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Vieles hat die Region Vorpommern zu den heute bekannten Advents- und Weihnachtsbräuchen beizusteuern. So wird bereits im Spätmittelalter davon berichtet, dass Geschenke zur Weihnachtszeit für die Kinder in Schuhen bereitgelegt wurden. Der aus Wolgast stammende Romantiker Philipp Otto Runge hatte einen großen Anteil an dem Brauch, zu Weihnachten einen geschmückten Baum aufzustellen. Weiterhin ist die alte Hansestadt Stralsund die Stadt mit dem ältesten Weihnachtsmarkt an der Ostseeküste. In einem breiten Bogen stellt Gunnar Möller weihnachtliche Bräuche und Sitten aus über fünf Jahrhunderten für den vorpommerschen Raum vor.
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Seitenzahl: 331
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Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern
Für die Historische Kommission für Pommern
herausgegeben von
Gerd Albrecht, Felix Biermann, Nils Jörn, Michael Lissok
und Haik Thomas Porada
Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte
Band 57
Gunnar Möller
Weihnachten und Neujahr im alten Vorpommern
Böhlau Verlag Wien Köln
Für die Unterstützung dieses Vorhabens dankt die Historische Kommission für Pommern herzlich:
Sparkasse Vorpommern
Gesellschaft für pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst
Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte
Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland
Die Arbeit der Historischen Kommission für Pommern wird gefördert durch das Land
Mecklenburg-Vorpommern und das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.
Umschlagabbildung: August Ludwig Most, Weihnachtsbescherung, 1839, Muzeum Narodowe w Szczecinie/Nationalmuseum Stettin, Inv. Nr. MNS/Rys/651/18.
Korrektorat: Anja Borkam, Jena
Umschlaggestaltung: Michael Haderer, WienEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-412-52276-6
Inhalt
Vorwort
Einführung
Andreas, Nikolai und „singende Misse“ –Advent im alten Vorpommern
„Wode“, „Kindsvoot“ und „Nig-Jaars“-Asche –Abergläubische Gebräuche zur Weihnachts- und Neujahrszeit in Vorpommern
Von Christkronen, Pyramiden und buntverzierten Tannenbäumen –Der Weihnachtsbaum und anderes Adventsgrün
„Genicksbraden“, „krudenes Brot“ und „Pelze“ –Essen und Trinken im alten Vorpommern zur Weihnachtszeit
„Klapperbock“, „Bullkater“ und „Erbsbär“ –Heischeumzüge zu Weihnachten und Neujahr im alten Vorpommern
Von Niklas, „Wihnachtsmann“ und „hylge Kerst“ –Der weihnachtliche Gabenbringer im alten Vorpommern
„Julklappen“, „Kinnjes“ und andere Gaben –Die Geschenke zur Weihnachtszeit
„Lasst die Kinder zu mir kommen“ –Weihnachten im Stralsunder Kinderarmenhaus
Nikolaimarkt, Kinderjahrmarkt und kleiner Bazar –Der Stralsunder Weihnachtsmarkt
Vom „Nijohrswunsch“ und lauten Silversterabendfeiern –Silvester und Neujahr im alten Vorpommern
„Ungebührlich herumblauffen“, verbotene Neujahrsgeschenke und missfallene Christspiele –Behördliche Reglementierungen zur Weihnachtszeit
„Stirnkikers“, „Lotschmaus“ und „heilige drey Konnige“ –Der Dreikönigstag
Zusammenfassung
Anhang
Anhang Nr. 1~n
Liedtext „Ein Kindelein so löbelich“
Anhang Nr. 2
Franz Wessel „Vom Advent, Weihnachten und Neujahr“
Anhang Nr. 3
Rezepte
Anhang Nr. 4
Verbot des „Herumlauffens mit dem Christ-Kindelein“
Anhang Nr. 5
Heischeumzüge im historischen Vorpommern
Anhang Nr. 6
Wunschzettel von 1619
Anhang Nr. 7
Stralsunder Weihnachtsmarkt 1838
Anhang Nr. 8
Auszug aus Arnold Ruge „Aus früherer Zeit“
Anhang Nr. 9
Auszug aus Edmund Hoefer „Schwanwieck“
Anhang Nr. 10
Auszug aus Theodor Fontane „Meine Kinderjahre
Literatur
Abbildungsnachweis
Ortsregister
August Ludwig Most, Weihnachtsbescherung, 1839
Vorwort
Heimat ist, was allen in die Kindheit scheint. (Ernst Bloch 1959)
Wenn sich im Advent das Jahr seinem Ende entgegenneigt, das anheimelnde Licht von Kerzen und der Duft von gebackenen Plätzchen, Tannengrün und Orangen die Stuben erfüllen, erinnern wir uns gern an unsere Kindheit zur Weihnachtszeit. Fast alle werden den Worten Theodor Storms zustimmen: „Weihnachten – Es war immer mein schönstes Fest.“ Aber wie war es vor unserer Zeit, wie beging man früher dieses Fest?
Bereits 1998 hat der Mecklenburger Volkskundler, Historiker und Hagenower Museumsdirektor Henry Gawlick festgestellt, dass, abgesehen von einem Aufsatz zu dem Hiddenseer Bügelbaum/Bögelboom, keine neueren wissenschaftlichen Forschungen zu vorpommerschen Weihnachtsbräuchen vorliegen. Die letzten diesbezüglichen Arbeiten erschienen in den 1930er und Anfang der 1940er Jahre, ohne die Weihnachtsbräuche in ihrer ganzen Fülle erschöpfend betrachtet zu haben. Neuere Publikationen konnten dieses Desiderat auch nicht beheben bzw. übernahmen unkommentiert teilweise wissenschaftlich nicht haltbare und ideologisch verklärte volks- und heimatkundliche Arbeiten aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Auch Henry Gawlick konnte sich überwiegend nur auf die Ergebnisse der mecklenburgischen Forschungen zu den dortigen Weihnachtsbräuchen stützen, da ihm aus verschiedenen Gründen die (vor)pommerschen Quellen nicht in Gänze zur Verfügung standen. Das „ganze Spektrum der in Mecklenburg und Vorpommern bekannten Weihnachtsbräuche“ vermochte er nicht aufzuzeigen, wie er in seinem Buch „Schimmelreiter, Knapperdachs und Weihnachtsmann. Weihnachtsbräuche in Mecklenburg und Vorpommern“ betonte. Selbiges gilt auch für die Ausführungen seiner Kollegin Heike Müns.
Mit dem vorliegenden Buch soll diesem Ungleichgewicht für den vorpommerschen Raum zwischen Darß und Oder abgeholfen werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass in der Volkskundeforschung, die in Vorpommern in den zurückliegenden letzten Jahrzehnten vernachlässigt wurde, noch Potential steckt. Ausgehend von Gehörtem und Gelesenem als Jugendlicher ist das Interesse an volkskundlichen und geschichtlichen Überlieferungen zu Sitten und Bräuchen in der vorpommerschen Heimat zur Weihnachtszeit bis heute beim Autor bestehen geblieben. Entsprechende Nachrichten und Veröffentlichungen notierend und nach dem Lesen von Büchern über die Weihnachtszeit aus dem übrigen Norddeutschland entstand die Idee, all die vielen nicht bekannten oder vergessenen Überlieferungen aus den Archiven und regionalen Publikationen über die „schönste Zeit des Jahres“ aus Vorpommern einer breiten, interessierten Leserschaft vorzustellen. Ein Anspruch auf eine gänzlich wissenschaftlich erschöpfende Betrachtung des Themas kann mit der gewählten Publikationsform nicht erhoben werden, dies bleibt eine zukünftige Aufgabe der Volkskunde.
Als Quellen dienten dabei die Bestände der Stadtarchive Stralsund und Greifswald sowie des Landesarchivs Greifswald, die zeitgenössischen Zeitschriften, die im Archiv der Universität Greifswald verwahrten Fragebögen der Pommerschen Forschungsstelle für Volksunde, Veröffentlichungen in den „Baltischen Studien“, die „Blätter für pommersche Volkskunde“, Aufzeichnungen von Thomas Kantzow (um 1505–1542) sowie die Autobiografien von Franz Wessel (1487–1570), Nikolaus Gentzkow (1502–1576), Johann Christian Müller (1720–1772) und Otto Wobbe (1868–1945), ergänzt um Briefe, Aufsätze und Erzählungen unter anderem von Ernst Moritz Arndt (1769–1860), Philipp Otto Runge (1777– 1810), Arnold (1802–1880) und Ludwig Ruge (1812–1897), Theodor Fontane (1819–1898), Edmund Hoefer (1819–1882) und Friedrich Daniel Schleiermacher (1768–1834) sowie weiteren Persönlichkeiten. Volkskundliche Abhandlungen von Alfred Haas (1860–1950) sowie Fritz Adler (1889–1970) lieferten ebenso ihren Beitrag wie diverse kleine Beobachtungen verschiedener Zeitgenossen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Dankend möchte ich folgende Personen und Institutionen nennen, die in unterschiedlichem Maße Informationen und Unterstützung beisteuerten wie Ingrid Schmidt, Dr. Dirk Schleinert, Dr. Andreas Neumerkel, Peter Koslik, Dorina Kasten in Stralsund, Dr. Dirk Alvermann in Greifswald, Henry Gawlick in Hagenow, Dr. Beate Bugenhagen in Hamburg, das STRALSUND Museum, das Ernst-Moritz-Arndt-Museum in Garz auf Rügen, das Muzeum Narodowe in Stettin, das Pommersche Landesmuseum Greifswald, das Stadtarchiv Stralsund sowie die Firmen Kemm aus Hamburg, Woitinek aus Nürnberg und Kopernik aus Toruń. Mein Dank gebührt auch Andre Kobsch und Wilfried Reiher, die mir aus ihren Postkartensammlungen historische Stralsunder und Greifswalder Postkarten zur Weihnachtszeit für das Buch zur Verfügung stellten.
Und nicht zuletzt möchte ich meiner Frau Anke danken, die mich unterstützte und das Manuskript kritisch gegenlas. Danke für alles!
Mein besonderer Dank gilt der Historischen Kommission für Pommern, die mit einem nicht geringen Druckkostenzuschuss zum Zustandekommen des Buches beitrug, und hier speziell ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Haik Thomas Porada, der nicht nur das Manuskript prüfend gegengelesen, sondern auch die Arbeit von Anfang an befördert hat. Und nicht zuletzt möchte ich dankend die Sparkasse Vorpommern, die Gesellschaft für pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst, die Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte sowie die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland nennen, die den Druck gefördert haben.
Greifswald, zu Weihnachten 2020
Geburt Christi, Altar in der Kirche Wusterhusen 1510
Einführung
Viele Bräuche in der Advents- und Weihnachtszeit waren in den letzten Jahrhunderten einem Wandel unterzogen, in jeder Epoche kam Neues hinzu und bis dahin Althergebrachtes verschwand. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen und zeigt, dass das in der Bevölkerung gelebte Brauchtum zum Ende des Jahres nach wie vor lebendig ist.
Zu den vorchristlichen Überlieferungen und den christlichen Traditionen kamen im Verlauf des 19. Jahrhunderts bürgerliche Vorstellungen und Sitten hinzu. Insbesondere durch das sich nach 1800 durchsetzende bürgerliche Familienbild gelangten neue Weihnachtsbräuche in der Advents- und Weihnachtszeit zunächst in den Städten regional und zeitlich unterschiedlich in alle sozialen Schichten. In den nachfolgenden 100 Jahren wurden die neuen Bräuche im Zuge einschneidender sozialer Veränderungen ebenso auf dem flachen Land zum Ideal.
In der Zeit der Romantik vom ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert hinein entstand mit dem Aufstieg des Bürgertums das, was wir heute als „deutsche Identität“ bezeichnen. Teil eben dieser Identität ist das zum Allgemeingut gewordene Brauchtum um Weihnachten.1 In dieser Epoche, vor allem im sogenannten Biedermeier (ca. 1815–1848), entwickelten und verbreiteten sich viele der noch heute gebräuchlichen Elemente des Weihnachtsfestes wie der Tannenbaum, die Tannenbaumkugeln, der Adventskranz, der Weihnachtsmann und die Form der Bescherung. Neue, stimmungsvolle Weihnachtslieder und zahllose andere kleine Dinge, die uns die Adventszeit vergnüglich machen, sind heute noch feste Bestandteile unserer gelebten Traditionen zum Fest um Christi Geburt.2
Manches uns heute so anheimelnd und besinnlich Erscheinende war ursprünglich alles andere als heiteres und friedliches Brauchtum. Bereits vor der Einführung des Christentums pflegten die Menschen in den Tagen um die Wintersonnenwende verschiedene Bräuche, die im Zeitalter der Aufklärung auch das Interesse der Zeitgenossen auf der Suche nach den nationalen Ursprüngen fanden. Das Pommersche Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks aus dem Jahre 1786 wusste von „dem ehemaligen Juel-Fest der alten Pommerschen Völker“ zu berichten:
Die Geschichtsschreiber erwähnen eines Festes unserer Vorfahren, welches sie Juel-Fest nannten. Sie rechneten ihr Neujahr von der Sonnenwende im Dezember an. Dieses Neujahrsfest währte sieben Tage. Da aß und trank man herrlich, wie denn das von jeher wohl ein Hauptstück der Festtage gewesen ist. Man spielte und tanzte und opferte den Göttern … theilte Neujahrs- oder Juel-Geschenke aus, bat die Götter um ein fruchtbares Jahr.3
Im 19. und erst recht im frühen 20. Jahrhundert wurde nach den vorchristlichen Wurzeln vieler Feste und Bräuche gesucht. Solche vielfach völkischen Forschungsansätze versuchten auch, einzelne Weihnachtsbräuche in eine mythische, „germanische“ Zeit zurückzuverfolgen. Haben einige Elemente, wie die „wilde Jagd“ mit dem „Wode“ (Wotan) zwischen Weihnachten und „Heilige Drei Königs Tag“, durchaus einen Bezug zu vorchristlichen, heidnischen Traditionen, so sind andere diesbezügliche Behauptungen vielfach wissenschaftlich nicht haltbar und wohl auch jünger.
Mit der Durchsetzung des Christentums verbanden sich heidnische Vorstellungen mit der Botschaft von der Geburt Jesu, der als Gottes Sohn Hoffnung und Licht in die Welt bringt und den Menschen Frieden und die Gewissheit der Erlösung von allem irdischen Mühsal und der Vergebung aller Sünden verheißt. Es waren und sind sehr das Gemüt bewegende Bilder der christlichen Weihnacht, die selbst der Kirche fernstehende Menschen rührt. Dazu zählt auch die Musik. Im Spätmittelalter entstanden viele der schönsten Weihnachtslieder. So sang man nicht nur in Stralsund in der frühen Reformationszeit im Advent den Kirchenchoral „Veni Domine visitere nos in pace“ („Komm, o Herr, und besuch uns in Frieden“). Zu Weihnachten war es vor allem der gregorianische Gesang „Puer natus in Bethlehem“ („Ein Kind gebor’n zu Bethlehem“). Dieses in der Reformationszeit in neuer Form vierstimmig vorgetragene Lied nach Michael Praetorius (1571–1621) wurde ebenso auf Deutsch gesungen und war auch in Pommern unter dem Titel „Ein Kindelein so löblich“ eines der beliebtesten Weihnachtslieder, ehe im 19. Jahrhundert neue Lieder hinzukamen (Anhang Nr. 1). Weitere hier im 15./16. Jahrhundert verbreitete und heute noch bekannte Weihnachtslieder waren „In dulci jubilo“ („Nun singet und seid froh“), „Resonet in laudibus“ („Josef, lieber Josef mein“) sowie „Nunc anglorum Gloria“ („Den die Hirten lobet sehr“ bzw. „Kommt und lasst uns Christum ehren“).4
Letzteres Lied ist ein Wechselgesang, ein „Quempas“. Auch der Reformator Martin Luther fügte einige Weihnachtslieder dem allgemeinen christlichen Liedgut hinzu. Das bekannteste ist „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, das ausdrücklich als weihnachtliches Kinderlied von Luther betitelt wurde. Alle diese Lieder sind auch im protestantischen Katechismus des 16. Jahrhunderts für Pommern als Lieder in der Advents- und Weihnachtszeit vorgeschrieben worden und werden im Gottesdienst bis heute gesungen. Sie wurden in den städtischen Kirchen nicht nur zum Vespergottesdienst am Sonnabend durch Schüler der Stadtschulen unter Leitung der Kantoren vorgetragen, sondern beispielsweise reihum an hohen Festtagen in den Stralsunder Stadtkirchen zu Gehör gebracht. Auf den Dörfern traten wohl keine Schüler auf.5 Zumindest von zwei in Stralsund wirkenden und bekannten Kirchenmusikern des 17. Jahrhunderts, Johann Vierdanck (1605–1646) sowie Johann Martin Rubert (1614–1677), sind auch geistliche Weihnachtskonzerte für Gesang und Violine bzw. Viola da Gamba, Cornett und anderen Instrumenten überliefert6.
Abb. 1: Franz Wessel, Sammlung Bürgermeisterporträts im Rathaus Stralsund
Der Gesang wurde natürlich auch außerhalb der Kirche in vielen Familien zur Weihnachtszeit gepflegt. In Vorpommern glaubte man, wenn sieben Weihnachtslieder am Heiligabend gesungen würden, flöge beim siebenten Lied „ein Engelein übers Haus“.7 Der mehrere Jahrzehnte in Stettin wirkende Organist und Komponist Johann Carl Gottfried Loewe (1796–1869) machte sich Mitte des 19. Jahrhunderts verdient, indem er die alten weihnachtlichen lateinischen Kirchenlieder durch Doppelchöre in Stettin wiederaufleben ließ.8 In der Zeit des Nationalsozialismus versuchte man an alte Weihnachtstraditionen anzuknüpfen, indem ab 1938 wieder zur Frühmesse des ersten Weihnachtstages diese sogenannten Quempaslieder, nun allerdings auf Deutsch, gesungen wurden.9
Die frühesten Nachrichten zum Brauchtum um Weihnachten im Norden von Deutschland haben uns die beiden Stralsunder Franz Wessel (1487–1570) (Abb. 1) und Thomas Kantzow (1505–1542) aus dem ausgehenden Spätmittelalter hinterlassen. So wird von Kantzow erstmalig die Sitte, in Schuhe Weihnachtsgaben für die Kinder zu legen, genannt. Dieser Brauch ist noch heute zum Nikolaustag verbreitet. Nirgends werden die vorreformatorischen Gottesdienste und Gebräuche zum Advent, zu Weihnachten und zu Neujahr so lebendig geschildert wie in den Aufzeichnungen des damaligen Bürgermeisters Franz Wessel. Wessels Berichte dazu finden sich in den nachfolgenden Kapiteln und vollständig im Anhang 2.
Pommern leistete auch auf anderen Gebieten seinen Beitrag zum weihnachtlichen Brauchtum. Nach Braunschweig hatte Stralsund den ältesten und lange Zeit den größten Weihnachtsmarkt im Norden vorzuweisen. Der Wolgaster Romantiker Philipp Otto Runge hatte um 1800 Anteil an der Popularisierung der Sitte, zu Weihnachten einen geschmückten Baum in der Stube aufzustellen. Im Gegensatz zu der mitunter geäußerten Annahme, dass erst im Biedermeier der Heiligabend zum Fest der Bescherung für die Kinder wurde, liegen aus Vorpommern deutlich frühere Zeugnisse für das Beschenken am Weihnachtsfest vor.10 Von Schweden, über das damalige Schwedisch-Vorpommern kommend, verbreitete sich bis nach Hinterpommern, Mecklenburg und Teile Holsteins der Brauch der lustigen „Julklapp“-Geschenke. Heischeumzüge mit verkleideten Burschen an Heiligabend oder Silvester waren bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein fester Bestandteil von volkskundlich gut dokumentierten Bräuchen in Pommern genauso wie im benachbarten Mecklenburg. Bei allen norddeutschen Gemeinsamkeiten gab es in Pommern im Ess- und Trinkverhalten sowie im Aberglauben in der Weihnachtszeit doch auch Eigenarten.
Für uns heute erscheint das Weihnachtsfest deutschlandweit ziemlich übereinstimmend hinsichtlich der damit einhergehenden Riten und Überlieferungen. Dabei war Weihnachten in früheren Zeiten in (Vor)Pommern keineswegs von gleichartigen, einheitlichen Traditionen bestimmt. Es gab Familien, die mehr in sich gekehrt und auf den Inhalt der christlichen Weihnacht konzentriert den Advent und die Weihnachtszeit ohne besondere Feiern begingen, während andere diese Zeit zu groben, lauten Lustbarkeiten und derben Feierlichkeiten nutzten. Andere wiederum feierten gesittet mit der Familie und Nachbarn, ganz wie es noch 1832 in der Stralsunder Zeitschrift „Sundine“ betont wurde: „Am heiligen, oder Vorabend ging es in manchen Häusern ebenso ernst und religiös, als in andern munter und ausgelassen zu. Hier wurden geistliche Lieder gesungen, dort kamen Julklappen geflogen, oder es hausete der Ruprecht“.11
Die rasche Verbreitung der bürgerlichen Sitten beim Weihnachts- und Silvestergeschehen bewirkte auch ein Verdrängen der alten, derben, mit Aschebeutel und Lärm verbundenen Heischeumzüge in der fraglichen Zeit. „Es scheint so, daß diese spaßige Art der Übermittlung von Geschenken (die ,Julklappen‘ oder ,Julklappse‘) … die vom Bürgertum bevorzugte Alternative zum rauen Treiben der vermummten Umzugsgestalten war“,12 sodass „Rug’Klaase, Schimmelreiter und Knapperdachse nicht mehr in die guten Stuben der vornehmeren Gesellschaft mit Biedermeiermöbeln, Klavier und aufgeputztem Weihnachtsbaum (passten)“.13
Wie Weihnachten im alten Vorpommern begangen wurde und was die hiesigen Eigenarten waren, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Mit dem alten Vorpommern ist der Zeitraum vom Spätmittelalter bis etwa 1900 gemeint. In dieser Spanne entstanden die wesentlichen weihnachtlichen Bräuche und Sitten vom Advent bis zum „Heiligen Drei Königs Tag“. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte sich ein in großen Teilen Norddeutschlands, ja sogar darüber hinaus, in groben Zügen uniformes Weihnachtsbrauchtum herausgebildet, nachdem von den alten regionalen Bräuchen vieles abhanden gekommen war. Bereits 1897 wurde mit Blick auf den gesamtdeutschen Raum bedauert, dass „in der Gegenwart … viele der alten Bräuche verschwunden (sind), selten nur noch begegnet man in entlegenen Dörfern den vermummten Gestalten, die einst die Phantasie des Volkes erdichtet hatte, dafür ist Weihnachten zum hohen Fest der Liebe geworden“.14
Eine systematische und wissenschaftliche Erfassung von weihnachtlichen Gebräuchen erfolgte erst nach dem Ersten Weltkrieg, als viele der gerade im ländlichen Raum überdauerten Sitten und Überlieferungen im Zuge einer veränderten gesellschaftlichen, industriellen Entwicklung in Stadt und Land schon im Aussterben begriffen waren. Dies war in Pommern nicht anders.
Für das 20. Jahrhundert liegen zu den (weihnachtlichen) Bräuchen Pommerns umfangreiche volkskundliche Untersuchungen aus den 1930er Jahren von den in Greifswald und Stettin wirkenden Volkskundlern Karl Kaiser, Dora Lämke und Walter Borchers vor. An der Universität Greifswald wurde seit 1929 ein „Volkskundliches Archiv für Pommern“ erarbeitet.15 Die hier gesammelten Forschungsergebnisse galten lange Zeit als Verlust, ehe es nach dem politischen Umbruch 1989/1990 zu großen Teilen wiedergefunden wurde. Auf über 20.000 Karteikarten aus 1100 Orten in Pommern und von lokalen Informanten ausgefüllt, befinden sie sich seit wenigen Jahren mehrheitlich digitalisiert einsehbar im Archiv der Universität Greifswald. 1936 gab die bis 1945 existierende Forschungsstelle um den wegen Zweifel an seiner nationalsozialistischen Gesinnung nicht verbeamteten Dozenten Karl Kaiser den „Atlas für Pommersche Volkskunde“ heraus. In jenem wurden drei weihnachtliche Themen in der Rubrik „Aus dem Jahreslauf“ näher vorgestellt: „Julklapps“, Grünkohl und Erbsen zu Weihnachten und Neujahr sowie pommersche Gebäcke zu Weihnachten und Neujahr.16 1943 konnte die inzwischen verheiratete Dora Scheidt-Lämke noch ihre Forschungsergebnisse zu den „Pommerschen Heischeumzügen in den Zwölften und der Fasnacht“ veröffentlichen, nachdem Karl Kaiser 1940 gefallen war.17 Trotz der erreichten Resultate schlussfolgerte Karl Kaiser im oben genannten Atlas: „Die pommerschen Volksbräuche und Überlieferungen der Zeit um Weihnachten und Neujahr sind heute noch sehr mangelhaft erforscht“.18 Es ist das Verdienst der genannten Personen und zahlreicher Laien, dass uns die damals noch bekannten und in Teilen gelebten Bräuche wenigstens in groben Zügen überliefert worden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Ende dieser, vielerorts schon im Absterben begriffenen, volkstümlichen Gewohnheiten und Sitten de facto besiegelt. Dies trifft nicht nur auf Hinterpommern mit der Flucht und Vertreibung der dortigen deutschen Bevölkerung ab 1945 zu, sondern auch auf Vorpommern.
Eine Fülle an Informationen und Hinweisen von verschiedenen, meist heimatkundlichen Autoren, unter denen hier insbesondere der Rüganer Alfred Haas genannt sein soll, liegt in den unterschiedlichsten Publikationen zum Thema Weihnachten in Vorpommern vor. Weiterhin fanden sich in den Archiven, regionalen Zeitschriften und noch älteren Publikationen verstreute, vielfach unbeachtet gebliebene Informationen über das Weihnachts- und Jahresendbrauchtum in Vorpommern.
Von mecklenburgischer Seite sind volkskundliche Weihnachtsbräuche durch Heike Müns und Henry Gawlick wissenschaftlich erforscht worden.19 Sie haben auch ihnen zugängliche vorpommersche Quellen herangezogen.
Zwei Publikationen sind darüber hinaus im Jahre 2012 zum Thema Weihnachten in (Vor)Pommern herausgekommen. Ines Kakoschke hat in ihrem sehens- und lesenswerten Buch „Pommerngans und Lichterglanz“ neben vielen zeitgenössischen Geschichten und Anekdoten auch einige historisch neue Aspekte, wie eine Seemannsweihnacht im 19. Jahrhundert, vorgestellt.20 Wolfgang Schneider und Torsten Seegert haben vor allem die Arbeiten der 1920er und 1930er Jahre zu pommerschen Weihnachtsbräuchen in ihrem im damaligen Heimat-Bild-Verlag erschienenen Buch „Pommersche Weihnacht: Rückblick und Wiederentdeckung in einer besinnlichen Zeit“ aufgegriffen, ohne eigene Forschungen vorzunehmen. Verschiedene Weihnachts- und Silvesterkochrezepte aus Pommern runden die Zusammenstellung ab.21
Die Entwicklung der Bräuche um Weihnachten ist nicht abgeschlossen. Wir erleben derzeit auch vor dem Hintergrund von Klima- und Umweltschutz eine Hinterfragung unserer diesbezüglichen Gewohnheiten. Insofern ist das letzte Kapitel einer zukünftigen Betrachtung von „Weihnachten in Vorpommern“ noch zu schreiben.
Robert Eduard Prutz22
Die Weihnacht (1833)
In blauer Pracht ein goldbesticktes Zelt,
Hängt rings der Himmel auf die Erde nieder;
Viel muntre Sterne glänzen hin und wieder,
Und ruhig prangt im Winterschmuck die Welt.
…
Die heil’ge Christnacht dämmert in der Ferne.
Und Engel schweben durch die öde Flur.
Anmerkungen
1 Jessen 2010, S. 17. Zu dem nun familiären, sehr gefühlvollen Weihnachtsfest passen die in jener Zeit gesammelten und erdichteten Märchen, Mythen und Volkslieder sowie die Wiederentdeckung des Mittelalters.
2 Weber-Kellermann 1978 und 1987.
3 Hahn 1786, S. 54.
4 Müller 1928, S. 5. In der Reformationszeit war in Stralsund ein Spottlied auf die damalige korrupte katholische Geistlichkeit mit der Melodie von Kichenweihnachtsliedern verbreitet (Zober 1855, S. 9).
5 Bugenhagen 2015, S. 176; Rau 1927, S. 267ff.
6 U.a. „Merck auff mein Hertz“ (Verse 7 und 8 des bekannten Weihnachtsliedes „Vom Himmel hoch“), frdl. Mitteilung Dr. Beate Bugenhagen.
7 Sundine vom 12. Januar 1832.
8 Haas 1922.
9 Pommersche Zeitung Beilage vom 10. Dezember 1938.
10 Siehe Zober 1870.
11 Sundine vom 12. Januar 1832.
12 Gawlick 1998, S. 87.
13 Müns 2002, S. 205.
14 Die Gartenlaube 1897, Heft 50, S. 835.
15 Universitätsarchiv Greifswald, Pommersches Volkskundearchiv. Die Fragebögen wurden in den Jahren 1930 bis 1935 sowie 1937/1938 gesammelt und galten lange als verschollen, ehe sie wiederentdeckt und seit 2015 erschlossen wurden. Bis heute sind über 18.000 Zettelbelege des Volkskundearchivs durch die Mitarbeiter des Universitätsarchivs um Dr. Dirk Alvermann digitalisiert worden (Mitteilung Dirk Alvermann). Zur Geschichte der Volkskunde in Vorpommern siehe Herrmann-Winter 1991.
16 Kaiser 1936, Textband S. 59ff. Zur heutigen Rezeption siehe Dröge 2001.
17 Scheidt-Lämke 1943.
18 Kaiser 1936, Textband S. 59.
19 Müns 2002; Gawlick 1998 und 2018.
20 Kakoschke 2012.
21 Schneider/Seegert 2012.
22 Robert Eduard Prutz *1806 in Stettin, †1872 in Stettin, Schriftsteller und Publizist. Erschien in seinem 1841 in Leipzig herausgegebenen Gedichtband.
Winterimpressionen
Andreas, Nikolai und „singende Misse“ – Advent im alten Vorpommern
Kein Fest im Jahreslauf ist so mit Traditionen beladen wie Weihnachten. Selbst die meisten Atheisten wissen, dass Weihnachten auf die Geburt Jesu zurückgeht (Abb. 2). Fragt man hingegen Nichtchristen unter unseren Mitbürgern, was Ostern und Pfingsten bedeuten, dann wird man deutlich weniger eine, noch weniger eine richtige Antwort bekommen. Auch was es mit dem Advent auf sich hat, ist vielen nur vage bekannt. Für die Christen ist der Advent die Zeit, in der man sich auf die Ankunft, sprich die Geburt Jesu vorbereitet, denn Advent heißt im Lateinischen nichts anders als „Ankunft“. Es ist das Warten auf das „Kommen oder die Ankunft Christi“. Aus diesem Grund nannte man den Dezember bei unseren Vorfahren mitunter auch Christ- oder Heilmonat. Die Wochen vor dem Weihnachtsfest, beginnend Mitte November, waren die Zeit des Fastens als innere Vorbereitung auf das Ereignis. Der Advent beginnt sowohl in der katholischen als auch evangelischen Kirche mit der Vesper (Abendgebet) am Vorabend des ersten Sonntags im Advent. Im Volksglauben galt sonst der Andreastag, der letzte Tag im November, als der Beginn der Adventszeit. Das Ende des Advents ist vor dem Abendgebet am Heiligabend, der sogenannten Christvesper, die heute zwischen 16 und 18 Uhr stattfindet. Hier endete auch die Fastenzeit. Damit beginnt dann die Weihnachtszeit, die offiziell bis zum 2. Februar, 40 Tage nach Heiligabend, dauerte. Diese Frist hängt mit den jüdischen Traditionen zusammen, denn nach 40 Tagen wurden die Neugeborenen im Tempel (von Jerusalem) vorgestellt. Christen brachten von alters her an diesem Tag Kerzen in die Kirchen, damit sie geweiht worden waren. Und weil dies mit dem erstmaligen, nun gereinigten Aufsuchen des Tempels durch Maria nach der Geburt zusammenfiel, heißt dieses kirchliche Ereignis auch „Mariä Lichtmess“.
Für die Menschen in Pommern und den Nachbarregionen war der letzte Monat im Jahr auch die Zeit, in der der Winter Einzug hielt (Abb. 3). Dies geschah früher wesentlich regelmäßiger und auch mit mehr Kälte, Schnee und Eis als heutzutage (Abb. 4). Insbesondere während der sogenannten Kleinen Eiszeit vom frühen 15. bis zum späten 19. Jahrhundert gab es sehr kalte und lang anhaltende Winter.1 In dieser Zeit erlebten die Menschen wirklich mehrheitlich „weiße Weihnachten“. Dieses heute noch in unseren Vorstellungen existierende romantisierende Bild hatte für die damaligen Menschen, abgesehen von kindlichen Vergnügungen auf Schlitten und Schlittschuhen, wenig Erbauliches (Abb. 5). Kälte, Nässe, lange, dunkle Nächte und kurze Tage, Stürme sowie Ernährung von den hoffentlich genügend eingelagerten Vorräten für Mensch und Vieh sind ohne moderne Beleuchtung, Heizung und reichliche Versorgung nichts Ersehntes, ja es war eine Zeit, wo man den Kälte- und Hungertod fürchtete. Insofern war die Weihnachtszeit ein von diesen Sorgen ablenkendes Ereignis.2 In der Volkskunde spricht man beim Übergang von dem einen zu einem anderen Zyklus, wie der Erntezeit, die den Frühling willkommen heißenden Maifeiern oder eben auch der Weihnachtszeit, von Wendefesten. Gerade zum Ende des Jahres mit der Wintersonnenwende und dem Einzug des Winters gab es bereits bei unseren heidnischen Vorfahren Wendefeste, die von Riten und besonderen, Schutz vor hier auftretenden dunklen Mächten verheißenden Praktiken geprägt waren. Die christlichen Missionare deuteten häufig diese uralten Bräuche um und versahen sie mit neuen Inhalten. In den über tausend Jahren Christentum im heutigen Norddeutschland kam eine Reihe von religiös geprägten Wendefesten in der Weihnachtszeit hinzu, angefangen beim Martinstag am 11. November über den Luzientag am 13. Dezember als ehemaliger Zeitraum der Wintersonnenwende, weiter über den Tag der Geburt Jesu Christi, Silvester und Neujahr bis hin zu Epiphanias am 6. Januar und Maria Lichtmess am 2. Februar.3
Abb. 2: Geburt Christi auf dem Bergenfahreraltar in St. Nikolai, Stralsund um 1500
Abb. 3: Ludwig Richter: Der erste Schnee, 1865
Alwine Wuthenow
Advent
Mit witten Newelkappen
Stahn allwegs jitzt de Böm
Un snacken drunner listing
Vun ehre Wiehnachtsdröm.
Dörch ’t Rohr, dor geiht son Tuscheln,
Dat is de Wind nich blot,
Dat is en heimlich Freuen,
En Lust, so still, so grot.
De heilig Christ will kamen,
Gewiß! Hei kümmt all ball;
So’n hoges Athenholen
Verspör ik äwerall. …4
Die Adventszeit ist mit einem Zyklus besonderer liturgischer Gebete und Zeremonien im Gottesdienst verbunden. Als das Licht, das mit der Geburt Jesu in die Welt und in die Dunkelheit kam, ist jener Zeitraum auch mit einer tiefen Symbolik verbunden. Das Entzünden der Kerzen in der Vorweihnachtszeit ist Ausdruck dieses Sinnbilds. Die bereits bei den heidnischen Vorfahren vorhandene Sehnsucht nach dem (Sonnen)Licht in dieser Zeit, in der die Tage am kürzesten sind, fällt mit der Lichtsymbolik des Christentums zusammen. Die Nacht der Wintersonnwende, ehedem der 13., später der 21. Dezember, war Anlass, das Herd- oder auch Julfeuer, neu zu entzünden. Damit wurden die wiederkehrende Sonne und die länger werdenden Tage gefeiert.5 Auch bei unseren Vorfahren hielten sich noch lange solche heidnischen Vorstellungen. Der von Rügen stammende Geistliche Ernst Heinrich Wackenroder (1660–1734) wusste aus seiner Heimat noch 1732 zu berichten:
Abb. 4: Garten in Rekentin
Abb. 5: Winterspaß, 1863
Sie (die Wenden) feyerten gleichfalls den Neuen Jahrestag, welcher auf Lucien im December bey der Sonnenwendung einfiel, und assen und truncken 7 Tage aufs beste, wobei sie gespielet und getanzet haben, welches man Juel genennet, daher das liederliche Weynacht=Spiel an etlichen Orten noch beygeblieben …6
Er ordnete das Fest irrtümlich den Slawen (Wenden) zu, die vor der Christianisierung auch die Insel Rügen besiedelt hatten. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass solche Sitten durch die Slawen von den Wikingern übernommen wurden, falls nicht gleiche Bräuche bei ihnen praktiziert wurden. Interessant ist, dass Wackenroder noch an „etlichen Orten“ Reste dieser Bräuche bemerkt hatte.
Andere adventliche Bräuche gehen eindeutig auf christliche Überlieferungen zurück. Diese wurden von den getauften ehemaligen Heiden umso eher angenommen, je mehr sie an althergebrachte Vorstellungen anknüpften. So symbolisieren die am 4. Dezember, dem Gedenktag der Heiligen Barbara, einer frühchristlichen Märtyrerin und eine der christlichen Nothelferinnen, geschnittenen Obstzweige (es konnten auch Zweige anderer Laubgehölze sein), die „Barbarazweige“, den Sieg des Lichts, der Wärme und der Hoffnung in der Zeit der Düsternis, der Kälte und der jahreszeitlich bedingten Bedrücktheit (Abb. 6). Denn blühen die Zweige alsdann am Heiligen Abend, so schmückt dies nicht nur die Wohnung, sondern soll überdies Glück verheißen.
Karl Lappe 7
Der erste Schnee
Der erste Schnee ist Jubelschnee,
O, schmilz nicht, süße Flocke!
Seht, Kinder, seht den Silbersee,
Holt Puder in die Locke.
Fangt auf, was fällt, mit Hand und Mund,
Solch Himmelzucker ist gesund.
Ein anderer christlicher Gedenktag in der Adventszeit, der mit der Lichtsymbolik in Verbindung steht, ist der Tag der Heiligen Lucia am 13. Dezember, der, wie eben geschildert, einst als Zeit der Wintersonnenwende galt. Der Name dieser im Jahre 304 gestorbenen Märtyrerin des christlichen Glaubens bedeutet „die Leuchtende“. In Schweden hat sich aus einer regionalen Tradition heraus im 19. Jahrhundert im ganzen Land der Brauch durchgesetzt, dass Mädchen und junge Frauen in einem weißen Gewand und mit Lichterkronen auf dem Kopf zu besonderen Gesängen in der Familie und Kirche auftreten (Abb. 7). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde alljährlich das Lucia-Fest vom Deutsch-Schwedischen Verein auch in Stralsund begangen. Seit der politischen Wende wird dieser Brauch durch schwedische Partnergemeinden ebenso im übrigen Vorpommern um den 13. Dezember aufgeführt. Der Advent galt von alters her als Zeit, in der das kindliche Wohlverhalten von den Eltern und Lehrern erprobt wurde,8 in das sich ein weiterer vorweihnachtlicher Gedenktag, der 6. Dezember, einreiht. Nicht nur Kinder christlicher Glaubensgemeinden, sondern auch die übrigen Kinder erwarten noch heute an jenem Morgen, dass ihnen der Heilige Nikolaus oder jemand in seinem Namen kleine Gaben, meist in Form von Süßigkeiten, in die blankgeputzten und bereitgestellten Schuhe legt.9 Der Heilige Nikolaus genoss in den Hansestädten als Schutzpatron der Seefahrer und Kaufleute eine hohe Verehrung (Abb. 8). Ihm zu Ehren wurden in fast allen Städten an der Ostseeküste Kirchen geweiht.
Abb. 6: Heilige Barbara auf dem Stralsunder Altar der Schneider in St. Nikolai um 1460
Abb. 7: Carl Larsson: St. Lucia, 1908
Abb. 8: Heiliger Nikolaus auf dem Stralsunder Bergenfahreraltar in St. Nikolai um 1500
Der Eindruck, den damals eine mit hunderten Kerzen beleuchtete Kirche auf tiefgläubige Menschen gemacht haben muss, war wohl überwältigend. Wir, die wir heute durch elektrisches Licht kaum noch die dunkle Jahreszeit in all ihrer Bedrücktheit wahrnehmen, vermögen uns nur schwer in die damit verbundene Gefühlswelt unserer Vorfahren hineinzuversetzen. In den meisten Haushalten der damaligen Zeit übernahmen – abgesehen vom Herdfeuer – Kienspäne, fettgefüllte Binsenstengel oder ranzige Talgkerzen die Aufgaben als sehr spärliche und kurzfristige Lichtspender. Die teuren und duftenden Wachslichter konnten sich nur reiche Familien leisten und selbst diese nur zu besonderen Anlässen. Eine Kerzenform waren die sogenannten Wachsstöcke. Das sind um eine Halterung gewickelte dünne Kerzen, die in der Weihnachtszeit ehedem auch mit christlich bestimmten Motiven aus Wachs versehen sein konnten (Abb. 9). Später kam auch blakendes Rüben- oder Tranöl als Brennmaterial auf, ehe ab den 1820er Jahren erschwingliche Stearin- und dann Paraffinkerzen Massengut wurden.12 1550 war ein Verbrecher aus der Stadt Stralsund in ein benachbartes Dorf geflohen und auch er hatte auf seiner Flucht nicht auf ein Kerzenlicht zum Christfest verzichten wollen. Als sein Aufenthaltsort bekannt wurde, zog am Weihnachtsabend der Landvogt mit einigen bewaffneten Stadtdienern aus, um ihn gefangen zu nehmen: „Und togen uth up winachten aubent umme iiii und quemenn dar he waß, unnd sadt bi dem auenn und hedden ein licht angesticket“ („Und zogen aus auf Weihnachtenabend um 4 (Uhr) und kamen an, wo er war. Und (er) saß bei dem Ofen und hatte ein Licht angesteckt“).13
Die Menschen holten sich vermutlich schon in vorchristlicher Zeit immergrüne Zweige als Symbol der Hoffnung und des wiederkehrenden Frühjahrs mit seiner wärmenden Sonne in ihre Häuser. Daneben hatten insbesondere spitze, stachlige Blätter, wie die Stechpalme oder die Nadeln der Wacholder- und Kiefernzweige, auch das Böse abwehrende Funktionen. Die Adventszeit und dann die nachfolgenden „Zwölften“ oder „Raunächte“ zwischen Weihnachten und dem „Heiligen Drei Königs Tag“ war die Zeit, in der Hexen, der Teufel oder andere Unholde ihr Unwesen trieben.14
Abb. 9: Wachsstock
Im Laufe der Jahrhunderte kamen verschiedene neue Bräuche in der Vorweihnachtszeit hinzu. Einer davon ist der Adventskranz, der mit seinen vier Kerzen auf das Licht verweist, das mit Christus in die Welt gekommen ist. Dieser Kranz geht auf den Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) zurück, der für seine ihm im dortigen „Rauen Haus“ anvertrauten Waisenkinder einen radförmigen Leuchter mit 23 Kerzen aufstellen ließ. Jeden Tag bis zum Heiligabend wurde eine Kerze entzündet. Dies sollte den Kindern das Warten auf das Weihnachtsfest verkürzen und sie zugleich zum Zählen anregen. Dieser Brauch verbreitete sich rasch im zunächst protestantischen Norden und dann nach 1900 auch im katholischen Süden. Ein weiterer Brauch, den Kindern das Warten bis zum Heiligabend zu erleichtern, waren Adventskalender. Auch diese sind relativ jungen Datums und kamen in unterschiedlicher Form erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Zu den Neuerungen in der Adventszeit, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden, zählten weiterhin die Räucherfiguren. Um 1830 im Erzgebirge erstmals aus Holz oder Pappmaché angefertigt und vertrieben,15 wurde für sie bereits 1837 am 5. Dezember in der „Stralsundischen Zeitung“ geworben.16 Drei Jahre später annoncierte ein Händler aus dem sächsischen Waldenburg anlässlich seines Besuchs des Stralsunder Weihnachtsmarktes:
Abb. 10: Zirbelkiefernzapfen
C. Hagenes aus Waldenburg in Sachsen und Stettin bezieht zum erstenmal den Stralsunder Weihnachtsmarkt und empfiehlt einem hohen Adel und achtbarem Publikum seine reiche Auswahl von Kinderspielzeugen in Schachteln von 1½ Sgr. (Silbergroschen) an bis zu 2 Thlr. Preuß. Cour. (Taler Preußischer Courant), Räucherfiguren, Fidibus-Bechern und diverse schöne Sachen. Noch bemerket er, daß er einen Posten Früchte von der Zürbeltanne (Pinie genannt) aus Italien (Abb. 10), a 2 Sgr., zum Verkauf stellen wird, und bittet gehorsamst um recht zahlreichen Zuspruch. Sein Budenstand ist in der dritten Reihe vom Rathause an den Buntfutterern gegenüber.17
Auch Räucherkerzen in verschiedenen Duftvarianten und Macharten waren schon bekannt. Die rasche Verbreitung dieser heute noch mit dem Advent verbundenen, zumeist gedrechselten Räucher- aber auch Leuchterfiguren erklärt sich auch daraus, dass sie hervorragend in die biedermeierzeitlichen, „gemütlichen“ Wohnstuben passten.
Zum Winterbeginn ein Gedicht eines Unbekannten
… Juche, Juche,
Der erste Schnee!
Hinaus mit Pick und Schlitten
Eilt schon sogar
Die Knabenschaar,
Es wird gerutscht, geglitten …
(aus: Sundine vom 22. Dezember 1841)
Und schlussendlich ist die Adventszeit auch die Zeit, in der traditionell weihnachtliches Gebäck wie Pfeffernüsse, Lebkuchen oder Stollen in den Familien gebacken wurden, wie im Kapitel „,Genicksbraden‘, ,krudenes Brot‘ und ,Pelze‘ – Essen und Trinken im alten Vorpommern zur Weihnachtszeit“ nachzulesen ist.
Anmerkungen
1 Zu den überlieferten Wetterereignissen auf Rügen und dem angrenzenden Festland siehe Kreibohm et al. 2019.
2 Der Wolgaster Chronist Carl Christian Heller notierte dazu 1829: „Durch die Besorgung und Anfertigung der Weihnachtsgeschenke oder Julklappse wird also einem großen Theile der rauhen Wintertage begegnet, und ihre Unfreundlichkeit weniger fühlbar gemacht“ (Heller 1829, S. 169).
3 Vossen 1985, S. 12ff.
4 Aus Möller 1896, S. 95. In etwas veränderter Form, sonst gleich bereits in: Nige Blomen ut Annmariek Schulten ehren Goren, Greifswald/Leipzig 1861 auf S. 101ff. unter „De heilig Christ will kamen“. Alwine Wuthenow * 1820 in Neuenkirchen bei Greifswald, † 1908 in Greifswald, war eine bekannte niederdeutsche Mundartdichterin.
5 Im vorchristlichen Skandinavien wurde Jul – vermutlich in der Bedeutung von Fest und Gelage – ursprünglich auf das Mittwinterfest (Wintersonnenwende) bezogen. Erst im Rahmen der Christianisierung verschob sich das mit Gelagen und Opfern an die Götter verbundene Julfest auf Weihnachten.
6 Wackenroder 1732, S. 21.
7 Karl Gottlieb Lappe *1773, †1843, Gymnasiallehrer und Dichter in Stralsund und Pütte. Karl Gottlieb Lappe: Stadt oder Land. Nur nicht zu eng die Räume. Gedichte aus dem alten Vorpommern, hg. von Horst Langer. Greifswald 2014, S. 14.
8 Weber-Kellermann 1987, S. 45.
9 Nähere Angaben zu dem Brauchtum um den Heiligen Nikolaus siehe im Kapitel „Niklas, ,Wihnachtsmann‘ und ,hylge Kerst‘ – Der weihnachtliche Gabenbringer im alten Vorpommern“.
10 Der Heilige Brandanus war ein irischer Heiliger des 6. Jahrhunderts, der, als Brendan der Reisende bekannt, abenteuerliche Seereisen unternahm. Er gilt deshalb als Schutzpatron der Schiffer.
11 Wessel 1837, S. 3.
12 Gas- und Petroleumbeleuchtungen in Privathaushalten kamen in Vorpommern erst nach 1850/1860 allmählich auf, ehe sich dann um 1900 in den Städten und schließlich den Dörfern das elektrische Licht durchsetzte.
13 Berckmann 1833, S. 126.
14 Siehe das Kapitel „,Wode‘, ,Kindsvoot‘ und ,Nij-Jaars‘-Asche – Abergläubische Gebräuche zur Weihnachtszeit“.
15 Zur Geschichte des Räuchermannes siehe Melzer 2014.
16 Stralsundische Zeitung vom 5. Dezember 1837 „Eine recht hübsche Auswahl von Gegenständen in Pappkästchen; so wie auch von Pappmaché, als: Nadelkästchen, Zahnstöcher, Ringkästchen und Räucherfiguren, Thiere und Vögel, empfiehlt sehr preisgünstig J. B. Schmidt“.
17 Stralsundische Zeitung vom 3. Dezember 1840. Buntfütterer waren Kürschner, die die Gewänder mit Pelzen fütterten. Es gab in dieser Zeit außer den Räuchermischungen auch Duftbalsam zu Weihnachten, das, auf die heiß werdende Ofentür gerieben, seinen Wohlgeruch in der Wohnstube verbreitete.
Franz Iwan: Pantoffelwerfen, um 1890
„Wode“, „Kindsvoot“ und „Nig-Jaars“-Asche – Abergläubische Gebräuche zur Weihnachts- und Neujahrszeit in Vorpommern
Wie bereits beschrieben, sind manche Bräuche zwischen Advent und dem Dreikönigstag uralt und haben nicht selten ihren Ursprung wohl schon in vorchristlicher Zeit, auch wenn es nicht immer befriedigende, wissenschaftlich haltbare Ableitungen dafür gibt. In diesen Wochen, insbesondere in den „Zwölften“ (die Tage vom Weihnachtsabend bis zum 6. Januar, dem „Heiligen Drei Königs Tag“), die mit den sogenannten Raunächten1 zusammenfallen, trieben dunkle Mächte wie der „Wode“ („de Waud“) mit der „wilden Jagd“ ihr Unwesen2 (Abb. 11). Auf Rügen hieß der wilde Jäger auch Nachtjäger oder „Wor“ (auf Wittow), sonst gab man ihm in Vorpommern die Namen „Waud“, „Waul“, „Waur“ („Waurhe“) oder „Wodke“.3 Ernst Moritz Arndt (1769–1860) berichtete aus seiner Heimat Rügen, dass hier der „Wode“ „Wod“ gerufen worden und im allgemeinen Volksglauben ein „großer Fürst im Sachsenland“ gewesen sei, der für seine Untaten ruhelos nachts habe umherjagen müssen.4 In Pommern stammt die früheste Erwähnung des wilden Jägers, der mit seiner Hundemeute und seinem Gefolge mit Lärm und (Sturm)Getöse durch die Luft reitet, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.5 Am Weihnachtsabend musste vor dem Abendläuten alle Arbeit im Haus und auf dem Hof ruhen und Stube, Stall und Scheune reingemacht sein, damit man dem „Wode“ keine Gelegenheit gab, einen heimzusuchen. Besondere Furcht hatte man, dass die „wilde Jagd“ durchs Haus stürmt, wenn entgegen der Verbote in den Stuben in den „Zwölften“ gesponnen wurde.6 Auf Usedom und Wollin hieß es noch im 19. Jahrhundert, „de Waud kümt“, wenn nicht in den „Zwölften“ abgesponnen worden war.7 Man kann den „Wode“ und seine Begleiter nur in der Weihnachts- und Silvesternacht sehen, sonst hört man sie nur.
Alle Tätigkeiten von Silvester bis Neujahr waren wichtig, da diese bestimmend für das neue Jahr sein konnten.8 Man erwürfelte in diesen Raunächten Zukunftsvorhersagen oder schloss gar „bundnisse mit dem duvel“, wie es schon aus dem Spätmittelalter überliefert ist.9 Die Camminer Synodalstatuten von 1500, worunter wir uns die auf einer Zusammenkunft von Geistlichen eines Bistums unter Vorsitz des Bischofs verfassten Anordnungen vorstellen müssen, verurteilten die gerade zur Weihnachtszeit verübten Freveleien und „Spielwerke“ (ungebührliche Aufführungen und Gaukeleien).10