Wege zur Rechtsgeschichte: Römisches Erbrecht - Ulrike Babusiaux - E-Book

Wege zur Rechtsgeschichte: Römisches Erbrecht E-Book

Ulrike Babusiaux

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Beschreibung

Das Studienbuch vermittelt nicht nur ein vertieftes Verständnis grundlegender erbrechtlicher Institute, sondern gibt gleichzeitig einen Einblick in die römische „Rechtsordnung“. Das römische Erbrecht gilt als undurchsichtig. Dabei spiegeln sich gerade in ihm die verschiedenen Rechtsschichten des altrömischen ius civile, des republikanischen ius praetorium und des ius novum der Kaiserzeit in ihrer Entwicklung und gegenseitigen Durchdringung wider. Damit verbindet es für das Teilgebiet des Erbrechts die traditionell getrennten Gebiete der Römischen Rechtsgeschichte (Quellengeschichte) und des Römischen Privatrechts. Das Studienbuch richtet sich an angehende Rechtshistoriker und Zivilrechtler. Es vermittelt Grundwissen und neue Methoden. Der Stoff ist auf eine einsemestrige Veranstaltung zugeschnitten.

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Wege zur Rechtsgeschichte

Ulrike Babusiaux

Hans-Peter Haferkamp

Sibylle Hofer

Peter Oestmann

Johannes Platschek

Tilman Repgen

Adrian Schmidt-Recla

Andreas Thier

Jan Thiessen

Ulrike Babusiaux

Wege zurRechtsgeschichte:Römisches Erbrecht

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Prof. Dr. Ulrike Babusiaux lehrt Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung:

Affresco con scena di giudizio dai predia di Giulia Felice (Fresko mit einer Gerichtsszene aus dem Haus der Julia Felix) inv. 9067. (Su concessione del Ministero per i Beni e le Attività Culturali e per il Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli, rif. prot. n. 2611 del

22. 04. 2020, classifica 28. 10. 13). Fotograf: Luigi Spina

2., überarbeitete Auflage 2021

© 2021, 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar

Lindenstraße 14, D-50674 Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Korrektorat: Lektorat Schütz, Kassel

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: büro mn, BielefeldEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

UTB-Band-Nr. 4302 | ISBN 978-3-8252-5291-5 | eISBN 978-3-8463-5291-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

1 Einleitung

1.1 Ein römisches Testament aus dem Jahr 142 n. Chr.

1.2 Quellen des römischen Erbrechts

1.2.1 Beispiel eines Digestenfragments

1.2.2 Interpolationenkritik

1.2.3 Institutionen des Gaius

1.3 De testamentis et de legatis

1.3.1 Die Komplexität des römischen Erbrechts

1.3.2 Zur Methode der römischen Juristen

1.3.3 Drei Leitfragen

1.4 Gang der Darstellung

2 Voraussetzungen

2.1 Der allgemeine historische Rahmen

2.1.1 Die römische Republik

2.1.2 Der Prinzipat

2.1.3 Die Spätantike

2.1.4 Zeitlicher Rahmen dieses Lehrbuchs

2.2 Rechtsschichten des römischen Privatrechts

2.2.1 Ius naturale

2.2.2 Ius civile

2.2.3 Ius praetorium und ius honorarium

2.2.4 Ius civile und ius novum im Prinzipat

3 Das Intestaterbrecht

3.1 Die Familie als Hierarchie

3.1.1 Das Erbrecht der Hauskinder

3.1.2 Die emancipatio des Hauskindes

3.1.3 Das Erbrecht der Agnaten

3.1.4 Das Intestaterbrecht von Frauen

3.1.5 Das Erbrecht der Gentilen

3.2 Die Intestaterbfolge des ius praetorium

3.2.1 Die erste Klasse der prätorischen Erben

3.2.2 Die zweite und dritte Klasse der prätorischen Erben

3.2.3 Das prätorische Ehegattenerbrecht

3.3 Konkurrenz zwischen ius civile und ius praetorium

3.3.1 Bonorum possessio sine re – cum re

3.3.2 Nova clausula Iuliani im Intestaterbrecht

3.4 Kaiserrechtliche Korrekturen

3.4.1 Senatusconsultum Tertullianum

3.4.2 Ius novum und ius antiquum

3.4.3 Senatusconsultum Orfitianum

3.5 Fazit zum Intestaterbrecht

4 Die Erbenstellung

4.1 Der Erbschaftserwerb nach ius civile

4.1.1 Die Miterbengemeinschaft

4.1.2 Die Anwachsung bei Testamentserben

4.1.3 Anfall und Antritt der Erbschaft

4.1.4 Die Ersitzung der Erbenstellung

4.2 Der Erbschaftserwerb nach ius praetorium

4.2.1 Prätorische Regeln zur Erbenstellung nach ius civile

4.2.2 Der Nachlassbesitz als prätorisches Erbrecht

4.2.3 Venditio bonorum

4.2.4 Der Sklave als Zwangserbe

4.3 Die Erbfähigkeit nach ius civile und ius praetorium

4.3.1 Die Vormundschaft über Frauen

4.3.2 Erbfähigkeit von Gewaltunterworfenen

4.4 Erwerbsfähigkeit und Erwerbswürdigkeit des ius novum

4.4.1 Die Kaduzitätsfolgen der lex Iulia et Papia

4.4.2 Das Ehegattenerbrecht der lex Iulia et Papia

4.4.3 Erbunwürdigkeit (indignitas)

4.5 Fazit zur Erbenstellung

5 Der Schutz des Erbrechts

5.1 Legisaktionen- und Sponsionsverfahren

5.2 Die hereditatis petitio des Formularprozesses

5.3 Bonorum possessio und Erbschaftsklage

5.4 Kaiserliches Recht: Das senatusconsultum Iuventianum

5.4.1 Die einzelnen Rechtsfolgen

5.4.2 Fiskal- und Privatprozess

5.5 Fazit zum Schutz des Erbrechts

6 Die testamentarische Erbfolge

6.1 Das Testament nach ius civile

6.1.1 Manzipationstestament

6.1.2 Testierfähigkeit

6.1.3 Erbeinsetzung

6.1.4 Einsetzung von Miterben

6.1.5 Ersatzerbenbestimmung (substitutiones)

6.2 Unwirksamkeit und Aufhebung des Testaments nach ius civile

6.2.1 Verlust der Testierfähigkeit

6.2.2 Institutio ex certa re

6.2.3 Widerruf des Testaments

6.3 Das Testament nach ius praetorium

6.3.1 Maßgeblichkeit der Testamentsurkunde

6.3.2 Widerruf nach ius praetorium

6.3.3 Gesetzlicher Fälschungsschutz

6.4 Das formlose Testament des Kaiserrechts

6.4.1 Formlose Nachträge (Kodizille)

6.4.2 Das Soldatentestament

6.4.3 Persönlicher Geltungsbereich des Soldatentestaments

6.4.4 Ius singulare

6.5 Fazit zum Testamentsrecht

7 Der Schutz der Erwerbserwartung und Enterbungsregeln

7.1 Enterbungsregeln des ius civile

7.1.1 Enterbung des Haussohnes

7.1.2 Bedingte Erbeinsetzung des Haussohnes

7.1.3 Enterbung übriger Hauskinder

7.1.4 Nachgeborene Hauskinder (postumi)

7.2 Die Modifikationen des ius praetorium

7.2.1 Bonorum possessio contra tabulas

7.2.2 Teilhabe an fremder bonorum possessio contra tabulas

7.2.3 Collatio bonorum

7.2.4 Das Nachrücken von Hauskindern im prätorischen Edikt

7.3 Prätorische Teilwirksamkeit des Testaments

7.3.1 Edikt de legatis praestandis

7.3.2 Erhalt des Erbteils

7.4 Die Beschwerde wegen pflichtwidrigen Testaments

7.4.1 Die Pflichtwidrigkeit des Testaments

7.4.2 Klage gegen mehrere Erben

7.4.3 Konkurrenzen und Abgrenzungsfragen

7.5 Fazit zum Enterbungsrecht

8 Das Vermächtnisrecht

8.1 Legate nach ius civile

8.1.1 Vindikations- und Damnationslegat

8.1.2 Duldungs- und Präzeptionslegat

8.1.3 Nebenbestimmungen zum Legat

8.1.4 Erwerb des Legats

8.2 Unwirksamkeit und Beschränkungen des Legats nach ius civile

8.2.1 Inhaltsmängel

8.2.2 Legatsbeschränkungen, lex Falcidia

8.3 Prätorischer Schutz im Legatsrecht

8.3.1 Interdictum quod legatorum

8.3.2 Cautio legatorum servandorum causa

8.4 Kaiserzeitliche Eingriffe in das Legatsrecht des ius civile

8.4.1 Das senatusconsultum Neronianum

8.4.2 Lex Iulia et Papia

8.5 Formlose Vermächtnisse des ius novum (Fideikommisse)

8.5.1 Zur Formlosigkeit des Fideikommisses

8.5.2 Erbschaftsfideikommiss

8.5.3 Familienfideikommiss

8.6 Die weitere Ausgestaltung des Rechts der Fideikommisse

8.6.1 Senatusconsultum Trebellianum

8.6.2 Senatusconsultum Pegasianum

8.6.3 Heimliche Fideikommisse

8.7 Fazit zum Vermächtnisrecht

9 Die Auslegung von Testamenten

9.1 Auslegungsmaximen des ius civile

9.1.1 Plus nuncupatum quam scriptum

9.1.2 Voluntatis quaestio

9.1.3 Legatsrecht: falsa demonstratio non nocet

9.2 Die geringe Bedeutung der Testamentsauslegung im ius praetorium

9.3 Auslegung im ius novum

9.3.1 Materielle Auslegungsprinzipien

9.3.2 Umdeutung von ius civile in ius novum

9.4 Fazit zur Auslegung

10 Ergebnisse

10.1 Rechtsschichten des römischen Erbrechts

10.2 Entwicklungslinien des römischen Privatrechts

10.3 Die römische Rechtsfindung

10.4 Zur Komplexität des römischen Erbrechts

Literatur

Abkürzungen

1. Einleitung

2. Voraussetzungen

3. Das Intestaterbrecht

4. Die Erbenstellung

5. Der Schutz des Erbrechts

6. Die testamentarische Erbfolge

7. Der Schutz der Erwerbserwartung und Enterbungsregeln

8. Das Vermächtnisrecht

9. Die Auslegung von Testamenten

Quellenverzeichnis

Literarische Quellen

Vorjustinianische Rechtsquellen und Sammelwerke

Corpus iuris civilis

Orts- und Personenregister

Sachregister

Übersichten

Übersicht 1:    Corpus iuris civilis

Übersicht 2:    Erläuterung eines Digestenfragments

Übersicht 3:    Das Erbrecht in Gaius’ Institutionen

Übersicht 4:    Kapiteltitel in den Abschnitten zum Universalerwerb bei Gaius

Übersicht 5:    Zeittafel zur Orientierung

Übersicht 6:    Die Jurisprudenz der Kaiserzeit

Übersicht 7:    Zeitlicher Rahmen dieses Lehrbuchs

Übersicht 8:    Rechtsschichten der Kaiserzeit

Übersicht 9a:  Erbfolge der Hauskinder

Übersicht 9b:  Nachrücken der Abkömmlinge

Übersicht 9c:  Kein Nachrücken bei weiblichen Hauskindern

Übersicht 10:  Nova clausula Iuliani

Übersicht 11:  Rangfolge der Erbschaft der Mutter nach ihrem Kind

Übersicht 12:  Anwendungsprüfung von ius novum und ius antiquum

Übersicht 13:  Rechtsschichten des kaiserzeitlichen Intestaterbrechts

Übersicht 14a: Anwachsung bei unterschiedlichen Erbteilen

Übersicht 14b: Anwachsung bei coniunctio re et verbis

Übersicht 15:  Vergleich von üblicher Ersitzung und Erbschaftsersitzung

Übersicht 16:  Die Fiktion zur Klageerteilung an den bonorum possessor

Übersicht 17:  Entwicklung der Vormundschaft über die Frau (tutela mulieris)

Übersicht 18:  Verteilung des caducum an die im Testament bedachten Eltern

Übersicht 19:  Voraussetzungen der Erbenstellung seit der lex Iulia et Papia

Übersicht 20:  Die Regelungen des senatusconsultum Iuventianum

Übersicht 21:  Entwicklungsstufen der hereditatis petitio

Übersicht 22:  Erbeinsetzung nach dem System des As

Übersicht 23:  Voraussetzungen des wirksamen Testaments nach ius civile

Übersicht 24:  Unwirksamkeitsgründe des Testaments nach ius civile und ius praetorium

Übersicht 25:  Die vier Arten des Kodizills

Übersicht 26:  Umdeutungsmöglichkeiten des Testaments durch Kodizill

Übersicht 27:  Konsequenzen der Formfreiheit des Soldatentestaments

Übersicht 28:  Das Verbot des Übergehens des Haussohnes nach ius civile

Übersicht 29:  Enterbungsregeln für nachgeborene Kinder (postumi)

Übersicht 30:  Das Fallbeispiel Julians zur collatio bonorum

Übersicht 31:  Wirtschaftliche Gründe für den Antrag auf bonorum possessio contra tabulas des emancipatus

Übersicht 32:  Auswirkungen der nova clausula Iuliani

Übersicht 33:  Das System der bonorum possessio contra tabulas

Übersicht 34:  Entwicklungsstufen des Enterbungsrechts

Übersicht 35:  Legatsformen des ius civile

Übersicht 36:  Erwerb des Legats bei Beifügung verschiedener Nebenbestimmungen

Übersicht 37:  Stufen des prätorischen Schutzes des Legatars

Übersicht 38:  Ursprüngliche Abweichungen zwischen Legaten und Fideikommissen

Übersicht 39:  Die Regelungen des senatusconsultum Pegasianum zum Ausgleich zwischen Erbe und Fideikommissar

Übersicht 40:  Fortbestehende Differenzen zwischen Fideikommiss- und Legatsrecht

Übersicht 41:  Regeln der Testamentsauslegung nach ius civile

Übersicht 42:  Umdeutungsentscheidungen vom ius civile zum ius novum

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage des Lehrwerkes hat gute Aufnahme gefunden, so dass eine zweite Auflage auch von Verlagsseite gewünscht wurde. Sie bot zudem die Gelegenheit, manche Schwächen des Erstlings zu beseitigen. Geblieben sind die mit diesem Lehrwerk verfolgten Anliegen. So wird nach wie vor eine vertiefte Auseinandersetzung mit einem Rechtsgebiet des römischen Privatrechts geboten, also eine Akzentsetzung gegenüber den bisher meist üblichen Gesamtdarstellungen. Unverändert ist auch das Anliegen, dem römischen Erbrecht einen Platz in der Ausbildungsliteratur zu geben, um einerseits seiner historischen Bedeutung gerecht zu werden, andererseits, die historische Schichtung des römischen Privatrechts auch für Student*innen erfahrbar zu machen.

Für den Anstoß, diesen Ansatz in einem Unterrichtswerk zu verfolgen, danke ich erneut Prof. Dr. Peter Oestmann (Münster), der die Idee einer neuen Lehrbuchreihe aufgebracht und das Konzept entscheidend geprägt hat. Es mag für die Tragfähigkeit dieses Konzeptes sprechen, dass das Lehrbuch von Prof. Dr. Minoro Tanaka (Nagora) und Prof. Dr. Takeshi Sasaki (Kyoto) ins Japanische übertragen wurde, wofür ich beiden sehr verbunden bin.

Im Einzelnen zu Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Ulrich Manthe (Passau) für den Korrekturhinweis zur Datierung des senatusconsultum Trebellianum, Prof. Dr. Jens Peter Meincke (Köln) für Hinweise zum richtigen Verständnis des senatusconsultum Tertullianum sowie Prof. Dr. Minoru Tanaka (Nagora) zur Interpretation von D. 35.1.102 Papinianus 9 responsorum. Vor allem aber hat diese neue Version von den vielfältigen kritischen Anmerkungen meiner Mitarbeiterin, Frau lic. phil. Thamar Xandry profitiert, die sich nicht nur den Mühen einer umfassenden Korrektur meines Textes, sondern vor allem auch den Detailproblemen der Übersetzung angenommen hat. Ihre philologischen und textkritischen Hinweise haben zu einer Totalrevision der meisten Übersetzungsvorschläge geführt. Dabei wurden die bestehenden Übersetzungen zur Überprüfung und Anregung herangezogen (Nachweise, Fn. 6), niemals aber einfach übernommen.

Dank gilt schließlich Frau stud. iur. Alice Isepponi, die mich bei der Aktualisierung des Literaturverzeichnisses unterstützt hat, sowie Frau Yvonne Kastner, Herrn BLaw Silvan Schmidt und Frau BLaw Nicole Jaggi für diverse Korrekturarbeiten an der neuen Version.

Meinen Student*innen in Zürich, die das Lehrwerk nun seit mehr als 10 Semestern nutzen, danke ich für ihre Anregungen und Rückfragen, die immer wieder neue Aspekte der altbekannten Fragen zu Tage treten lassen. Ihnen sei das Werk daher gewidmet.

Zürich, im Juli 2020

Ulrike Babusiaux

1 Einleitung

1.1 Ein römisches Testament aus dem Jahr 142 n. Chr.

Im Jahr 1940 veröffentlichten die französischen Papyrologen Octave Guéraud und Pierre Jouguet ein römisches Testament. Es bildet bis heute das einzige, fast vollständig überlieferte Exemplar eines original römischen Testaments auf Wachstäfelchen:

Antonius Silvanus eques alae primae

Thracum Mauretanae, stator praefecti,

turma Valeri, testamentum

fecit. Omnium bonorum meorum

castrensium et domesticum

Marcus Antonius Satrianus

filius meus ex asse mihi heres

esto. Ceteri alii omnes exheredes

sunto. Cernitoque hereditatem

meam in diebus centum proximis. Ni

ita creverit, exheres esto. Tunc

secundo gradu (Marcus?) Antonius

R………………… lis frater

meus mihi heres esto cernitoque

hereditatem meam in diebus

sexaginta proximis. Cui do lego, si mihi

heres non erit, denarios argenteos septingentos

quinquaginta. […]

[…] Do lego Anthoniae Thermutae

matri heredis mei supra scripti denarios argenteos

quingentos. Do lego praefecto meo

denarios argenteos quinquaginta. […]

Hoc testamento dolus malus abesto. Familiam pecuniamque

testamenti faciendi causa emit Nemonius

duplicarius turmae Mari, libripende Marco Iulio

Tiberino sesquiplicario turmae Valeri,

antestatus est Turbinium signiferum turmae

Proculi. Testamentum factum

Alexandreae ad Aegyptum in castris Augustis

hibernis legionis Secundae Traianae Fortis

et alae Mauretanae, sextas kalendas

Apriles Rufino et Quadrato consulibus. […]1

Antonius Silvanus, Reiter der ersten mauretanischen Reiterabteilung

von Thrakern, Gehilfe des Präfekten,

Zug des Valerius, hat sein Testament

gemacht: Über mein gesamtes Vermögen,

das im Lager befindliche und das häusliche,

soll mein Sohn Markus Antonius Satrianus

mein Alleinerbe sein.

Alle übrigen anderen sollen enterbt

sein. Und er soll meine Erbschaft

in den nächsten 100 Tagen förmlich antreten. Wenn er sie nicht

auf diese Weise angetreten hat, soll er enterbt sein. Dann

soll in zweiter Linie (Marcus?) Antonius

R ………., mein Bruder (oder Cousin),

mein Erbe sein und er soll

meine Erbschaft in den nächsten 60 Tagen

förmlich antreten. Diesem vermache ich mittels Vindikationslegat, wenn er

nicht mein Erbe sein wird, 750

Silberdenare. […]

[…] Ich vermache mittels Vindikationslegat der Antonia Thermutha,

der Mutter meines oben eingetragenen Erben,

500 Silberdenare. Ich vermache mittels Vindikationslegat meinem Präfekten

50 Silberdenare. […]

Diesem Testament soll Arglist fern sein. Das gesamte Vermögen

hat, um ein Testament zu errichten, Nemonius,

Vorreiter vom Zug des Marius, gekauft, während Markus Julius Tiberinus Waaghalter war,

Untervorreiter vom Zug des Valerius,

er hat Turbinius zum Zeugen angerufen, den Fahnenträger des Zugs des

Proculus. Das Testament wurde

in Alexandria bei Ägypten in den kaiserlichen

Winterlagern der Zweiten Trajanischen Legion, der Tapferen,

und der mauretanischen Reiterabteilung am 27. März 142 n. Chr.

unter dem Konsulat des Rufinus und des Quadratus errichtet. […]

Das hier nur auszugsweise wiedergegebene Testament des Antonius Silvanus vom 27. März 142 n. Chr. zeigt die minutiöse Planung des Erblassers: Es beschränkt sich nicht auf die Einsetzung eines Erben, sondern bestimmt auch einen Ersatzerben für den Fall, dass der eingesetzte Erbe nicht antreten will oder kann, und setzt Vermächtnisse aus. Das einmalige Zeugnis gewährt einen Einblick in die römische Testierpraxis und damit in das wichtigste Dokument, das ein Römer im Laufe seines Lebens errichten konnte. Obwohl zweifelhaft ist, ob der Testator in diesem Fall überhaupt das römische Bürgerrecht hatte, folgt sein Testament erkennbar den Vorgaben, die das im 2. Jahrhundert n. Chr. geltende römische Recht für die Errichtung von Testamenten vorsah. Die Regeln der Testamentserrichtung sowie die Rechtsfolgen, die ihre Nichtbeachtung zeitigen, ergeben sich aus dem Erbrecht als dem Teil des Vermögensrechts, der die Übertragung des ‚Pflichtenlebens‘ nach dem Tod des Inhabers regelt. Die für Rom gültigen erbrechtlichen Regeln lassen sich aus den Schriften der römischen Juristen erschließen.

Genauso wie die römischen Testamente sind jedoch auch die Juristenschriften weder unversehrt noch vollständig erhalten. Die Hauptquelle des römischen Juristenrechts aus der Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. bildet eine als Gesetzgebungswerk konzipierte Sammlung der römischen Rechtsquellen durch den byzantinischen Kaiser Justinian I. (527 – 565 n. Chr.).

1.2 Quellen des römischen Erbrechts

Im Rahmen seines Programms der Wiederherstellung der territorialen und rechtlichen Reichseinheit ließ Kaiser Justinian Auszüge aus den römischen Juristenschriften und der Gesetzgebung der römischen Kaiser anfertigen, um sie als eigenes Gesetzbuch zu verkünden. Da sich dieses Gesetzbuch wesentlich auf die Wiederverwertung der römischen Rechtstradition stützt, wird die Sammlung Justinians auch als Kompilation bezeichnet (von compilare, wörtlich „ausrauben“, „ausplündern“). Seit der Neuzeit hat sich – in Abgrenzung vom kirchlichen Recht (Corpus iuris canonici) – der Name Corpus iuris civilis durchgesetzt.

Übersicht 1:Corpus iuris civilis

Diesem Zweck entsprach auch der Auftrag, den Kaiser Justinian (527 – 565 n. Chr.) der für die Digestenkompilation eingesetzten Kommission von juristischen Experten erteilte: Sie sollte die Auswahl aus den verfügbaren Juristenschriften so vornehmen, dass die jeweils treffendste Formulierung für eine Rechtsaussage gewählt und unnötige Wiederholungen gestrichen würden. Gleichzeitig sollten Widersprüche beseitigt werden, also insbesondere Berichte über Kontroversen zwischen einzelnen römischen Juristen gestrichen werden. Das so ausgewählte Material sollte in 50 Bücher eingeteilt sein, die ihrerseits in (sachlich geordnete) Titel untergliedert werden sollten. Diese Ordnung strebte eine Verbesserung der Zugänglichkeit zum Recht und eine Rechtsvereinheitlichung an. Der Preis für diese Harmonisierung war der Verlust eines Großteils des Ausgangsmaterials: Von Kaiser Justinian selbst erfährt man auch, dass nur etwa 5 % der Juristenschriften in die Digesten aufgenommen wurden. Das Übrige ist dagegen nahezu vollständig verloren gegangen.

1.2.1 Beispiel eines Digestenfragments

Die jeweilige Textstelle aus den Schriften der römischen Juristen wird im Folgenden nach der Fundstelle in Kaiser Justinians Digesten („D.“) angegeben. Bei der Angabe der Fundstelle bezeichnet die erste Ziffer das Buch der justinianischen Digesten, die zweite den Abschnitt innerhalb eines Buches und die dritte steht für das einzelne Fragment, das heißt das eigentliche Juristenzitat, auch lex genannt. Im Mittelalter treten noch weitere Unterteilungen, sogenannte Paragraphen hinzu, die auch in den heute verwendeten Ausgaben am Rande vermerkt werden. Zu beachten ist die Zählung der Paragraphen. Sie beginnt mit der Einleitung (principium), die mit pr. bezeichnet wird; erst danach folgt die Zählung mit 1, 2, 3 etc. Gleichsinnig wird auf die Institutionen Justinians mit „Inst.“ und entsprechender Zahlenfolge sowie auf den Codex Iustinianus mit „C.“ verwiesen. Beim Codex Iustinianus nennt die Inskription den oder die Kaiser, welche die Entscheidung getroffen haben; soweit bekannt, wird auch das Datum und der Adressat des Erlasses mitgeteilt.

Als Beispiel für die Zitierung eines Digestenfragments soll ein Auszug aus dem fünften Titel des 28. Buches der justinianischen Digesten dienen, der sich mit den Voraussetzungen der Erbeinsetzung (institutio heredis) befasst:

Übersicht 2: Erläuterung eines Digestenfragments

Mit D. 28.5.1pr. wird auf die Fundstelle des Fragments in Kaiser Justinians Sammlung verwiesen, die von Justinians Kompilatoren eingefügte Inskription „Ulpianus libro primo ad Sabinum“ gibt dagegen Aufschluss über den ursprünglichen Sinnzusammenhang des zitierten Satzes: Es handelt sich um Ausführungen aus dem ersten Buch von Ulpians Sabinus-Kommentar. Thema des Fragments ist die Reihenfolge der Anordnungen im Testament; dabei wird festgehalten, dass die Erbeinsetzung an erster Stelle zu stehen hat. Nur im Ausnahmefall kann eine ausdrückliche Enterbung noch vor der Erbeinsetzung erfolgen. Alle anderen Anordnungen, die vor der Erbeinsetzung geschrieben stehen, sind dagegen unwirksam. Es fällt sofort ins Auge, dass Antonius Silvanus (Kap. 1.1) diese Regel befolgt hat, da sein Testament mit der Erbeinsetzung seines Sohnes beginnt.

Wie verlässlich sind aber die aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. stammenden justinianischen Quellen, um den Rechtszustand der Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. zu beschreiben? Die Frage nach der Authentizität der in der Kompilation überlieferten Schriften der römischen Juristen zielt weniger auf Überlieferungsmängel wie Abschreibfehler oder Verluste von Buchseiten als vielmehr auf zielgerichtete Eingriffe der Mitarbeiter Kaiser Justinians. Ausmaß und Tragweite derartiger Veränderungen werden unter dem Stichwort „Interpolationenkritik“ behandelt.

1.2.2 Interpolationenkritik

Schwierigkeiten bereitet aber die konkrete Feststellung einer Interpolation, da kaum Vergleichsmaterial vorhanden ist, das geeignet wäre, hinreichend Auskunft über den Rechts- oder Textzustand vor Justinian zu geben. Aus diesem Grund ist die Interpolationenkritik in hohem Maße spekulativ: Die meisten Interpolationsbehauptungen beruhen auf Vorurteilen und Unterstellungen, die in der Regel davon abhängen, wie viel Grundvertrauen der Interpret der Authentizität des Textes entgegenbringt. In der Literatur vom Ende des 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses Vertrauen besonders gering: Als Interpolationskriterien galten typische Wendungen und besonders interpolationsverdächtige Wörter, aber auch das Postulat, eine (scheinbar) unzureichende Argumentation oder terminologische Schwäche könne nicht von einem römischen Juristen stammen. Eine eigene Dynamik gewannen diese Argumente, indem sie kombiniert wurden: So wurde aus einem ‚nachweislich‘ interpolierten Fragment auf die Interpolation eines bisher unverdächtigten Textes geschlossen, auch wenn gar kein gleichartiges Interpolationsindiz vorlag. Ein solches Vorgehen ist etwa dann zu beobachten, wenn ein aufgrund argumentativer Schwächen verdächtigtes Fragment zum Beweis der Interpolation eines anderen Fragments verwendet wird, obwohl die Übereinstimmungen zwischen beiden Texten nicht argumentativer, sondern nur stilistischer Natur sind. Diese methodischen Schwächen waren der Ansatzpunkt für die Gegenbewegung, die ‚Kritik der Interpolationenkritik‘, wie sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Diese kritischen Stimmen hoben hervor, dass der justinianische Auftrag vorrangig auf die Beseitigung von Überflüssigem, vor allem auf die Streichung von Wiederholungen und rechtlich Überholtem sowie auf die Ausmerzung von Widersprüchen zwischen einzelnen Juristen abgezielt habe.

Das eigentliche Ende erlebt die Interpolationenkritik jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg: Vor allem Max Kaser hat die Notwendigkeit betont, die Textkritik an die Sachforschung anzulehnen. Es muss daher in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die behauptete Interpolation einem sachlichen Motiv Kaiser Justinians entsprechen könnte. Alle lediglich auf stilistische Eindrücke gestützten Verdächtigungen sind in der Regel zurückzuweisen. Diese Zurückhaltung wird durch den Vergleich mit dem außerhalb der Kompilation Justinians überlieferten Material bestärkt: Soweit erkennbar, beschränken sich die Eingriffe der Kompilatoren auf stilistische Anpassungen und vor allem auf Kürzungen. Freilich sind die meisten Vergleichstexte nur bruchstückhaft oder auszugsweise in Sammelwerken aus dem 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. erhalten. Somit sind die Vergleichsmöglichkeiten gering und das Vergleichsmaterial ist seinerseits nicht frei von überlieferungsbedingten Veränderungen.

Nur ein einziges Werk ist außerhalb des justinianischen Corpus vollständig überliefert: die 1816 wiederentdeckten Institutionen des Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.).

1.2.3 Institutionen des Gaius

1.3 De testamentis et de legatis

Gaius unterteilt das Kapitel über den Erwerb von Eigentum in zwei Abschnitte:

Übersicht 3: Das Erbrecht in Gaius’ Institutionen 3

1.3.1 Die Komplexität des römischen Erbrechts

Schon die weitere Gliederung des Abschnitts de testamentis et de legatis bei Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.) offenbart die Komplexität des römischen Erbrechts.

Übersicht 4: Kapiteltitel in den Abschnitten zum Universalerwerb bei Gaius

Wie die Übersicht 4 zeigt, gibt es nicht nur allgemeine Regeln für die Errichtung von Testamenten, sondern es gelten zusätzlich besondere Vorgaben für die Testamente von Soldaten (siehe 2b). Zudem ist die Möglichkeit, ein Vermächtnis zu errichten, durch die Möglichkeit, Fideikommisse aufzuerlegen (siehe 3g), gleichsam verdoppelt, weil der Erblasser nicht nur förmliche Vermächtnisse (= Legate), sondern auch formlose Vermächtnisse (= Fideikommisse) aussetzen kann. Zuletzt tritt beim Erbschaftserwerb ohne Testament neben das gesetzliche Erbrecht ein besonderes prätorisches Erbrecht (bonorum possessio, siehe 4b). Auch existieren Sonderregeln für das gesetzliche Erbrecht von freigelassenen Sklaven (siehe 4c – f). Schon die Gliederung der Institutionen des Gaius lässt damit zwei wesentliche Züge des römischen Erbrechts hervortreten: Die Vielfalt von Instituten vergleichbarer Zwecksetzung und die große Anzahl an Ausnahme- und Sondervorschriften für bestimmte Gruppen oder Situationen. Diese Heterogenität des römischen Erbrechts ist in der Forschung als juristische Schwäche angesehen worden:

In der Rechtstechnik steht das Erbrecht dieser Periode [sc. des klassischen Rechts] den meisten anderen Gebieten des Privatrechts nach. Ähnlich etwa dem Vormundschaftsrecht, ist es kompliziert und unübersichtlich; die allgemeinen Sätze werden von zahlreichen Ausnahmen durchbrochen und bisweilen überwuchert. […].4

Führt man sich allerdings vor Augen, dass diese Komplexität des römischen Erbrechts das Ergebnis einer historischen Entwicklung darstellt, bietet gerade die vermeintliche Schwäche dieses Rechtsgebietes die Möglichkeit, die Entstehung und das Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungsstufen des römischen Privatrechts zu untersuchen. Als charakteristisch für die römische Rechtsentwicklung gilt, dass sich die verschiedenen Entwicklungsstufen nicht sukzessive ablösen, sondern anhäufen. Man kann das römische Erbrecht daher auch als für den Rechtshistoriker besonders reizvolles Gebiet ansehen:

However, it is just this characteristic [sc. the fine network] of the Roman law of succession which renders it a particularly interesting field for legal historians. The labyrinthine law cries out for historical analysis; available materials are unusually rich; all factors in Roman legal evolution are clearly visible, in particular the strength of Roman jurisprudence as well as its limits and shortcomings.5

Kein anderes Rechtsgebiet des römischen Privatrechts bietet derartig reiches Anschauungsmaterial, um die Rechtsentwicklung und die damit verbundene Anhäufung verschiedener Rechtsschichten im Detail beschreiben und beobachten zu können.

Der Grund für die gerade im Erbrecht zu beobachtende Kumulation verschiedener Privatrechtsordnungen ist im für die römische Rechtsentwicklung typischen Beharren auf dem Überkommenen zu suchen. Der sprichwörtliche ‚Traditionalismus‘ der römischen Juristen verhindert die Abschaffung und Aufhebung althergebrachter Rechtsvorschriften und führt dazu, dass das neu eingeführte Recht neben das bestehende tritt, ohne dieses abzulösen. Die damit fast zwangsläufige Anlagerung von Rechtsquellen unterschiedlicher historischer Provenienz und abweichender rechtspolitischer Zielsetzung entspricht der von den römischen Juristen befolgten Methode.

1.3.2 Zur Methode der römischen Juristen

Die in den Digesten überlieferten Juristenschriften enthalten vorrangig Fallrecht, das heißt die Entscheidung von Einzelfällen. Daher spricht man davon, die römische Rechtsfindung sei ‚kasuistisch‘, erfolge also durch Fortentwicklung des Rechts von Fall zu Fall. Dabei bildet sich neues Recht immer dort, wo ein bisher nicht vorgesehener Fall zu entscheiden ist oder auch nur zur Erörterung eines neuen Rechtsproblems vom Juristen formuliert wird. Das vom Juristen an diesem Fall erstmalig gefundene Recht bedarf aber der Fundierung im Bestehenden; es kann nur als Fortdenken der bereits existierenden Ordnung und damit durch die Akzeptanz der Fachgenossen bestehen. Schon ihrer Natur nach ist die kasuistische Rechtsfindung daher immer konservativ; ein Wertewandel kann sich nur schrittweise durchsetzen. Durch Gesetzgebung sind dagegen jederzeit Umwälzungen, Reformen und Neuanfänge möglich. Soweit ein Gesetz oder ein kaiserlicher Erlass zu Konflikten oder Friktionen mit der Tradition führt, sind es ebenfalls die Juristen, die im Einzelfall den Ausgleich zwischen den verschiedenen Vorgaben herzustellen suchen. Auch diese Anpassung erfolgt also mittels Einzelfallentscheidung.

1.3.3 Drei Leitfragen

Aufgrund der skizzierten Besonderheiten der römischen Rechtsordnung wie der Rechtsfindungsmethode der römischen Juristen kann das römische Privatrecht nur als Entwicklungsprozess dargestellt und beschrieben werden. Genau diese Entwicklung des rechtlichen Denkens soll durch die Untersuchung des römischen Erbrechts erfasst werden. Aus diesem Grund erfolgt die Darstellung der Institute des römischen Erbrechts unter den drei folgenden Leitfragen:

1) Welche Entwicklungsstufen sind für eine Regelung des römischen Erbrechts zu erkennen und zu unterscheiden?

2) Welche Grundsätze gelten für die jeweilige Entwicklungsstufe und woraus ergibt sich ihre besondere Prägung?

3) Auf welche Weise greifen die Juristen auf die zu ihrer Zeit existenten Rechtsschichten zurück, und wie bringen sie konkurrierende Rechtsschichten im Einzelfall zum Ausgleich?

Antworten auf diese drei Leitfragen werden zunächst separat für jedes behandelte erbrechtliche Institut am Ende des jeweiligen Kapitels formuliert (Fazit). Schließlich sind im Rahmen der Ergebnisse (Kap. 10) die Folgerungen für das Erbrecht als Rechtsgebiet und die Erbrechtsentwicklung in Rom insgesamt zu ziehen.

1.4 Gang der Darstellung

Die einzelnen Kapitel des Hauptteils (Kap. 3 bis Kap. 9) sind jeweils einem einzelnen erbrechtlichen Thema oder Rechtsinstitut gewidmet, das in seinen historischen Entwicklungsstufen dargestellt und dadurch in seiner Vielschichtigkeit entwirrt werden soll. Dabei sind nicht alle Themen des römischen Erbrechts angesprochen. Wegen ihrer Besonderheit wurde etwa auf die Behandlung der testamentarischen Vormundschaft, der Freilassung und der Schenkung von Todes wegen verzichtet. Bezweckt wurde vielmehr, die Grundbegriffe des Erbrechts in der durch die Quellen vermittelten Komplexität anzusprechen. Daher sind auch Fragen des öffentlichen Rechts und des Strafrechts behandelt, wenn sie Bedeutung für das Erbrecht haben; zudem sind Regelungen, deren Komplexität aus heutiger Sicht übersteigert scheint, ausführlich aufgenommen worden, um ein möglichst genaues historisches Bild des römischen Erbrechts zu zeichnen. Schon aus diesem Grund musste die Darstellung des jeweiligen Themas direkt aus den justinianischen Quellen erfolgen. Dieses Vorgehen hat auch den Vorzug, dem Leser einen unmittelbaren Eindruck von der Fachdiskussion der römischen Juristen zu vermitteln. Zur Erleichterung des Zugangs sind die exemplarisch zitierten Quellen auch in deutscher Übersetzung abgedruckt.6 Bei Bedarf sind Übersichten eingefügt, die das Behandelte zusammenfassen; in diesen sind die wichtigsten Ergebnisse farblich hervorgehoben.

Auf die Darstellung von Forschungskontroversen oder abweichender Literaturmeinungen wurde grundsätzlich verzichtet. Die Literaturangaben am Schluss des Buches erlauben dem interessierten Leser, sich über den Forschungsstand zu informieren. Diese Literaturauswahl erfasst einerseits für Studenten gut zugängliche Werke und andererseits Forschungsliteratur, die als grundlegend für die behandelte Sachfrage anzusehen ist.

Das folgende Kapitel (Kap. 2) dient dazu, beim Leser die Voraussetzungen für die Betrachtung der Rechtsschichten der einzelnen erbrechtlichen Institute zu schaffen. Zu diesem Zweck ist der Leser mit einigen Eckdaten der römischen Geschichte sowie mit grundlegenden Informationen zur römischen Rechtsentwicklung auszustatten.

1    Der Text folgt der Transkription von Octave Guéraud/Pierre Jouguet, Un testament latin per aes et libram de 142 après J.-C. (Tablettes L. Keimer), Études de papyrologie 6 (1940) 1 – 20 sowie Jean Macquéron, Le testament d’Antonius Silvanus (Tablettes Keimer), RHD 23 (1945) 123 – 170; Korrekturen nach Detlef Liebs, Das Testament des Antonius Silvanus, römischer Kavallerist in Alexandria bei Ägypten, aus dem Jahre 142 n. Chr., in: Klaus Märker/Christian Otto (Hrsg.), Festschrift Weddig Fricke, Freiburg 2000, 113 – 128; eine neuere Übersetzung findet sich bei Benedikt Strobel, Römische Testamentsurkunden aus Ägypten vor und nach der Constitutio Antoniniana, München 2014, 65 – 109.

2    Eine Rekonstruktion der Juristenwerke wurde unternommen von Otto Lenel, Palingenesia iuris civilis, 2 Bde., Leipzig 1889 (Nachdr. Graz 1960 mit einem Supplement von Lorenz Edgar Sierl, davon 2. Neudr. Aalen 2000).

3    Aus: Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, 8 f.

4    Max Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt, München2 1971, § 157.III, 671. Dieser Standpunkt findet sich bereits bei Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 203, der betont: „Classical jurisprudence discussed the law of succession on death with obvious predilection and at the same time admirable delicacy, but […]. This part of classical law was highly complicated and to a large extent perplexedly entangled, but the classical lawyers did little to simplify it. Their professional relish for details and for vexed questions was too strong for them, and, absorbed in the spinning of this fine network, they forgot the maxim simplicitas legum amica.“

5    Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 204.

6    Alle Übersetzungen wurden von Thamar Xandry und Ulrike Babusiaux eigenständig angefertigt. Als Hilfsmittel für die Digesten wurden die alte deutsche Übersetzung von Carl Eduard Otto/Bruno Schilling/Carl Friedrich Ferdinand Sintenis (Hrsg.), Das Corpus Juris Civilis in’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 7 Bde., Leipzig 1830 – 1833 sowie die neue deutsche Übersetzung herangezogen, im Einzelnen: Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Sebastian Lohsse/Thomas Rüfner (Hrsg.), Corpus iuris civilis I: Institutionen, 4. Aufl. Heidelberg 2013; Okko Behrends/Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis II: Digesten 1 – 10, Heidelberg 1995; dies. (Hrsg.), Corpus iuris civilis III: Digesten 11 – 20, Heidelberg 1999; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler/Okko Behrends (Hrsg.), Corpus iuris civilis IV: Digesten 21 – 27, Heidelberg 2005; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Thomas Rüfner/ Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis V: Digesten 28 – 34, Heidelberg 2012. Für die Institutionen des Gaius wurde die Übersetzung von Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, konsultiert.

2 Voraussetzungen

Das Erbrecht ist mehr als jedes andere Rechtsgebiet von den kulturellen Prägungen einer Gesellschaft abhängig. Ein vertieftes Verständnis und die Darstellung der historischen Entwicklung des römischen Erbrechts verlangen daher Kenntnisse des allgemeinen historischen wie des rechtshistorischen Rahmens, in dem sich die Erbrechtsentwicklung vollzieht.

Im Folgenden ist zunächst die historische Entwicklung Roms zu skizzieren, bevor die wichtigsten Stadien der römischen Rechtsentwicklung zu beschreiben sind.

2.1 Der allgemeine historische Rahmen

Die Geschichte Roms lässt sich in die Zeit der Republik (510 – 27 v. Chr.), des Prinzipats (27 v. Chr. – 284 n. Chr.) und der Spätantike (306 n. Chr. – 565 n. Chr.) einteilen.

Übersicht 5: Zeittafel zur Orientierung

Zur Orientierung sind im Folgenden diese Eckdaten zu erläutern und Schlaglichter auf einige Ereignisse und Akteure zu werfen, die für die Rechtsentwicklung bedeutsam waren.

2.1.1 Die römische Republik

Eine erneute Revolte der plebs richtete sich gegen diese Willkür. Sie mündete in die erste umfassende Fixierung rechtlicher Vorschriften, in das um 450 v. Chr. erlassene Zwölftafelgesetz (lex duodecim tabularum).7 Seine Rechtsvorschriften wurden im Rom der Kaiserzeit auf griechische Vorbilder zurückgeführt: Eine Delegation sei aus Rom in griechische Städte gereist und mit zehn Gesetzestafeln nach Rom zurückgekehrt. In der Rechtsanwendung hätten sich Regelungslücken gezeigt, die durch zwei weitere Tafeln geschlossen worden seien. Auch wenn schon in der Republik die Tafeln des Gesetzes nicht mehr verfügbar waren, dienten die Zwölftafeln im gesamten hier betrachteten Zeitraum als Referenz- und Ausgangspunkt der Rechtsentwicklung. Berühmt geworden ist die Aussage des 27 v. Chr. bis 17 n. Chr. schreibenden Historikers Livius, die Zwölftafeln seien die „Quelle allen öffentlichen und privaten Rechts“ (fons omnis publici privatique est iuris, Liv. 3,34,6).

Zur Befriedung des Gegensatzes zwischen Patriziern und Plebejern genügte das Zwölftafelgesetz allerdings nicht. Der römischen Geschichtsschreibung zufolge erstritten die Plebejer in verschiedenen weiteren Schritten die Beteiligung an weiteren Ämtern, insbesondere auch an den magistratischen Höchstämtern, der Prätur und dem Konsulat. Nachdem 387 v. Chr. die Gallier Rom eingenommen und zerstört hatten, soll es im Rahmen der Bemühungen um den Wiederaufbau zur entscheidenden Auseinandersetzung und zum Kompromiss zwischen den beiden Ständen gekommen sein. Die leges Liciniae Sextiae von 367 v. Chr. sahen vor, dass zwei Konsuln das höchste Staatsamt ausüben sollten, von denen einer Plebejer sein konnte. Im Gegenzug erhielten die Patrizier das Recht, zwei neu geschaffene Magistraturen zu besetzen.

Die Veränderungen in der inneren Organisation gingen mit ständigen militärischen Auseinandersetzungen einher, in deren Verlauf Rom zunächst Italien unterwarf und sich sodann auch gegenüber Karthago als Konkurrent für die Vorherrschaft im Mittelmeerraum durchsetzte (Erster Punischer Krieg, 264 v. Chr.–241 v. Chr.; Zweiter Punischer Krieg, 218 v. Chr.–201 v. Chr.). Diese Ausweitung der römischen Herrschaft führte zu einer Intensivierung des Handels mit nichtrömischen Städten. In diesem Zusammenhang ist die Einrichtung einer weiteren Prätur zu sehen, deren Inhaber Jurisdiktionsgewalt für die Streitigkeiten zwischen Nichtrömern und zwischen Nichtrömern und Römern hatte. Das Amt des Fremdenprätors (praetor peregrinus) soll im Jahr 242 v. Chr. geschaffen worden sein. Ab diesem Zeitpunkt sind zwei unterschiedliche Rechtsprechungsbereiche der Prätoren zu unterscheiden: Der Stadtprätor (praetor urbanus) entscheidet Streitigkeiten zwischen Römern, der Fremdenprätor (praetor peregrinus) ist für Prozesse zwischen Römern und Nichtrömern oder zwischen Nichtrömern zuständig.

Im letzten Jahrhundert v. Chr. geriet die römische Republik in eine Krise, die durch innenpolitische Unruhen (Bürgerkrieg) und außenpolitische Bedrohungen gekennzeichnet war. Durch die Abwehr der Bedrohung von außen setzte sich Oktavian (63 v. Chr.–14 n. Chr.) auch im Innern durch: Der Senat verlieh ihm den Ehrentitel „Augustus“ (27 v. Chr.) und erteilte ihm Sondervollmachten, um nach dem Bürgerkrieg die Ordnung des Staates wiederherzustellen. Auf diese Weise wurde formell die Republik erneuert, materiell aber eine neue Staatsform begründet: der Prinzipat.

2.1.2 Der Prinzipat

Als „Prinzipat“ wird die seit der Verleihung von Sondervollmachten an Oktavian (27 v. Chr.) bis zum Beginn der Herrschaft Diokletians (284 n. Chr.) gültige Staatsform bezeichnet. Die Bezeichnung ist abgeleitet vom Begriff princeps (wörtlich: „der Erste“) und bezieht sich auf die besonderen Befugnisse, die Oktavian zunächst persönlich, seinen Nachfolgern kraft ihres Amtes zustanden, und die eine besondere rechtliche Position des Herrschers begründeten. Auch wenn sich das Selbstverständnis und der Machtanspruch des princeps im Laufe der Kaiserzeit ebenso wandelten wie die politischen Gegebenheiten, blieb die rechtliche Konstruktion im Wesentlichen unverändert. Sie beruhte auf zwei bereits in der Republik bekannten Befugnissen, die dem princeps in außerordentlicher Form zuerkannt wurden. Es handelte sich zum einen um eine uneingeschränkte und zeitlich unbegrenzte Kompetenz des Volkstribuns (tribunicia potestas), zum anderen um eine unbegrenzte Amtsvollmacht des Statthalters (imperium proconsulare). Außerordentlich waren diese Befugnisse deshalb, weil der princeps sie ohne die institutionellen Begrenzungen des republikanischen Amtes ausübte: Durch die Verleihung der Befugnisse eines Volkstribuns konnte der Kaiser das den Tribunen zustehende Veto gegenüber allen magistratischen Anordnungen ausüben und – der ursprünglichen Funktion des Amtes entsprechend – den einzelnen Bürger vor magistratischer Willkür schützen. Gleichzeitig war er selbst unantastbar (sakrosankt), so dass das Veto für ihn keine negativen Folgen zeitigte. Da der Kaiser nicht in das Amt des Volkstribuns gehoben wurde, konnte er die tribunicia potestas gelöst von den Begrenzungen und Verpflichtungen des Amtes als wirkungsvolles Instrument der innenpolitischen Machtausübung nutzen. Die Amtsvollmacht des Statthalters dagegen war vor allem für die Außenpolitik, insbesondere für die Herrschaft in den Provinzen, von Bedeutung. Die an Oktavian verliehene Herrschaftsmacht (imperium) war entgegen der für Statthalter gültigen Praxis weder zeitlich noch gegenständlich begrenzt. Der princeps hatte mithin die dauerhafte Obergewalt über die Truppen und das Herrschaftsrecht über alle Bewohner der Provinzen. Zudem kontrollierte er die Statthalter, deren eigene Herrschaftsgewalt über die ihnen zugewiesene Provinz hinter der umfassenderen des princeps zurückstehen musste.

Die skizzierte Herrschaftskonstruktion des Prinzipats brachte freilich mit sich, dass die Thronfolge nicht gesichert war, weil die Gewalt mit dem Tod des princeps immer wieder an das Volk zurückfiel. Damit war es notwendig, schon zu Lebzeiten des princeps einen Nachfolger zu bestimmen und diesem mit Blick auf die Zukunft Teilhabe an den beiden Hauptbefugnissen zu übertragen. Auch war der princeps auf Unterstützung der Eliten des Reiches angewiesen, um beim Herrscherwechsel die Einsetzung seines Nachfolgers auf die beiden Befugnisse zu gewährleisten. Eine besondere Bedeutung bei der Unterstützung des princeps kam dabei den Juristen zu, die von Kaiser Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.), aber auch unter den Kaisern Hadrian (117 – 138 n. Chr.) und Septimius Severus (193 – 211 n. Chr.) eine besondere Förderung erfuhren und an der kaiserlichen Rechtssetzung beteiligt waren.

Mit dem Amtsantritt Oktavians soll ein kaiserliches Respondierrecht (ius respondendi) für Juristen eingeführt worden sein. Diese, als Privileg verstandene Befugnis soll ihrem Inhaber das Recht verschafft haben, Rechtsgutachten (responsa, wörtlich: „Antworten“) nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen des Kaisers zu erteilen, um die vertretene Rechtsansicht mit besonderer Autorität auszustatten. Diese kaiserliche Privilegierung des Respondierrechts von Juristen führte zur Verstärkung der Rechtswirkungen von responsa im Prozess: Während die zuvor privat verantworteten Gutachten als Parteivortrag durch den Prätor und den Richter zu beachten waren, galten die aus der Autorität des princeps erlassenen Gutachten als verbindliche Anordnung (lex, wörtlich „Gesetz“). Sofern also verschiedene Juristen im Namen des Kaisers übereinstimmende Auskünfte über die Rechtslage erteilt hatten, konnte der Richter sein Urteil nicht mehr auf eine abweichende Rechtsansicht stützen. Nur wenn die vorgelegten Gutachten abweichende Meinungen vertraten, blieb ihm die Wahl, sich einer der beiden Meinungen anzuschließen. Der kaiserliche Zugriff auf die Juristen sorgte mithin für eine einheitlichere Rechtsanwendung und führte gleichzeitig zu einer kaiserlichen Kontrolle über das vor Gericht angewandte Recht.

In die gleiche Richtung weist die von Kaiser Hadrian veranlasste Verkündung eines ewigen Edikts (edictum perpetuum) für Prätoren und Statthalter: Während die jährlichen Edikte der Magistrate Ausdruck ihrer eigenen Jurisdiktionsgewalt waren und trotz Anlehnung an das Edikt des Vorgängers auf eigener Schöpfung beruhten, ließ Kaiser Hadrian durch den Juristen Julian (2. Jahrhundert n. Chr.) eine allgemeingültige Version des prätorischen Edikts vorbereiten. Dieses Edikt wurde um 130 n. Chr. durch einen Senatsbeschluss in Kraft gesetzt und bildete fortan die unveränderliche Grundlage der Rechtsprechung in Rom und in den Provinzen. Zwar stand den Juristen weiterhin die Interpretation und interpretative Ergänzung von Ediktsklauseln offen, durch die Fixierung des Edikts wurde aber der Rechtssetzungsspielraum der Magistrate begrenzt und vor allem schon im Vorhinein durch den princeps kontrolliert.

Die Zeit der severischen Kaiser (193 – 235 n. Chr.) gilt in verschiedener Hinsicht als Höhepunkt des Einflusses der Juristen auf die Staatsgeschäfte. Schon seit Hadrian (117 – 138 n. Chr.) waren die Juristen sowohl im kaiserlichen Rat (consilium) als auch in der kaiserlichen Kanzlei unmittelbar an der Rechtssetzung durch den princeps beteiligt. In der Epoche der Severer wirkten mit Aemilius Papinianus (Papinian), Iulius Paulus (Paulus) und Domitius Ulpianus (Ulpian) gleich drei Juristen, die auch durch ihre Schriften zu den bedeutendsten Fachvertretern zählen, als kaiserliche Beamte und Mitglieder des Rates. Alle drei hatten die Position des Prätorianerpräfekten (praefectus praetorio) inne und waren damit direkte Vertreter des Kaisers in der Zivilverwaltung und Rechtsprechung. Auf diese Weise waren sie für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zuständig und konnten in Vertretung des Kaisers auch Berufungsverfahren (appellationes) gegen Urteile durchführen. Auch in weniger prominenter Stellung wirkten sie auf die kaiserliche Rechtssetzung ein, indem sie als Kanzleibeamte die kaiserlichen Antworten (rescripta, davon Reskripte) auf Rechtsanfragen aus dem ganzen Reich vorbereiteten und als Beratungsgremium für das Kaisergericht dienten. Diese doppelte Funktion ist typisch für die Juristen der gesamten Kaiserzeit, die uns durch ihre ‚private‘ literarische Produktion (Rechtsliteratur) in Justinians Digesten bekannt sind.

In Übersicht 6 sind die Namen der im Folgenden am häufigsten zitierten Juristen – geordnet nach der kaiserlichen Dynastie, unter der sie wirkten – aufgeführt:

Übersicht 6: Die Jurisprudenz der Kaiserzeit

Die zeitliche Zuordnung eines Juristen zu einer bestimmten kaiserlichen Dynastie kann Aufschluss über die Rahmenbedingungen seines Wirkens geben und erlaubt, seinen Platz innerhalb der verschiedenen Juristengenerationen zu bestimmen. Die Details dieser Geschichte der römischen Jurisprudenz bleiben hier jedoch ebenso wie die Biographien und die Beschreibung der Schriften der einzelnen Prinzipatsjuristen ausgeklammert. Festzuhalten ist lediglich, dass der Prinzipat mit seiner engen Verbindung zwischen Kaisertum und Jurisprudenz die Voraussetzungen bot, die fachwissenschaftliche Diskussion auch literarisch zu fixieren und eine juristische Fachliteratur auszuprägen. Schon in der an die Severerzeit anschließenden Epoche, die als Zeit der „Soldatenkaiser“ (235 – 284 n. Chr.) bezeichnet wird, weil die häufigen Herrscherwechsel meist durch militärische Umstürze erfolgten, geht diese Möglichkeit wieder verloren. Dies lag vor allem daran, dass die kaiserliche Verwaltung aufgrund der gewaltsamen Herrscherwechsel in dieser Zeit nicht mehr von Juristen, sondern von Militärs dominiert wurde. Wenngleich die kaiserliche Kanzlei weiterhin Rechtsauskünfte erteilte und Recht setzte, verlor die Jurisprudenz ihre herausragende und mächtige Stellung, die sie seit Oktavian innehatte. Allerdings wirkten die Juristen des Prinzipats über ihre Schriften auch auf die Rechtssetzung der nachfolgenden Kaiser ein. Dies gilt in besonderem Maße für die Kaiser Diokletian (Ostrom, 284 – 305 n. Chr.) und Maximian (Westrom, 286 – 305 n. Chr.), die versuchten, die Herrschaft über das römische Reich durch dessen Neuorganisation zu sichern, und dabei in ihrer Rechtsprechung bewusst an die Vorbilder des Prinzipats anknüpften.

2.1.3 Die Spätantike

Die Zäsur zur Spätantike bildete der mit Kaiser Konstantin I. (306 – 337 n. Chr.) beginnende Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion. Die Berufung auf eine göttliche Legitimation der Herrschaft führte zu einer Veränderung der Herrschaftsbegründung und der Herrschaftsformen, und die Gebote des Christentums veränderten die Vorgaben für das Recht. Dennoch blieben die Schriften der Prinzipatsjuristen und die Rechtssetzungsakte der früheren römischen Kaiser auch im 4. Jahrhundert n. Chr. bekannt und wurden weiter abgeschrieben und verbreitet. In der Zeit der Völkerwanderung (4. und 5. Jahrhundert n. Chr.) wurden sowohl die Rechts- als auch die Reichseinheit geschwächt: Während im Osten des Reiches die antike Tradition fortlebte, endete das Westreich mit dem Tod des letzten von Byzanz anerkannten weströmischen Kaisers Julius Nepos (474 – 480 n. Chr.).

2.1.4 Zeitlicher Rahmen dieses Lehrbuchs

Die Zeitspanne, für welche die Entwicklung des römischen Erbrechts zu betrachten sein wird, ist gegenüber dem skizzierten zeitlichen Rahmen begrenzt. Sie betrifft – allein schon aufgrund der Quellenlage (Kap. 1.2) – vorrangig die Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. (in der Übersicht 7 hervorgehoben). Historisch gesehen erfasst die Darstellung damit die ausgehende römische Republik sowie die römische Kaiserzeit (Prinzipat).

Übersicht 7: Zeitlicher Rahmen dieses Lehrbuchs

Auch dieser Zeitraum von knapp 400 Jahren ist – wie schon die skizzierte historische Entwicklung gezeigt hat – keine homogene Epoche. In der justinianischen Kompilation der römischen Juristenschriften (Digesten) finden sich aber nahezu ausschließlich Werke aus diesem Zeitraum mit einem Schwerpunkt im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Es ist daher die Rechtsanschauung dieser Juristen der Prinzipatszeit, die auch die Darstellung der römischen Rechtsentwicklung prägt.

2.2 Rechtsschichten des römischen Privatrechts

Die römischen Juristen des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. unterscheiden verschiedene Rechtsschichten, das heißt Regelungen, die einer gemeinsamen Entwicklungsstufe angehören. Diese Unterscheidung von Rechtsschichten nach historischem Ursprung und damit verbunden abweichender rechtspolitischer Zwecksetzung dient den Juristen als elementare Rechtsquellenlehre. Dabei ordnen die römischen Juristen die Rechtsquellen nicht hierarchisch, sondern genetisch, indem sie eine nachfolgende oder hinzutretende Rechtsschicht vor allem in ihrer Gegensätzlichkeit zum bestehenden Recht kennzeichnen. Die Forschung zum römischen Recht bedient sich dieser Ansätze, um die römische Rechtsordnung zu charakterisieren. Man spricht daher von den ‚Rechtsschichten des römischen Privatrechts‘. Damit ist die bereits beschriebene historische Anlagerung von Normen unterschiedlicher Provenienz und Zielsetzung gemeint, die das römische Privatrecht kennzeichnet (Kap. 1.3.1). Da dieses Rechtsschichtenmodell auch bei der Darstellung der erbrechtlichen Institute zugrunde gelegt werden wird, sind im Folgenden die in den Juristenschriften anzutreffenden Charakterisierungen verschiedener Rechtsschichten vorzustellen.

2.2.1 Ius naturale

Den theoretischen Ausgangspunkt der Reflexion über Rechtsschichten in den Juristenschriften bildet das ius naturale („natürliches Recht“), das nicht mit dem heutigen Naturrecht verwechselt werden darf:

D. 1.1.1.3 Ulpianus 1 institutionumIus naturale est, quod natura omnia animalia docuit: Nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium, quae in terra, quae in mari nascuntur, avium quoque commune est. Hinc descendit maris atque feminae coniunctio, quam nos matrimonium appellamus, hinc liberorum procreatio, hinc educatio: Videmus etenim cetera quoque animalia, feras etiam istius iuris peritia censeri.

Das natürliche Recht besteht aus dem, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat: Denn dieses Recht ist nicht der Menschheit vorbehalten, sondern ist allen Lebewesen, die auf der Erde und die im Meer geboren werden, und auch den Vögeln gemeinsam. Von diesem Recht stammt die Verbindung von Mann und Frau ab, die wir als Ehe (matrimonium) bezeichnen; ebenso die Zeugung von Kindern und ihre Erziehung. Wir sehen nämlich, dass auch die anderen Lebewesen, sogar die wilden Tiere, durch die Kenntnis dieses Rechts erfasst werden.

Ulpian (3. Jahrhundert n. Chr.) definiert als ius naturale das von der Natur gegebene Recht, das als ursprünglich vorgefundenes Recht dem vom Menschen geschaffenen Recht gegenübersteht. Da das menschliche Recht dem naturgegebenen Zustand widersprechen kann, bildet das ius naturale einen Ansatzpunkt für Rechtskritik:

D. 1.1.11 Paulus 14 ad SabinumIus pluribus modis dicitur: Uno modo, cum id quod semper aequum ac bonum est ius dicitur, ut est ius naturale. Altero modo, quod omnibus aut pluribus in quaque civitate utile est, ut est ius civile. […].

Der Begriff „Recht“ wird auf mehrere Weisen verwendet: In der einen Weise, wenn das, was immer billig und gut ist, als Recht bezeichnet wird, das heißt das ius naturale. Auf andere Weise, was allen oder der Mehrheit in jeder beliebigen Gemeinde nützlich ist, das heißt das ius civile. […].

Während das ius naturale der allgemeinen Gerechtigkeit (aequitas) verpflichtet ist, dient das ius civile, das heißt das für die Bürger einer Gemeinde geschaffene Recht, der Nützlichkeit (utilitas). Das ius civile kann daher einseitig bestimmte Gruppen oder Personen begünstigen, was gegen die allgemeine Gerechtigkeit, also das ius naturale, verstößt. Die Berufung auf die grundlegende Rechtsschicht des ius naturale kann daher – genau wie die Berufung auf die aequitas – dazu dienen, Rechtsänderungen und Anpassungen der bestehenden Regelungen zu fordern.

2.2.2 Ius civile

Die grundlegende Rechtsschicht des vom Menschen geschaffenen Rechts bildet das ius civile:

Gai. 1,1Omnes populi, qui legibus et moribus reguntur, partim suo proprio, partim communi omnium hominum iure utuntur: Nam quod quisque populus ipse sibi ius constituit, id ipsius proprium est vocaturque ius civile, quasi ius proprium civitatis; […].

Alle Völker, die von Gesetzen und Sitten regiert werden, wenden teils ihr eigenes, teils das allen Menschen gemeinsame Recht an. Denn was ein jedes Volk selbst für sich als Recht festsetzt, das ist sein eigenes und wird ius civile genannt, sozusagen „das eigene Recht der Gemeinde (civitas)“; […].

2.2.3 Ius praetorium und ius honorarium

Das ius praetorium oder ius honorarium bildet die zweite wichtige Rechtsschicht des vom Menschen geschaffenen Rechts:

D. 1.1.7.1 Papinianus 2 definitionumIus praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam. Quod et honorarium dicitur ad honorem praetorum sic nominatum.

Das prätorische Recht ist dasjenige, das die Prätoren um der Unterstützung oder der Ergänzung oder der Korrektur des ius civile willen zum öffentlichen Wohl eingeführt haben. Dieses wird auch als ius honorarium bezeichnet, das zu Ehren (honor) der Prätoren so genannt wurde.

Auf diese Weise besteht tendenziell ein Spannungsverhältnis zwischen ius civile und ius praetorium. Diese Dualität beider Rechtsschichten dauert auch nach Beginn des Prinzipats fort. Obwohl das Edikt seit Kaiser Hadrian (117 – 138 n. Chr.) als kaiserliches Recht wirkt (Kap. 2.1.2), wird es in den Juristenschriften weiter als ius praetorium bezeichnet. Auch das ius civile wird bis in die Kaiserzeit als eigenständige Rechtsschicht angesehen, wenngleich das Kaiserrecht auch für dieses neue Vorgaben setzt und unmittelbar verändernd in das ius civile eingreift.

2.2.4 Ius civile und ius novum im Prinzipat

Das Kaiserrecht, verstanden als dritte Rechtsschicht des menschlich geschaffenen Rechts, besteht aus Senatsbeschlüssen (senatusconsulta) und kaiserlichen Konstitutionen (constitutiones). Beiden Rechtssetzungsakten kommt nach Meinung der kaiserzeitlichen Juristen Gesetzeskraft zu:

Gai. 1,4Senatus consultum est, quod senatus iubet atque constituit; idque legis vicem optinet, quamvis [de ea re] fuerit quaesitum.

Ein Senatsbeschluss ist, was der Senat befiehlt und festsetzt. Und dieser erhält die Aufgabe eines Gesetzes, obwohl diese Wirkung in Frage gestellt wurde.

D. 1.4.1pr.-1 Ulpianus 1 institutionumpr. Quod principi placuit, legis habet vigorem: Utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat. 1 Quodcumque igitur imperator per epistulam et subscriptionem statuit vel cognoscens decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto praecepit, legem esse constat. Haec sunt quas volgo constitutiones appellamus.

pr. Was dem princeps gefiel, hat Gesetzeskraft, weil ja mit dem Königsgesetz (lex regia), das hinsichtlich seines imperium erlassen worden ist, das Volk ihm und auf ihn all seine Befugnis und Macht überträgt.1 Es steht daher fest, dass alles, was der Herrscher folglich durch einen Brief und eine Subskription festgelegt hat oder als Gerichtsherr geurteilt oder durch formlosen Zwischenbescheid befunden hat oder durch Edikt festgelegt hat, Gesetz ist. Dies sind diejenigen Dinge, die wir gemeinhin Konstitutionen nennen.

Die Verbindlichkeit der Konstitutionen wird von Ulpian (3. Jahrhundert n. Chr.) darauf zurückgeführt, dass der princeps selbst durch ein Königsgesetz (lex regia) in seine Amtsbefugnisse eingesetzt worden sei. Es liegt nahe, dieses Königsgesetz mit einem Antrittsgesetz (lex de imperio) in Verbindung zu bringen. Ein solches ist für den Kaiser Vespasian (69 – 79 n. Chr.) auf einer Bronzetafel überliefert, aber auch für andere Kaiser zu vermuten. Mit diesem Antrittsgesetz werden dem neuen princeps