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Wie von einer inneren Stimme getrieben, verlässt Anna ihr Zuhause sowie ihren Mann und findet sich auf der Insel La Gomera wieder. Im Labyrinth zwischen neuen Bekanntschaften, der Auseinandersetzung mit der schroffen Natur und den Bildern ihrer Vergangenheit versucht sie, ihren Weg zu finden. Als sie den Kunsttherapeuten Pedro trifft, wird ihr bewusst, dass sie sich an einer Wegkreuzung befindet und sich Zeit lassen muss für die Entscheidungen über ihr zukünftiges Leben.
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Seitenzahl: 172
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Wie von einer inneren Stimme getrieben, verlässt Anna ihr Zuhause und ihren Mann und findet sich auf der Insel La Gomera wieder. Im Labyrinth zwischen neuen Bekanntschaften, der Auseinandersetzung mit der schroffen Natur und den Bildern ihrer Vergangenheit, versucht sie ihren Weg zu finden.
Als sie den Kunsttherapeuten Pedro trifft, wird ihr langsam bewusst, dass sie sich an einer Wegkreuzung befindet und sich Zeit lassen muss für die Entscheidung über ihr zukünftiges Leben.
HELGA BREHR studierte Bibliothekswesen sowie Sprach- und Übersetzungswissenschaften. Sie lebte u.a. in Freiburg, Berlin, Athen, Saarbrücken und Odense/Dänemark. Heute arbeitet sie als Sprachlehrerin und Autorin in Schleswig-Holstein.
Bisher erschienen: »Ödipa« 2014, »Mutter, was hast du mir verschwiegen?« 2016, »Opfern am Mittag«, »Dreifach gesichert und doch…« 2022, »Elevtheria - Die Frau und die Freiheit« 2020. »Unfassbare Nähe« 2022.
www.helga-brehr.de
Wenn du an der Wegkreuzung stehst, nimm dir Zeit - Zeit zum Fühlen, Zeit zum Denken, Zeit zum Handeln
KAPITEL 1
ROLF: 1. Tag / Nacht
KAPITEL 2
ROLF: 2. Tag
KAPITEL 3
KAPITEL 4
ROLF: 3. Tag
KAPITEL 5
ROLF: 4. Tag
KAPITEL 6
KAPITEL 7
ROLF: 5. Tag
KAPITEL 8
ROLF: 6. Tag
KAPITEL 9
KAPITEL 10
ROLF: 8. Tag
KAPITEL 11
ROLF: 9. Tag
KAPITEL 12
ROLF: 10. Tag
KAPITEL 13
KAPITEL 14
Es war, als sei sie plötzlich ferngesteuert von einer unbekannten Kraft. Sie hätte nicht sagen können, wie sie zu ihren Beschlüssen gelangte. In ihr war einfach ein klares Wissen. So klar, wie sie selten etwas vor sich gesehen hatte - und doch so fremd und unglaublich.
Sie wusste, dass sie jetzt gehen würde. Und dass sie nie wieder in dieses Haus zurückkommen wollte, in dem sie die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Sie würde alles zurücklassen: Sechzehn Jahre Ehe - eine vorgezeichnete Linie bis zum Ende aller Tage. Und ihr Zuhause.
Wie aus einer anderen Realität erschien ihr die Gewissheit, dass sie jetzt die Sachen zusammenpacken musste, die ihr lieb und wert waren, die sie mitnehmen wollte in ein neues Leben, denn aus diesem Leben, das bisher ihre Wirklichkeit war, würde sie einfach aussteigen. Schluss.
Anna zitterte, als sie einen Koffer vom Schrank zog und einen Rucksack aus einer Ecke holte. Doch ihr Kopf war völlig klar. Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Was sollte sie nicht hier zurücklassen? Kleidung - davon wollte sie nur soviel mitnehmen, wie sie unbedingt brauchte. Bücher und Musik hatte sie weit mehr, als in ein Auto passten. Aber an einigen Bänden und CDs hing sie besonders, und die suchte sie nun zielgerichtet heraus. Was sonst? Auch Fotos gab es viel zu viele. Sie riss ungeduldig einige aus den Alben, wühlte Kartons durch, bis sie ein kleines Häufchen mit den wichtigsten Erinnerungen zusammengestellt hatte.
Danach die praktischen Dinge. Handy samt Ladegerät, Kreditkarten, Pass, Kalender, Papier und Stifte. Eine kleine Reiseapotheke. Die allerwichtigste Kosmetik. Von ihrem Schmuck nahm sie nur die Lieblingsstücke mit. Sie arbeitete sich äußerst konzentriert durch die Entscheidungen, als hätte sie in den letzten Jahren nichts anderes getan, als eine Flucht vorzubereiten. Zum Schluss Wäsche, Schuhe und Kleidung. Praktische Dinge, wärmere und leichtere.
Wie lange das Zusammensuchen und Packen gedauert hatte, wusste sie nicht. Aber jetzt war es etwa fünfzehn Uhr und vor sechzehn Uhr würde Rolf nicht aus dem Büro zurück sein. Seine Mutter und sein Sohn würden sich, nachdem sie pikiert aus dem Haus gegangen waren, heute nicht mehr blicken lassen.
Sie trug den Koffer runter und legte ihn in den Gepäckraum ihres Autos. Dann kehrte sie noch einmal ins Haus zurück. Raum für Raum ging sie durch, schaute sich um, nahm Abschied. Griff dann den Rucksack, eilte aus dem Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Sie startete den Wagen, setzte zurück und fuhr langsam vom Grundstück auf die kleine Straße. Sie wählte den gewohnten Weg zur Autobahn und entschied sich dort für die Richtung nach Süden. Eingefädelt und dann im gleichmäßigen Fluss des Nachmittagsverkehrs dahinfahrend, atmete sie auf. Bis hierhin geschafft. Es kam ihr vor, als sei sie an ein Notstromaggregat angeschlossen, das ihr eine ungewohnte Kraft zuführte. Und gleichzeitig fühlte es sich an wie im Schock.
Es war ein Tag Mitte November, mit Sturm und Nieselregen. In spätestens zwei Stunden würde es dunkel sein. Sie fuhr nicht gerne bei Nacht, schon gar nicht, wenn es regnete. Bis cirka siebzehn Uhr müsste sie sich entschieden haben, wo sie bleiben wollte.
Wieso denn bleiben? Wohin war sie auf dem Weg? Was ging in ihr vor? Es war alles absurd. Sie könnte in der nächsten Großstadt ein bisschen bummeln gehen, vielleicht in einer Buchhandlung stöbern, mit ein paar neuen Büchern und der Vorfreude aufs Lesen nach Hause zurückkehren. Rolf würde sich nicht sehr viele Gedanken machen, wenn sie bei seiner Rückkehr nicht im Haus war. Es geschah immer wieder, dass mal sie oder mal er noch länger arbeitete oder einkaufen ging. Aber bis zur Abendbrotzeit, so gegen zwanzig Uhr trafen sie normalerweise ein - und wenn nicht, dann benachrichtigten sie einander telefonisch.
Dass sie einen Koffer und einen Rucksack im Auto hatte, würde er nicht bemerken. Sie könnte zurückgehen, als sei nichts geschehen, mit ein paar Büchern in einer Plastiktüte. Sie würden ein bisschen darüber reden, was heute Morgen nach dem Frühstück passiert war. Und bald wäre alles wieder im alten Gleis. Anna würde eine Weile versuchen, ihren Standpunkt klar zu machen und zu verteidigen. Rolf käme mit Gegenargumenten, die er zunächst ruhig, dann immer heftiger und lauter vorbrächte. Am Ende würde Anna sich wieder fragen: warum die ganze Streiterei? Sie könnte entweder ein paar einlenkende Worte sagen oder sich umdrehen und in ihr Zimmer gehen. Dorthin käme Rolf dann nach gebührender Zeit, um anzuklopfen. Anna würde öffnen - und er entweder grinsend etwas Lustiges sagen, um das Eis zu brechen, oder sie einfach in den Arm nehmen. Und wieder wäre sie beschämt vor so viel Entgegenkommen und froh, dass die böse Stimmung und der Ehekrach sich verzogen hätten. Der kleine Groll, der immer zurückblieb, würde sich auch diesmal wieder wegstecken lassen.
Was tat sie also hier auf der Autobahn? Sie konnte doch nicht innerhalb von wenigen Stunden ihr bisheriges Leben beenden? Einfach davonfahren? Wäre da nicht diese ganz neue Gewissheit in ihr gewesen, dann hätte sie die nächste Ausfahrt genommen, im Buchladen einige Bücher gekauft und wäre nach Hause zurückgekehrt. Pflichtbewusstsein, das war eine ihrer hervorragenden Eigenschaften. Sie hielt sich an Verabredungen. Sie war da für die Menschen, die sie brauchten. Und sie hatte schließlich ihren Job als Unternehmensberaterin. Nächster Termin in drei Tagen. Sie konnte es sich nicht leisten, Stammkunden zu enttäuschen. Als Freiberufler wusste man nie, wie es weiterging.
Noch eine Ausfahrt ließ sie liegen. Bei der nächsten fuhr sie raus. Es war der Zubringer zum Flughafen. Und wie aus einem unerklärlichen Wissensspeicher bildete sich ein Wort: »Zimmervermittlung».
Anna parkte vor dem Flughafengebäude. Sie fand den Schalter für die Hotelreservierungen und fragte nach einer kleinen Pension in der Innenstadt. »Erst mal eine Bleibe für die Nacht finden», dachte sie, »morgen werde ich dann weiter sehen.»
Mit einem Zettel in der Hand verließ sie das Gebäude. Es war dunkel geworden und es regnete jetzt kräftig. Sie sollte in einer fremden Großstadt eine kleine Straße im Zentrum finden. Was tat sie nur hier? fragte sie sich verzagt. War sie denn völlig verrückt? Was wollte sie in einer öden kleinen Pension? Es war noch Zeit, umzukehren. Trotz Dunkelheit schreckte die Fahrt auf der Autobahn zurück in die bekannte Umgebung sie längst nicht so sehr, wie das Abenteuer, in völlig unbekannter Gegend herumzuirren.
Sie fand ihr Auto, setzte sich hinein, legte den Kopf auf das Lenkrad. Dann richtete sie sich auf, schnallte sich an und startete den Motor. Ein Schilderwald verwirrte sie an der nächsten Kreuzung. »Zentrum». »Park & Ride». »Langzeitparkplatz». Sie reihte sich zögernd in die Fahrspur Richtung Zentrum ein. Noch war alles hell erleuchtet durch die Flutlichter des Airports. Bald fuhr sie auf einer dunklen Allee. Es kamen ihr mehr und mehr Fahrzeuge entgegen, die sie blendeten, so dass sie nicht in der Lage war, die Schilder zu erkennen, die ihr Aufschluss hätten geben können, wo sie sich befand und wohin sie eventuell abbiegen sollte. Der Fahrer hinter ihr fuhr dicht und drängelnd auf. Als sie an der nächsten roten Ampel in der Schlange stand, konnte sie rechts Parkbuchten erkennen, von denen noch einige frei waren. Sie blinkte und fuhr auf einen Parkplatz. Ihre Augen brannten von der Anstrengung.
Im strömenden Regen stieg sie aus und ging ein paar Schritte, in der Hoffnung, ein Straßenschild zu sehen. Nichts. Was sie stattdessen entdeckte, war ein Taxistand auf der gegenüberliegenden Seite. Sie lief hinüber, klopfte an die Scheibe eines Wagens. Der Taxifahrer ließ das Fenster herunter, sie fragte, gegen Wind und Regen anschreiend, nach der Straße, in der die Pension lag.
»Tja, meine Dame, das ist nicht leicht zu finden. Wenn Sie sich hier nicht auskennen? Aber ich kann Sie fahren».
»Ich bin selbst im Auto hier». Anna zeigte auf ihren Wagen auf der anderen Straßenseite
»Ihr Auto steht da drüben gut und sicher, das können Sie morgen in aller Ruhe wieder abholen, dem passiert da nichts».
Anna war sich nicht sicher, ob sie die Worte des Mannes etwas überheblich oder altväterlich-wohlwollend finden sollte. Angesichts des Regenschauers beschloss sie, sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen und antwortete: »Na gut, ich hole mein Gepäck».
Der Fahrer stieg aus und öffnete den Kofferraum, während Anna mit Koffer und Rucksack über die Straße lief. Ihre Haare hingen tropfend von ihrem Kopf herunter, der Anorak, den sie trug, war an den Schultern durchweicht und auch die Sportschuhe hatten ihre Zehen nicht vor Nässe bewahrt. Sie schwitzte vor Anstrengung, als sie ihren Koffer hinter das Taxi stellte und dann mit dem Rucksack in der Hand auf dem Rücksitz Platz nahm.
Wie schnell man sich doch Sicherheit erkaufen konnte! Nun gingen all die blendenden Scheinwerfer sie nichts mehr an. Sie durfte einfach die müden Augen schließen, saß trocken und warm. Im Radio liefen Nachrichten und Wetterbericht. In den nächsten Tagen starke Schauerneigung, Temperaturen zwischen fünf und acht Grad. Sie schüttelte sich. Winterzeit war nichts für sie. Nun ging es nur noch abwärts - immer kälter, immer dunkler, immer nasser. Am Ende Schnee und Frost. Sie hätte auf den Winter vollkommen verzichten können. Der Frühling - wenn er denn endlich Einzug hielt, meistens ja erst Anfang Mai, war in Ordnung. Neue Hoffnung, frisches Grün. Am liebsten aber war ihr ein richtig heißer, trockener Sommer. Temperaturen über 30 Grad und kein Niederschlag…
Der Taxifahrer riss sie aus ihren Gedanken. »So, da wären wir. Das macht 14,80».
Die kleine Pension befand sich im ersten Stock eines Hauses, das wie ein normales Wohnhaus wirkte. Sie klingelte, fuhr mit dem Aufzug hoch und war überrascht, ein so freundliches, helles Ambiente zu sehen. An den Wänden hingen geschmackvolle Kunstwerke, eine gemütliche Sofaecke wirkte einladend und am Empfangstresen stand ein junger Mann bereit, sie zu begrüßen. Anna bekam ein sehr hübsches Zimmer mit breitem Bett. Sie öffnete ihren Koffer. An Nachthemden hatte sie nicht gedacht. Kein Problem, sie würde auch ohne schlafen können. Gegessen hatte sie seit langem nichts mehr und als sie in die Minibar schaute, war sie froh, dass dort auch etwas zu knabbern bereit lag.
Sie bemühte sich, die penetrante Frage »Was mache ich bloß hier?» aus ihrem Kopf zu verbannen. Ein leises Gefühl sagte ihr: »Es ist alles richtig, du wirst schon sehen! Denk jetzt nicht nach, morgen ist auch noch ein Tag.»
Gleich 21.00 Uhr – und sie ist noch nicht zuhause. Kein Anruf, keine Nachricht.
Mein erster Impuls ist, sie auf dem Handy anzurufen. Ich mache mir Sorgen. Vielleicht ist ihr etwas passiert. Sie war so aufgebracht heute Mittag, so wütend, wie ich sie noch nie erlebt habe. Meine liebe kleine Anna. So kenne ich sie gar nicht!
Der zweite Impuls sagt mir: Nein, kein Schritt von meiner Seite, bevor sie sich meldet! Sie will mich weich kochen, mich erpressen, lässt mich schmoren, um dann Forderungen an mich zu stellen. Ich gehe ihr nicht auf den Leim! - -
Später:
Schon Mitternacht vorbei. Ich bin todmüde aber zu nervös zum Schlafen. Warum kommt sie nicht nach Hause? Wo steckt sie bloß? Ich hätte meine Schwester oder eine von Annas Freundinnen anrufen können – aber jetzt, um diese Zeit? - -
Noch später:
Zwei Uhr. Nun habe ich doch auf ihrem Handy angerufen, eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen, sicherheitshalber noch eine sms geschickt, um Rückruf gebeten. Warum meldet sie sich nicht?
Von ungewohnten Geräuschen erwachte sie und sah violettes Licht durch die Vorhänge fallen. Auf dem Flur schob jemand einen Koffer an ihrer Tür vorbei. Von der Straße rauschte Autoverkehr herauf. Anna wusste sofort, wo sie war. Und wie sie dahin gekommen war. Aber sie wusste zunächst nicht, warum. Das Erste, was ihr dann einfiel: Rolf würde sie suchen. Er würde sich Sorgen um sie machen. Sie müsste ihn sofort benachrichtigen. Aber wie sollte sie ihm die Situation erklären?
Sie stand auf, duschte, zog frische Sachen an. Im großen Spiegel des Hotelzimmers betrachtete sie sich, als hätte sie seit langem nicht mehr wahrgenommen, wie sie aussah: Mittelgroß, schlank. Ein etwas kantiges Gesicht mit graublauen Augen, vollen Lippen und leicht gebräunter Haut. Halblange blonde Haare, glatt und glänzend. Sie fand sich weder schön noch hässlich. Aus ihren Augen blickte ihr eine Mischung aus Unsicherheit und Willensstärke entgegen.
Sie ging hinunter zum Frühstücken. Ein Büffet mit allem, was sie brauchte, war an einer Wand des Frühstücksraums aufgebaut. Nicht so ausladend wie in großen, teuren Hotels. Frisches Obst, Joghurt, gutes Vollkornbrot und Käse, mehr musste nicht sein. Beim Frühstück las sie die Tageszeitung. Dann ging sie zur Rezeption, bezahlte und bat den jungen Mann, ihr in einer halben Stunde ein Taxi zu rufen.
Sie packte die wenigen Sachen ein, die sie dem Koffer entnommen hatte. Währenddessen kam ihr der Gedanke, dass sie keine Ahnung hatte, in welcher Straße sich ihr Auto befand. Als das Taxi kam, hatte sie einen Entschluss gefasst.
»Zum Flughafen, bitte».
»Abflug oder Ankunft?»
»Abflug».
In der Abflughalle für Charterflüge war es an diesem Vormittag recht leer. Sie ging langsam an den Schaltern der Reisegesellschaften entlang, die Last-Minute-Flüge verkauften. Eine verwirrende Vielzahl von Angeboten. Vielleicht lag es nur an dem einladenden Lächeln einer jungen Angestellten, dass Anna sich an ihren Schalter begab und fragte:
»Was haben Sie denn für heute noch anzubieten?»
»Nah- oder Fernziel?» Die junge Frau legte den Kopf leicht schräg.
»Nicht zu fern, aber doch weit genug, um ein besseres Klima zu haben als hier», meinte Anna nachdenklich.
Die Dame am Schalter griff zu einem Prospekt. »Dann sind es wohl am ehesten die Kanaren.»
»Um Gottes Willen, bloß nicht solchen Touristenrummel wie Teneriffa oder so.» Anna hob abwehrend ihre Hände.
»Auch Teneriffa ist nicht überall touristisch», lächelte die Frau, »es gibt sehr schöne, stille Ecken dort. Aber vielleicht wäre La Gomera das Richtige für Sie?»
»Habe ich schon gehört, aber kenne ich nicht.» Anna zog die Mundwinkel herunter und war nicht sehr überzeugt.
»Also Gomera, das ist mehr Alternativ-Tourismus. Wandern, schöne und grüne Landschaften, wenig überlaufen.»
»Klingt nicht schlecht.»
»Und relativ kurze Flugzeit. Sie müssen allerdings von Teneriffa mit dem Schiff übersetzen.»
»Aha?» Ihr skeptisches Gesicht schien bei der jungen Frau noch mehr Einsatz und Begeisterung hervorzurufen.
»Ja, und ich kann Ihnen ein besonders schönes Hotel anbieten. Sehr beliebt bei Wanderern. Dort können Sie geführte Touren in die Berge buchen.» Sie legte einen bunten Hotelprospekt auf den Tisch und zeigte mit der rechten Hand darauf.
Anna sah sich selbst in ihren Laufschuhen, im Anorak und mit dem etwas abgeschabten Rucksack. Ja, so musste sie wirken: wie eine Wandertouristin. »Warum auch nicht?», dachte sie.
Der Flug nach Teneriffa Süd sollte in zwei Stunden schon starten. Und das Gesamtpaket mit drei Wochen Hotel, inklusive Halbpension war erstaunlich günstig. Anna hätte sich auch mehr leisten können, ihr Guthaben war solide und auf einem Tagesgeld-Konto lagen Reserven, die durch einen Anruf bei der Bank leicht aufs Girokonto überführt werden könnten. Geldsorgen hatte sie zunächst nicht. Dieser Bereich schien aber der einzige, der sich unproblematisch gestaltete. Noch immer zögerte sie, Rolf anzurufen. Dann entschied sie sich, ihm eine sms zu schicken. Hastig tippte sie: »Bin auf Reisen. Es geht mir gut. Anna»
Natürlich sah sie, dass sie viele Nachrichten bekommen hatte. Rolf hatte sie gesucht und sicher die ganze Familie mobilisiert. Sie wollte jetzt nichts hören oder lesen. Wahrscheinlich würde sie sonst nicht die Kraft haben, ihren eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Was war gestern geschehen? Ihre Gedanken flatterten zurück. Sie war wütend geworden. Einmal so wütend, wie vielleicht noch nie in ihrem Leben. Sie hatte geschrien und erinnerte sich, wie fremd ihr die eigene Stimme geklungen hatte. Kamen diese Laute aus ihr heraus? Diese schrillen Töne?
Die anderen, das heißt Rolf, seine Mutter und sein Sohn aus erster Ehe, hatten sie nur angeschaut. Peinlich berührt. Kopfschüttelnd und wortlos waren sie hinausgegangen. Anna hatte ihnen angesehen, dass sie dachten: »Jetzt ist sie plötzlich durchgedreht.» Niemand hatte sie je so erlebt.
Da war vielleicht in diesem Moment kein Anlass gewesen, so aus der Haut zu fahren. Jedenfalls nicht mehr Anlass als sonst. Nur die üblichen kleinen, täglichen Querelen. Und Rolf, ihr Mann, stand wie immer auf der Seite seines Sohnes, seiner Eltern und seiner Exfrau, erwartete wie immer von Anna Verständnis und Rücksicht. Sie schien sich für diese Rolle angeboten zu haben. Und wenn sich bisher Groll in ihr geregt hatte, waren ihr Gründe eingefallen, sich zu arrangieren, alles nicht so wichtig zu nehmen, zu verzeihen - und weiter zu machen. Bis gestern.
Eine Weile noch sah Anna die Bilder des vergangenen Tages vor sich, spürte den zwiespältigen Gefühlen nach, die sie in ihr auslösten. Dann schob sie die Erinnerungen rigoros zur Seite.
Die Zeit vor dem Abflug verbrachte sie überwiegend in der Flughafenbuchhandlung. Sie erstand einen kleinen Reiseführer über La Gomera und einen Sprachführer, mit dessen Hilfe sie ihr sehr eingerostetes Spanisch etwas auffrischen wollte. Ihr Handy hatte sie gleich nach dem Abschicken der sms wieder ausgeschaltet.
Als sie in den Warteraum kam, hatten sich schon viele Menschen dort versammelt. Familien mit kleinen Kindern, Ehepaare, Grüppchen von Frauen. Wie oft war sie mit Rolf zusammen auf Flughäfen gewesen! Sie hatten in den ersten Ehejahren viele schöne Reisen miteinander gemacht. Und geschäftlich war sie oft alleine geflogen. Das alles war ihr sehr vertraut. Sie stieg in einen Flieger ein wie in einen Zug oder Bus. Trotzdem wirkte diesmal alles so fremd. Sie befand sich nicht auf dem Weg zu einem bestimmten, geschäftlichen Ziel. Und sie war nicht mit Ehemann und Stiefkind auf der Reise in ein Urlaubsparadies, über das sie lange recherchiert und sich informiert hatten, bevor die Entscheidung gefallen war - und das sie eben immer gemeinsam angeflogen hatten. Sie schaute sich um: soweit sie sehen konnte, war sie die einzige Alleinreisende an diesem Gate.
Als der Flieger später als geplant abhob, war ihr, als würde mit der Erdverbindung eine Last von ihr abgeschnitten, die viel zu lange auf ihren Schultern gelegen hatte. Sie schaute auf die kleiner werdenden Häuser herunter und fragte sich, wie schon oft in den letzten 24 Stunden, was sie eigentlich tat. Das Gefühl der Fernsteuerung war wieder da. Dieser schien es zunächst nur darum zu gehen, sie weg zu bringen. Weg wovon? Weg von ihrem Zuhause? Weg aus diesem Land? Weg aus ihrem früheren Leben?
»Früheres», dachte sie, ich bezeichne mein Leben schon als »früheres»!
Sie vertiefte sich in den Reiseführer. Mein Gott, diese Berge! Sie mochte Berge nicht. Hoffentlich würde es auch schöne Strände zum Baden geben!
Der Pilot entschuldigte sich für die erhebliche Verspätung. Und erzählte dann, was keinen Menschen außer ihn interessierte: In wie viel Fuß Höhe sie flogen und wie viel Grad die Außentemperatur betrug. Verärgert über die Störung las Anna weiter. Das Valle Gran Rey, wo sich ihr Hotel befand, war Ausgangspunkt zahlreicher Bergwanderungen und Wohnort vieler Aussteiger, die in den 60-er und 70-er Jahren dorthin kamen. Es gab kleine Strandbuchten, überwiegend steinig, an denen das Baden sehr gefährlich werden konnte. Malerische Bergdörfer oberhalb des Küstenstreifens. Das Hotel lag direkt am Meer. Na, wenigstens etwas! In ihrer Hotelbeschreibung hatte »Zimmer mit Meerblick» gestanden, aber trotz allem hätte das Hotel mitten in den Bergen liegen können.