrheit schon recht nahe kam. Doch er wollte solche Themen dann doch lieber anderen Kollegen überlassen – und den vielen Menschen, meist Frauen, die in psychoanalytischen Behandlungen über real erlebte Gewalt berichteten und denen von ihren Analytikern, ganz zuerst von Sigmund Freud, nicht geglaubt wurde, hat das wenig geholfen.
Parallel und weniger bekannt: 1888 gebrauchte der deutsche Nervenarzt Oppenheimer den Begriff „traumatische Neurose“ und beschrieb sie als Folge von Verkehrs- und Arbeitsunfällen – was wiederum eine Gegenbewegung auslöste, weil die Fülle von Rentenanträgen überhand zu nehmen drohte: Nun hieß es, die Betroffenen hätten eine „Begehrensvorstellung“, wollten sich sozusagen eine Rente erschleichen. Auch eine Diskussion, die bis heute anhält.
Eine dritte Welle schwappte seit Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts über Europa und die Welt: die biologische-psychiatrisch-pharmakologische. Alles, was nach einer zersplitterten Persönlichkeit aussah, wurde unter dem Begriff „Schizophrenie“ zusammengefasst, als endogen psychisch krank bezeichnet und medikamentös behandelt.
Bis heute herrscht in vielen Psychiatrien der Glaube vor, nicht nur organisch geisteskranke, sondern auch andere psychisch in Not geratene Menschen überwiegend mit Psychopharmaka behandeln zu sollen. Dies ging bis dahin, dass in weiten Teilen der Psychiatrie für solche Patienten, die schwerer beeinträchtigt waren, jede Form von Psychotherapie abgelehnt wurde. Und glauben Sie nicht, das sei heute gar nicht mehr so – diese Sichtweise greift gerade wieder um sich …
Die Herrschaft der Nationalsozialisten radikalisierte die Sichtweise, dass psychische Beeinträchtigungen im Grunde nicht heilbar seien. Für Störungen, die als „erbkrank“ oder „rassisch bedingt“ betrachtet wurden, gab es eine „Kur“: den Tod. Unter den zigtausend in der Nazizeit ermordeten „psychisch Kranken“ waren nicht nur etliche völlig gesunde politische Gegner, sondern sicher auch viele Menschen, die unter dem Druck der schlimmen Verhältnisse zusammengebrochen waren. Leider wurden nach dem Krieg viele führende Wissenschaftler, welche die damaligen Euthanasie-Programme mit unterstützt und durchgeführt hatten, im Bereich der Psychiatrie weiterbeschäftigt; und etliche, die geradezu Folter-Forschung an Kindern und Erwachsenen betrieben hatten, waren später renommierte (Kinder-)Psychiater, leiteten Kliniken, bildeten dort in ihrem Gedankengut junge Ärzte aus; manche werden sogar bis heute als führende Köpfe der modernen Psychiatrie und Psychosomatik gefeiert.
Vermutlich würden sich Laien sehr wundern, in wie vielen psychiatrischen Kliniken auch heute noch
seelisch in Not geratenen PatientInnen psychotherapeutische Gespräche versagt werden.
PatientInnen, die unbequeme Gefühlsäußerungen von sich geben oder sich selbst verletzen oder zugeben, dass sie sich mit Suizidgedanken tragen, ohne Umschweife auf die „geschlossene“ Abteilung verlegt werden; dort werden sie lediglich weggeschlossen, bis sie beteuern, nun nicht mehr suizidal zu sein; PatientInnen bei Wut- oder Verzweiflungsausbrüchen „niedergespritzt“ werden (manchmal stürzen sich mehrere Pfleger auf eine PatientIn, werfen sie buchstäblich nieder und injizieren ihr schwere Psychopharmaka oder fixieren sie, teils über lange Zeit. Es wird wiederholt ein Beschluss erwirkt, sie sei immer noch so gefährlich. Ich habe amoklaufende Innenanteile in Menschen mit dissoziativer Identität erlebt, die über lange Zeit nicht anders zu bändigen schienen – bis sich jemand neben sie setzte und begann, mit den Anteilen da innen nach und nach Kontakt aufzunehmen und zu verhandeln …
PatientInnen, die als schwer depressiv gelten, mit Elektroschocks behandelt werden – ja, die Elektrokrampftherapie (ECT) boomt geradezu und gilt wieder als „Wunderwaffe“ bei Depressionen.
Das habe ich nicht nur selbst beobachtet. KollegInnen, die das Gefühl haben, ohnmächtig zuschauen zu müssen, erzählen es mir in Supervisionsstunden unter dem Siegel der Schweigepflicht. Manchmal wissen sie nicht, ob es richtig ist, dagegen aufzubegehren, weil es ja tatsächlich extrem selbst- und fremdgefährdende PatientInnen gibt, deren heftige Gewaltausbrüche eingebremst werden müssen. Dass aber Menschenrechte missachtet werden, kommt leider auch heute noch in Kliniken vor, und ich pflege die KollegInnen zu ermutigen, dagegen anzugehen.
Dies sind nur einige Beispiele, um zu zeigen: Die modernen Psychotherapien sind in einem Teil der psychiatrischen – ja sogar in einem Teil der psychotherapeutisch arbeitenden Kliniken noch keineswegs ausreichend angekommen, und alte Methoden werden gern wieder aufgegriffen.
Wenn ich in psychiatrischen Kliniken Vorträge, Fortbildungen und Supervisionen gebe, kommt mir – auch vom Pflegepersonal – oft noch das „alte psychiatrische Denken“, wie es genannt wird, entgegen und macht mich manchmal ratlos, verzweifelt oder wütend, obwohl ich doch gern die KollegInnen gewinnen möchte. Es ist schwer, Einstellungen zu ändern, die sich in typischen Äußerungen zu erkennen geben wie: „Die Patientin gibt sich einmal so und einmal so – die spielt doch nur.“ (Die Äußerung kam auch nach Fortbildungen zu Komplextrauma und dissoziativer Identitätsstörung und mehreren Supervisionen wieder.)
„Die (häufig wird der Name weggelassen oder nur der Nachname genannt) hat schon wieder so eine blutige Sauerei hier angestellt – und dann ist sie triumphierend rumgelaufen und hat ihre Schnitte rumgezeigt“ (nach Selbstverletzung).
„Das sind doch alles Hysterikerinnen, die muss man bloß in den Senkel stellen, dann spuren sie wieder“ (über Patientinnen auf einer Traumastation).
„Jetzt sollen wir die alle mit Samthandschuhen anfassen – früher hatten wir keine Probleme, da waren sie ruhig.“
„Lassen Sie sich bloß nicht von denen“ – gemeint sind die PatientInnen – „auf dem Kopf rumtanzen. Wenn Sie denen den kleinen Finger hinhalten, nehmen sie die ganze Hand.“
Genügt das? Ich könnte seitenlang weiterschreiben, weil ich solche Horrorsprüche, die ich leider oft genug zu hören bekomme, gerne loswerden und am liebsten verändern würde. Doch es gilt auch hier anzuerkennen, dass es Angehörige des Gesundheitswesens gibt, auch im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie, die erst einmal nicht oder nicht mehr bereit sind, eine PatientIn als in Not geratenen Mitmenschen respektvoll zu behandeln. Stattdessen mag eine Einstellung bei ihnen Fuß gefasst haben, die man so übersetzen könnte: „Die Patienten sind meine Feinde. Sie gehören einer Art niederer Lebewesen an. Ich darf ihnen nicht glauben, darf bloß nicht weich werden, denn sie wollen mich nur reinlegen. Die muss man bändigen und ruhig halten wie wilde Tiere, das ist das Beste.“
Natürlich weiß jeder Angehörige des Gesundheitswesens, dass man so etwas nicht laut sagen darf. Daher wollen selbst einige traumatherapeutisch vorgebildete KollegInnen nicht wahrhaben, dass es noch mehr als genug andere KollegInnen mit dieser Einstellung gibt. Doch ich komme sehr viel herum, von daher kann ich es aus eigenem Augenschein bestätigen.
Tatsächlich sind das genau die Ansichten, die Täter in destruktiven Familienstrukturen haben: „Früher gab es das nicht, da haben die sich nicht so angestellt.“ Und man hört die Nazi-Erziehung und die schwarze Pädagogik heraus, die manchen KollegInnen immer noch in den Knochen und im Hirn steckt, vielleicht weil sie sich nie mit den Erziehungsmethoden ihrer Eltern und Großeltern auseinandergesetzt haben. So kommt es für die PatientInnen häufig zu Reinszenierungen von früher erlebten Gewaltszenarien – und das kann eine Abwärtsspirale für sie in Gang setzen.
Es stimmt: PatientInnen, die weniger Medikamente bekommen und weniger Terror erfahren, sind unter Umständen „unbequemer“; und in der Phase der Traumakonfrontation kann es sogar sein, dass durch das Aufheben dissoziativer Barrieren und von Verdrängung und Verleugnung eine Überflutung mit Traumamaterial eintritt und / oder alte Symptome wieder auftreten, die schon „wie weg“ waren. Außerdem haben viele Gewaltüberlebende tatsächlich gelernt, sich anzupassen und zu unterwerfen, um zu bekommen, was sie brauchen – das typische Opferverhalten. Sie geben dann jedem recht, der ihnen sagt, dass sie sicher übertreiben, dass ihre ambulante TherapeutIn ihnen falsche Erinnerungen eingeredet hat, dass sie unter „Münchhausen“ leiden etc. Wer nicht erkennt, dass Menschen, die nur Macht oder Unterwerfung kennen, sich übermächtigen Menschen in Institutionen unterwerfen, während sie sich gleichzeitig am liebsten in ihrer Not in Luft auflösen würden – wer das als Berufstätiger im Gesundheitswesen nicht erkennt, kann so ein „wankelmütiges“ angepasstes Verhalten leicht für „Lügen“ halten.
Glücklicherweise gibt es inzwischen viele andere psychiatrische und psychosomatische Kliniken, die sorgfältig und traumatherapeutisch mit Menschen in Not umgehen. Selbstverständlich sind Medikamente zur Unterstützung in Notsituationen ebenfalls oft erforderlich, auch wenn sie nie eine Ursachenbehandlung sind, sondern immer nur zur Symptomverringerung beitragen sollen. Doch ein respektvoller und achtsamer Umgang mit Menschen in Not ist in jedem Fall unerlässlich, aber eben keineswegs selbstverständlich.
Übrigens: Mindestens zwei Drittel der Klinikpatienten in Psychiatrien und psychosomatischen Kliniken sowie in ambulanten Psychotherapien sind Mädchen und Frauen!
Falls Sie jemals in die Verlegenheit kommen, eine psychiatrische Klinik aufsuchen zu müssen, wünsche ich Ihnen, dass Ihre regional zuständige Klinik inzwischen einen achtsamen Umgang mit PatientInnen selbstverständlich findet. Vielleicht fragen Sie einmal nach oder machen sich, noch besser, vor Ort selbst ein Bild. Solche Kliniken gibt es. Es gibt aber nach wie vor mehr als genug von denen, wo ein geradezu menschenverachtendes Menschenbild von „Wir und die da“ – „Wir“ sind die Gesunden, „die da“ die PatientInnen – durchaus noch oder wieder üblich ist.
Meine Aufgabe als Ausbilderin und Supervisorin sehe ich darin, jede einzelne KollegIn, die entwertend über PatientInnen spricht, zu gewinnen – oder zumindest die KollegIn der KollegIn, damit dieses „Wir hier oben – die da unten“ aufhört und das Selbstverständliche Einzug hält. Damit die eine KollegIn der anderen – entwertenden – KollegIn widerspricht: Jeder Mensch kann psychisch in eine Krise geraten, meistens deswegen, weil in seinem oder ihrem Leben etwas geschehen ist, das nicht zu ertragen war.
Vermutlich tun wir gut daran, uns alle immer wieder an den 11. September 2001 zu erinnern und daran, dass daraufhin rund 20 Prozent derjenigen, die im Bereich einer Meile um die Twin Towers herum lebten, später an einer Posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten. Dass es zu einem 200-prozentigen Anstieg dieser schweren Traumafolgestörung bei New Yorkern kam und insgesamt mindestens (!) 422.000 Einwohner dieser Stadt einer soliden Schätzung zufolge langfristig unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Dazu zählen auch die 25 Prozent, die danach signifikant mehr Alkohol tranken, um ihre Erinnerungen zu bewältigen. 1.300 Kinder wurden damals plötzlich zu Waisen. 17 Babys von im September 2001 schwangeren Müttern haben nie ihren Vater kennengelernt, leben aber mit der Geschichte. Die Filmausschnitte werden alle, die den furchtbaren Angriff überlebten, immer wieder triggern, sie also an die schlimmsten Momente ihres Lebens erinnern. Und auch die unzähligen Menschen, die im amerikanischen Fernsehen direkt live und in den Wiederholungen zugesehen haben, wie die verzweifelten Menschen, die damals aus den Fenstern der brennenden Hochhäuser sprangen, unten aufkamen (im deutschen Fernsehen wurde das glücklicherweise nicht gezeigt), leben dauerhaft mit den Schrecken. Tausende von Menschen, Helfer, Überlebende und Anrainer, werden zudem an Spätschäden durch die gifthaltigen Stäube sterben, die beim Zusammenbruch der Twin Towers freigesetzt wurden, oder starben bereits daran. Und dass in den sechs Monaten nach Nine Eleven die USA insgesamt rund 22.000 Bomben auf Afghanistan warfen, um die „Terroristen zu bestrafen“, und dies Tausende von Zivilisten das Leben kostete, um nur eine Folge der Schrecken zu nennen, soll nicht unerwähnt bleiben.
Niemand von uns ist gefeit davor, Opfer oder ZeugIn einer Katastrophe, einer Terrorattacke oder einer Grausamkeit durch nahestehende Menschen zu werden. Wir sollten also andere, die zu traumatisierten Opfern oder ZeugInnen geworden sind, die Unerträgliches erdulden mussten und davon schwere Symptome davongetragen haben, mit Achtsamkeit, Wertschätzung und Respekt begegnen, selbst wenn wir sie manchmal bizarr oder schwierig, überängstlich oder depressiv finden sollten. Wir sind nicht die besseren Menschen. Vielen von uns ist Schlimmes passiert im Leben, und manchmal erkennen – und bekämpfen! – wir in Schwächeren das, was uns selbst droht(e) … Umso wichtiger ist und bleibt es, das „trotz allem“ zu betonen:
Viele Menschen lernen aus schrecklichen Erfahrungen. Sie richten sich auf, auch wenn es noch so schwerfällt. Sie gehen voran – und brechen wieder zusammen. Und richten sich wieder auf. Sie klammern sich an den Funken Hoffnung; sie finden Menschen, die sie unterstützen (das ist vielleicht sogar das Allerwichtigste: Menschen finden, die unterstützen!). Sie lernen aus Erfahrung. Sie entwickeln im besten Fall Mitgefühl für andere Lebewesen, die leiden oder gelitten haben, und tun ihr Bestes, diesen beizustehen. Sie hören nicht auf, trotz aller Einbrüche, aller Tiefs, allem „Ich kann nicht mehr“ ihr kleines Flämmchen Lebenwollen, ihr „Ich will raus aus dem Dreck!“ hochzuhalten. Leicht ist es nie.
Und wir, die wir ihnen beistehen möchten? Wir können sie als ausschließlich Traumatisierte sehen. Oder es so halten wie meine leider inzwischen verstorbene Kollegin Veronika Engl, die ehemalige Oberärztin in der Bielefelder Klinik für psychosomatische Medizin („Reddemann-Klinik“). Sie hatte selbst schwere Schicksalsschläge zu verarbeiten. Und doch war sie für alle in ihrer Umgebung eine liebevolle, ja fröhliche, zugewandte Zuhörerin und Unterstützerin. Und sie pflegte über ihre Schutzbefohlenen zu sagen: „Man kann die PatientInnen als 90 Prozent krank betrachten und sie entsprechend behandeln. Man kann sie aber auch als 90 Prozent gesund betrachten und schauen, dass wir ihre Gesundheit so weit fördern, dass sie mit den 10 Prozent fertigwerden und sich darum kümmern können.“
Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der seelisch beeinträchtigte PatientInnen im Gesundheitswesen entwertet werden, ist es eigentlich verwunderlich, dass die Psychotraumatologie überhaupt entstehen konnte. So ganz einfach war es auch nicht, es war eine Entwicklung in mehreren Wellen: Entwicklung und Rollback. Und so ist es bis heute.
Was war eigentlich der auslösende Funke für diese Entwicklung? Meist war es der Anblick der „Jungs“ – der noch recht jungen Soldaten, die aus einem Krieg zurückkamen, körperlich zusammengeflickt werden konnten, aber erkennbar verstört blieben. Schaut man sich die Forschungsliteratur an, so lässt sich getrost mutmaßen: Hätte es nicht die Kriegsveteranen gegeben, die aus dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten und vor allem dem Vietnamkrieg, später dem Afghanistan- und Irakkrieg – dann wären vielleicht nicht so viele staatliche und private Forschungsgelder ausgegeben worden. Vielleicht wären wir dann nicht so weit wie heute, Spezifischeres zu wissen über das Traumagedächtnis, über Therapietechniken und Interventionsmöglichkeiten, als sie die herkömmliche „Rede-Kur“ von Freud und nachfolgenden Therapieschulen zu bieten hatten.